Vortrag von Sepp Riedener

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Vortrag von Sepp Riedener
"Sozialarbeit und Spiritualität"
Ich möchte euch kurz sagen, wo ich zu Hause bin, auf welchem Hintergrund ich
argumentiere: Ich arbeite im Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern. Dieser ist vor 20
Jahren gegründet worden, auf ökumenischer Basis. Die ev.-ref., die christkath. und
die kath. Kirchgemeinde und die beiden Landeskirchen sind Mitglieder dieses
Vereins. Wir möchten auf dem Hintergrund des Evangeliums sagen, was
Resozialisierung bedeutet, was die Würde des Menschen besagt etc.
Folgende Projekte gehören zu diesem Verein: die eigentliche Gassenarbeit, das
Ambulatiorium mit medizinischer Betreuung unserer Leute auf der Gasse, die
Gassechuchi (die wurde vor 3 Jahren durch die Stadt Luzern für 1 Million neu
gebaut), die Aids-Prävention Luzern mit Spritzentausch und Präventionsarbeit für
HIV-Infizierte, das Projekt Paradiesgässli für drogenkonsumierende Mütter mit
Kindern, wo zurzeit 65 Familien mit gegen 100 Kindern betreut werden und die
Seelsorge auf der Gasse. Ich bin zu 70 % bei der kath. Kirche angestellt als
Geschäftsleiter und 30 % bin ich ökumenischer Seelsorger auf der Gasse.
Die Ziele meines Vortrages sind folgende:
Ich möchte die konkrete Situation bezüglich Diakonie in der Kirche anschauen. Wir
kennen die 3 Wesenselemente der Kirche: die Liturgie, die Verkündigung und die
Diakonie.
Ich möchte schauen, wo wir heute in der Entwicklung bei diesen Wesenselementen
stehen.
Dann möchte ich das Leitbild von Jesus abfragen. "Wie sieht er denn die Theologie
der Diakonie".
Und dann daraus meine Spiritualität ableiten.
1. Wo stehen wir in der Diakonie?
Wenn ich die Frage stelle, was macht die Kirche aus, kommt unweigerlich als Erstes
"Liturgie und Verkündigung". Die beiden Wesenselemente waren (und sind es immer
noch) so wichtig in der Geschichte, dass sie sogar unter "Sünde" gestellt worden
sind, d.h., wenn ich am Sonntag nicht in den Gottesdienst ging, habe ich eine Sünde
begangen. Das Wesenselement "Diakonie" war weit davon entfernt obwohl die
Synode 72 damals den sozialen Auftrag als Wesenselement beschrieb und sagte
:“Viele Zeichen deuten darauf hin, dass die Kirche , weltweit gesehen, heute den
Hauptakzent ihrer Tätigkeit in der Diakonie zu sehen hat“ (SaKo 8, S. VIII/14) Und
weiter: “Die Glaubwürdigkeit jeglichen Redens und Tuns der Kirche hängt wesentlich
von ihrem sozialen Engagement ab“(SaKo 8, VIII/16).
Ich möchte nicht verschweigen, dass die Diakonievergessenheit langsam
überwunden wird. Es ist ein Aufbruch festzustellen: ich denke an die
Professionalisierung der sozialen Arbeit in grösseren Stadtpfarreien, neue Stellen
werden geschaffen, die Integration der Diakonie in die Liturgie und Verkündigung
wird gefördert…
Kleiner Exkurs in die Geschichte der Diakonie
-1-
Wenn ich in die Kirchengeschichte rein schaue, dann waren es vor allem die Orden
und die Kongregationen, die das Element „Diakonie“ konkretisierten. Ich denke z.B.
an Franz von Assisi, einen Bettelorden im 13. Jahrhundert. Durch die Kriegswirren ist
damals das Element Diakonie wichtig geworden in der Kirche, und man hat es ernst
genommen. Die Kapuziner/Innen und Franziskaner/Innen haben sich in diesem
Sektor ganz klar engagiert.
Ich gehe ins 15. Jahrhundert und denke an das Hotel Dieu in Beaune (Burgund). Es
ist das schönste Haus in der ganzen Stadt. 1430 liess es der Kanzler des
Burgunderkönigs für die völlig verarmten Menschen bauen, welche in den Gassen
von Beaune lebten und nach jahrelangen Kriegswirren keine Lebenschancen mehr
hatten. Das Hotel Dieu - das Hotel Gottes - hat diese Menschen aufgenommen. „Nur
das Beste ist gut genug für die Armen“, hat Monsieur Rolin, der Gründer, gesagt.
Er hat damals schon den Sozial- und den Sakralbereich zusammengenommen und
das miteinander verbunden. Im grossen Raum des Hotel Dieu gibt es vorne den
Altarraum als Sakralraum und anschliessend ist der Sozialraum. Dort wurde
miteinander gegessen, geschlafen und einige sind gestorben und zugleich wurde
Eucharistie gefeiert. Diese Theologie, dieser Ansatz von Diakonie fasziniert mich und
das spricht etwas an in mir, was ich heute noch leben möchte: Die Kombination von
Liturgie, Verkündigung und Diakonie.
Wir haben hier in Luzern diesen interessanten Ansatz wieder ausgegraben,
zusammen mit Spital-Schwestern (die ja von Beaune her stammen) und St.AnnaSchwestern und haben miteinander den Stutzegg in der Stadt Luzern aufgebaut. Mit
einer Beiz - ein Gasthaus der besonderen Art - und einem Meditationsraum, also ein
Haus für die Ärmsten in der Baselstrasse. Ein Ort, wo sie zu Hause sein können.
Auch im 19. Jahrhundert hat es immer wieder Leute in der Kirche gegeben, die
neben der Gemeindepastoral Soziainstitutionen aufgebaut haben. Ich denke z.B. an
die Unterstützungsgesellschaft in der Stadt Luzern. Ein Kaplan in einer Pfarrei hat
gesehen, dass die Mägde der Reichen, wenn sie ein Kind bekamen oder krank
waren, fortgejagt wurden, und fristeten so ein jämmerliches Dasein. Dieser Kaplan
gründete die Unterstützungsgesellschaft mit dem Ziel, dass die jungen Frauen mit
den Kindern aufgenommen wurden. Diese Unterstützungsgesellschaft existiert auch
heute noch mit einem eigenen Haus in der Stadt Luzern und die resultierende
Rendite von Fr. 40 000.-- bis Fr. 50 000.--jährlich wird an Sozialinstitutionen verteilt.
Es sind vor allem Einzelpersonen gewesen, die das "Wesenselement Diakonie"
aufgegriffen und umgesetzt haben.
Vor ungefähr 100 Jahren wurde dann die Caritas gegründet. Die Kirche hat gespürt,
dass die Diakonie, das soziale Engagement, dringend nötig ist. Neben der
Gemeindepastoral wurde die Caritas aufgebaut. Diese wurde dann als zuständige
Stelle von Diakonie in der Kirche verstanden. Vielfach fühlte man sich entlastet im
Klerus und man konnte „das Soziale“ der Caritas überlassen…
Als Jugendlicher und Gymnasiast hatte ich folgende Erfahrung mit meinem
damaligen Pfarrer gemacht: Ich kam aus armen Verhältnissen und wollte Priester
werden. Ich habe mich beim Pfarrer erkundigt, wie ich das Studium finanzieren
könne. Ich solle ihm mein Zeugnis bringen mit einem Notendurchschnitt über 5.0. Er
würde dann seine Unterschrift geben, und ich könne betteln gehen. Das war das
-2-
damalige Verständnis von Diakonie in der Pfarrei. So ging ich betteln von Haustür zu
Haustür, damit ich studieren konnte…
Heute besteht eine grosse Vielfalt, um in der Gemeindepastoral „Diakonie“ aufbauen
zu können. Wir sind alle in einer Gemeindepastoral tätig. Und doch bleibt noch einige
Aufbauarbeit zu tun. Ich möchte dazu Fridolin Wyss und Odo Camponovo zitieren.
Ich zitiere aus einem Vorschlag der Fachkommission Diakonie des Bistums Basel,
September 2004: "Sowohl in der Fachliteratur, als auch in der Praxis der Pfarreien
wird eine Diakonie-Vergessenheit diagnostiziert. Im Bewusstsein jener Menschen,
die aktiv in der Pfarrei mitarbeiten, sind Liturgie und Verkündigung vorrangig. Fallen
Gottesdienst oder Religionsunterricht aus, werden die entsprechenden Mittel
eingesetzt, um dieses Defizit zu beheben; wird die Diakonie geschmälert, kann man
damit gut leben“. usw."
Diese Feststellung entspricht der Wirklichkeit: die Vorrangigkeit der Liturgie und der
Verkündigung. Ich muss nur die Ausbildung der Theologen und Theologinnen
anschauen, die 5 Jahre Theologie studieren. In dieser Zeit haben sie ungefähr 2
Wochen Weiterbildung zum Thema Diakonie und wenn es hochkommt noch ein
diakonisches Seminar. Eine Woche findet im Priesterseminar statt, dort darf ich sie
begleiten in Fragen der Diakonie im konkreten Schaffen in einer Pfarrei.
Wir müssen – wenn wir die Vorrangigkeit der Liturgie und der Verkündigung konkret
wahrnehmen wollen – die Geldverteilung in unseren Kirchgemeinden anschauen.
Wie viel wird z.B. für die Kirchenmusik ausgegeben, für den liturgischen Bereich, für
die Katechese und wie viel für die Diakonie usw.
Ich habe 10 Jahre in der Pfarrei St. Johannes im Würzenbach in Luzern gearbeitet,
und wir haben dort den „Energiekuchen“ gemacht. Wir haben unsere Energien
„verteilt“. Wir kamen zum Schluss, dass das Wesenselement "Liturgie und
Verkündigung" über ¾ unserer Kräfte beansprucht hat und die Diakonie an einem
ganz kleinen Ort Platz hatte. Es gibt in der ganzen Schweiz keinen Lehrstuhl für
Diakonie in der ganzen theologischen Ausbildung mit 3 Fakultäten. Ich möchte nicht
sagen, dass Liturgie und Verkündigung nicht wichtig sind, aber ich möchte einfach
auf ihre Vorrangigkeit in unserer Kirche hinweisen.
2. Leitbild Jesu
Oder seine Geisteshaltung dem Diakonischen gegenüber
Ich gehe auf Spurensuche.
Lukas 4. Erstes öffentliches Auftreten Jesu in der Synagoge: "Der Geist des
Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute
Nachricht bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den
Blinden das Augenlicht. Damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein
Gnadenjahr des Herrn ausrufe." Das ist die erste Botschaft, die er in der
Öffentlichkeit mitteilt.
Professor Hermann Venetz, Exeget, ergänzt und sagt: Wenn hier steht, heute hat
sich das Schriftwort erfüllt, hat das heute nicht nur einen Bezug auf die damalige
Zeit, sondern das heute gilt auch jetzt. Wir sind aufgerufen, die gute Nachricht den
Armen zu verkünden, das ist der eigentlichste Auftrag, den Jesus bringt. Dies ist
etwas, das mich ganz besonders fasziniert und herausfordert, dass wir als
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Sozialarbeitende das Leitbild von Jesus, das er uns hier gibt, heute verwirklichen
müssen und dementsprechend auch ganz klar eine Theologie der Diakonie
entwickeln müssen; d.h. die Botschaft von Jesus muss aktualisiert werden in die
heutige Zeit hinein: Wer sind die Blinden, wer sind die Gefangenen etc.? Hermann
Venetz sagt: "Bitte, tut dies nicht einfach nur vergeistigen, dass alle blind sind,
sondern hier geht es um die reellen Sorgen und Nöte in unserer Gesellschaft und
diese müssen wir ernst nehmen“. Demzufolge müssen wir alles daran setzen, dass
die Verschuldeten und die Gescheiterten zu Wort kommen in unserer Kirche. Dies ist
nichts Anderes als die Konsequenz aus dem Leitbild von Jesus. Diese Dienstleistung
steht nicht in der Beliebigkeit eines Pfarreirates oder eines Kirchenrates, sondern das
ist eine Botschaft, ein Auftrag, den wir erhalten haben.
Matthäus 25: Eintrittskriterien in den Himmel.
"Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr
habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, ihr habt mich
aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und
ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Was ihr
dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan." Hier stehen 7 Tätigkeitswörter.
Prof. Kirchschläger von der theologischen Fakultät in Luzern, sagt: Sieben, das ist
die Zahl der Vollkommenheit, d.h. es sind alle Nöte angesprochen in dieser Aussage,
in diesem Bild, das Jesus bringt. Stärker kann man es nicht mehr sagen. Hier geht es
um das „Eintrittsbillett“ in den Himmel.
Es sind alles Tätigkeitswörter. Ich sage es jetzt mal ganz frech! Hier spricht Jesus
nicht von Kirchenbesuch, beten, Gottesdienst etc. Wir sind aufgerufen, etwas zu tun.
Das ist ein wesentlicher Teil der Botschaft Jesu.
Lukas 4 ist der Anfang des Auftretens Jesu und bei Matthäus 25 haben wir es mit
einem vermächtnisähnlichen Schluss des Auftretens Jesu zu tun, wo er nochmals
sein Leitbild bekräftigt. Das ist für mich eine griffige und überzeugende Theologie der
Diakonie nach Jesus. Im Klartext heisst das, dass wir wagen müssen, das zu tun,
was er hier von uns verlangt und zwar mit Compassion – wie es Professor Metz
umschreibt. Dies hat nichts zu tun mit Mitleid, sondern mit der Mitleidenschaftlichkeit.
Leidenschaftlich sein Leitbild verwirklichen, das ist unsere Aufgabe, das ist Diakonie.
Mir geht gerade an diesem Text auf, wie Jesus sich identifiziert mit den Menschen,
die in Not sind. "Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan", d.h. für
mich, dass wenn ich einem Menschen in Not begegne, dass ich dann Jesus selber
begegne, also wir haben eine Gegenwart Gottes in unserem Gegenüber. Für mich
gibt es, als ehemaliger Priester, eine doppelte Gegenwart Gottes:
Einerseits in der Eucharistie im Brot und Wein - und daran glaube ich; und auf der
anderen Seite in der Gegenwart der Ausgegrenzten, Notsuchenden,
Abgeschriebenen und Randständigen. Das sind zwei Möglichkeiten, Gott zu
begegnen. Wenn wir dies ernst nehmen, dann hat dies Konsequenzen für unser
Bewusstsein, für unsere Verkündigung und für unsere Arbeit, d.h. wenn ich
Sozialarbeit leiste, dann mache ich etwas, das dem Gottesdienst gleichgestellt
werden sollte. Wenn unsere Jugendlichen im Sommer Lager durchführen, dann
feiern sie praktisch Gottesdienst, weil sie in grosser Verantwortung da sind für
andere usw.
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Prof. Kirchschläger sagt in diesem Zusammenhang: Dass hier vermutlich ein Sakrament verlorengegangen sei: die Begegnung mit Gott im Menschen in Not. Das finde
ich auch.
Das sind Texte – und es gibt deren noch sehr viele -, die mich als Theologe und
Sozialarbeiter sehr prägen. Das ist mein Leitbild für die Gassenarbeit.
Wie setzt Jesus nun dieses Leitbild um?
Dazu kurz ein paar Punkte:
Markus 3.1 Der Mann mit der verunstalteten Hand
Dieser Mann sitzt vor der Synagoge, hat keine Chance in die Synagoge
reinzukommen. Er darf nicht beten gehen, weil er behindert ist. Dazumal war die
Behinderung eine Strafe Gottes gewesen. Jesus sieht ihn, alle anderen haben ihn
nicht beachtet. Er schaut ihn an und nimmt ihn mit in die Synagoge und stellt ihn in
die Mitte. Er stellt den Menschen vom Rand, den Menschen in der Armut, in die Mitte
der Kirche. Er macht den Rand zur Mitte. Noch mehr, er heilt ihn, d.h. er macht seine
Hand gesund und gibt ihm dadurch seine Würde wieder zurück. Er kann wieder
arbeiten, Beziehungen aufnehmen und er darf wieder in die Kirche beten gehen, er
wird wieder ganz Mensch. Das ist Resozialisierung in feinster Form. Das ist Jesus,
das ist die Umsetzung seines Leitbildes. Das ist eine neue Form der Diakonie. Es
wäre verboten gewesen, einen Behinderten mitzunehmen in die Kirche und erst noch
am Sabbat. Der Arme ist Jesus wichtiger, als die Gesetze! Die Pharisäer sind erbost
und überlegen, wie sie ihn beiseite schaffen könnten. Nach seinem ersten
öffentlichen Auftritt ist schon Feuer im Dach.
Er wollte nicht einfach so ein Wunder vollbringen, sondern er wollte etwas aussagen,
das Reich Gottes ansagen. Dafür hatte er auch Bilder. Ein kurzes Beispiel: "Das
Hochzeitsmahl":
Lukas 14 Der König lädt seine Gäste ein und diese kommen nicht. Er sagt, holt die
Armen, die Blinden, die Kaputten und Krüppel und lädt sie ein zum Mahl. Sie haben
das Recht, an meinen Tisch zu sitzen. Ohne jede Rangordnung lädt er diese Menschen ein. Das ist Jesus, das sind Bilder vom Reich Gottes! Das ist die Solidarität mit
den Ärmsten.
Ich denke an das wunderbare Gleichnis mit dem Barmherzigen Samariter. Dies ist für
mich höchste Sozialarbeit und höchste Theologie.
Ich brauche dieses wunderbare Beispiel auch für den Unterricht bei Theologinnen
und Theologen, wo ich einfach ganz kurz das Gleichnis auseinander nehme: Der
Mensch in der Not, der am Strassenrand liegt wird vom Samariter beachtet. Der
Priester und der Diakon gehen vorbei und sehen ihn nicht. Nur der Samariter sieht
ihn und macht das, was in seinen Möglichkeiten steht. Dann beginnt die Triage. Wir
müssen uns überlegen: was kann ich leisten und was ist nicht möglich. Wo bin ich
überfordert? Der Samariter hat ihn mitgenommen und in eine Herberge gebracht,
weil er persönlich völlig überfordert gewesen wäre. So müssen auch wir uns
überlegen, wie weit kann ich persönlich helfen, oder wo muss ich delegieren, z.B. an
eine spezialisierte, kirchliche Sozialstelle oder wenn es um eine strukturelle Not geht,
wo und wie kann ich es weitergeben an die Caritas, an die Gesamtkirche oder an
den Staat. Es ist spannend, wie aus einem Gleichnis sozialarbeiterische
Konsequenzen gezogen werden können.
Johannes-Evangelium: Hier kommt nie das Wort "Abendmahl" vor. Es ist keine Beschreibung da zum Abendmahl, zur Eucharistiefeier, sondern anstelle des Abend-5-
mahls steht die Fusswaschung. Vermutlich ist bereits im 1. Jahrhundert die
Entwicklung so gelaufen, dass man viel lieber Abendmahl gefeiert hat, als das
gelebt, was Jesus eigentlich in den Leitbildern uns vorgegeben hat. Man hat sich
„spezialisiert“ auf die Abendmahlsfeiern, die ganz sicher schöne Feiern gewesen
sind. Johannes bringt einen neuen Ansatz. Anstelle der Eucharistiefeier bringt er die
Fusswaschung. "Tut dies zu meinem Gedächtnis". Bei der Fusswaschung steht
analog zu den Abendmahlsberichten der Synoptiker: "Tut dies…", also praktisch fast
die gleiche Aussage. Macht so weiter, wie ich es getan habe mit dem Dienst am
Menschen. Ich denke, dass wir das nicht gegeneinander ausspielen dürfen:
"Eucharistiefeier versus Fusswaschung".
Für mich ist dies ein klarer Hinweis aus den biblischen Schriften, dass.
Eucharistiefeier und Diakonie gleichberechtigt nebeneinander stehen sollten.
Das Wirkungsziel Jesu ist für mich auch klar, das ist das Reich Gottes. Das darf ich
nicht aus dem Auge verlieren. Als Sozialarbeiter ist dies gleichzeitig für mich eine
Motivation. Man spricht auch von einem Unterschied zwischen Sozialarbeit und
Diakonie. In der Sozialarbeit mache ich meine Arbeit hochprofessionell, und in der
Sozialarbeit mache ich die gleiche Arbeit, auch hochprofessionell, aber auf das Ziel
hin, Reich Gottes aufzubauen.
Also zusammenfassend: Jesus gibt mir ein Leitbild und sagt klar:
"Den Armen eine frohe Nachricht verkünden" und die 7 Tätigkeitswörter im MatthäusEvangelium in die Tat umsetzen.
Übrigens: Jesus hat immer zuerst das Leiden und die Not der Menschen gesehen
und nicht die Sünde. In unseren Kirchen ist dies eigentlich umgekehrt. Zuerst haben
wir ein Sündenbewusstsein geschaffen (siehe den alten ichtspiegel) und nachher
das Leidensbewusstsein.
3. Was ist nun meine Spiritualität?
Ich gehe aus von der Tatsache: "Christus ist in mir und ich in ihm"! Ich muss nicht
irgendwo Gott suchen gehen, sondern er ist in mir, er lebt in mir. Wir haben einen
göttlichen Funken in uns (vergleiche Meister Ekkehart) und das ist Christus. Das ist
für mich eine ganz wichtige Quelle geworden für mein kirchliches Engagement.
Vor 8 Jahren habe ich eine Frau getroffen, die heute 87 Jahre alt ist, und immer noch
als Atemtherapeutin arbeitet. Sie hat zu mir gesagt, wie wichtig das Atmen sei, der
Odem. Drei Atemvorgänge sind ihr wichtig.
Ich muss zuerst mal Ja sagen zu mir, ich muss mich akzeptieren können. Wenn ich
mich nicht akzeptieren kann, kann ich auch niemand anders akzeptieren. Ich muss
mich so annehmen, wie mich der Schöpfer geschaffen hat. Wir sind alle hoch begabt
und reich beschenkt! So viele Menschen leiden an mangelndem Selbstwertgefühl.
Aus der Kraftquelle, die ich habe, die Christus-Kraft, muss ich Kraft schöpfen für mich
und Ja sagen zu mir und sagen: "Ich kann meine Arbeit leisten aus seinem Geist,
aus seiner Kraft heraus"!
Zweitens muss ich im tiefen Atmen "Danke sagen". Danken, für das, was ich
erfahren und erleben darf. Angefangen bei meiner Arbeit bis hin zur Schöpfung.
Danken für meine Einzigartigkeit! Danke sagen auch am Abend für alles, was ich
erfahren durfte während des Tages. Die Frau hat mir noch gesagt: "Danken schützt
vor Wanken!" Ich danke jemandem, meinem Gegenüber, und für mich ist das Gott.
Der dritte Punkt – und der ist für mich sehr wichtig – da soll ich bei diesem Atmen die
Christuskraft einfliessen lassen. Wenn ich diese Christuskraft in den ganzen Körper
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einfliessen lasse, habe ich oft das Gefühl, dass ich die Kraft bis in meine
Fingerspitzen spüre. Diese Kraft ist in mir und ich darf daraus leben. Wenn ich nur
aus meiner Kraft meine Arbeit erledigen müsste, ich wäre schon längst ausgepumpt
und irgendwo in eine Burn-out-Situation gefallen. Ich brauche eine „BasisSpiritualität“, eine „alltagstaugliche“ Spiritualität, die nicht Rückzug in die Stille
bedeuten muss sondern ich jederzeit nutzen kann, sei dies beim Warten vor einem
Rotlicht oder auf der Bushaltestelle.
Die "weise Frau" hat zu mir noch gesagt: Alles, was du machst und tust, übergebe
es Christus, du musst nicht alles selber machen.
Für mich ist dies etwas ganz Wesentliches geworden: Wenn ich ein Gespräch habe,
übergebe ich als erstes meinen Gesprächspartner Christus. Auch bei meiner
täglichen Gassenarbeit, wo ich es dauernd mit massiver Not, Sterbenden, HIVPositiven, Vergewaltigung usw. zu tun habe, ist das Übergeben an Gott
lebenswichtig. Das ist für mich ein wichtiger Punkt in meiner Spiritualität, dass ich
alles weitergeben kann.
Das ist meine Spiritualität. So soll jede und jeder heute sich Zeit nehmen um sich
Gedanken zu machen, wo stehe ich bezüglich Spiritualität, aus was heraus hole ich
meine tägliche Motivation, wie gehe ich um mit der ganzen Schwere der sozialen
Arbeit und wie bringe ich meine Arbeit in einen Zusammenhang mit dem Evangelium
oder mit Jesus Christus.
Dazu wünsche ich Euch viel Einsicht.
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