Broschüre - NS Dokuzentrum

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ThemenGeschichtsPfad
Der Nationalsozialismus
in München
Die ThemenGeschichtsPfade erscheinen als
Ergänzung zu der Reihe KulturGeschichtsPfade
der Stadt München.
Inhalt
Vorwort
3
In der Reihe ThemenGeschichtsPfade bereits
erschienene und zukünftige Publikationen:
Informationen zum Rundgang
5
Der ThemenGeschichtsPfad als Hörversion
6
Der Nationalsozialismus in München
Ein geschichtlicher Rundgang vom Marienplatz
zum Königsplatz
7
Band
Band
Band
Band
1
1 engl.
2
3
Band 3 engl.
Band 4
Der Nationalsozialismus in München
National Socialism in Munich
Geschichte der Lesben und Schwulen in München
Orte des Erinnerns und Gedenkens
Nationalsozialismus in München
Places of Remembrance and Commemoration
National Socialism in Munich
Geschichte der Frauenbewegung in München
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.muenchen.de/tgp
Eine Auflistung der bereits erschienenen
und zukünftigen Publikationen der Reihe
KulturGeschichtsPfade finden Sie am Ende
dieser Broschüre.
München – die »Hauptstadt der Bewegung«
9
Novemberrevolution, Räterepublik,
Gegenrevolution 1918/19
13
Antisemitismus, völkisches Milieu
und Rechtsextremismus
19
Die Anfänge der NSDAP
und der Aufstieg Hitlers
23
Hitlers Putschversuch im November 1923
27
Exkurs: Die Schauseite des Regimes in der
»Führerstadt« München
33
München in der Weimarer Republik –
die Formierung der NS-»Bewegung«
41
Das Münchner Bürgertum und der
Aufstieg der NSDAP
45
Die »Machtergreifung«: Gleichschaltung
und Beginn der Verfolgungen
49
Ausgrenzung durch Eingrenzung –
Gleichschaltung der Berufsverbände
55
Das Parteiviertel – gesellschaftliche und
organisatorische Gleichschaltung
61
Entrechtung und Enteignung, Deportation
und Ermordung der jüdischen Münchner
65
Rolle der Kirchen im NS-Staat und kirchlicher
Widerstand
71
München als Schauplatz internationaler
Unrechtspolitik
75
Parteizentrale München – Machtzentrale Berlin
79
Der Königsplatz: Repräsentation des Regimes
83
Der Umgang mit dem nationalsozialistischen
Erbe nach dem Krieg
87
Das NS-Dokumentationszentrum München,
Brienner Straße
»Memory Loops«
300 Tonspuren zu den Orten
des NS-Terrors in München 1933 –1945
Weitere Informationen
Das NS-Dokumentationszentrum im Internet
Literaturauswahl
Bildnachweis
Ortsregister
Übersichtsplan
91
94
97
98
98
100
Vorwort
Der vorliegende ThemenGeschichtsPfad erscheint im
Rahmen der KulturGeschichtsPfade der Landeshauptstadt
München. Wie die KulturGeschichtsPfade führt auch dieser
Rundgang entlang historisch bedeutender Orte, ist dabei
jedoch eine Besonderheit: Bezirksübergreifend informiert er
grundlegend zu dem für die Stadt München so zentralen
historischen Thema »Der Nationalsozialismus in München«.
Er liegt ebenfalls in englischer Sprache vor.
Die Stadt München ist sich ihrer besonderen Verpflichtung
bewusst, aktiv an die Zeit des Nationalsozialismus und an
seine Verbrechen zu erinnern und über sie zu informieren:
Denn von hier aus erfolgte der Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg, hier
fanden der Putschversuch und der Prozess gegen Hitler
statt, hier fand dieser einflussreiche Förderer, die ihm den
3
Aufstieg in das bürgerliche Lager ermöglichten, von hier
aus rief Goebbels zum reichsweiten Pogrom gegen die
jüdische Bevölkerung auf. Nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten 1933 erhielt München, nachdem Hitler
die Stadt als Ort der kultischen Repräsentation des Regimes
auserkoren hatte, die Titel »Hauptstadt der Deutschen
Kunst« und »Hauptstadt der Bewegung«.
Informationen zum Rundgang
Die Lektüre dieses Bands, kombiniert mit dem Rundgang
und der Audioversion, die Sie sich – in einer deutschen und
einer englischen Fassung – aus dem Internet herunterladen
können, soll einen umfassenden Einstieg bieten und Sie, die
Bürgerinnen und Bürger, zu einer weiterführenden Beschäftigung mit diesem für unsere demokratische Kultur nach wie
vor so wichtigen Thema anregen. Künftig wird hierzu auch
das in Planung befindliche NS-Dokumentationszentrum einen
zentralen Beitrag leisten.
# Zu den einzelnen Stationen:
siehe Übersichtskarte im Anhang
Routenverlauf:
Marienplatz – Max-Joseph-Platz – Odeonsplatz – Hofgarten
– Brienner Straße – Platz der Opfer des Nationalsozialismus
– Karolinenplatz – Karlstraße – Katharina-von-Bora-Straße –
Königsplatz – Platz der Opfer des Nationalsozialismus
Start:
Ende:
Marienplatz
Königsplatz / Platz der Opfer
des Nationalsozialismus
Dauer: ca. 1,5 – 2 Stunden zu Fuß
ca. 45 Minuten mit dem Fahrrad
Öffentliche Verkehrsmittel an der Route:
Marienplatz
S-Bahn (alle Linien), U3/6, Bus 52
Max-Joseph-Platz
Trambahn 19
Odeonsplatz
U 3/6, Bus 100
Königsplatz
U 2, Bus 100
Karolinenplatz
Trambahn 27
Christian Ude
Oberbürgermeister
Fahrplanauskünfte unter:
www.mvv-muenchen.de
Adressangaben:
Zeitgenössische Adressangaben vor 1945 finden Sie kursiv
in eckigen Klammern.
4
5
Der ThemenGeschichtsPfad
als Hörversion
Sie können sich den ThemenGeschichtsPfad »Der Nationalsozialismus in München« auch als erweiterte Hörversion für
Ihren MP3-Player kostenlos aus dem Internet herunterladen.
Die Hörfassung liegt ebenfalls in englischer Sprache vor.
Bitte besuchen Sie dazu unsere Internetseiten:
www.muenchen.de/tgp
www.ns-dokumentationszentrum-muenchen.de
Im Übersichtsplan, auf dem dieser Rundgang durch die Stadt
eingezeichnet ist, finden Sie Kopfhörersymbole ‫ ﲵ‬. Wenn
Sie auf Ihrem MP3-Player die entsprechende Datei wählen,
erfahren Sie mehr über die historische Bedeutung dieser
Orte. Ergänzend zu den Informationen, die Sie in der Broschüre finden, hören Sie zu den einzelnen Themen persönliche Aussagen von Überlebenden, Zeitzeugen, Experten und
von Menschen, die sich in besonderer Weise mit dem Thema
»Nationalsozialismus in München« beschäftigt haben.
Der Nationalsozialismus
in München
Konzeption/Realisation: Horst Konietzny
Sounddesign: Dr. Klaus Treuheit
Mitarbeit Textbearbeitung: Dr. Jürgen von Stenglin
Sprecher: Ruth Geiersberger, Stefan Hunstein
Mitwirkende: Prof. Dr. Christopher Balme, Ulrich Chaussy,
Dr. Axel Drecoll, Ernst Grube, Dr. Alexander Krause, Dr. HansGeorg Küppers, Dr. Iris Lauterbach, Albert Lörcher †,
Johanna Schmidt-Grohe †, Dr. Uri Siegel, Dr. Elisabeth
Tworek, Prof. Dr. Klaus Weber
Ein geschichtlicher Rundgang
vom Marienplatz zum
Königsplatz
Mit freundlicher Unterstützung des Medienzentrums München
6
Marienplatz, Marienplatz 8, Marienplatz 15
München – die »Hauptstadt
der Bewegung«
1
‫ﲵ‬
1
3
2
1 Neues Rathaus
Marienplatz 8
2 Altes Rathaus
Marienplatz 15
3 Marienplatz
München ist wie keine andere deutsche Stadt mit der
Frühgeschichte und dem Aufstieg der NSDAP verbunden. Der Rundgang dieses ThemenGeschichtsPfades
führt an Orte, die für die Entstehung und Geschichte des
Nationalsozialismus eine herausgehobene Bedeutung
hatten. Nach der Machtübernahme in Berlin war München nicht nur Schauplatz der nationalsozialistischen
Selbstdarstellung. Der lokale Verfolgungs- und Unterdrückungsapparat, der seit 1933 mit großer Zuverlässigkeit, Effizienz und einer enormen Tragweite funktionierte, hatte in vielerlei Hinsicht eine Vorbildfunktion
für das Reich.
Über dem Münchner Marienplatz 3
wehte am Neuen Rathaus 1 zwischen 1933 und 1945 die Hakenkreuzfahne, das Symbol der Terrorherrschaft
des Nationalsozialismus. Der NS-Staat
veränderte das Leben in der Stadt von
9
Münchner Rathaus
und Marienplatz in
der NS-Zeit
Oberbürgermeister
Fiehler verleiht Hermann Göring am
15. Januar 1943 das
Ehrenbürgerrecht
der »Hauptstadt der
Bewegung«.
Das Stadtwappen
Münchens von
1936 bis 1945
10
Grund auf. Am 2. August 1935 erhielt
München von Adolf Hitler die als Ehrentitel geltende Bezeichnung »Hauptstadt der Bewegung«. Bereits 1933
hatte er ihr den Titel »Hauptstadt der
Deutschen Kunst« verliehen. Damit
betonte das Regime die Rolle Münchens als ideologischen Bezugspunkt
und als Zentrum des Kunst- und Kulturschaffens.
Die lokale NS-Elite bemühte sich nach
Kräften, den Erwartungen ihres »Führers« gerecht zu werden. 1933 rückten
Parteifunktionäre, wie der Verwaltungsbeamte Karl Fiehler oder der ehemalige Pferdeknecht Christian Weber, in
hohe Führungspositionen auf. Diese
hatten sich vor allem aufgrund ihres
Status als »alte Kämpfer« und wegen
ihrer Nähe zu Hitler für lokale NS-Karrieren qualifiziert. Sie sorgten dafür,
dass München bei der Umsetzung der
nationalsozialistischen Ideologie, ins-
besondere bei der Verfolgung der
Juden, eine Vorreiterfunktion übernahm.
Hier wurden Maßnahmen erdacht und
umgesetzt, die für das Reich Modellcharakter annahmen. Im benachbarten
Dachau wurde bereits im März 1933
eines der ersten Konzentrationslager
errichtet. Es wurde zum Vorbild für das
nationalsozialistische KZ-System. Am
9. November 1938 wurde in der »Hauptstadt der Bewegung« das Signal zur
brutalen und gesteuerten Aggression
gegen die Juden gegeben: Im Alten
Rathaus 2 begann mit einer Hetzrede
von Propagandaminister Joseph
Goebbels die Reichspogromnacht.
Der Königsplatz nach
seiner Umgestaltung
zum zentralen »Kult«und Aufmarschplatz,
1938
Marienplatz über Kardinal-Faulhaber-Straße
[Promenadestraße 1] und Prannerstraße 8 [16 – 23]
zum Max-Joseph-Platz
5
‫ﲵ‬
2
4
6
Novemberrevolution, Räterepublik
und Gegenrevolution 1918/19
München war im November 1918 ein zentraler Schauplatz der revolutionären Ereignisse. Kurt Eisner beendete hier mit der Ausrufung des »Freistaats Bayern«
die Monarchie. Nach der Ermordung Eisners wurde
Anfang April 1919 die Räterepublik ausgerufen, die
bald durch eine zweite, radikalere abgelöst und wenig
später von antirepublikanischen Verbänden brutal
beseitigt wurde.
4 Denkmal zur Erinnerung an die Ermordung Kurt Eisners
Kardinal-Faulhaber-Straße [Promenadestraße 1]
5 Ehemaliger Bayerischer Landtag
Prannerstraße 8 [16 – 23]
6 Max-Joseph-Platz
Im Zuge der Novemberrevolution wurden in ganz Deutschland Revolutionsregierungen gebildet. Ziele waren ein
rascher Friedensschluss und eine umfassende demokratisch-sozialistische
Erneuerung von Staat und Gesellschaft
in dem vom Krieg zerrütteten Land. Am
7. November 1918 wurde in Bayern, am
9. November in Berlin die Monarchie
für beendet erklärt. Zwei Tage später
war der Erste Weltkrieg zu Ende.
13
Novemberrevolution
1918: republikanische Soldaten vor
dem Landtagsgebäude, Prannerstraße
Die Umbruchphase nach dem Krieg verlief in München besonders spannungsreich. Dem neuen Ministerpräsidenten
Kurt Eisner gelang es nicht, die Ängste
des bürgerlich-konservativen Lagers vor
einer kommunistischen Umwälzung
zu zerstreuen. Am 21. Februar 1919
wurde Eisner auf dem Weg in den
Landtag 5 , wo er nach verlorener Wahl
sein Amt niederlegen wollte, von dem
rechtsgerichteten Reserveleutnant
Anton Graf von Arco auf Valley auf offener Straße ermordet 4 . Dies war der
Auslöser für die Eskalation der politischen Krise. Am 7. April 1919 riefen
Mitglieder des von den Münchner Arbeiter- und Soldatenräten eingesetzten
Zentralrats eine Räterepublik aus, deren Führung und politische Ausrichtung
in den folgenden Wochen noch zweimal wechseln sollten.
Schon am 1. Mai 1919 beendeten von
der sozialdemokratischen Regierung
Hoffmann herbeigerufene Regierungstruppen das kurze Kapitel der Räterepublik. Antirepublikanisch gesinnte Soldaten-, Freikorps- und Kampfverbände
unter der Führung von Franz Ritter von
Epp nahmen die vorangegangene Erschießung von zehn politisch rechtsgerichteten Gefangenen zum Vorwand
für ein brutales Vorgehen. Prominente
Räteführer wurden ermordet oder von
Kurt Eisner (1867–
1919). Nach Abschaffung der Monarchie
wurde Eisner erster
Ministerpräsident des
neuen »Freistaats
Bayern«.
Am 21. Februar 1919
wurde Eisner Opfer
eines Attentats: der
Tatort in der damaligen Promenadestraße kurz nach der
Ermordung
15
Ende der Räterepublik: vor der Residenz
6 gefangene Rotarmisten werden abgeführt, Mai 1919.
einer mit dem rechten Lager sympathisierenden Justiz zu langen Zuchthausstrafen verurteilt. Vermutlich verloren
durch diese »Gegenrevolution« etwa
650 Menschen ihr Leben. Zur Wiederherstellung von »Gesetz und Ordnung«
und um jedes Aufflammen erneuter
kommunistischer Aktivitäten im Keim
zu ersticken, wurden Einwohnerwehren gebildet. Diese formierten sich in
der Folgezeit zur größten politischen
»Selbstschutzorganisation« der rechten
Parteien und Organisationen im Reich.
Nach Auflösung des Landesverbandes
Mitte 1921 sammelten sich die Mitglieder in anderen republikfeindlichen
und paramilitärischen Gruppen.
Umzug des Freikorps
Werdenfels in der
Maximilianstraße,
Mai 1919
17
Maximilianstraße 4 [17]
Antisemitismus, völkisches Milieu
und Rechtsextremismus
‫ﲵ‬
3
7
7 Ehemaliger Sitz der Thule-Gesellschaft
Maximilianstraße 4 [17]
Der Nährboden für den Nationalsozialismus war bereits
um die Jahrhundertwende in München besonders
fruchtbar. Nach dem verlorenen Weltkrieg schwächten
zudem Revolution und Gegenrevolution die republikanischen Kräfte und verstärkten antidemokratische,
rechtsextreme Strömungen. Die Entwicklung Bayerns
zu einer antiliberalen und autoritären »Ordnungszelle«
begünstigte in München die Entstehung einer Atmosphäre der Intoleranz und des Antisemitismus. Dies
nutzte die frühe NS-Propaganda.
München entwickelte sich nach dem
blutigen Ende der Räterepublik zu
einem Zentrum der Opposition gegen
den jungen demokratischen Staat.
Wichtig für die extreme Rechte war
der 1920 in Bayern als Kandidat der
»Bayerischen Volkspartei« (BVP) zum
Ministerpräsident gewählte Gustav
von Kahr. Sein Ziel war es, Bayern zu
19
Das Hotel »Vier
Jahreszeiten« in der
Maximilianstraße:
Anfang der 1920er
Jahre Gründungsort
und Geschäftssitz der
Thule-Gesellschaft,
Aufnahme aus den
1930er Jahre
einer autoritären »Ordnungszelle« umzugestalten und zu einem »Anti-Berlin«
zu machen. Ein breites Spektrum nationalistisch, antidemokratisch und reaktionär Gesinnter fand nun in München
ein ideales Betätigungsfeld. Auch der
frühere »Erste Generalquartiermeister
der Reichswehr«, Erich von Ludendorff, nutzte das politische Klima Münchens. Als Leitfigur der Gegner der
Republik scharte er das radikale völkische Milieu um sich.
Unter Gustav von
Kahr (1862 –1934)
wurde Bayern als
»Ordnungszelle« und
»Anti-Berlin« zum
Zentrum der Opposition gegen die Republik.
Erich Ludendorff
(1865 –1937) zählte
zu den führenden
Köpfen des rechten
Lagers.
20
Eine maßgebliche Rolle im Netzwerk
der Republikfeinde spielte die 1918 gegründete völkisch-rassistische »ThuleGesellschaft« mit Geschäftssitz im
Hotel »Vier Jahreszeiten« in der Maximilianstraße 7 . Ihre Mitglieder, wie der
Münchner Polizeichef Ernst Pöhner,
wirkten an zahlreichen Stellen des
öffentlichen Lebens. Der spätere Bürgermeister Karl Fiehler, der einflussreiche »Rassentheoretiker« Alfred
Rosenberg oder Hitlers späterer Stellvertreter Rudolf Heß waren ebenfalls
Mitglieder. Von München aus bekämpfte
die Geheimorganisation zunächst die
Räterepublik und unterstützte dann
den Aufstieg der NSDAP.
Briefkopf ThuleGesellschaft, 1919
Die Ursprünge des reaktionären
München reichten bis in die Zeit um
1900 zurück. Damals entwickelte sich
Schwabing nicht nur zum Zentrum
einer künstlerischen Bohème, sondern
auch zum Sammelbecken von Anhängern verschrobener esoterischer, irrationaler und nihilistischer Lehren. Die
aggressive Agitation der NS-Ideologen
gegen eine angeblich »undeutsche«
Kultur führte dazu, dass liberal und fortschrittlich gesinnte Intellektuelle wie
Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger
oder Ödön von Horváth im Laufe der
1920er Jahre in die Metropole Berlin
abwanderten.
Politisches Plakat, ca.
1919: »Raus mit Euch,
bei uns gibt’s koa’
Anarchie« (unten)
Platzl
Die Anfänge der NSDAP
und der Aufstieg Hitlers
Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden im reaktionären
Milieu Münchens zahlreiche völkische und extremistische Organisationen. Eine dieser rechten Splittergruppen
war die 1919 gegründete »Deutsche Arbeiterpartei«,
aus der 1920 die NSDAP hervorging. Mit ihr begann
Hitlers Aufstieg zur politischen Macht.
8
8 Hofbräuhaus
Platzl
Adolf Hitler war bereits 1913 von Wien
nach München gekommen und hatte
sich als Postkartenmaler durchgeschlagen. Seine Pläne einer Künstlerkarriere
scheiterten jedoch. Am Ersten Weltkrieg
nahm Hitler als Freiwilliger in einem
bayerischen Regiment teil. In den Revolutionswirren von 1918/19 kam er erneut nach München. Geprägt vom antisemitischen Milieu Wiens sowie unter
dem Eindruck des Kriegserlebnisses
suchte Hitler nach einem neuen Betätigungsfeld. Er fand es in den aufstreben23
den rechtsextremen Kreisen der Stadt.
Aus einer diffusen Mischung von judenfeindlichen Vorurteilen, antimarxistischen Verschwörungstheorien und
nationalistisch-völkischen Denkmustern verfestigten sich seine ideologischen Vorstellungen.
Anton Drexler (1884 –
1942) gründete im
Januar 1919 mit Karl
Harrer – ein Mitglied
der Thule-Gesellschaft – die »Deutsche Arbeiter Partei«
(DAP).
Adolf Hitler (1889 –
1945) stieß im September 1919 zur
DAP, wo er sich als
Parteiredner profilierte.
24
Bei der judenfeindlich-antimarxistischen
»Deutschen Arbeiterpartei« (DAP)
unternahm Hitler erste politische Gehversuche. Seine Redebegabung brachte
ihn bald in eine Führungsrolle. Um sich
von linken Organisationen abzugrenzen, wurde die DAP im Februar 1920
auf einer Versammlung im Hofbräuhaus 8 in »Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei« (NSDAP)
umbenannt. Die NSDAP erlebte in der
Folgezeit starken Zulauf. Als wichtiges
Instrument der Partei fungierte zudem
die als Saalschutz gegründete »Sturmabteilung« (SA). Diese Parteimiliz
war verantwortlich für Übergriffe auf
Juden und vermeintliche Gegner der
NS-»Bewegung«. Bis zum Juli 1921
hatte Hitler erfolgreich andere Anführer
der NSDAP verdrängt. Er wurde als
Parteivorsitzender mit weitgehenden
Vollmachten ausgestattet.
Innerhalb weniger Monate tat sich
Hitler als wichtigster populistischer
Agitator des rechten Spektrums in
München hervor. In Massenversammlungen beschimpfte er die »Berliner
Erfüllungspolitiker«, die sich angeblich
den Forderungen der alliierten Siegermächte beugten. Er beschwor den
Dämon des Bolschewismus und hetzte
gegen Juden. In seiner Person bündelte
sich das antidemokratische, nationalistische und rassistische Denken dieser
Jahre. Hitler wurde zum Hoffnungsträger jener Kräfte, die sich in der Verachtung von Parlamentarismus und
Demokratie, der Beschwörung des
»Geistes von 1914« und dem Glauben
an die Überlegenheit eines deutschen
»Herrenmenschentums« einig waren.
Propagandafahrt
der NSDAP 1923:
Hitler (2. v.l.),
Christian Weber,
(1. v.r.)
25
Vom Max-Joseph-Platz zum Odeonsplatz
‫ﲵ‬
4
12
11
Hitlers Putschversuch im November 1923
10
9
9 Residenzstraße
10 Viscardigasse (»Drückebergergassl«)
11 »Ehrenmal« an der Feldherrnhalle
12 Feldherrnhalle
Odeonsplatz
Ein Schlüsselereignis für die Geschichte der NSDAP war
der gescheiterte Putsch vom November 1923. Die Zurückhaltung von Polizei, Justiz und Staat gegenüber antidemokratischen Staatsfeinden begünstigte den Aufstieg
und die Stilisierung Adolf Hitlers zum Hoffnungsträger
einer »nationalen Erhebung«.
Der Konflikt zwischen dem reaktionären
Bayern und dem Reich spitzte sich 1923
zu. Hitler interpretierte die spannungsgeladene Atmosphäre als günstig für
einen Umsturzversuch. Angesichts
seiner vermeintlich gefestigten politischen Stellung ergriff er im November
1923 die Initiative: Am 8. November
sprengte er im Bürgerbräukeller am
Gasteig eine Versammlung des Generalstaatskommissars Gustav von Kahr,
von dem ebenfalls ein Umsturz erwartet wurde. Um Kahr zuvorzukommen,
rief Hitler seinerseits zum Putsch und
27
Als sie sich nicht mehr persönlich bedroht sahen und den Umsturz als dilettantisch erkannten, widerriefen Kahr,
Lossow und Seißer jedoch kurz darauf
ihre Zugeständnisse. Ungeachtet dessen versuchte Hitler am 9. November,
sein Vorhaben mit einem Demonstrationszug umzusetzen. Nach einem
Marsch vom Bürgerbräukeller über die
Ludwigsbrücke und durch die Residenzstraße 9 wurden die Putschisten
an der Feldherrnhalle 11 12 von Einheiten der Landespolizei aufgehalten.
Dem folgenden Schusswechsel fielen
15 Putschisten, vier Landespolizisten
und ein Unbeteiligter zum Opfer. Hitler
konnte fliehen, wurde jedoch zwei Tage
später verhaftet.
Der zum »Marsch auf
die Feldherrnhalle«
stilisierte Putschversuch vom 9. November 1923: Heinrich
Himmler (Mitte, mit
Brille) an einer Straßensperre vor dem
Kriegsministerium,
Ecke Ludwig-/
Schönfeldstraße
28
zur »Nationalen Revolution« auf. Er
erklärte die bayerische Regierung für
abgesetzt und nötigte Kahr und seine
Mitstreiter, den bayerischen Reichswehrkommandanten Otto von Lossow
und den Chef der Landespolizei Hans
von Seißer, zur Mitwirkung an einer
provisorischen Regierung.
Die Angeklagten des
Hitlerprozesses im
Frühjahr 1924 mit
ihren Verteidigern
(in der Bildmitte
Erich Ludendorff,
rechts von ihm Hitler)
In der Landsberger
Haft schrieb Hitler
»Mein Kampf«, in
dem er seine weltanschaulichen Überzeugungen und seine
Programmatik darstellte.
»Ehrenmal« für die
gefallenen Putschisten von 1923,
1930er Jahre
30
Im Februar/März 1924 fand gegen Hitler
ein Hochverratsprozess statt. Die
Parteilichkeit der bayerischen Justiz,
insbesondere in Person des Richters
Georg Neidhardt, der schon gegen Graf
Arco ein mildes Urteil gesprochen
hatte, machte das Verfahren zur Farce.
Die NSDAP wurde verboten und Hitler
zu einer Mindeststrafe von fünf Jahren
Haft verurteilt. Prozessverlauf und Haft
hatten seinen Bekanntheitsgrad erheblich gesteigert. Es gelang ihm, die
Festungshaft in Landsberg in politisches Kapital umzuwandeln. In Landsberg verfasste er die Schrift »Mein
Kampf«, die später in Millionenauflage
Verbreitung fand. Bereits Ende 1924
wurde Hitler begnadigt.
Die NS-Propaganda deutete den
Putschversuch später, in Anlehnung an
Mussolinis »Marsch auf Rom«, zum
»Marsch auf die Feldherrnhalle« um.
Rund um die Uhr war nach 1933 vor
der Feldherrnhalle eine »Ewige Wache«
11 postiert; von den Passanten wurde
der »Hitlergruß« erwartet. Viele Münchner nahmen deshalb den Weg durch
die Viscardigasse, die daher im Volksmund »Drückebergergassl« 10 hieß.
Odeonsplatz – Ludwigstraße – Galeriestraße 4 –
Hofgarten
16
15
13
‫ﲵ‬
5
14
Mahnmal
Widerstand
gegen den
Nationalsozialismus
Exkurs: Die Schauseite des Regimes
in der »Führerstadt« München
Die Stadt diente nach 1933 als Schauplatz für öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellungen des Regimes.
Münchens Einflussverlust durch die Verlagerung des
Machtzentrums nach Berlin sollte durch eine »kulturelle
Führerschaft« kompensiert werden. Gigantische Umgestaltungsprojekte wurden geplant. Während moderne
Künstler als »entartet« diffamiert wurden, zelebrierten
die neuen Machthaber in der »Hauptstadt der Deutschen
Kunst« ihren biederen und rückwärtsgerichteten Kunstgeschmack.
12
12 Feldherrnhalle
Odeonsplatz
13 »Tag der Deutschen Kunst«
Ludwigstraße/Odeonsplatz
14 Ausstellung »Entartete Kunst«
Galeriestraße 4
15 »Haus der Deutschen Kunst«
Prinzregentenstraße 1
16 Straßenverbreiterung zum
»Haus der Deutschen Kunst«
Von-der-Tann-Straße
Mit pompösen Schauspielen feierte sich
München von 1933 an als Geburtsstätte
der NSDAP. Vor allem am zum Staatsfeiertag erklärten 9. November wurde
die Innenstadt zur Bühne eines gespenstischen Spektakels: Gedenkfeiern
wurden am Vorabend des 9. November im Bürgerbräukeller, an der Feldherrnhalle 12 und ab 1935 an den
33
»Tag der Deutschen
Kunst« mit Festzug
entlang der Ludwigstraße/Odeonsplatz,
18. Juli 1937
34
»Ehrentempeln« am Königsplatz abgehalten. Dieser Ort fungierte als zentrale Stätte des pseudoreligiösen Parteikultes. Hierher wurden 1935 die
Särge der »Märtyrer« vom November
1923 umgebettet. Der alljährlich nachgestellte »Marsch zur Feldherrnhalle«
gipfelte in einer Kundgebung, bei der
die »Volksgemeinschaft« auf rituelle
Weise an die Ursprünge des Nationalsozialismus in der »Hauptstadt der
Bewegung« erinnert und auf die
»Blutzeugen« des 9. November 1923
eingeschworen werden sollte.
Die Nationalsozialisten bewiesen ein
außerordentliches Gespür für die Lenkung der Massen. Erlebnisintensive
Aufmärsche, nächtliche Lichtspektakel
und pathetische Appelle sollten dem
Publikum eine besondere Legitimation
des Regimes vermitteln. Dabei bedienten sich die Propagandisten aus dem
Arsenal der antiken Mythologie, der
nordischen Sagenwelt, des Mittelalters
und der Opernwelt Richard Wagners.
Bei der Massenveranstaltung am alljährlichen »Tag der Deutschen Kunst«
war dies zu erleben: Die Inszenierung
der Festzüge von 1937 bis 1939 unter
dem Motto »2000 Jahre Deutsche
Kultur« durch die Münchner Innenstadt,
an einer Ehrentribüne am Odeonsplatz
13 vorbei, vermischte die NS-Ideologie
mit diffusen Vorstellungen von Germanen- und Rittertum. Eine behauptete
deutsche Kultur- und Geistesüberlegenheit wurde theatralisch in Szene
gesetzt.
Plakat der »Großen
Deutschen Kunstausstellung«, 1937
35
Das »Haus der Deutschen Kunst« an
der Prinzregentenstraße 15 sollte Münchens Rang als »Hauptstadt der Deutschen Kunst« bekräftigen. Anlässlich
der Grundsteinlegung im Oktober 1933
hatte Hitler München diesen »Ehrentitel« verliehen. Das Ausstellungsgebäude wurde im Juli 1937 feierlich
eröffnet. In der Folgezeit war hier eine
Kunst zu sehen, die den nationalsozialistischen Vorstellungen von nordischarischer Überlegenheit, Bauerntum
und Naturverbundenheit, Wehrhaftigkeit und Kriegertum, etc. entsprach.
Die Ausstellung
»Entartete Kunst«
wurde 1937 in der
Galeriestraße zeitgleich mit dem
»Haus der Deutschen
Kunst« eröffnet und
stellte diejenigen
Kunstwerke zur
Schau, die als »entartet« bezeichnet
wurden.
36
1937 war in den Hofgartenarkaden die
Propagandaausstellung »Entartete
Kunst« 14 zu sehen, die Künstler der
Moderne gezielt diffamierte. Ihre
Werke wurden als Beleg für den »kulturellen Verfall« vor 1933 präsentiert
und in Gegensatz zu einer »wahren
deutschen« Kunst gestellt. Zum »Beweis der Entartung« wurden insgesamt
650 Objekte gezeigt – darunter Werke
von Ernst Ludwig Kirchner, Franz Marc,
Max Beckmann, Emil Nolde, George
Grosz, Kurt Schwitters und Wassily
Kandinsky.
Das von Paul Ludwig
Troost entworfene
»Haus der Deutschen
Kunst« an der Prinzregentenstraße wurde
1937 eingeweiht.
Hier war bis 1944 die
jährliche »Große
Deutsche Kunstausstellung« zu sehen.
Architekturplanung
für München: OstWest-Achse, östlicher
Teil, Blick vom »Denkmal der Bewegung«
zum neuen Hauptbahnhof (Modell,
1940)
München war eine der fünf »Führerstädte« im geplanten »Großgermanischen Reich«, die städtebaulich radikal
umgestaltet werden sollten. Die monumentalen Pläne, die in enger Zusammenarbeit mit Hitler entstanden, beinhalteten den Bau einer 2,5 Kilometer
langen und 120 Meter breiten Prachtstraße (»Große Achse«) mit überdimensionalen Kultur- und Repräsentationsbauten sowie einer sechs Kilometer
langen Ost-West-Achse. Städtebaulich
prägend sollten ein riesiger Kuppelbau
für einen neuen Hauptbahnhof und
ein 200 Meter hohes »Denkmal der
Bewegung« werden. Die Baumaßnahmen sollten bis zum Jahr 1950 abge-
Rekrutenvereidigung
an der Feldherrnhalle,
November 1935
schlossen werden. Wenige dieser Vorhaben wurden verwirklicht: so die Umgestaltung des Königsplatzes mit den
umliegenden Parteibauten oder die
Verbreiterung der Von-der-Tann-Straße
16 , die eine Verbindung zwischen dem
»Haus der Deutschen Kunst« und
dem Parteizentrum am Königsplatz herstellte.
39
Vom Hofgarten in die Brienner Straße
München in der Weimarer Republik –
die Formierung der NS-»Bewegung«
19
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7
18
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17
17 Kriegerdenkmal (1924)
18 Hofgarten
19 Café Luitpold
Brienner Straße 11
6
Wie kaum eine andere deutsche Stadt hatte München
nach 1918 den aggressiven Kampf zwischen Revolution
und Gegenrevolution erlebt. Die wirtschaftliche Stabilisierung Mitte der 1920er Jahre beruhigte vorerst das
politische Klima.
Die 1925 neu gegründete NSDAP setzte nun auf Wahlkampf und parlamentarische Legitimation – ohne auf
den gewalttätigen Straßenkampf des SA-Pöbels zu verzichten. Die Weltwirtschaftskrise 1929 stürzte auch
große Teile der Münchner Bevölkerung in tiefe Not und
beschleunigte den Weg zur Machtübernahme Hitlers.
Der wilhelminische Militarismus lebte
nach 1918 weitgehend ungebrochen
fort. Die politische Kultur und das
Alltagsleben der 1920er Jahre waren
geprägt von der zunehmenden Präsenz
paramilitärischer Verbände in der Öffentlichkeit. Bewaffneter Straßenkampf
und Mord wurden zu gängigen Mitteln
41
Das bürgerliche München fand nach
den Schrecken von Krieg, Revolution
und Inflation Mitte der 1920er Jahre
wieder zu einer Phase von Ruhe und
Stabilität. Kunst und Kultur erlebten in
Deutschland eine Blütezeit. Die Produkte einer neuen Massenkultur wurden für breitere Schichten zugänglich:
Presse, Funk und Film wurden Bestandteile des Alltags. Vielen Menschen
eröffnete sich erstmals wieder bescheidener Wohlstand, wodurch es Restaurants, wie dem eleganten Café Luitpold 19 , nicht an zahlungskräftiger
Kundschaft mangelte.
Das Café Luitpold an
der Brienner Straße,
hier in den 1930er
Jahren
der politischen Auseinandersetzung. Das Festhalten an autoritären militaristischen Einstellungen und die anhaltende
Glorifizierung des vergangenen Krieges trugen entscheidend
zur Schwächung der Weimarer Republik bei, während die
sozialen und politischen Krisen die Entfremdung zwischen
Staat und Bürgern verstärkten. Rechte Kreise benutzten
beispielsweise das 1924 den Weltkriegsgefallenen geweihte
Denkmal 17 im Hofgarten 18 immer wieder als Kulisse für
nationalistische Gedenkfeiern.
42
1925 wurde das Verbot der NSDAP aufgehoben. In der Folgezeit baute Hitler
sie mit Unterstützung reicher Gönner
systematisch zur Massenpartei aus.
Hitlers Kontakte zur Wirtschaft und zur
gehobenen Gesellschaft vergrößerten
die Bedeutung seiner Person und damit auch der Partei. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise stieg
ihre Wählerzahl bei der Reichstagswahl
im September 1930 auf über 18 Prozent an. Im Juli 1932 war die NSDAP
erstmals stärkste Fraktion im Reichstag.
Wahlplakat zur
Reichspräsidentenwahl 1932
Publizistisches Parteiorgan der NSDAP
war seit 1920 der
»Völkische Beobachter«, der im
Münchner FranzEher-Verlag erschien.
43
Karolinenplatz 5, Brienner Straße [45]
21
20
Das Münchner Bürgertum
und der Aufstieg der NSDAP
Hitlers Aufstieg führte aus dem Milieu der Bierhallen
durch die Protektion einflussreicher Förderer und
Bewunderer direkt in die Salons der »feinen Gesellschaft«. Erst deren finanzielle und gesellschaftliche
Unterstützung ermöglichte den Aufstieg der NSDAP
in der Weimarer Republik.
20 Wohnhaus Bruckmann
Karolinenplatz 5
21 »Braunes Haus«
Brienner Straße [45]
Das bürgerliche München der 1920er
Jahre bestand aus unterschiedlichen
geistig-kulturellen Milieus: einem katholisch-konservativen Stadtbürgertum mit
der Sehnsucht nach einem König und
bayerisch-separatistischen Ambitionen;
einem fortschrittlich-liberalen Wirtschaftsbürgertum, das sich stärker mit
den demokratischen Neuerungen identifizieren konnte; daneben aus gesellschaftlichen Gruppen, die über modernisierungsfeindliche und nationalistische
Elemente zueinander fanden. Viele
45
Der Karolinenplatz
um 1930
waren durch den verlorenen Weltkrieg, durch die Revolutionswirren und die folgenden gewaltsamen Konflikte
sowie durch die wirtschaftliche Instabilität verunsichert.
Daher fanden sich auch in bürgerlichen Kreisen zunehmend
Sympathisanten für die NS-»Bewegung«, die mit vereinfachenden Welterklärungen, simplen Schuldzuweisungen
und Heilsvisionen Orientierung versprach.
wurde zu einer begeisterten Unterstützerin der NSDAP. In diesem Umfeld
kam Hitler auch in Kontakt mit seinem
späteren »Leibphotographen« Heinrich
Hoffmann, der das propagandistische
Bild Hitlers in der Öffentlichkeit maßgeblich prägen sollte.
Bereits früh hatte Hitler Verbindungen zu einflussreichen
Förderern aufgebaut und Zugang zu exklusiven Privathäusern
und Salons erhalten. Die Kontakte zu Münchner Großbürgern, wie den Verlegern Hugo Bruckmann 20 und Ernst
Hanfstaengl oder dem Flügelhersteller Edwin Bechstein,
waren eine Voraussetzung für Hitlers politischen Aufstieg.
Zudem waren es die Damen der »feinen Gesellschaft«, die
Hitler die Türen ihrer Salons öffneten und ihn protegierten.
Gönnerinnen wie Elsa Bruckmann oder Helene Bechstein
wetteiferten um seine Gunst. Hitler lernte auf diese Weise
zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kennen,
darunter Richard Wagners Schwiegertochter Winifred. Sie
Ende der 1920er Jahre ermöglichten
Spender aus der Industrie den Erwerb
des in der vornehmen Brienner Straße
gelegenen Palais Barlow. Nach Hitlers
eigenen Vorstellungen umgebaut,
diente das »Braune Haus« 21 der Partei von 1930 an als repräsentative
Zentrale.
46
Das Palais Barlow
wurde von der
NSDAP 1930 erworben und zur Parteizentrale »Braunes
Haus« umgestaltet.
Hier befanden sich
die Büros verschiedener Parteiorganisationen und hochrangiger NS-Kader,
u.a. von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß
und dem Leiter des
Rechtsbüros, Hans
Frank.
Antisemitische
Diffamierung –
Wahlplakat des
Völkischen Blocks,
1924
47
Brienner Straße 20 [50]
‫ﲵ‬
8
22
Die »Machtergreifung«: Gleichschaltung
und Beginn der Verfolgungen
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler einer Koalitionsregierung ernannt. Zwar waren
die Minister der NSDAP in dieser Regierung in der
Minderheit, in der Folgezeit konnte Hitler seine Macht
dennoch ohne nennenswerten Widerstand ausbauen.
22 Zentrale der »Gestapo« im Wittelsbacher Palais
Brienner Straße 20 [50]
Der bis heute ungeklärte Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 ermöglichte Hitler die Aufhebung von Grundrechten. Die »Reichstagsbrandverordnung« (28. Februar 1933) war der Auftakt zu einer Verfolgungswelle bislang
unbekannten Ausmaßes, der auch in
München unzählige NS-Gegner zum
Opfer fielen. »Heimtückeverordnung«
(21. März 1933) und »Ermächtigungsgesetz« (23. März 1933) bildeten weitere Eckpfeiler einer NS-Unrechtspolitik,
die den Charakter des Regimes als totalitäre Diktatur bald deutlich werden ließen.
49
Himmler, »Reichsführer SS« und Kommandeur der »Bayerischen Politischen
Polizei«, im März 1933 eines der ersten
Konzentrationslager errichten. Der
Kommandant Theodor Eicke machte
das Lager zum Musterlager und Vorbild
für das nationalsozialistische KZ-System. Hier wurden politische Gegner,
Juden, Geistliche, Homosexuelle,
Zeugen Jehovas, Sinti und Roma aus
über 30 Ländern oft über Jahre hinweg
und unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Unter dem Leitmotiv
»Vernichtung durch Arbeit« forderte
das NS-Sklavenprogramm zahllose
Menschenleben.
Ausschaltung der
sozialdemokratischen
Presse: Besetzung
der »Münchener
Post«, 9. März 1933
Die gewaltsame Unterdrückung Andersdenkender war an der Tagesordnung.
Verwaltung, Polizei und Justiz verabschiedeten sich von den Prinzipien des
Rechtsstaats. Sie wurden zu loyalen
Handlangern der NS-Führung. Die
»Schutzhaft« – die willkürliche Festnahme und Internierung – bildete das
zentrale Instrument der Bekämpfung
von Opposition und Widerstand. Im
benachbarten Dachau ließ Heinrich
50
Konzentrationslager
Dachau, »Strafappell«, 1938
Das Wittelsbacher
Palais: Terrorzentrale
der Geheimen
Staatspolizei (Ansicht
von 1940)
Im Wittelsbacher Palais in der Brienner Straße 22 residierte seit 1933 die
Bayerische Politische Polizei, die
später Teil der »Geheimen Staatspolizei« (Gestapo) wurde. Diese regionale
Terrorzentrale verbreitete Angst und
Schrecken. Wer sich in München dem
Regime widersetzte, wurde zum Opfer
der Gestapo. Der Schreiner Georg
Elser hatte beispielsweise am 8. November 1939 vergeblich versucht, Hitler
durch einen Sprengstoffanschlag im
Bürgerbräukeller zu töten. Nach wochenlangen Verhören in München und
Berlin wurde er in Sachsenhausen
und später in Dachau interniert. Dort
wurde er unmittelbar vor Kriegsende
von der SS erschossen. Die GestapoBeamten im Wittelsbacher Palais
waren auch für die Befehle zur Erstellung der Todeslisten und für den Versand der Deportationsbefehle verantwortlich, die zur Auslöschung der jüdischen Gemeinde Münchens führten.
Hans und Sophie
Scholl und Christoph
Probst, Mitglieder
der studentischen
Widerstandsgruppe
»Weiße Rose«; sie
wurden im Februar
1943 in MünchenStadelheim hingerichtet.
53
Brienner Straße 26 [47], 26 – 28 [46 – 47]
und 23 [11], Max-Joseph-Straße 2 [Maximiliansplatz 8],
Max-Joseph-Straße 4 [6], Karlstraße 21
24
23
25
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9
27
28
26
23 Ortsverband »Deutsche
Arbeitsfront« (DAF),
Gau München-Oberbayern
Brienner Straße 26 –28 [46 – 47]
26 Industrie- und Handelskammer
Max-Joseph-Straße 2
[Maximiliansplatz 8]
Ausgrenzung durch Eingrenzung –
Gleichschaltung der Berufsverbände
Die »Gleichschaltung« von Polizei, Justiz, öffentlicher
Verwaltung, privaten Körperschaften, Presse und
Berufsverbänden festigte die Diktatur dauerhaft. Richter
und Staatsbeamte konnten willkürlich ernannt und
entlassen werden. Eine große Zahl von NSDAP-Mitgliedern rückte in Führungspositionen auf.
Das »Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums« (7. April 1933)
enthielt einen so genannten Arierparagraphen, der die Entlassung von »nichtarischen« und politisch unliebsamen
Beamten aus dem Staatsdienst ermöglichte. Auch nicht-staatliche Organisationen übernahmen die Vorgaben zur
inneren »Gleichschaltung«.
27 »Reichsführung NS-Deutscher
24 Ehemaliges Antiquariat Rosenthal
Brienner Straße 26 [47]
25 »Haus der Deutschen Ärzte«
Brienner Straße 23 [11]
Dozentenbund«
Max-Joseph-Straße 4 [6]
28 »NS-Deutscher Ärztebund«
Karlstraße 21
Die freien Gewerkschaften wurden im
Mai 1933 zerschlagen. Ihr Vermögen
wurde beschlagnahmt, viele Gewerk55
Die Rosenstraße in
der Münchner Innenstadt mit Fahnen zur
»Reichstagswahl«,
Ende März 1936
Jüdischen Ärzten wurde 1933 die Kassenzulassung entzogen. Von 1938 an
durften sie schließlich nur noch als
»Krankenbehandler« für jüdische Patienten tätig sein. Die »Kassenärztliche Vereinigung Deutschland« mit
Münchner Sitz im 1935 eingeweihten
»Haus der Deutschen Ärzte« 25 und
der »Nationalsozialistische Deutsche
Ärztebund« (NSDÄB) in der Karlstraße 21 28 spielten bei diesen Maßnahmen eine entscheidende Rolle.
Hier saßen nicht nur die Vordenker
einer rassistisch ausgerichteten Medizin, sondern auch die Exponenten von
medizinischen Menschenversuchen,
Zwangssterilisationen und der »Euthanasie«.
Das »Haus der
Deutschen Ärzte«:
Sitz der »Kassenärztlichen Vereinigung
Deutschlands« in der
Brienner Straße,
1938
schaftsfunktionäre verhaftet. An die Stelle der Gewerkschaften trat die »Deutsche Arbeitsfront« (DAF). Deren Ziel war
es, als Einheitsorganisation alle »schaffenden Deutschen«
unabhängig von Ausbildung, sozialem Status und konkreter
Tätigkeit zusammenzufassen und ideologisch an den Nationalsozialismus zu binden. Die Attraktivität der DAF gründete
sich dabei vor allem auf ihre kulturellen Angebote. Deren
Unterorganisation »Kraft durch Freude« (KdF) veranstaltete
Freizeit- und Urlaubsaktivitäten. Die oberbayerische Gauzentrale der DAF befand sich in der Brienner Straße 26 – 28
23 , die KdF übernahm 1935 das Geschäfts- und Wohnhaus
des jüdischen Antiquars Jacques Rosenthal in der Brienner
Straße 26 24 . Er hatte es an die »Reichsleitung« der NSDAP
weit unter Wert verkaufen müssen.
56
57
Eine Aufgabe des 1935 gegründeten
»Nationalsozialistischen Deutschen
Dozentenbundes« (NSDDB) in der
heutigen Max-Joseph-Straße 4 27 bestand darin, die Entlassung missliebiger Hochschullehrer voranzutreiben, die
Universitäten nach dem Führerprinzip
auszurichten und die Lehrinhalte an
die NS-Ideologie anzupassen. In München waren die Voraussetzungen für
die »Gleichschaltung« der Hochschulen
günstig: An der Technischen Hochschule hatte der »Nationalsozialistische
Deutsche Studentenbund« (NSDStB)
schon vor 1933 knapp die Hälfte aller
Sitze im Allgemeinen StudentenAusschuss (ASTA) besetzt.
»Machtergreifung«
und Gleichschaltung:
Die Besetzung des
Gewerkschaftshauses in der Pestalozzistraße am 9./10.
März 1933
58
Das Selbstverwaltungsorgan der regionalen Wirtschaft, die Industrie- und
Handelskammer (IHK) am Maximiliansplatz 26 , wurde unmittelbar nach der
Machtübernahme gleichgeschaltet.
Im März 1933 schloss sie ihre jüdischen
Mitglieder aus. Der Hauptgeschäftsführer der Kammer war in Personalunion auch Gauwirtschaftsberater der
NSDAP. Von 1938 an beteiligte sich
die IHK an der »Arisierung« und
wirkte an der Enteignung jüdischer
Firmenbesitzer mit.
59
Karolinenplatz 2, Barer Straße 7 –11,
Karlstraße 6 – 8, 10, 14, 16, 18
29
35
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30
Das Parteiviertel – gesellschaftliche und
organisatorische Gleichschaltung
34
33
32
31
29 »NS-Frauenschaft«/Reichskassen-
verwaltung (1938 –1945)
Karolinenplatz 2
30 »Oberste SA-Führung«/
Nebenstelle (1934 –1945)
Barer Straße 7–11
31 »Reichspropagandaleitung der
NSDAP»/Nebenstelle (1936 –1945)
Karlstraße 6 – 8
32 »Reichsführung SS«/Verwaltungs-
amt, SS-Gericht (1936 –1945)
Karlstraße 10
33 »Reichsjugendführung der NSDAP«
(1936 –1940)
Karlstraße 14
34 »Reichsführung NS-Deutscher
Studentenbund« (1936 –1945)
Karlstraße 16
35 »Reichspressestelle der NSDAP»/
Nebenstelle (1938 –1945)
Karlstraße 18
Der Königsplatz mit seiner markanten klassizistischen
Architektur schien der NS-Führung wie geschaffen für
ihre Repräsentationsbedürfnisse. Bereits 1930 hatte die
NSDAP das in der Nähe des Platzes gelegene Palais
Barlow erworben, das in der Folgezeit zur Parteizentrale (»Braunes Haus«) umgestaltet wurde. Nach 1933
wurden in der Gegend um den Königsplatz zahlreiche
Schlüsselämter der NS-Bürokratie untergebracht.
Gesellschaftliche Gleichschaltung, bürokratische Zentralisierung, Erfassung und
Steuerung aller Lebensbereiche durch
einen mächtigen und überall präsenten
Staats- und Parteiapparat – das waren
die innenpolitischen Ziele der NS-Führung. Nach 1933 verlagerte sich zwar
das Machtzentrum nach Berlin, wichtige
Schlüsselämter der NSDAP und der ihr
angeschlossenen Organisationen verblieben jedoch in München. Das Umfeld
61
einrichtungen, wie z.B. die »Reichspropagandaleitung« 31 oder die
»Reichspressestelle« 35 .
Der »NS-Studentenbund« feierte im
Januar 1936 sein
10-jähriges Bestehen
mit einer Bannerweihe im Odeon, in
der Mitte Rudolf Heß
»Tag der Deutschen
Jugend« – HJ-Kundgebung an der Feldherrnhalle, 1933
62
des Königsplatzes wurde zum zentralen Parteiviertel, in dem zahlreiche
Parteidienststellen und NS-Organisationen in über 50 Gebäuden angesiedelt waren – von der reichsweit tätigen
Zentralbehörde bis hin zur regional
zuständigen Nebenstelle. Zeitweise
waren hier bis zu 6.000 Mitarbeiter
beschäftigt. Neben der unmittelbaren
Verwaltung – wie etwa der »Reichsleitung der NSDAP« in der Brienner
Straße [45] (»Braunes Haus«) – waren
auch zahlreiche NS-Organisationen
vertreten, so die »Reichsjugendführung der NSDAP« 33 , die Reichskassenverwaltung der »NS-Frauenschaft«
29 , die Reichsführung des »NS-Deutschen Studentenbundes« 34 , die
»Reichsführung SS« (Verwaltungsamt und SS-Gericht) 32 , die »Oberste
SA-Führung« 30 und zentrale Partei-
Die genannten Einrichtungen und Behörden waren straff organisiert und
zentral gesteuert. Ihre Struktur folgte
meist der Gau- und Kreisgliederung der
NSDAP. Mit diesen Verbänden durchdrang die Partei die Gesellschaft und
erreichte einen hohen Wirkungsgrad
bei der ideologischen Gleichschaltung
der Menschen sowie bei der Überwachung und Kontrolle ihrer Privatsphäre.
Reichspressestelle
der NSDAP in der
Karlstraße 18,
1938 –1945
63
38
Brienner Straße 12 [52]
38 Ehemaliges Modellhaus Adolf Rothschild
Gabelsbergerstraße 41
37 »Hauptamt für Kommunalpolitik der NSDAP«
Sophienstraße 6
36 Oberfinanzpräsidium
Von der Sophienstraße 6 in die Brienner Straße 12
Entrechtung, Enteignung, Deportation
und Ermordung der jüdischen Münchner
‫ ﲵ‬11
36
37
Für die jüdischen Deutschen markierte der 30. Januar
1933 den Übergang von der verbalen Drohgebärde zur
staatlich organisierten Verfolgung. München hatte auf
dem Gebiet der so genannten Judenpolitik schon früh
eine Vorreiterfunktion: Hier wurden Maßnahmen zur
Ausgrenzung und Entrechtung mit besonderem Eifer
entworfen und vorangetrieben – lange bevor sie auf
Reichsebene wirksam wurden.
Seit 1933 wurden Jüdinnen und Juden
systematisch aus allen Lebensbereichen
verdrängt. Zentral gesteuerte Gewalt
gegen Geschäfte und Einrichtungen
von Juden gab es bereits am 1. April
1933. Dabei kam es auch in München
zu Ausschreitungen. In der Folgezeit
sorgte vor allem die NS-Propaganda
dafür, dass Aufträge an jüdische
Geschäftsleute zurückgingen. Bürger,
die ihre Einkäufe in deren Geschäften
65
Ein prominentes Beispiel ist die Damenschneiderei und Kürschnerei »Modellhaus Adolf Rothschild« in der Brienner
Straße 12 38 . Wegen dramatischer
Umsatzeinbrüche musste Adolf Rothschild seine Firma im September 1938
über einen »Total-Ausverkauf« weit
unter Wert verkaufen. Rothschild
glückte die Emigration nach London;
sein Vermögen wurde jedoch weitgehend konfisziert.
Mit antisemitischer
Propaganda überklebte Kanzleischilder
jüdischer Rechtsanwälte am Karlsplatz,
1. April 1933
erledigten, wurden von Uniformierten angepöbelt oder
öffentlich beschimpft.
Die zwischen 1933 und 1945 vollzogene »Arisierung« war
eine Raubaktion von enormen Ausmaßen. Von 1938 an übernahm der Staat als wichtigster Akteur und Profiteur dabei
die Federführung. Neben der Gauleitung München-Oberbayern als wichtigste regionale Herrschaftsinstanz hatten
das »Oberfinanzpräsidium München« in der Sophienstraße 6 36 und das »Hauptamt für Kommunalpolitik« in
der Gabelsbergerstraße 37 eine Schlüsselstellung bei der
hemmungslosen Beraubung der Juden. Die Begehrlichkeiten der »Ariseure« richteten sich auf privates Vermögen,
auf Kunstsammlungen und Bibliotheken, auf Häuser, Wohnungen und Grundstücke, aber auch auf Gewerbebetriebe.
66
Von 1939 an wurden viele jüdische
Mieter in eigens eingerichtete »Judenhäuser« zwangsumquartiert. In der
Regel handelte es sich dabei um zweckentfremdete Immobilien vormals jüdi-
Der »Judenboykott«
am 1. April 1933 –
das Geschäft Bamberger und Hertz,
Kaufingerstr. 22
Die ausgebrannte
Synagoge an der
Herzog-RudolfStraße, November
1938
Güterbahnhof
Milbertshofen: Von
hier aus wurde die
jüdische Bevölkerung
Münchens in die
Vernichtungslager
im Osten abtransportiert, 20. November 1941
68
scher Eigentümer. In Berg am Laim
und in Milbertshofen entstanden zudem zwei Sammellager, die von Ende
1941 an Ausgangspunkt für die Deportationen in die Todeslager waren.
Mit dem als »Kristallnacht« bezeichneten Pogrom wurde im November
1938 die letzte und mörderische Phase
der Judenverfolgung eingeleitet.
Nach den Schreckensereignissen vom
9./10. November 1938, an die heute
eine Gedenktafel im Alten Rathaus
erinnert, verloren die Juden endgültig
ihre verbliebenen Rechte. Der Besuch
von Theatern, Kinos, Gaststätten,
Museen und Parkanlagen wurde ihnen verboten. Führerscheine wurden eingezogen, Telefonanschlüsse gekündigt,
Haustierhaltung und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel untersagt.
Die Verfolgung verstärkte die Emigrationsbemühungen. Bis
1942 flüchteten annähernd 8.000 Münchner Jüdinnen und
Juden, fast 3.000 wurden von November 1941 an nach
Kaunas (Litauen), Piaski (Polen), Auschwitz und Theresienstadt deportiert und dort ermordet. An sie erinnert
heute im Neuen Rathaus eine Gedenktafel, die die Trauer
und die Scham der Münchner Bevölkerung sowie das Entsetzen über das damalige Schweigen zum Ausdruck bringen soll.
69
Katharina-von-Bora-Straße 13 [Arcisstraße 13],
Brienner Straße [15]
Rolle der Kirchen im NS-Staat
und kirchlicher Widerstand
12
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40
39
39 Evangelisch-Lutherische Landeskirche
Katharina-von Bora-Straße 13, frühere Meiserstraße [Arcisstraße 13]
40 Ehemalige Päpstliche Nuntiatur (bis 1934)
Die Rolle der Kirchen und ihrer Repräsentanten im
Nationalsozialismus war widersprüchlich. Zwar leisteten
christliche Kreise mutigen Widerstand, jedoch schwieg
vor allem der hohe Klerus angesichts des ungeheuerlichen Unrechts. Diese Zurückhaltung konnte die Kirchen
zwar vor einem existenzbedrohenden Konflikt mit der
NS-Führung bewahren, die Kirchenführungen trugen
damit aber auch zur Stabilisierung des Regimes bei.
Auch der Münchner Kardinal Michael
von Faulhaber verkörperte diesen
Widerspruch. Einerseits wird Faulhaber
dem weiten Bereich der Resistenz
gegen den Nationalsozialismus zugerechnet. Er setzte sich in Predigten von
der nationalsozialistischen Ideologie
ab und entwarf 1937 die NS-kritische
päpstliche Enzyklika »Mit brennender
Sorge«.
Brienner Straße [15]
71
Die päpstliche Nuntiatur (»Schwarzes
Haus«) war bis 1934
unmittelbar gegenüber dem »Braunen
Haus« in der Brienner Straße gelegen.
Andererseits vermied Faulhaber klare öffentliche Stellungnahmen zu den Gewalt- und Mordaktionen des Regimes.
Mit Kommentaren wie dem, die neue Regierung sei »rechtmäßig wie noch keine Revolutionspartei in den Besitz der
Macht gelangt«, erkannte er den NS-Staat als legitim an.
Damit befand er sich im Einklang mit dem Vatikan, der im
Juli 1933 ein Reichskonkordat mit dem Deutschen Reich
schloss, das dadurch international an Prestige gewann.
Federführend bei der Vorbereitung war Eugenio Pacelli
(ab 1939 Papst Pius XII.), der bis 1925 als Gesandter des
Vatikans in München tätig war. Die Päpstliche Nuntiatur
(»Schwarzes Haus«) 40 befand sich von 1887 bis 1934
gegenüber dem »Braunen Haus« in der Brienner Straße
[15].
In der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche 39 zeigte der
seit Mai 1933 amtierende Landesbischof Hans Meiser anfänglich Nähe zum Regime. Zur »Selbstgleichschaltung« der
evangelischen Kirche und zur Übernahme des Führerprinzips
kamen Meisers Sympathien für die NS-nahen »Deutschen
Christen«. Auch wenn sich Meiser 1933/34 von dieser
Haltung entfernte und die NS-kritische »Bekennende
72
Hans Meiser, Landesbischof von Bayern
(1933 –1955), am Sitz
der EvangelischLutherischen Landeskirche, 1934
Kirche« unterstützte, bekannte er sich
gegenüber Hitler zur »allergetreuesten
Opposition«. Von Seiten der evangelischen Kirche gab es keinen offiziellen
Protest gegen das nationalsozialistische
Unrechtsregime.
Kirchlicher Widerstand war in München
dennoch kein Randphänomen. Allerdings übten widerständiges Verhalten
zumeist nur die Gläubigen an der Basis.
Manche dieser mutigen Geistlichen und
Laien mussten – wie Rupert Mayer,
Fritz Gerlich oder Alfred Delp – ihr
Engagement mit ihrer Gesundheit oder
ihrem Leben bezahlen.
Pater Rupert Mayer
(1876 –1945) war eine
Leitfigur des katholischen Widerstands
in München.
73
Arcisstraße 12, Katharina-von-Bora-Straße 10
13
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41
München als Schauplatz
internationaler Unrechtspolitik
42
41 »Führerbau«
Arcisstraße 12
42 »Verwaltungsbau und Reichsschatzamt der NSDAP«
Katharina-von Bora-Straße 10 [Arcisstraße 10]
Zentrales Anliegen der NS-Führung war die Überwindung der außenpolitischen Isolation Deutschlands. Die
dabei verfolgte aggressive Außenpolitik zielte nicht nur
auf eine Vormachtstellung innerhalb Europas, sondern
auf eine Weltmachtstellung ab. Das außenpolitische
Entscheidungszentrum war zweifellos Berlin. Gleichwohl
spielte München bei den internationalen Ambitionen
eine wichtige Rolle.
Der »Führerbau« an der Arcisstraße 41
war Konferenzort für Treffen mit hochrangigen ausländischen Staatsgästen.
Außenpolitisch bedeutsame Entwicklungen wurden hier z.B. durch Gespräche Hitlers mit Italiens Diktator
Benito Mussolini eingeleitet. Das faschistische Italien war der wichtigste
Verbündete für Hitlers Weltmachtstreben. Die »Achse Berlin-Rom« galt
beiden Staaten von 1936 an als unver75
Ergebnis war das folgenschwere »Münchner Abkommen«:
Unter dem Druck des Deutschen Reiches und mit dem
Ziel, den Frieden zu sichern (Appeasementpolitik), ließen
sich Daladier und Chamberlain im »Führerbau« zur Abtretung des Sudetenlands an Deutschland drängen. Dieses
Abkommen war für Hitler ein großer außenpolitischer Erfolg.
Staatsbesuch Mussolinis in München –
Hitler und der italienische Diktator vor
den »Ehrentempeln«,
im Hintergrund der
»Führerbau«, 25. September 1937
Der »Führerbau« und der südlich der Brienner Straße gelegene »Verwaltungsbau« 42 , wo u.a. die Mitgliederkartei
der NSDAP verwaltet wurde, entstanden nach Entwürfen
des Architekten Paul Ludwig Troost (1878 –1934). Nach
dem Krieg wurde im ehemaligen »Führerbau« 1957 die
Hochschule für Musik und Theater untergebracht. Im ehemaligen »Verwaltungsbau« befindet sich seit 1947 u.a.
das Zentralinstitut für Kunstgeschichte.
zichtbare Basis zur Durchsetzung der beiderseitigen Expansionsinteressen. Auch deshalb hielt sich Mussolini mehrfach zu Staatsbesuchen in München auf. Im September
1937 nahm das Regime einen Besuch des »Duce« zum
Anlass, nationales Selbstbewusstsein zu demonstrieren.
Dies wurde flankiert von einer aggressiven deutschen
Außenpolitik – wie etwa dem militärischen Eingreifen in den
Spanischen Bürgerkrieg 1936/37 und dem »Anschluss«
Österreichs im März 1938.
Auf dem Höhepunkt der »Sudetenkrise« kam es Ende September 1938 zu einem Treffen von Hitler, Mussolini, dem
französischen Premierminister Edouard Daladier sowie dem
britischen Premierminister Arthur Neville Chamberlain.
76
Der 1937 fertig gestellte »Führerbau« der NSDAP
(links), Schauplatz des »Münchner Abkommens«
Die »Vier-Mächte-Konferenz« (v.l. Chamberlain,
Daladier, Hitler, Mussolini) besiegelte am
29. September 1938 die Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich. Großbritannien
und Frankreich hofften mit dieser Maßnahme,
den drohenden Krieg zu verhindern.
77
Brienner Straße, Karolinenplatz (Barer Straße,
Karlstraße, Katharina-von-Bora-Straße)
45
Informationstafel
43
44
Parteizentrale München –
Machtzentrale Berlin
40
Als Reichshauptstadt war Berlin das politische Zentrum
des NS-Staates. München diente als »Hauptstadt der
Bewegung« vor allem den Repräsentationsbedürfnissen. Hier verblieb zudem die Reichsleitung der NSDAP;
andere nationalsozialistische Organisationen und
Verbände hatten im Umfeld des Königsplatzes ihre
Zentrale oder waren mit einer Nebenstelle vertreten.
40 Stab des »Führer«-Stellvertreters
Rudolf Heß (1936 –1941);
»Parteikanzlei« Martin Bormann
(ab 1941);
Brienner Straße [15]
44 »Oberstes Parteigericht der
NSDAP«, »Verwaltungsgebäude
NSDAP« (1935 –1945)
Karolinenplatz 4
45 »Hauptarchiv, Reichsorganisa-
43 Zentrale Informationstafel zum
ehemaligen Parteiviertel
Arcis-/Ecke Brienner Straße
43
tionsleitung, Hauptpersonal- und
-organisationsamt der NSDAP«
(1934 –1945)
Barer Straße 15
München spielte nach 1933 im nationalsozialistischen Kräftesystem eine zunehmend nachrangige Rolle gegenüber
Berlin. Wichtig blieb die »Hauptstadt
der Bewegung« jedoch als Zentrum
der Parteibürokratie. Einflussreiche
Funktionäre hatten hier ihre Dienststellen, so der »Stellvertreter des
Führers«, Rudolf Heß (1936 –1941),
der »Leiter der Parteikanzlei«, Martin
Bormann (1941–1945), mit Sitz in der
ehemaligen päpstlichen Nuntiatur 40
79
Das »Oberste Parteigericht« am Karolinenplatz 4 44 hatte die Aufgabe, parteiinterne Streitigkeiten zu regeln und
parteischädigendes Verhalten einzelner
Mitglieder zu ahnden. In der Barer
Straße 15 befand sich das »Hauptarchiv der NSDAP« unter der Leitung
von Robert Ley 45 . Dieses war u.a. dafür verantwortlich, dass die Geschichte
der Partei zum pseudoreligiösen Mythos umgedeutet wurde.
Der »Stellvertreter
des Führers«, Rudolf
Heß (1894 –1987)
In den so genannten
Ehrentempeln waren
die Särge der zu
»Blutzeugen der
Bewegung« stilisierten Toten des missglückten Putsches
von 1923 aufgebahrt.
80
oder der »Reichsschatzmeister der
NSDAP« mit Sitz im »Verwaltungsbau«
42 .
Wichtige Aufgaben des »Stellvertreters
des Führers« (von 1941 an »Parteikanzlei«) waren Kontroll- und Leitungsfunktionen gegenüber Partei und Staat,
z.B. in der »Rassen-« und Personalpolitik. Der Reichsschatzmeister bewirtschaftete und vermehrte nicht nur das
enorme Vermögen der NSDAP. Die
Mammutbehörde mit zeitweise mehr
als 3.200 Mitarbeitern verwaltete
zudem die bei Kriegsende rund acht
Millionen Mitglieder der Partei.
Zwischen 1933 und
1938 wurde das historische Ensemble
des Königsplatzes
aus dem 19. Jahrhundert zum zentralen
Aufmarschplatz und
kultischen Zentrum
der NS-Bewegung
umgestaltet.
Königsplatz, Arcis-/Katharina-von-Bora-Straße
Ecke Brienner Straße
14
‫ﲵ‬
46
47
Der Königsplatz:
Repräsentation des Regimes
47
46 Königsplatz
47 Ehemalige »Ehrentempel«
Arcis-/Katharina-von-Bora-Straße/Ecke Brienner Straße
Kein Ort in München ist so unmittelbar mit der NS»Bewegung« und ihrer öffentlichen Selbstdarstellung
verbunden wie der Königsplatz 46 . Sein repräsentatives
klassizistisches Ambiente machte den Platz zur idealen
Kulisse nationalsozialistischer Inszenierungen. 1935
wurde der Königsplatz in seinem Erscheinungsbild
maßgeblich verändert, zu einem Aufmarschplatz ausgebaut und um die »Ehrentempel« und Bauten an der
östlichen Platzbegrenzung erweitert.
Bereits in den 1920er Jahren war der
Platz aufgrund seiner zentralen Lage und
Größe Versammlungsort für politische
Treffen. Auch die NSDAP interessierte
sich schon vor 1933 für dieses Areal in
unmittelbarer Nähe des »Braunen Hauses«. Mit wachsender Mitgliederzahl
und zunehmender politischer Bedeutung
stiegen die repräsentativen Ansprüche
der Partei. 1933 war der Königsplatz
83
Die neu errichteten »Ehrentempel« 47 und die zwei zentralen Parteibauten 41 42 in der Arcisstraße veränderten die
ursprüngliche architektonische Balance des Platzes grundlegend. In den »Ehrentempeln«, die als »kultisches« Zentrum für die Platzanlage dienten, wurden die Särge der zu
»Blutzeugen« stilisierten Toten des Putschversuchs vom
November 1923 ausgestellt. Tag und Nacht war hier eine
»Ewige Wache« postiert. Die Glyptothek (1830), die Propyläen (1862) und die 1845 fertig gestellte heutige Antikensammlung dienten nurmehr als klassizistische Kulisse.
Militäraufmarsch auf
dem Königsplatz,
19. November 1938
Ort einer der ersten großen öffentlichkeitswirksamen Machtdemonstrationen: Im Zuge der reichsweit organisierten
Bücherverbrennung wurden hier am 10. Mai 1933 Werke
von Erich Kästner, Heinrich Mann, Karl Marx, Erich Maria
Remarque, Kurt Tucholsky, Theodor Wolff und von vielen
anderen verbrannt.
1935 wurden auf dem Königsplatz 20.000 Granitplatten verlegt und der Platz mit einer modernen elektrischen Anlage
ausgestattet. Sie ermöglichte eine entsprechende Lichtregie
bei Veranstaltungen. An der Arcisstraße flankierten zwei
»Ehrentempel« sowie zwei monumentale Parteibauten das
gesamte Ensemble. Der Ort wurde damit zum zentralen
Aufmarschplatz für Massenversammlungen in München.
84
Aufmarsch zum 9. November, im Hintergrund
die Propyläen aus der Zeit König Ludwigs I.,
9. November 1935
Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933
auf dem Königsplatz
85
Der Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe nach dem Krieg
Als am 30. April 1945 die US-Armee in München einmarschierte, glich die Stadt einem Trümmerhaufen.
Der spätere Wiederaufbau zielte auf eine architektonische Rekonstruktion des Stadtbildes vor der NSHerrschaft. Die unzerstört gebliebenen NS-Bauten
wurden umgenutzt, ihre ehemalige Funktion nicht
thematisiert. Die Auseinandersetzung Münchens mit
seiner Vergangenheit war daher immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten.
Herzog-Rudolf-Straße 3 –5
49 Ehemalige Orthodoxe Synagoge an der Herzog-Rudolf-Straße (Zerstörung 1938)
Herzog-Max-Straße 3–7
48 Ehemalige Liberale Synagoge an der Herzog-Max-Straße (Abbruch 1938)
48
49
[Herzog-Max-Straße 3 –7], [Herzog-Rudolf-Straße 3 – 5]
Der Bombenkrieg veränderte die Stadt
und das Leben ihrer Bewohner. Luftangriffe zerstörten einen Großteil der Altstadt. Am 29. April 1945 befreiten USEinheiten das KZ Dachau und erreichten
einen Tag später München. Die Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945
besiegelte schließlich das Ende des
NS-Regimes. In München übernahmen
die Amerikaner die Verwaltung.
87
Die amerikanische Militärregierung ließ 1947 die »Ehrentempel« am Königsplatz beseitigen. Die Sockel wurden
später unter Denkmalschutz gestellt. 1988 wurden die
Mitte der 1930er Jahre verlegten Granitplatten auf dem
Königsplatz durch eine Rasenfläche ersetzt und so die
ursprüngliche Gestaltung wieder hergestellt.
Sitz der amerikanischen Militärregierung war das Neue
Rathaus am Marienplatz.
Die Innenstadt 1945,
im Hintergrund die
Frauenkirche
Nach Kriegsende sammelten sich in
München ehemalige KZ-Häftlinge,
Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und
Flüchtlinge aus dem Osten. Nur wenige
Jüdinnen und Juden hatten die Konzentrationslager überlebt und kehrten
zurück. Hatte die Israelitische Kultusgemeinde 48 49 vor der NS-Zeit 12.000
Mitglieder umfasst, zählte sie Ende
1945 gerade noch 300.
Im heutigen Stadtbild sind NS-Herrschaft und Kriegsfolgen kaum noch präsent. Beim Wiederaufbau konnten sich
die Befürworter einer Rekonstruktion
der historischen Bauten durchsetzen.
88
Gedenkfeier an der Feldherrnhalle, 1947
An der heutigen Bayerischen Landesbank (Brienner/Ecke Türkenstraße) wird seit 1984 mit einem knappen Hinweis auf die Münchner
Gestapo-Zentrale verwiesen, die sich auf diesem Grundstück befand.
89
15
‫ﲵ‬
21
Das NS-Dokumentationszentrum
München, Brienner Straße
Der aufklärerische Umgang mit der Geschichte des
Nationalsozialismus hat sich über die vergangenen
Jahrzehnte hinweg zu einem zentralen Aspekt der politisch-kulturellen Identität der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem NS-Regime ist heute mehr denn je Teil
der deutschen Erinnerungskultur. Sie setzt sich dabei
zunehmend auch mit den »Orten der Täter« auseinander.
21 Ehemaliges »Braunes Haus«
Brienner Straße; Standort des
künftigen NS-Dokumentationszentrums
Schon 1945 hat es erste Bestrebungen
gegeben, die NS-Vergangenheit der
Stadt in einer »volksbildenden« Einrichtung zu dokumentieren. 1989 regte
der Stadtrat an, auf dem Gelände des
ehemaligen „Braunen Hauses« ein
»Haus der Zeitgeschichte« zu erbauen.
Die Planungen wurden jedoch nicht
weiter verfolgt.
91
In den Jahren 2006 und 2008 einigten
sich Stadt, Freistaat und Bund über eine
Dreiteilung der Baukosten. Im Rahmen
eines internationalen Architekturwettbewerbs fiel die Wahl für die Gestaltung des Neubaus auf einen schlichten
weißen Kubus als Kontrapunkt zur umliegenden NS-Architektur. Die Konzeption des künftigen Ausstellungs- und
Bildungsangebots wird von einem interdisziplinären wissenschaftlichen Team
im Kulturreferat der Landeshauptstadt
München erarbeitet.
1947 wurden die
Überreste der »Ehrentempel« auf Grundlage der Direktive
des Kontrollrats vom
13. Mai 1946, alle
Denkmäler nationalsozialistischen Charakters zu beseitigen,
gesprengt.
92
Erst im Jahr 2001 wurde der Gedanke
– nicht zuletzt aufgrund starken bürgerschaftlichen Engagements – wieder
aufgegriffen. Die Landeshauptstadt
München und der Freistaat Bayern
fassten den Beschluss, in München
einen Ort zu schaffen, der an die Geschichte des Nationalsozialismus erinnert und sich mit der Rolle Münchens
in der NS-Zeit auseinandersetzt. Die
Überlegungen mündeten in den Plan,
ein Dokumentationszentrum als historisch-politischen Lernort zu errichten.
Als Standort wählte man das Gelände
des im Krieg zerstörten »Braunen Hauses« 21 an der Brienner Straße, im
Zentrum des einstigen Parteiviertels.
Das Bauprojekt ist eine Kooperation
der Landeshauptstadt München mit
dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland. 2014 soll das
NS-Dokumentationszentrum eröffnet
werden.
Der Entwurf des
Berliner Architekturbüros Georg Scheel
Wetzel ging 2009 als
Sieger aus dem
Architekturwettbewerb hervor. Neben
vier Ausstellungsgeschossen sind darin
ein Seminar- und
Lernbereich und ein
Veranstaltungssaal
vorgesehen.
www.memoryloops.net, Memory Loops
„Memory Loops“
300 Tonspuren zu Orten des NS-Terrors
in München 1933 –1945
Im September 2010 realisierte die Landeshauptstadt
München erstmals ein virtuelles Denkmal für die Opfer
des Nationalsozialismus.
Memory Loops ist ein Projekt des Kulturreferats der Landeshauptstadt München/
Freie Kunst im öffentlichen Raum in
Zusammenarbeit mit dem Bayerischen
Rundfunk/ Hörspiel und Medienkunst.
Mit ihrem Audiokunstwerk „Memory
Loops“ hat die Künstlerin Michaela
Melián die Stadt mit einem virtuellen
Netz aus Tonspuren überzogen, die auf
Archivmaterialien und Aussagen von
Zeitzeugen basieren: Zeugnisse von
Diskriminierung, Verfolgung und Ausgrenzung während des NS-Regimes in
München. Die Erinnerungen werden
von Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen, historische Dokumente – wie etwa Verordnungen und
Zeitungsberichte – von Kindern gelesen,
deren Stimmen in ihrer Arglosigkeit
95
einen entlarvenden Kontrast zur brutalen Konsequenz des
historischen Geschehens bilden.
Jede der 300 deutschen und 175 englischen Tonspuren ist
zum Anhören und kostenlosen Download auf einer virtuellen
Stadtkarte hinterlegt. Jede Tonspur ist eine Collage aus
Stimmen und Musik, die thematisch einem Ort innerhalb
der ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung“ zugeordnet ist
und präzise im heutigen Stadtraum verortet werden kann.
Mit ihrem Konzept gewann Michaela Melián 2008 den Kunstwettbewerb der Landeshauptstadt München „Opfer des
Nationalsozialismus – Neue Formen des Erinnerns und Gedenkens“. Auslöser des Wettbewerbs war die Erkenntnis,
dass ein Nachdenken über einen zeitgemäßen Zugang zum
Gedenken und zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus neue Formen der Erinnerungskultur erfordert.
Zusätzlich zur Webseite memoryloops.net sind fünf jeweils
einstündige Hörspiele – Erinnerungsschleifen, die sich über
den ganzen Stadtraum legen und unterschiedliche Themenschwerpunkte haben – auch über mp3-Player abrufbar. Die
Abspielgeräte können bei verschiedenen Münchner Museen
und Institutionen kostenlos ausgeliehenen werden:
- Münchner Stadtmuseum, St.-Jakobs-Platz 1
- Jüdisches Museum München, St.-Jakobs-Platz 16
- Museumsshop des Lenbachhauses im Ruffinihaus,
Rindermarkt 10
- Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1
- Museum Villa Stuck, Prinzregentenstraße 60
Außerdem sind an 60 Standorten im Münchner Stadtraum
Hinweistafeln mit Telefonnummern zu Tonspuren angebracht,
die auf den jeweiligen Ort Bezug nehmen und über Mobiltelefon zum Ortstarif über das Festnetz abhörbar sind.
96
Weitere Informationen
Das NS-Dokumentationszentrum
im Internet
Für ausführlichere Informationen zum Projekt NS-Dokumentationszentrum besuchen Sie bitte unsere Internet-Seiten:
www.ns-dokumentationszentrum-muenchen.de
ThemenGeschichtsPfad
»Der Nationalsozialismus in München«
Der ThemenGeschichtsPfad liegt als Broschüre, als
erweiterte Hörfassung und als Online-Fassung auch in
englischer Sprache vor.
www.muenchen.de/tgp
Literaturauswahl
Angelika Baumann, Andreas Heusler (Hg.), München
a r i s i e r t . Entrechtung und Enteignung der Juden in der
NS-Zeit, München 2003.
Wolfgang Benz, Die Geschichte des Dritten Reiches,
München 2000.
Wolfgang Benz, Herman Graml, Hermann Weiß (Hg.),
Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 2001.
Rudolf Herz, Dirk Halfbrodt, Fotografie und Revolution.
München 1918/19, München 1988.
Ian Kershaw, Hitler, Frankfurt a.M./Wien 2003.
Peter Köpf, Der Königsplatz in München. Ein deutscher Ort,
Berlin 2005.
Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik. Oldenbourg
Grundriss der Geschichte, München 2000.
Der Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus. Perspektiven des Erinnerns. Dokumentation, hg. vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München, München 2007.
David Clay Large, Hitlers München. Aufstieg und Fall der
Hauptstadt der Bewegung, München 1998.
Macht und Gesellschaft. Männer und Frauen in der NSZeit. Eine Perspektive für ein künftiges NS-Dokumentationszentrum in München. Tagungsband, hg. vom Archiv der
Münchner Arbeiterbewegung e.V. (u.a.), München 2004.
Iris Lauterbach, Julian Rosefeldt, Piero Steinle (Hg.),
Bürokratie und Kult. Das Parteizentrum der NSDAP am
Königsplatz in München. Geschichte und Rezeption,
München/Berlin 1995.
Ein NS-Dokumentationszentrum für München. Ein Symposium in zwei Teilen. Tagungsband, hg. vom Kulturreferat
der Landeshauptstadt München und der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 2003.
München – »Hauptstadt der Bewegung«. Ausstellungskatalog, hg. Münchner Stadtmuseum, München 2005.
98
99
Winfried Nerdinger, Ort und Erinnerung.
Nationalsozialismus in München, München 2006.
Matthias Rösch, Die Münchner NSDAP 1925 bis 1933,
München 2002.
Gavriel D. Rosenfeld, Architektur und Gedächtnis.
München und der Nationalsozialismus. Strategien des
Vergessens, München 2004.
Peter-Klaus Schuster (u.a.), Nationalsozialismus und
»Entartete Kunst«. Die Kunststadt München 1937,
München 1998.
Bildnachweis
Abbildungen: Stadtarchiv München
mit Ausnahme der Seiten:
16; 17; 24, u.; 25; 28, 76; 77, re.
(Bayerische Staatsbibliothek)
In der Reihe KulturGeschichtsPfade bereits
erschienene und zukünftige Publikationen:
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Aubing-Lochhausen-Langwied
Allach-Untermenzing
Feldmoching-Hasenbergl
Laim
51 (Bundesarchiv Koblenz)
73, o. (Landeskirchliches Archiv Nürnberg)
15, li; 21, u.; 30; 35 (Münchner Stadtmuseum)
89, re. (Landeshauptstadt München)
93 (Georg Scheel Wetzel, Berlin)
100
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.muenchen.de/kgp
Impressum:
Landeshauptstadt München
Kulturreferat, Burgstr. 4, 80331 München
Stadtarchiv, Winzererstr. 68, 80797 München
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Redaktion:
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Konzeption und Realisation der Audioversion
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