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Iris Muhl
Intim
Iris Muhl
Mein Geliebter erhebt seine Stimme und spricht zu mir:
«Mach dich auf meine Freundin, meine Schçne, und komm.»
Intim
Fachleute im Gespräch über Lust,
Leidenschaft und erfüllte
Sexualität
Inhalt
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
2009 by Brunnen Verlag Basel
Umschlag: spoon design, Olaf Johannson, Langgçns
Foto Umschlag: Shutterstock.de
Satz: Bertschi & Messmer AG, Basel
Druck: Aalexx, Großburgwedel
Printed in Germany
ISBN 978-3-7655-1446-3
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1
Entwicklung der Sexualität, Leistungsanspruch
und mçgliche Stçrfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gespräch mit dem Bewegungs- und Sexualtherapeuten
Stephan Fuchs, Zürich, Schweiz.
13
Themenbereiche: Entwicklung der Sexualität eines Menschen, Psychologie von Mann
und Frau, Berührung des eigenen Kçrpers, bedrängende Sexualmoral, sein Geschlecht
kennen lernen, Selbstbefriedigung, erfüllende Sexualität in der Partnerschaft, mçgliche Stçrfaktoren, das Empfinden von missbrauchten Menschen, Pornografie
Kapitel 2
Sexualität im Alltag und Untreue:
Eine Anfrage an die Beziehung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Gespräch mit den Eheberatern und Seelsorgern Dr. Elizabeth
Domig und Magister Dr. Arthur Domig, Salzburg, Österreich.
Themenbereiche: Was der Kuss über die Sexualität verrät, Sexualität im Ehe-Alltag,
Spannung und Entspannung, Vorlieben und Sinnlichkeit von Frau und Mann, Freude
am Sex, Verhütung, den Lustfaktor bewusst erhalten, Lustkiller, die Suche nach dem
Neuen, mçgliche Ursachen der Untreue, Auswirkungen der Untreue, mçgliches Vorgehen und Heilungsprozesse in der Ehe
Kapitel 3
Eine sexuelle Lerngeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Die Liebesgeschichte von Uschi und Bernd aus biologischer
und entwicklungspsychologischer Perspektive. Aus einem
Gespräch mit Wilfried Veeser, Pfarrer, Eheberater und Seelsorger,
Dettingen, Deutschland.
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Kapitel 4
Intimität vor der Geburt und nach dem Wochenbett . . . . . 97
Gespräch mit dem Arzt und Sexualtherapeuten
Dr. Wilf Gasser und mit Paar- und Sexualtherapeutin
Christa Gasser, Bern, Schweiz.
Themenbereiche: Schwanger werden, Intimität vor der Geburt, Zunahme der Lust,
Verlust der Lust, das verflixte Gewicht, Selbstannahme, Sex auch mal anders genießen, Geburt, Eltern werden, Erweiterung des Vaginalkanals, Rückbildungsturnen, Narben und Schmerzen nach der Geburt, Schlafmankos von Müttern und Vätern, Familie
genießen, der Mann an zweiter Stelle, Mutterschaftsdepression, Lustlosigkeit über
Monate und Jahre, positive und negative Aspekte der Selbstbefriedigung, Intimität
aufrechterhalten, sexuelles Training
Kapitel 5
Ein Querschnitt durch die Geschichte der Sexualethik . . . 121
Themenbereiche: Sexualität und die Bibel, ethisches Verständnis der Antike, ethische
Wertvorstellungen im Mittelalter, Ethik in der Gegenwart
Kapitel 6
Liebe und Vertrauen in Sexualität und Ehe . . . . . . . . . . . . 133
Gespräch mit der Seelsorgerin, Autorin und Journalistin
Nicole Schenderlein aus Ostfriesland, Deutschland.
Themenbereiche: Identität in der Ehe, «Was ist Liebe?», Selbstannahme, was Christen über ihren Kçrper wissen, Kommunikation, entspannte Sexualität, humorvoll Sex
genießen, Anerkennung, Kleinkinderphase und Überforderung, Machtspiele im Bett,
¾ngste aus der Kindheit, Unterwerfung, Gewalt in der Ehe, Distanz und Nähe, missbrauchtes Vertrauen, Suchtverhalten, Internetpornografie, den «heiligen» Schein
wahren, Kraft des Gebets
Kapitel 8
Singles und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Gespräch mit der Theologin, Supervisorin und Seelsorgerin
Monika Riwar aus Oberägeri, Schweiz.
Themenbereiche: Single-Leben aus der Sicht des Alten Testaments und aus der Sicht
des Neuen Testaments, berühmte Singles aus der Bibel, Gründe fürs Singledasein,
Vorteile und Nachteile, Umgang mit der ungeteilten Sexualität, Selbstbefriedigung,
oft gestellte Fragen, Umgang der Männer bzw. Umgang der Frauen mit dem Alleinsein,
befreites Singleleben und Erfüllung im selbstbestimmten Leben
Kapitel 9
Gesammelte Tipps der Fachleute für einen
lustvollen und befreiten Umgang mit der Sexualität . . . . 201
Eine unbeschwerte Ratgeberliste, um Ihre Vorlieben
zu entdecken.
Kapitel 10
Sexualität in reifen Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Gespräch mit dem Theologen, Pfarrer und Psychologen
Reinhard Egg und der Seelsorgerin Ruth Egg-Altorfer
aus Erlenbach, Schweiz.
Themenbereiche: Bedürfnisse von älteren Frauen und Männern, Veränderung des Kçrpers und der Potenz, Verlust der Lust, neue Wege in der Sexualität, Kommunikation,
das Bedürfnis nach mehr Zärtlichkeit, Umgang mit dem alternden Kçrper, keine Lust
auf Genitalverkehr, Selbstannahme, ein neuer Lebensabschnitt und neue Perspektiven, aufeinander hçren, Gemeinsamkeiten, Selbstbefriedigung
Adressen im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Kapitel 7
Mythen der Sexualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Falsche Vorstellungen und verquere Bilder von Sexualität.
Quellenhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Homepages der Fachleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Die Autorin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
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Inhalt
Inhalt
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Vorwort
Menschen planen ihr Leben, arrangieren Freundschaften, finden
unter Umständen auch einen Lebenspartner. Menschen bilden
sich aufgrund ihrer christlichen Erziehung, ihrer Ausbildung und
ihrer Prägung durch die Kirchengemeinde eine Meinung über das
Leben, die Partnerschaft und alles, was die Partnerschaft betrifft.
Meinungs- und Gedankengebilde werden zur Lebensstrategie, die
das Leben bestimmt. Manchmal sind diese christlichen Lebensstrategien aber kaum vereinbar mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Ich spreche nun besonders die Sexualität an.
In dieser «hochgradig sexualisierten Welt», wie sie der Theologe
und Eheberater Wilfried Veeser nennt, gilt es, als christliches Ehepaar neue Strategien zu finden, eine erfüllte Sexualität leben zu
kçnnen. Während in der säkularen Welt der «One-Night-Stand»
schon längst als normal gilt und der Seitensprung nur noch als Kavaliersdelikt behandelt wird, weil zum Alltag geworden, versuchen sich Christen und auch kirchenferne Menschen die christliche Ethik im Alltag zu erhalten, indem sie der Partnerin, dem
Partner treu sind, partnerschaftliche Werte leben und für ihre Familie vorbildlich sorgen. Ich halte das für sehr kostbar.
Als Journalistin fiel mir aber immer wieder auf, dass nicht nur
auf säkularer Seite Vorurteile gegen die Sexualität in christlichen
Ehen herrschen – sie wird fälschlicherweise als verstaubt und unzeitgemäß gehandelt –, sondern dass auch in christlichen Kreisen
falsche Bilder, Vorstellungen und Mythen über die eheliche Sexualität herumgeistern. Während der Gespräche wurde mir das
von allen Fachleuten immer wieder mehrfach bestätigt. Außerdem
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berichteten sie von einer echten Not bei Menschen, denen veraltete moralische Normen und falsch interpretierte biblische Regelungen in Familien und christlichen Gemeinschaften schwer zu
schaffen machen. Und so wird nicht nur dem Geschenk Gottes, der
Sexualität, Unrecht getan, sondern auch vielen Menschen, die deshalb die Sexualität in ihrer Ehe nicht frei genießen kçnnen. Deshalb gilt es, die Aussagen der christlichen Fachleute im Bereich
Eheberatung und Sexualtherapie sehr ernst zu nehmen, abzuwägen und nach persçnlichem Gutdünken ins eigene Leben zu integrieren.
Ich mçchte mit diesem Buch die Sexualität in christlichen Ehen
entstauben, positiv hervorheben, als wunderbares Geschenk von
Gott würdigen. Es gilt, sie von allen Seiten zu betrachten, ihre
Schçnheit herauszukehren, ihre Ecken und Kanten zu erkennen,
ihre Tücken zu analysieren und herauszufinden, was Frauen und
Männern in christlichen Ehen guttut. Wie sie befreit und glücklich
Sexualität genießen kçnnen.
Ich habe nicht den Anspruch, dass dieses Buch alle Fragen zum
Thema Sexualität beantworten kann. Das ist angesichts der Vielfältigkeit der Beziehungen zwischen den verschiedensten Menschen ganz einfach unmçglich. Weil Sexualität mit Sehnsucht, Erfüllung, Verletzlichkeit und absoluter Transparenz zu tun hat und
deshalb sehr schnell gefährdet ist, Schaden zu nehmen, gilt sie als
sehr fragil. Dieses Buch ist dazu da, ehrliche Antworten auf wirklich wichtige Fragen zu geben und das zerbrechliche Gerüst der
Intimität in Ehen zu stärken.
Dazu las ich verschiedenste christliche und säkulare Fachbücher, wissenschaftliche Arbeiten und Artikel zu den Themen Beziehung, Sexualität, Familie und Lebensgestaltung. Später befragte ich zehn verschiedene, absolut professionelle Fachleute
aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Es handelt sich um
Eheberaterinnen, Seelsorgerinnen, Psychotherapeuten, Theologen
und Sexualtherapeuten. Wichtig war mir, dass diese Fachleute ein
mçglichst entspanntes Verhältnis zu Gott und zur Sexualität haben. In die Gespräche mit ihnen verwob ich manche Zitate aus
der oben genannten aktuellen Literatur.
Es ist mçglich, dass sich die Fachleute manchmal widersprechen und sich vermutlich gar nicht immer einig sind. Ebenso mçglich ist, dass weder der Brunnen Verlag noch ich immer mit den
Aussagen der Gesprächspartner einig gehen. Wir, der Verlag und
ich, wollten diese Vielfalt an Ansichten aber gerne stehen lassen,
um das Spektrum der mçglichen individuellen Antworten und
Ansichten mçglichst breit zu halten. Wir geben den Fachleuten
damit eine «Carte blanche», eine Mçglichkeit, wichtige und unter
Umständen auch «ungeprüfte» Gedanken zu platzieren. In den
Gesprächen geht es darum, herauszufinden, wie ein Christ in der
heutigen Zeit die Gabe der Sexualität entfalten kann, ohne sie aufgrund von falschen oder der Vergangenheit angehçrenden moralischen Bildern zu beeinträchtigen oder sie gar aufgrund von allzu
großzügigem Liberalismus zu missbrauchen. Ich habe als Journalistin versucht, wichtige Fragen zur Sexualität zu stellen, ohne
Menschen oder sogar Gott dadurch zu verletzen. Denn das ist und
war nie mein Ziel.
Ich weiß, dass sich der Brunnen Verlag und ich uns mit diesem
Buch auf einem diffizilen Minenfeld bewegen, auf dem es schwerlich eine längere Wegstrecke gibt, auf der die Minen nicht in die
Luft gehen. Denn Sexualität ist ein Themenbereich, in dem jeder
aufgrund seines Glaubens, seiner Erziehung oder seiner Beziehung zur Ehepartnerin, zum Ehepartner gewisse Verletzlichkeiten
mit sich trägt. Deshalb fühlt sich bestimmt fast jeder Leser während dieser Lektüre irgendwo und irgendwann in seiner Wahrnehmung angenehm oder auch unangenehm berührt, weil diese Fachleute Klartext sprechen. Auch über Themen, mit denen wir
Christen uns manchmal schwertun. Wer sich aber mit einer Materie ernsthaft auseinandersetzt, sollte Fragen stellen dürfen, theologische Auslegungen, entwicklungspsychologische Phänomene,
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Vorwort
Vorwort
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biologische Vorgänge und gesellschaftliche Tendenzen erforschen und hinterfragen dürfen, um sich ein eigenes Bild machen
zu kçnnen.
Denn hier sind sich die Fachleute einig: Jeder Mensch gestaltet
seine Sexualität selber. Am Ende seiner Suche nach Antworten
sollte jeder Mensch vorsichtig probieren, sich gemeinsam mit
dem Partner, mit der Partnerin einen ganz persçnlichen Weg in
die erfüllte Sexualität zu bahnen, ohne irgendwelche schnellen
Tipps oder theologischen Regelungen einfach 1:1 ins Leben einzupflanzen. Denn jeder Mensch empfindet wieder anders. Und
manchmal ist die Machbarkeit weit von der Theorie entfernt. Deshalb frage ich im Buch etwas genauer nach. Und deshalb gelten
auch die unbeschwerten Ratgeber-Tipps als reicher Ideen-Anstoß,
nicht als To-do-Liste.
Mein großer Dank gilt allen Fachleuten, die sich sofort bereit
erklärten, in diesem Projekt Rede und Antwort zu stehen. Ich bedanke mich auch für ihre großartige Offenheit dem Thema Sexualität gegenüber und für ihre Sensibilität, auch theologische Fragen
im heutigen Kontext kritisch zu reflektieren. Dank geht auch an
den Brunnen Verlag und besonders an den Lektor Christian Meyer, der meine Texte stets klug und kritisch betrachtete und meine
Arbeit auf diese Weise positiv vorantrieb, was ich sehr schätzte.
Mein Dank geht auch an meine drei Sçhne, die mich nach der
Arbeit immer wieder direkt und unbeschwert ins Familienleben
zurückholten. Den grçßten Dank spreche ich meinem Ehemann
Michel aus, der mich in meiner Arbeit sehr stark unterstützt und
sie würdigt. Er ist mir ein großes Vorbild in menschlicher sowie in
geistlicher Hinsicht, und deshalb widme ich dieses Buch ihm.
1. Kapitel
Entwicklung der Sexualität,
Leistungsanspruch und
mçgliche Stçrfaktoren
Ein Gespräch mit Stephan Fuchs (Zürich, Schweiz).
Stephan Fuchs: Studium der katholischen Theologie. Elf Jahre
als Pastoralassistent in einer Luzerner Pfarrei. Später Ausbildung als Bewegungspsychotherapeut und Gewaltberater.
Aufbau einer Fachstelle gegen Männergewalt. Ausbildung
und Mitarbeit am Zürcher Institut für klinische Sexologie und
Sexualtherapie (www.ziss.ch). Stephan Fuchs (Jg. 1959) ist
seit zwanzig Jahren verheiratet mit Elisabeth Fuchs und hat
einen 19-jährigen Sohn.
Iris Muhl
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Vorwort
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Iris Muhl: Herr Fuchs, was ist erfüllte Sexualität?
Stephan Fuchs: Der Begriff «erfüllte Sexualität» erinnert mich an
das biblische Wort, dass Menschen das «Leben in Fülle» (Johannes 10,10) haben sollen. Es sind dies beides große Wçrter. Doch
was heißt für den einzelnen Menschen «Leben in Fülle haben»
und, spezifischer, «Erfüllung» in der Sexualität? Ich will hier
nichts definieren und damit festschreiben, denn zu schnell heißt
es dann, so oder so muss Sexualität gelebt werden, und sonst ist
sie gar nicht erfüllend oder normal. Denn der einzelne Mann, die
einzelne Frau ist aufgerufen, immer wieder neu herauszufinden,
was für sie «erfüllte Sexualität» bedeutet, und diese dann zu leben.
Ich hoffe, dass ein Mensch kurz vor dem Tod sagen kann: «Ja,
ich habe im Großen und Ganzen eine erfüllte Sexualität erleben
dürfen.» Aber auch dort werden wir feststellen, dass dies für jeden
einzelnen Menschen wieder etwas anderes war.
Definiert man diesen Begriff, dann wird man ihm nicht gerecht.
Es ist auch nicht so, dass Sexualität immer dieselbe ist. Sie ist
etwas, das in Wellen verläuft. In der Sexualität gibt es lustvolle
Zeiten und lustlose Zeiten. Man kann vielleicht sagen, dass ein
Mensch, der über eine sexualitätsfreundliche Einstellung verfügt,
auf dem besten Weg dazu ist.
Was ist denn eine «sexualitätsfreundliche Einstellung» Ihrer Meinung nach?
Eine sexualitätsfreundliche Einstellung ermçglicht es dem Menschen, Verantwortung für seine Sexualität zu übernehmen und sie
zu entwickeln. Er stellt sie den anderen menschlichen Fähigkeiten
und Talenten gleich und sieht und erlebt sie als Quelle von Kraft
und Erfüllung in der Beziehung zu sich selber und zur Partnerin,
zum Partner. Wenn das gegeben ist, kann erfüllte Sexualität entstehen.
Entwicklung der Sexualität, Leistungsanspruch und mçgliche Stçrfaktoren
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Wie kann es zu Stçrungen in der Sexualität kommen?
Spielt die Sexualität für die Gesundheit eine große Rolle?
Sexualität ist eine Fähigkeit, die gelernt wird. Alle Menschen haben ihre Vorstellung von Sexualität. Die häufigste Meinung ist,
dass sie etwas Natürliches, Triebhaftes ist, das jeder beherrscht
und einfach kann. Doch es gibt nichts Menschliches, das nicht gelernt werden muss. Dies unterscheidet uns von den Tieren. Deshalb ist Sexualität nicht tierisch, sondern eine menschliche Fähigkeit, eine Kunst, die von klein auf gelernt wird.
Wenn man von Stçrung in der Sexualität sprechen will und dafür kein medizinischer Grund vorliegt, heißt das oft, dass ein Mann
oder eine Frau an die Grenzen ihres bisher Gelernten gekommen
sind. Es muss nicht heißen, dass die betreffende Person psychische
Probleme hat oder etwas an der Paarbeziehung nicht stimmt, sondern es kann einfach darauf hindeuten, dass neue Lernschritte anstehen.
Ja. Die Sexualität ist eine enorme Lebenskraft, die viel dazu beiträgt, ob wir uns gesund fühlen und uns wohl ist in unserer Haut.
Haben Sie ein Beispiel?
Zum Beispiel kann es sein, dass die Frau nach der Geburt der Kinder wieder neue Lernschritte machen muss. Aufgrund der Tatsache, dass der Scheidenkanal für den Kopf des Kindes derart vergrçßert wurde und der Damm vielleicht riss, ist es für die Frau oft
nicht einfach, in ihrem Geschlecht wieder ein angenehmes Gefühl
zu bekommen. Bis sie so weit ist, den Mann wieder gerne in sich
aufzunehmen, braucht es neue Lernschritte.
Oder ein anderes Beispiel: Nach einem Unfall ist ein Mann
querschnittgelähmt, und sein Penis kann nicht mehr steif werden.
Das bedeutet noch lange nicht, dass dieser Mann nun ein asexuelles Wesen ist. Er hat seine Augen, seine Hände, seine Worte, seine
Zunge, mit denen er seine Sexualität leben kann.
Diese Mçglichkeiten und Fähigkeiten gilt es nun zu lernen und
weiter auszubauen.
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1. Kapitel
&
Iris Muhl mit Stephan Fuchs
Wie ist es in einer Ehe über Jahre mçglich, diese Lebenskraft der
Sexualität aufrechtzuerhalten?
Wie bereits gesagt, gehe ich davon aus, dass Sexualität gelernt
wird und sich entwickelt. Ich beziehe mich dabei auf den sexualtherapeutischen Ansatz von Professor Jean-Yves Desjardins, wie
er am Zürcher Institut für klinische Sexologie und Sexualtherapie
ZISS gelehrt und praktiziert wird.
In lang anhaltenden Beziehungen beobachtet man häufig, dass
sich das Paar am Anfang sehr umeinander bemüht. Sie legen Wert
auf gepflegtes Aussehen, prüfen den Atem, die Kleidung und so
weiter. Sie tun alles, um einander zu gefallen. Sie tun alles, damit
ihre Partnerin, ihr Partner gerne mit ihnen zusammen ist.
Erstaunlich ist aber die Wendung, die das Ganze nach einigen
Jahren nimmt. Plçtzlich spielt es keine Rolle mehr, wie man sich
anzieht, wie viel Aufmerksamkeit man der Partnerin schenkt, wie
man daherkommt.
Plçtzlich scheint es nicht mehr wichtig, wie ich mich über
meine Gefühle äußere, wie ich ein Gespräch angehe, wie ich
meine Dankbarkeit dem Partner gegenüber ausdrücke und wie
ich mich kçrperlich zeige. Auch Komplimente, die man früher
oft gemacht hat, gehen vergessen.
Womit hängt eine solche Vernachlässigung zusammen?
Die Verliebtheit mit all den Hormonen, die da ausgeschüttet werden, und das aufregend Fremde sind großartige Erregungsquellen,
die sich aber nach einiger Zeit verlieren.
Entwicklung der Sexualität, Leistungsanspruch und mçgliche Stçrfaktoren
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Doch interessanterweise kçnnen auch negative Gefühle Auslçser von sexueller Lust sein.
wenn das Geschlecht keinen «Namen» bekommt oder nur mit abwertenden Worten benannt wird.
Meinen Sie damit Streit, Ungereimtheiten oder etwas anderes?
Wirkt sich das wiederum negativ auf die Sexualität aus?
Ich denke an Verlustangst oder Eifersucht. So kann zum Beispiel,
wenn ein Mann seine Frau verlassen will, bei der Frau die Lust auf
Sexualität neu ausgelçst werden. Sie wird den Mann festhalten
und mit ihm plçtzlich wieder Sex haben wollen.
Deshalb erkennt man oft erst nach der Verliebtheitsphase, was
die Menschen in Bezug auf Sexualität gelernt haben.
Ja, das ist gut mçglich. Wenn die Verliebtheit in einer Beziehung
wegfällt und die starken Gefühle verschwinden, dann ist mçglicherweise nichts mehr übrig, weil der Bezug zum eigenen Geschlecht nie bewusst gepflegt und die sexuelle Erregung nie wirklich genossen wurde. So hält die große Lustlosigkeit in der
Beziehung Einzug, bis vielleicht ein Kinderwunsch das Begehren
nach sexueller Verschmelzung wieder für kurze Zeit entfacht.
Sie sprechen davon, dass Sexualität lernbar ist. Wie meinen Sie das?
Weshalb verändert ein Kinderwunsch die Sexualität in der Ehe?
Ich kann zum Beispiel lernen, mit meinem Geschlecht liebevoll
umzugehen. Und ich kann damit herausfinden, wie mein Geschlecht funktioniert, was angenehm ist und was nicht, was die
Erregung auslçsen und steigern kann. Was ich gerne mag und
was nicht.
Wenn ich einen respektvollen Umgang mit meinem Geschlecht
habe, es zum Beispiel beim Waschen sanft anfasse und gut pflege,
Freude an seiner Erregbarkeit habe, dann entwickelt sich eine
Wertschätzung gegenüber meinem Geschlecht. Daraus kann wiederum ein gesunder Stolz wachsen, der sich positiv auf die Sexualität auswirkt und damit auf das Frau-Sein, das Mann-Sein.
Der Wunsch nach Schwangerschaft und nach einem Kind kann gerade Frauen sehr stark zu sexueller Beziehung und Tätigkeit motivieren. Oft kommt es vor, dass Frauen dann häufig bewusst oder
unbewusst Sexualität leben mçchten, um schwanger zu werden.
Das ist dann der große Frust für die Männer. Erst konnten sie
wie selbstverständlich mit ihrer Frau oft schlafen, und plçtzlich
stellen sich das sexuelle Begehren und die Lust bei der Frau während der Schwangerschaft oder nach der Geburt wieder ein. Da
kommen viele Männer überhaupt nicht mehr nach. Sie denken
dann: «Meine Frau tickt nicht richtig.»
Was hindert einen daran, liebevoll mit dem eigenen Geschlecht umzugehen?
Das heißt, dass die Sexualität immer einen Antrieb braucht, um in
Fahrt zu kommen?
Hemmende Moralvorstellungen und Unwissenheit. Wenn Eltern
zum Beispiel dem Kind verbieten, mit seinem Geschlecht zu spielen, ja es überhaupt anzufassen, lernt das Kind, dass sein Geschlecht etwas Schlechtes, etwas Schmutziges ist. Genauso wie
Ja, es braucht einen gewissen Auslçser, ein Bedürfnis, quasi eine
Quelle, welche die sexuelle Erregung anstçßt. Das kçnnen Berührungen, Fantasien, Bilder, Eisprung, Gerüche, Gefühle und vieles
mehr sein.
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Entwicklung der Sexualität, Leistungsanspruch und mçgliche Stçrfaktoren
1. Kapitel
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Iris Muhl mit Stephan Fuchs
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An dieser Stelle mçchte ich ein bisschen ausholen und etwas zur
sexuellen Entwicklung einfügen: Bei der Zeugung wird einerseits
die biologische Geschlechtsidentität «XX gleich Frau» und «XY
gleich Mann» festgelegt, und andererseits wird auch schon im
Mutterbauch mit dem Erregungsreflex die Basis für die Sexualität
gelegt. Der Erregungsreflex ist in jedem Menschen angelegt und
bereitet den Kçrper für den sexuellen Akt vor. Er wird bei allen
mehrmals täglich ausgelçst, auch wenn er nicht unbedingt als angenehm empfunden oder sogar nicht einmal bemerkt wird. Bei
Schwangeren konnte während der Ultraschalluntersuchung bereits dieser Reflex bei den Knaben beobachtet werden: Der Penis
wird durch Bluteinfluss steif.
Kaum sind die Babys geboren, kann dieser Erregungsreflex bei
Knaben und Mädchen beobachtet werden. Beim Wickeln, Baden,
Eincremen kann er ausgelçst werden, auch bei den Mädchen, bei
denen sich die Schamlippen durch die Durchblutung rçten.
Bereits fünf, sechs Monate alte Babys kçnnen diesen genitalen
Erregungsreflex auslçsen und durch Bewegungen und Variationen der Muskelspannung steigern, manchmal bis zu einer orgastischen Entladung (natürlich ohne Samenerguss bei den Knaben).
Das setzt ein Minimum an motorischer Koordination voraus und
funktioniert über die Stimulation der tief liegenden Rezeptoren in
der Genitalgegend. Die Muskulatur des ganzen Kçrpers ist dabei
gespannt, später auch von intensivem Pressen oder Drücken und
raschen Bewegungen begleitet.
Das hat noch nichts mit erwachsener Sexualität zu tun, aber
diese Kinder sind am Lernen. Da dieser Reflex und die Erregungssteigerung als angenehm erlebt werden, wiederholen die Kinder
das Ganze immer wieder. Damit werden dann je nach Hirnreifung
und Anregung von außen weitere Fähigkeiten verbunden wie zum
Beispiel die Fähigkeit, Lust zu empfinden oder sich zu den Männern, zu den Frauen zugehçrig zu fühlen.
Wir kçnnen dieses Geschehen vielleicht durch folgenden Ver-
gleich besser verstehen: Das Neugeborene bringt neben dem Erregungsreflex auch den Klammerreflex mit auf die Welt. Bis aus
diesem Klammerreflex der Hände wirklich Hände werden, die
greifen, tasten, streicheln oder schlagen und einen Faden einfädeln
kçnnen, geht es einige Zeit, und es braucht unzählige Lernschritte.
Und dabei spielt es eine große Rolle, ob dieses Geschehen wohlwollend angeregt und gefçrdert oder mit Argwohn bedacht oder
gar verboten wird.
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Entwicklung der Sexualität, Leistungsanspruch und mçgliche Stçrfaktoren
1. Kapitel
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Iris Muhl mit Stephan Fuchs
Sie deuten damit an, dass die Entwicklung der Sexualität ungenügend unterstützt wird.
Ja, genau. Keine andere menschliche Fähigkeit wird in ihrer Entwicklung von den Eltern und der Gesellschaft so wenig unterstützt, begleitet und verstanden wie die der Sexualität. Im Gegensatz dazu wird etwa das Liebesgefühl überall gefçrdert. So heißt es
doch am Ende vieler Märchen: «Und wenn sie nicht gestorben
sind, dann lieben sie sich immer noch.»
Auch in der Sprache ist das auffällig; so gibt es zum Beispiel
kein deutsches Wort fürs männliche Geschlecht. Wir sind gezwungen, das Geschlecht zu umschreiben oder Fremdwçrter zu
Hilfe zu nehmen. Übrigens kennt auch das biblische Hebräisch
keine eigenen Wçrter fürs Geschlecht.
Sie sprechen also davon, dass die Entwicklungsschritte für die Sexualität sehr wichtig sind. Weshalb ist das so?
Je mehr ich meine eigene Sexualität entwickeln konnte und weiterentwickle, desto weniger stçranfällig ist sie. Sexualität erlernen
heißt erst einmal, den sexuellen Erregungsreflex bewusst wahrnehmen zu kçnnen und dadurch zu wissen: «Jetzt bin ich erregt.»
Gerade für Frauen ist das gar nicht so leicht lernbar, weil die Er21
regung bei ihnen nicht wie bei den Männern von außen so gut
sichtbar ist.
Dann geht es darum, von dieser bewussten Wahrnehmung zur
Kompetenz zu kommen, ein guter Liebhaber, eine gute Liebhaberin zu werden, das heißt erotisieren, genießen und dies mit dem
Partner, der Partnerin teilen zu kçnnen und zu wollen.
Lernschritte ermçglichen also das Aneignen von all den Fähigkeiten, die es braucht, um Sexualität zu leben und zu genießen.
Also die sexuelle Erregung und die Lust wahrnehmen und ausdrücken kçnnen, mitteilen kçnnen, was ich mag und was nicht, wissen, wie das Geschlecht eines Mannes, einer Frau aussieht und
funktioniert, und so weiter und so fort. Das Üben dieser Fähigkeiten hilft uns, diese zu verbessern, aufrechtzuerhalten und, wenn
wir älter werden, weniger rasch zu verlieren.
quellen, also quasi einer visuellen Überreizung, ausgesetzt sind
und dabei ihr Erregungsreflex ausgelçst wird. Andererseits kçnnen sie dadurch auch spüren, dass ihr Geschlecht gesund funktioniert.
Aber wie und wo kann man lernen, Sexualität zu genießen?
Sexualisierung und Lernschritte sind nicht dasselbe. Ich habe
kürzlich den Spruch gelesen: «Sexualität ist in aller Munde, aber
niemand redet darüber.» Dieser Spruch hat etwas Wahres. Interessant ist, dass wir davon ausgehen, dass zum Beispiel Jugendliche
heute mehr als früher über Sexualität wissen, eben gerade wegen
der so genannten Sexualisierung. Aber das stimmt gar nicht. Die
Frage ist: Weiß ich, wie mein Penis funktioniert? Weiß ich, wie
ich meine Erregung steigern kann? Und wie ich Sexualität mit
meiner Partnerin genießen kann?
Der Konsum von aufreizenden Bildern in der Werbung und in
Filmen erregt uns vielleicht, doch ob das auch dazu führt, Sexualität konkret zu leben? Und Konsumieren ist ja nicht gleichbedeutend mit Genießen. Genießen will gelernt sein. Oft ist es gerade für
Männer, die keine Frau haben oder ihre Frau nicht für Sexualität
gewinnen kçnnen, sehr frustrierend, wenn sie so vielen Erregungs-
Es gibt kein Lernen ohne Bilder, ohne Vorbilder. Das Kind lernt
zum Beispiel erst einmal das, was es bei seinen Eltern sieht. Es
sieht, wie sie sich streicheln, küssen und halten. Es erkennt, wie
der Vater mit der Mutter respektvoll umgeht. Das Kind lernt, wie
Erwachsene miteinander kommunizieren, wie sie sich ihre Bedürfnisse mitteilen und so weiter.
Meistens braucht es viel Mut für einen Mann, sich für eine
Therapie anzumelden, wenn er unter dem Konsum von pornografischen Bildern und Filmen leidet. Viele schämen sich dafür. Sie
empfinden es dann als Entlastung, wenn sie merken, dass sie dafür
nicht abgewertet werden, sondern vielmehr ein aufrichtiges Interesse an ihnen und ihrer Handlung erfahren. Es gibt viele Gründe,
dass ein Mann sich Bilder und Filme anschaut. Einige Männer
zum Beispiel, die unter Erektionsschwierigkeiten leiden, versuchen diese Bilder als starke Erregungsquelle einzusetzen.
Doch ohne andere Maßnahmen ist das auf die Länge gesehen
meist ein hilfloser Versuch. Im sexualtherapeutischen Gespräch
über die pornografischen Darstellungen kann ich als Therapeut
auch die wirklichen Anliegen und Probleme der Männer herausfinden.
Wenn gerade Jugendliche sich Bilder angesehen haben, und
das tun viele, ist dies zudem eine ausgezeichnete Mçglichkeit,
mit ihnen über Sexualität ins Gespräch zu kommen. Wir kçnnen
mit ihnen über ihre Vorstellungen und Wünsche bezüglich Sexualität sprechen, was davon realistisch ist und wie Träume
Realität werden kçnnen. Wir kçnnen mit ihnen darüber reden,
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Entwicklung der Sexualität, Leistungsanspruch und mçgliche Stçrfaktoren
Wie ist es denn mçglich, in einer «hoch sexualisierten Welt» (Zitat
Wilfried Veeser) zu leben, die Sexualität aber zu vernachlässigen?
1. Kapitel
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Iris Muhl mit Stephan Fuchs
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was sie bereits gelernt haben und was und wie sie weiter lernen
kçnnen, damit sie gute Liebhaber und Liebhaberinnen werden
kçnnen. Je mechanischer ihre Sexualität abläuft, umso weniger
Genuss ist mçglich, umso weniger kçnnen sie ihre Gefühle mit
dem sexuellen Begehren verbinden. Wie beim Tanzen wird
sinnliche Wahrnehmung intensiviert durch das Spiel mit Muskelspannung, Bewegung und Bauchatmung. Im Gegensatz dazu
wird Sexualität in den Filmen oft als rascher, mechanischer
Ablauf dargestellt.
Wenn uns also unsere Teenager ansprechen auf diese Bilder,
dann wollen wir die Chance wahrnehmen und mit ihnen ins Gespräch gehen, ohne moralisierend zu werden. Die Bilder zu verteufeln, birgt immer die Gefahr, die Sexualität in eine hemmende
Moral zu verpacken und das Gespräch mit den Jugendlichen abzubrechen.
Ein Seelsorger verriet mir, dass er viele Menschen betreut, die sich
nach der Selbstbefriedigung am Computer oder auch vor dem Fernseher sehr leer, hohl und stumpf fühlen. Sie betiteln sich sogar selbst
als Schattengewächse, weil sie Sexualität nur noch allein erleben.
Sie leben zwar in einer Ehe, sind aber nicht mehr beziehungsfähig
und sehr einsam und deshalb voller Not.
so dass er die Erregung zwar steigern kann, aber die Mçglichkeit
zu genießen damit sehr einschränkt. Vor lauter das Glied pressen,
drücken und reiben, kçnnen Männer manchmal sogar Kopfdruck
bekommen.
Da geht es dann für die Männer erst mal darum, zu lernen, sich
anders, das heißt bewusster, langsamer und liebevoller zu behandeln. Dies wird die Freude an sich selber, am Mann-Sein, wieder
ermçglichen und damit ihren Selbstwert erhçhen.
Und zum zweiten Teil Ihrer Frage: Was heißt schon «nicht mehr
beziehungsfähig sein»? Da geht es oft um etwas anderes, nämlich
um eine Fähigkeit, die es zu lernen gilt und die gerade in Beziehungen von Dauer enorm wichtig ist – und das ist die Kunst des
Verführens. Mich so zu zeigen, mich so zu verhalten, dass meine
Partnerin überhaupt wieder Lust bekommt, sich auf ein sexuelles
Projekt mit mir einzulassen. Kinder üben sich ja schon früh in der
Fähigkeit des Verführens. Wie umschmeicheln sie die Eltern,
wenn sie gerne etwas mçchten, wie verstellen sie die Stimme,
schauen liebevoll drein und sind ganz aufmerksam. Diese Fähigkeit gilt es auszubauen.
Die Selbstbefriedigung ist etwas Natürliches. Die Gefahr ist aber
groß, die Partnerin oder den Partner sexuell zu vernachlässigen. Wie
sehen Sie das?
Wenn ein solcher Mann in die Sexualtherapie kommt, schauen
wir erst einmal genau hin, wie er sich selber befriedigt, wie er
sein Glied berührt und was er mit ihm macht. Gerade wenn Männer vor dem Computer sitzen und Bilder oder Filme anschauen,
haben sie zwar eine Hand am Glied, aber die Aufmerksamkeit ist
total bei den Bildern. So nimmt dieser Mann sich kaum wahr und
steigert die Erregung sehr mechanisch bis zur Entladung, wenn er
überhaupt noch einen Samenerguss haben kann. Oft spannt er
dabei die Muskeln im Gesäß, im Beckenboden und in den Unterschenkeln so stark an und atmet dabei fast nur noch in der Brust,
Ich begegne oft dieser Angst bei den Paaren, dass sie meinen,
durch die Selbstbefriedigung komme der Partner oder die Partnerin zu kurz. Diese Angst ist meist mit einer negativen Bewertung der Selbstbefriedigung verbunden und der Meinung, dass
alles Sexuelle ausschließlich in die Beziehung gehçre.
Es gibt Paare, bei denen die Paarsexualität dadurch vernachlässigt wird. Doch gilt auch hier wie bei allen Ebenen in der Paarbeziehung, das Maß zu finden zwischen den beiden Polen.
Sich allein zu befriedigen ist einfacher, die partnerbezogene
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Entwicklung der Sexualität, Leistungsanspruch und mçgliche Stçrfaktoren
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Sexualität ist aufwendiger, bietet aber auch mehr Mçglichkeiten
an Spiel und Kommunikation. Und die Berührung durch eine andere Hand ist anders als durch die eigene.
Nun mçchte ich den Fokus ändern und mal fragen, was sich eine Frau
oder ein Mann vom Partner wünscht. Kçnnen Sie das etwas verallgemeinern?
Ist das nicht eine Fangfrage, die auf Festlegung und Normierung
aus ist? Die Frage ist doch vielmehr: Was will der einzelne Mann,
was will die einzelne Frau? Verallgemeinernd kann ich hçchstens
sagen, dass mit dem jeweiligen Geschlecht so etwas wie ein
Grundmuster verbunden ist, das vor allem auf die Fortpflanzung
ausgerichtet ist: Für den Mann bedeutet das, dass er intrusiv, eindringend sein will. Die Frau hingegen mçchte rezeptiv, aktiv aufnehmend sein.
Wenn ein Mann also gelernt hat, stolz zu sein auf sein Geschlecht, das Geschlecht auch besetzen kann als etwas zum
Mann-Sein Gehçrendes, dann ist das Begehren des Mannes groß,
bei der Frau auf Besuch in ihr Geschlecht, in ihre Hçhle eindringen
zu kçnnen. Bei der Frau dasselbe: Wenn sie einen Zugang hat zu
ihrem Geschlecht, zu ihren Hçhlen, wenn sie die sexuelle Erregung, das Einfließen des Blutes in ihr Geschlecht, das Nasswerden
genießen kann, dann wird ihr Begehren groß sein, das Glied des
Mannes aufnehmen zu wollen.
Eine Frau, die gelernt hat, ihren Kçrper, ihr Geschlecht zu lieben, kann schon bei der Vorstellung des Geschlechtsverkehrs erregt werden.
Es ist aber auch mçglich, dass eine Frau nur gehalten oder nur
an der Klitoris und der Vulva stimuliert werden will und ihr das im
Moment genügt.
Ja, das ist ganz wichtig, dass wir das wissen. Ansonsten stellen wir
immer wieder neue Normen auf. Das ist etwas, was die Gesellschaft und die Kirche allzu oft getan haben. Sie stellten Normen
auf, wie Sexualität sein sollte. Das Tragische daran ist, dass alle,
die nur ein bisschen neben dieser Norm sind, gleich als krank und
pervers hingestellt werden oder sich selber dann so vorkommen
und sehr darunter leiden.
Normen wie: Man soll dreimal am Tag oder dreimal im Monat
Sexualität leben, sind blanker Unsinn. Das erzeugt immer nur
Druck. Es geht darum, herauszufinden, was einem selber guttut.
Es ist aber auch wichtig, das dem Partner mitzuteilen.
Genau. Das ist auch eine menschliche Fähigkeit, die es zu lernen und
zu entwickeln gilt. Doch für Kommunikation gibt es auch viel
mehr Kurse. Kurse hingegen, die das Geschlecht, die Sexualität
und die Erotik betreffen, gibt es kaum. Es scheint auch für die Leute
schwierig zu sein, in diese Kurse zu gehen, vor allem als Paar. Die
eine mçchte jetzt gerade teilnehmen, der andere zurzeit gerade nicht.
Ich habe Berufskolleginnen, die Kurse für Frauen anbieten. Es
handelt sich um Lehrgänge, in denen Frauen lernen kçnnen, orgastisch zu werden. Diese Kurse sind immer voll. Die Nachfrage ist
sehr groß.
Aus welchen gesellschaftlichen Bereichen kommen diese Frauen?
Sie kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft, sind unterschiedlichen Alters und haben verschiedene Religionszugehçrigkeiten.
Das bedeutet, Sexualität ist sehr individuell?
Da wären wir wieder beim Thema. Was geschieht, wenn wir als christliche Eltern den Kindern ein falsches moralisches Bild der Sexualität
vermitteln?
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Die Moral schreibt vor, wie es sein sollte, und verhindert dadurch oft eigene Lernschritte und Erfahrungen. Und denken wir
daran, Moral und moralisierende Gedanken kçnnen sich auch
hemmend auf die kçrperliche Erregung auswirken. Wenn ich
also meinem Kind in Bezug auf die Sexualität eine Moral aufdrücke, die keinen Spielraum lässt für eigene Erfahrungen, dann
gebe ich ihm keine Mçglichkeit, seine eigenen Erfahrungen zu
machen und diese mit den Erfahrungen anderer zu vergleichen.
An moralisierenden Vorgaben kçnnen die Menschen eigentlich
nur scheitern. Ich gebe ein Beispiel: Ich kann meinem Kind
vermitteln, dass die Sexualität etwas Schmutziges ist. Das Kind,
später der Jugendliche und junge Erwachsene, wird die Sexualität deshalb lange Zeit als etwas Schmutziges einordnen. Hinzu
kommt das Schuldgefühl, etwas Falsches getan zu haben, wenn
sie Sexualität trotzdem leben. Das alles wirkt hemmend und
«ablçschend».
Woraus entstehen solche falschen Wertesysteme? Die Bibel spricht ja
nirgends davon, dass Sexualität in der Ehe schmutzig ist.
Diese falschen Wertesysteme entstehen aus der Angst, die Sexualität nicht mehr kontrollieren zu kçnnen. Tatsache ist aber, dass die
Sexualität gerade dann unkontrollierbar abläuft, wenn keine Lernschritte vorausgehen. Denken wir daran, wir sind keine Tiere, bei
denen alles hormonell gesteuert abläuft. Wir leben die Sexualität
so, wie wir sie gelernt haben.
Erregung zu steigern, stehen, und das heißt: Sie nehmen diese
Lerngeschichte mit in die Ehe. Wenn sie aber dann mit ihrer Frau
zusammen sind, klappt die Erregungssteigerung plçtzlich nicht
mehr so einfach, weil ihre Frau mit der Scheide nicht denselben
Druck auf ihren Penis bringen kann wie sie selber bei der Selbstbefriedigung mit der Hand. Oder sie bekommen das andere Problem, dass sie zu schnell zum Hçhepunkt gelangen und die Frau
unzufrieden ist. Das führt zu Frust, und dann beginnen die Vorwürfe an den Partner.
Das Ziel wäre aber, dass beide zum Hçhepunkt gelangen.
Achtung, bauen wir keinen Druck auf! Machen wir auch das
nicht zur Norm, dass bei jeder sexuellen Begegnung beide und
miteinander einen Orgasmus erreichen müssen. Ein Paar genießt
es vielleicht, manchmal auch einfach ineinander zu liegen.
Wenn es aber für den Mann ein Problem ist, dass er immer zu
früh kommt, ist es für ihn wichtig zu wissen, dass er dies mit
neuen Lernschritten ändern kann. Oder wenn es der Frau nicht
gelingt, ihre Erregung so weit zu steigern, dass sie im Orgasmus
loslassen kann, dann ist es für sie gut zu wissen, dass dies lernbar ist.
Da sind wir wieder bei der sexuellen Lerngeschichte.
Nehmen wir Jungs, die sich selber befriedigen und gelernt haben,
dies mçglichst schnell und mechanisch zu tun. Wenn sie niemand
darauf aufmerksam macht, dass sie auch noch andere Mçglichkeiten haben, dies zu tun, bleiben sie bei dieser mechanischen Art, die
Ja, es ist wie beim Flçtenspielen. Ich lerne, damit ich die Flçte und
viele verschiedene Melodien auf ihr spielen kann. Je nachdem,
wie ich mein Instrument beherrsche, wird auch das Zusammenspiel klingen. Sexualität ist – wie das Flçtenspiel – eine Kunst.
Das bedeutet, je nachdem, was ich will, bin ich aufgefordert, sie
in der Autoerotik und in der Beziehung zu kultivieren, zu üben,
damit sie sich entwickelt und nicht verkümmert.
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Würden Sie ein Beispiel geben?
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Kçnnten Sie dieses «Kultivieren der Sexualität» etwas genauer umschreiben?
Ja, und auch an ein schçn eingerichtetes Schlafzimmer, angenehmes Licht, anregende Musik, gut duftendes Massageçl. Das alles
kann die sexuelle und emotionale Erregung auslçsen und stützen
helfen.
Ich hçre oft von Frauen, dass sie den Wunsch hegen, bereits tagsüber gestreichelt, berührt oder geküsst zu werden. Kleine Aufmerksamkeiten wie Necken oder ein liebes Wort kçnnen schon
sehr erregend sein. Dass der Mann im Gegensatz zur Frau meist
schneller erregt sein soll, entspricht mehr einem gängigen Klischee als der Realität. Klar ist beim Mann die Erregung sofort ersichtlich, und das Geschlecht der Frau braucht manchmal mehr
Zeit, um durchblutet und befeuchtet zu werden, doch kann auch
die Frau in Sekundenschnelle erregt sein. Realität ist also vielmehr, dass sowohl bei der Frau wie beim Mann unterschiedliche
Rhythmen bestehen kçnnen und dass es zu den erotischen Fähigkeiten gehçrt, Spannung aufzubauen und diese als Paar erleben zu
kçnnen. Realität ist auch, dass mangelnde Erregung beim Mann
Druck erzeugen kann und bei der Frau, wenn sie davon betroffen
ist, zu Schmerzen beim Eindringen des Penis führen kann.
Spielerische Aufmerksamkeiten helfen deshalb, dass die sexuelle Erregung beim Paar ausgelçst wird. Wenn die sexuelle Erregung mal da ist, gibt es verschiedene Arten, um diese zu steigern
und zur Entladung zu bringen. Dabei spielt es unter anderem eine
Rolle, wie ich die Muskeln einsetze, wie ich mit der Muskelspannung variieren kann und wie ich die Atmung einsetze.
Mit der Bauchatmung zum Beispiel kann ich den oberen Brustbereich, also den Bereich der Gefühle, mit dem Bereich unten,
dem der sexuellen Erregung, verbinden. Das ist doch eigentlich
auch das, was sich viele Leute wünschen, nämlich die Liebesgefühle mit dem sexuellen Begehren vereint zu erleben.
Das geht aber kaum, wenn einseitig die Liebesgefühle unterstützt und wertgeschätzt werden und die Sexualität außer Acht gelassen wird.
In verschiedenen Fachbüchern las ich, dass sich die Erotik bereits im
Alltag abspiele. Wie ist das wohl gemeint?
Der Paartherapeut Dr. Hans Jellouschek schreibt in seinem Buch
«Wie Liebe, Familie und Beruf zusammengehen»: «Heutige Paare,
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Kultivieren bedeutet, dass Sexualität nicht einfach automatisch
gelingt, sondern gelernt wird und sich durch unser aktives Dranbleiben weiterentwickelt. Es ist dasselbe wie mit der Kommunikation in der Beziehung: Wenn der Dialog nicht immer wieder
bewusst gepflegt wird, verkümmert er – und damit die Beziehung.
In Bezug auf die Sexualität meine ich nicht, dass jedes sexuelle
Geschehen in der Ehe immer einem Fünfgangmenü entsprechen
muss, das heißt immer alles stimmen und weiß nicht wie intensiv
sein muss.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe ein Fünfgangmenü.
Aber manchmal freue ich mich auch über ein gutes Sandwich. So
ist es auch bei der Sexualität. Wichtig ist, dass man keine Normen
aufstellt, sondern in sich hineinhorcht, herausfindet, worauf ich
jetzt Lust habe, und dies auch mitteile.
Und überhaupt darf Sexualität ja auch ganz spielerisch sein, sie
darf einmal ganz humorvoll daherkommen oder ein andermal
ganz still. Auch das Drumherum zu gestalten, kann sehr lustvoll
und unterstützend sein.
Sie denken dabei an Kerzenlicht oder ein gutes Essen?
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Die Autorin
Iris Muhl, Jahrgang 1970, ist Journalistin BR für säkulare und
christliche Medien. Von 2004 bis 2006 TV-Redakteurin beim
«Fenster zum Sonntag»-Talk. Heute freie Print- und Radiojournalistin für «Idea Schweiz», «Factum», «Der Landbote», «Der Hauseigentümer», Radio «Life Channel» und weitere Medien. Ihre
Schwerpunkte sind: Reportagen, Porträts und Interviews im Bereich Religion, Literatur, Wirtschaft und Architektur.
Sie lebt mit ihrem Ehemann Michel Muhl, einem Architekten, und
ihren drei Sçhnen in Zürich.
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