Alfons Bora Rechtssoziologie in Deutschland – Eine diskursgeschichtliche Skizze in systematischer Absicht Bielefeld, September 2015 I Vorbemerkung Die deutschsprachige Rechtssoziologie erlebt eine gewisse Blüte, jedenfalls was das Aktivitätsniveau in Gestalt von Tagungen betrifft. Weniger klar ist ihr theoretisches Profil. Das könnte, so ist zu vermuten, Gründe haben, welche in der Entstehungsgeschichte des Feldes nach 1945 zu suchen sind. Eine Wissenschaftsgeschichte der Rechtssoziologie in Deutschland könnte, so lässt sich folgern, neue Möglichkeiten rechtssoziologischer Theoriebildung sichtbar machen. Ein angemessenes Verständnis der historischen Entwicklung erfordert neben den vorliegenden, meist eher institutionen- oder interessentheoretischen Deutungen eine Rekonstruktion der inneren Verfassung rechtssoziologischer Theorie seit deren Anfängen im späten neuzehnten Jahrhundert. In Anlehnung an neuere wissenschaftssoziologische Konzepte sowie basierend auf eigenen Vorarbeiten wird die Geschichte rechtssoziologischer Diskurse in Deutschland als Prozess inkongruenter Positionierungen verstanden. Rechtssoziologische Theoriebildung in Deutschland geschieht, so die These, aus historisch rekonstruierbaren Gründen in wissenschaftlichen Autonomie- und Praxisdiskursen, die von inkongruenten Beschreibungen des interdisziplinären Feldes geprägt sind und sich deshalb auf der Ebene wissenschaftlicher Selbstbeschreibung – als Reflexionstheorien – bislang nicht zur Deckung bringen lassen. Dieser Zusammenhang lässt sich aus der Analyse rechtssoziologischer Diskurse seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erhärten. Diese liegen im Gegensatz zu gängigen Beschreibungen quer zu den disziplinären Grenzen zwischen Soziologie und Rechtswissenschaft. Daraus ergeben sich Folgen für die rechtssoziologische Theorie. Anders meist angenommen dürfte die Spezifik der Rechtssoziologie in der deutschsprachigen Tradition – im Vergleich etwa zu anderen Ländern wie den USA oder Frankreich, aber auch zu anderen interdisziplinären Feldern – in Asymmetrien zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung auf der Ebene soziologischer Reflexionstheorie zu finden sein. Der systematische Ertrag der Studie besteht in der Grundlegung einer responsiven Rechtssoziologie, die solche Asymmetrien besser austarieren kann. 1 II Diskursgeschichtlicher Abriss In der Gründungsphase der Rechtssoziologie etwa zwischen 1850 und 1930 entstehen im deutschsprachigen Teil dieses interdisziplinären Feldes charakteristische Selbstbeschreibungen entlang wissenschaftstheoretischer Kontroversen (Abschn. 1). Bei allen Differenzen weisen diese Reflexionstheorien über die Disziplingrenzen hinweg ein gemeinsames Muster auf, das man als asymmetrische Reflexion bezeichnen kann, nämlich als Beschreibung der Rezeption von Soziologie durch das Recht (Abschn. 2). Für den wissenschaftssoziologischen Zugang zu den später daraus entstandenen, untereinander inkongruenten Varianten dieses Musters wird der Begriff des Diskurses in einer neuen, systemtheoretisch getönten Variante vorgeschlagen (Abschn. 3). Die unter diesem Gesichtspunkt noch völlig unerforschte Neugründungsphase in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg muss vor diesem Hintergrund betrachtet und daraufhin untersucht werden, wie die rechtssoziologischen Diskurse sich seither formieren (Abschn. 4). Unter systematischen Gesichtspunkten können dann die Passungs-, Konkurrenz- oder Konfliktkonstellationen dieser historischen Konfigurationen rechtssoziologischer Selbstbeschreibung rekonstruiert werden, um damit Hinweise auf eine soziologische Theorie des Rechts zu gewinnen, welche eine erfahrungswissenschaftliche Rechtssoziologie aus der »Insassenperspektive« der Juristen möglich macht (Abschn. 5). 1. Rechtssoziologische Gründungskonflikte Die rechtssoziologische Theoriebildung im deutschsprachigen Raum hat bekanntlich von Anfang an »Sonderwege« beschritten.1 Anders als beispielsweise der US-amerikanische legal realism,2 der unmittelbar und ohne große Probleme die Arbeiten Rudolf von Jherings3 und der Theorie der Interessenjurisprudenz, ebenso wie Eugen Ehrlichs Rechtssoziologie und das Gedankengut der Freirechtslehre4 in die rechtstheoretische Selbstbeschreibung übernehmen und in das Konzept einer sociological jurisprudence integrieren konnte, bleibt die deutsche Rechtssoziologie bis heute von internen Spannungen geprägt. Deren Vorläufer gründen im neunzehnten Jahrhundert 1 So die Formulierung bei Teubner, Gunther, Recht und Sozialtheorie: Drei Probleme. In: ancilla iuris 2014,182-221; siehe zu den Anfängen des Faches auch Trappe, Paul, Zur Situation der Rechtssoziologie, Tübingen: Mohr 1968, 8 ff.; Raiser, Thomas, Grundlagen der Rechtssoziologie. Stuttgart: UTB 2009, 23-70; Baer, Susanne, Rechtssoziologie. Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung. Baden-Baden: Nomos 2011, 24-50; Röhl, Klaus F., Rechtssoziologie. Ein Lehrbuch. Köln: Heymanns 1987 (Neuauflage im Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozinfo/); Rottleuthner, Hubert, Exodus und Rückkehr der Rechtssoziologie, In: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 2009, 202. 2 Holmes, Oliver Wendell, The Common Law. Start Publishing LLC. 2014 (1. Aufl. 1881); Pound, Roscoe, The spirit of the common law. Transaction Publ. 1999; Cardozo, Benjamin Nathan, The Nature of the Judicial process. Universal Law Press 2010 (1921). 3 Von Jhering, Rudolf, Der Kampf ums Recht. Frankfurt/M: Vittorio Klostermann 2003 (1872). 4 Ehrlich, Eugen, Grundlegung der Soziologie des Rechts. 4. Auflage 1989. Berlin: Duncker & Humblot. (1913); Kantorowicz, Hermann U., Rechtswissenschaft und Soziologie: ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre. Karlsruhe: Müller 1962 (1911). 2 im Streit zwischen dem Historismus und verschiedenen Varianten des Naturalismus bzw. Positivismus in Nationalökonomie und Soziologie sowie Naturrechtslehren in der Rechtsphilosophie.5 Max Weber reagiert auf diesen Streit in seiner Wissenschaftslehre mit der vom Neukantianismus geprägten Unterscheidung zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften und zieht für die Rechtssoziologie eine klare Trennlinie zwischen rechtlicher Binnenperspektive und soziologischer Bobachtung.6 Damit hebt er sich deutlich von Ehrlichs rechtssoziologischer Gründungsidee der »Rechtswissenschaft als Soziologie«7 ab, klärt allerdings den wissenschaftstheoretisch zentralen Sollens-Charakter der Normen und des Rechts noch nicht soziologisch auf. Soziologische Beobachtungsperspektiven, die später insbesondere bei Theodor Geiger 8 und Niklas Luhmann weiter ausgearbeitet werden, sind jedoch epistemologisch durch Weber angelegt. Diese Debatte über den wissenschaftstheoretischen Standort der Rechtssoziologie hatte auch bereits den Ersten Deutschen Soziologentag 1910 in Frankfurt beschäftigt, auf dem Hermann U. Kantorowicz sich in seinem Vortrag »Rechtswissenschaft und Soziologie« explizit mit der Wissenschaftstheorie der Rechtssoziologie befasste, die er als »eine theoretische, die Wirklichkeit des sozialen Lebens mit Beziehung auf den Kulturwert des Rechtszwecks generalisierend bearbeitende Wissenschaft« bezeichnete.9 Die Rechtssoziologie, so Kantorowicz, könne sich von der Rechtsdogmatik aus systematischen Gründen nicht emanzipieren, sondern werde »stets Aufgabe eines Juristen von Fach«10 sein. Damit grenzt er sich gegenüber Ernst Fuchs11 und anderen ab, die unter dem Stichwort »soziologische Jurisprudenz« eine Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz im Geiste der Erfahrungswissenschaften erreichen wollen. Diese in den Anfangsjahrzehnten entstandene Konfliktlage zwischen erfahrungs- und normwissenschaftlicher Perspektive spitzt sich in der Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Eugen Ehrlich zu.12 Kelsen wirft Ehrlich vor, induktive Wissenschaft als einzig gültige theoretische Wissenschaft anzuerkennen und von da her dann die praktische Jurisprudenz zu kritisieren. In seiner 5 Zum Historismus von Savigny, Friedrich Carl. Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. München: Olms 2013 (1840), zu Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz Jhering 1872 (Fn. 3); daran anknüpfend von Gierke, Otto, Das Wesen der menschlichen Verbände. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1965 (1902). 6 Weber, Max, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. Tübingen: Mohr 1985 (19031906); zur Rechtssoziologie Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Auflage. Tübingen: Mohr 1972 (1922), 181-198. 7 Ehrlich 1989 (1913), 33 (vgl. Fn. 4) 8 Geiger, Theodor, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1964; Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972. 9 Kantorowicz 1963 (1911) (vgl. Fn. 4), 297 10 Ebd. (Fn. 4), 301 11 Fuchs, Ernst, Albert S. Foulkes, und Arthur Kaufmann, Gerechtigkeitswissenschaft. Ausgewählte Schriften zur Freirechtslehre, Karlsruhe: Müller 1965. 12 Kelsen, Hans und Eugen Ehrlich, Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft: eine Kontroverse (1915/17). Baden-Baden: Nomos 2003. 3 Verwendung des Regelbegriffs vermische Ehrlich empirische Verhaltensregelmäßigkeit und normatives Sollen. In dieser Auseinandersetzung um normative vs. faktische Geltung bewegen sich beide Kontrahenten auf dem Boden einer nachmetaphysischen Rechtstheorie, in Abgrenzung von der Diltheyschen Tradition verstehender Wissenschaft. Beim Thema der Geltung besteht allerdings Dissens. Geltung bedeutet bei Ehrlich Wirksamkeit, beruhend auf gesellschaftlicher Anerkennung. Mit seiner Aufmerksamkeit für private Rechtsetzung als Quelle von Rechtsgeltung ist Ehrlich zwar ein Vorläufer der modernen Theorien der Sozialverfassungen.13 Jedoch unterschätzt er die Bedeutung und das Potential des positiven Rechts, in dessen Rahmen vor allem durch legislatorische Aktivität erhebliche Anpassungsleistungen an gesellschaftliche Strukturveränderungen geschehen, das also viel moderner ist, als Ehrlich annimmt. Schließlich bleibt Ehrlich auch ohne eine entsprechende Wissenschaftstheorie beim Postulat einer »Rechtswissenschaft als Soziologie« stehen, wofür ihn Kelsen – insofern zu Recht – angreift. Geltung verweist bei Kelsen demgegenüber auf gesetzgeberische Entscheidung über Verfassung bzw. Grundnorm sowie danach lediglich auf logisch stringente Deduktion. Diese Position übergeht die Möglichkeit, Normen und Recht als empirische Gegenstände zu beobachten. Während Ehrlich gewissermaßen den Verdacht eines naturalistischen Fehlschlusses nicht ausräumen kann, wird bei Kelsen umgekehrt der Neukantianismus ontologisch überstrapaziert. Die Debatte verweist wie der Werturteils- und der später daran anknüpfende Positivismusstreit auf Besonderheiten der Entwicklung im deutschen Sprachraum. Das zeigt beispielsweise schon der Umstand, dass im Konflikt zwischen Kelsen und Ehrlich jeder Bezug auf Durkheim fehlt, der mit den nichtvertraglichen Grundlagen des Vertrags14 die soziologische Beobachtung des Rechts argumentativ eingerichtet hatte. Niklas Luhmann wird erst sehr viel später in seiner Rechtssoziologie bei der »Tatsache des Sollens« als einem Gegenstand soziologischer Analyse ansetzen.15 Zeitgleich zu dieser epistemologischen Kontroverse, in der sich der Werturteilsstreit als konstitutives Problem der deutschen Soziologie widerspiegelt,16 entsteht in expliziter Abkehr von allen Formen soziologischer Jurisprudenz die Position der Rechtstatsachenforschung. Sie bildet über Jahrzehnte hinweg den zumindest institutionell wohl erfolgreichsten Zweig der Rechtssoziologie. In Abgrenzung gegenüber Fuchs' und Kantorowicz' freirechtlichen Ansätzen und Ehrlichs soziologischer Rechtswissenschaft einerseits sowie gegenüber dem legal realism andererseits 13 Teubner, Gunther, Global Law Without a State. Studies in Modern Law and Policy. Aldershot u.a.: Dartmouth 1997. Durkheim, Emile, Über die Teilung der sozialen Arbeit. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 1977 (1893), 256 ff. 15 Luhmann, Niklas 1972 (Fn. 8), 28 f. 16 Rammstedt, Otthein, Die Frage der Wertfreiheit und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Clausen, Lars und Carsten Schlüter (Hg.), Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“, Opladen: Leske + Budrich 1991, 549 ff. 14 4 hatte Arthur Nußbaum dieses Programm einer im Dienste der Rechtswissenschaft empirisch forschenden Soziologie etwa um 1914 entworfen und auch selbst entsprechende Studien, insbesondere zur Grundschuld, vorgelegt.17 Ernst E. Hirsch, Manfred Rehbinder und andere haben diese Position weiter entwickelt und damit eine unübersehbare Fülle an empirischen Untersuchungen auf allen Rechtsgebieten angestoßen, die zeitweise sogar durch eine eigene Ressortforschungsabteilung des BMJ gefördert wurden.18 Damit sollen einige Charakteristika des Entstehungskontextes der Rechtssoziologie in Erinnerung gerufen sein. Diese epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Kontroversen der Anfangsjahrzehnte des Faches prägen die rechtssoziologische Selbstbeschreibung bis heute. Meist werden sie als rein disziplinäre Differenzen interpretiert.19 Diese Sichtweise, so kann man vermuten, blendet jedoch einen wichtigen Aspekt aus. Im Folgenden wird es um die Frage gehen, in welcher spezifischen Weise die deutschsprachige Rechtssoziologie in ihrer weiteren Entwicklung durch die Bearbeitung der skizzierten Widersprüche bestimmt war. 2. Asymmetrische Reflexion Die Kontroverse zwischen erfahrungs- und normwissenschaftlichen Perspektiven spielt sich auf dem Boden einer geteilten Grundannahme ab, die in der Frage zum Ausdruck kommt, ob und gegebenenfalls in welcher Weise das Recht von den Sozialwissenschaften Gebrauch machen bzw. diese rezipieren oder integrieren könne. Diese – im Wesentlichen nur in eine Richtung weisende – Frage überspannt alle Gründungskontroversen als geteilte Prämisse. So finden sich zum einen auf Seiten der neukantianischen bzw. positivistischen Wissenschaftstheorien bzw. in deren Gefolge jene soziologischen Theorien, die ohne normative Ambitionen das Recht allein als soziale Tatsache analysieren. Unter diesem Gesichtspunkt kann man, wie erwähnt, unschwer eine Traditionslinie soziologischer Theorien des Rechts von Weber über Geigers »soziologischem Rechtsrealismus« zu Luhmanns Differenzierungstheorie erkennen. Zum anderen beruft sich aber auch die Rechtstatsachenforschung auf die kategoriale Trennung der beiden Wissenschaftssphären. Gleiches gilt, wie oben dargestellt wurde, auch für Kantorowicz' 17 Nußbaum, Arthur, Die Rechtstatsachenforschung. Ihre Bedeutung für Wissenschaft und Unterricht (1914), in ders. Die Rechtstatsachenforschung. Programmschriften und praktische Beispiele. Berlin: Duncker & Humblot 1968, 18-47. 18 Hirsch, Ernst E., Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge. Berlin: Duncker & Humblot 1966; Rehbinder, Manfred, Rechtssoziologie. 8. Aufl. München: C.H. Beck 2014; Strempel, Dieter, Rechtstatsachenforschung und Rechtspolitik: Zugleich ein Bericht über Forschungsprojekte des Bundesministeriums der Justiz. In: Zeitschrift für Rechtspolitik, (17) 1984, 8, 195; Plett, Konstanze und Klaus A. Ziegert, Empirische Rechtsforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Zur Problemlage rechtssoziologischer Auftragsforschung. Tübingen: Mohr 1984. Mit dem Schwerpunkt »Recht und Verhalten« förderte die Volkswagen-Stiftung in den 1990er Jahren auch Rechtstatsachenforschung in großem Umfang, vgl. Hof, Hagen, Recht und Verhalten. Ein Förderschwerpunkt der Volkswagen-Stiftung. In: ZfRSoz (18) 1997, 2, 247-305. 19 Pars pro toto Wrase, Michael, Rechtssoziologie und Law and Society – Die deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch. In: ZfRSoz, (27) 2006, 2, 289-312. 5 freirechtliche Position und für Ansätze einer »rationalen Rechtspolitik« bzw. Gesellschaftssteuerung durch Recht unter Einsatz soziologischer Instrumente20 oder für justizkritische Ansätze, wie sie seit den 1920er Jahren vertreten wurden und nach dem Krieg bis Ende der 1960er Jahre eine wichtige Rolle spielten.21 Die Reihe dieser Beispiele ließe sich beliebig verlängern. 22 Was die genannten Positionen eint, ist vor dem Hintergrund eines epistemologischen Hiatus zwischen Norm- und Erfahrungswissenschaften die Frage, ob und ggf. welche Impulse, Irritationen oder Leistungen von der Soziologie in Richtung des Rechts ihren Ausgang nehmen könnten. Die kategoriale Trennung der Wissenschaften in diesem »Differenzmodell« ermöglicht sowohl die Position reiner, normativ völlig enthaltsamer soziologischer Beobachtung, als auch die Vorstellung soziologischer Hilfsdienste für das Recht. Auf der anderen Seite der epistemologischen Kontroverse, im Gefolge von Ehrlichs »Einheitsmodell«, haben vor allem in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Bestrebungen einer Versozialwissenschaftlichung des Rechts eine erhebliche Rolle gespielt. Ehrlichs Idee einer »Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft« wurde nunmehr mit den kritischen Ambitionen marxistischer Gesellschaftstheorie verbunden und in konkrete Programme einer Soziologisierung der Justiz und der Juristenausbildung übersetzt.23 Aber nicht nur die aus heutiger Sicht vielleicht etwas übermotiviert anmutenden Reformprogramme jener Neugründungsphase lassen sich als Antworten auf die Frage nach den Leistungen der Soziologie für das Recht lesen. Auch ambitionierte Entwicklungen der neueren, stark von der Soziologie beeinflussten Rechtstheorie kann man in diesem Sinne verstehen. Das gilt nicht nur für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, die seit den 1920er Jahren ein von Marx und Hegel geprägtes Einheitsmodell gegen Weber und über ihn hinaus fortzuführen versucht hatte. In ihrer avancierten Form konnte sie mit Habermas' »Theorie des kommunikativen Handelns« und einer eigentümlichen Doppelrolle des Rechts als Medium und Institution soziologisch nicht wirklich reüssieren, weshalb »Zwischen Faktizität und Geltung« vielfach auch 20 Raiser, Thomas, Was nützt die Soziologie dem Recht? In: ders., Beiträge zur Rechtssoziologie. Baden-Baden: Nomos 2011, 117132; Kaupen, Wolfgang, Memorandum zur Notwendigkeit der verstärkten Förderung rechtssoziologischer Forschung und der Errichtung eines zentralen Forschungsinstituts für Rechtssoziologie. In: ZfRSoz 3 (1983), 1, 180-182 21 Fraenkel, Ernst, Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931-32. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1968; Dahrendorf, Ralf, Deutsche Richter. In: ders. Gesellschaft und Freiheit: zur soziologischen Analyse der Gegenwart. München: Piper 1961, 176 ff.; Kaupen, Wolfgang, Die Hüter von Recht und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen; eine soziologische Analyse. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1969. 22 Klaus F. Röhls Neopositivismus wäre hier zu erwähnen, siehe Röhl 1987 (Fn. 1), Kap 2., oder Albert, Hans, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft: das Recht als soziale Tatsache und die Aufgabe der Jurisprudenz. Baden-Baden: Nomos 1993. 23 Rinken, Alfred (Hg.), Der neue Jurist: Materialien zur reformierten Juristenausbildung in Bremen. Darmstadt u.a.: Luchterhand 1973; Lautmann, Rüdiger, Justiz - die stille Gewalt: teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse. Frankfurt am Main: Athenäum-Fischer 1972; Naucke, Wolfgang, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M.: Metzner 1972; Rottleuthner, Hubert, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft. Frankfurt/M.: Fischer 1973. 6 als Abschied von der Kritischen Theorie der Gesellschaft und Hinwendung politischen Theorie bzw. Rechtsphilosophie interpretiert worden ist.24 In vielleicht noch stärkerem Maße steht Gunther Teubners soziologische Jurisprudenz für das Einheitsmodell der Frage nach der rechtlichen Relevanz der Soziologie.25 Sie ist aus der Rezeption und Weiterentwicklung der Luhmannschen Systemtheorie entstanden, weist aber in ihrer heutigen Form auch weit über diese hinaus. 26 In der Debatte ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass der Preis des außerordentlich innovativen und anregenden Ansatzes möglicherweise gerade in der Aufgabe der Stringenz soziologischer Theorie liegen könnte.27 Ähnliches ließe sich wohl auch für neueste Ansätze einer Kritischen Systemtheorie28 sagen. Gerade diese zuletzt erwähnten Beispiele verdeutlichen noch einmal die Asymmetrie aller rechtssoziologischen Reflexionstheorien, die bis heute die Position einer »Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz«29 beziehen – und zwar unabhängig davon, ob aus der Perspektive der Soziologie oder der Jurisprudenz, ob aus beobachtender oder teilnehmender Perspektive, in beschreibender oder kritischer Absicht. Soziologische Jurisprudenz und Kritische Systemtheorie des Rechts geben, wie im Detail zu zeigen wäre, die Stringenz soziologischer Theorie des Rechts zugunsten einer normativ »brauchbaren« soziologisierten Rechtstheorie tendenziell auf. Im Ergebnis stärken sie damit, so die Vermutung, einen Trend in der deutschen Rechtssoziologie, der seit einigen Jahrzehnten anhält und verschiedentlich als "Schwäche" oder gar "Krise" des Faches bezeichnet worden ist.30 Die Sachhaltigkeit solcher Krisendiagnosen soll hier nicht zur Debatte 24 Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981; ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992; zur rechtssoziologischen Debatte siehe bspw. Guibentif, Pierre, Foucault, Luhmann, Habermas, Bourdieu, une génération repense le droit. Paris: Librairie Générale de Droit et de Jurisrpudence, Lextenso éditions 2010; Sand, Inger-Johanne, The Interaction of Society, Politics and Law: The Legal and Communicative Theories of Habermas, Luhmann and Teubner. In: Law and society, hg. V. Peter Wahlgren, Scandinavian studies in law. Stockholm: Stockholm Institute for Scandinavian Law 2010, 45–76. 25 Als vorläufige Summe der Arbeit an dieser Theorie siehe Teubner, Gunther, Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher Konstitutionalismus der Globalisierung. Berlin: Suhrkamp 2012. 26 Dazu das von Teubner herausgegebene Schwerpunktheft der ZfRSoz 2008, Heft 1 »Nach Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Zur (Un-)Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit«, darin Teubners Beitrag: Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, 9-36. 27 Das wird sowohl ablehnend bis kritisch als auch zustimmend kommentiert, vgl. Přibaň, Jiří, Constitutionalism as Fear of the Political? A Comparative Analysis of Teubner's »Constitutional Fragments« and Thornhill's »A Sociology of Constitutions«. In: Journal of Law and Society, 2012, 441-471; Paterson, John, Reflexive Law: Challenges and Choices (2009), In: Calliess, GralfPeter, Andreas Fischer-Lescano, Dan Wielsch, und Peer Zumbansen, Hrsg. Soziologische Jurisprudenz. Gunther Teubner zum 65. Geburtstag. Berlin: De Gruyter 2009, 559-572. 28 Amstutz, Marc, und Andreas Fischer-Lescano, Hrsg., Kritische Systemtheorie. Zur Evolution einer normativen Theorie. Bielefeld: transcript 2013. 29 Lautmann, Rüdiger, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz. Zur Kooperation der beiden Disziplinen. Stuttgart usw.: Kohlhammer 1971. 30 Blankenburg, Erhard, Die Praxisrelevanz einer Nicht-Disziplin. Der Fall (der) Rechtssoziologie. In Soziale Welt Sonderband 1, 1982, 205; Lucke, Doris, »Total Justice meets Legal Sociology« - Ein Treffen findet (nicht) statt. In: ZfRSoz (6) 1985, 2, Röhl 1987 (Fn. 1), Online-Ausgabe, Nachtrag zu § 10, 69; vgl. auch die unter dem Stichwort »Verwendung« in den Jahrgängen 1988 und 1989 der ZfRSoz geführte Diskussion sowie die Kontroverse zwischen Raiser und Ziegert im Heft 1, 1994; soweit ich sehe, wird hier erstmals öffentlich vom »Misserfolg« der Rechtssoziologie gesprochen; Rasehorn, Theo, Wolfgang Kaupen und die 7 stehen. Vielmehr geht es um die Beobachtung, dass die reflexionstheoretische Annahme, die Identität des Faches stütze sich auf ein Leistungsverhältnis der Soziologie zum Recht, die stillschweigenden Prämisse der Selbstbeschreibung bildet. Angesichts der in den Krisendiagnosen sich manifestierenden gewissen Ratlosigkeit des Faches besteht die Aufgabe darin, diese Prämisse zu prüfen und die Frage nach ihren Entstehungsbedingungen zu stellen. Welches Problem bearbeitet diese Prämisse – und sind funktionale Äquivalente in Sicht? 3. Reflexionstheorien und Diskurse Der erste knappe Überblick zeigt, dass die Rechtssoziologie stets ein Feld heterogener Perspektiven und Paradigmen gewesen ist, auf dem sich Reflexionstheorien der Wissenschaft und des Rechts begegnen. Vieles deutet darauf hin, dass auf diesem Feld Unklarheit über dessen Selbstbeschreibung herrscht. Man kann vermuten, dass auch über einhundert Jahren rechtssoziologischen Denkens und Forschens sich kein klares, das Feld als solches konstituierendes Selbstverständnis davon gebildet hat, was die Identität der Rechtssoziologie sei. Womit können diese Schwierigkeiten zusammen hängen? Selbstverständlich spielen (wissenschafts-) politische Umstände eine wichtige Rolle, Konjunkturen von Themen und Präferenzen, personelle Konstellationen. Alle diese Faktoren schaffen historisch variable Opportunitätsstrukturen, die sich auch in institutionellen Entwicklungen niederschlagen. Erklärungen, die allein auf dieser sozialstrukturellen Ebene der Interessen und Institutionen verharren, greifen jedoch zu kurz. Sie vernachlässigen die Ebene der Semantik, der Deutungen, Selbstbeschreibungen, Reflexionen. Auf dieser Ebene kann man erkennen, weshalb bestimmte Themen und Strukturen in einer historischen Situation präferiert werden und welche Diskurskonstellationen mit dem Aufund Niedergang eines interdisziplinären Feldes einhergehen. Die Dispute über den Nutzen der Sozialwissenschaften für das Recht könnten sich vor diesem Hintergrund dann vielleicht als Ausdruck sehr viel tiefer liegender Deutungsmuster und Semantiken erweisen, in denen sich unterschiedliche Identitäten des interdisziplinären Feldes zeigen. Damit stellt sich die Frage nach einem angemessenen wissenschaftssoziologischen Zugang zu diesen Phänomenen. Niklas Luhmann und André Kieserling und andere urteilen eher zurückhaltend im Hinblick auf den Praxisbezug von Reflexionstheorie.31 Diese, so Kieserling, teile mit deutsche Rechtssoziologie: Aufstieg und Niedergang. In: Empirische Rechtssoziologie. Gedenkschrift für Wolfgang Kaupen, herausgegeben von Dieter Strempel und Theo Rasehorn. Baden-Baden: Nomos 2002, 15–39; Wrase 2006 (Fn. 19) 31 Luhmann, Niklas, Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive In: ders. Ausdifferenzierung des Rechts Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, 419-450; ders., Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 Kap 11; siehe dazu Bora, Alfons, Das Recht der Gesellschaft (1993), In: Jahraus, Oliver u.a. (Hg.), Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, 230-236; Ziegert, Klaus A., Rechtstheorie, Reflexionstheorien des Rechtssys- 8 dem Funktionssystem ein »Motivationskontinuum«, das Beobachtungen zweiter Ordnung ausschließe oder doch wenigstens sehr unwahrscheinlich mache. Eben deshalb könne soziologische Theorie auch nicht Reflexionstheorie ersetzen, wie die oben erwähnten Anläufe zu einer Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz verdeutlichten. Wenn Interdisziplinarität meine, miteinander zu reden, so rede die Soziologie vor allem auch über die Reflexionstheorien der anderen Disziplinen. Daraus ergibt sich die These eines »Resonanzgefälles«, nach der die Soziologie für die Umweltbeobachtungen der Funktionssysteme willkommene Unterstützung liefere, zur deren Selbstbeschreibung allerdings stets inkongruente Fremdbeschreibung bleibe. Aus Sicht einer Theorie der Reflexionstheorien scheint es so, als ob koordinierte wechselseitige Interdependenzen beziehungsweise aufeinander eingespielte Irritationen zwischen Recht und Sozialwissenschaft eher unwahrscheinlich seien. Eine alternative Sichtweise ergibt sich aus einem neueren wissenschaftssoziologischen Ansatz, der durchaus die allgemeinen differenzierungstheoretischen Voraussetzungen der soziologischen Systemtheorie teilt, diese aber in einem entscheidenden Detail weiter entwickelt. In seiner Monographie »Wahrheit und Nützlichkeit«32 schlägt David Kaldewey in Ergänzung etablierter, entweder auf »reine« bzw. »autonome« Wissenschaft oder auf deren »praktische« bzw. »politische« Bedeutung abstellender Ansätze eine symmetrische Wissenschaftssoziologie vor, welche die Gesichtspunkte der Autonomie und der Praxis in gleicher Weise verwendet. Er kann nachweisen, dass die soziologische Differenzierungstheorie zwar einen wesentlichen Schritt zur Entwicklung eines umfassenden soziologischen Wissenschaftsbegriffs geht, letztlich aber zur Hypostasierung binärer Unterscheidungen neigt und daher die Vielfalt und Modulierungsfähigkeit von Semantiken systematisch unterschätzt, die in der Selbstbeobachtung der Wissenschaft strukturwirksame Effekte produzieren. Dadurch gewinnt er einen analytischen Zugang, der die Integration divergierender wissenschaftssoziologischer Paradigmen zumindest als nicht aussichtslos erscheinen lässt. In Anlehnung an die integrationale Linguistik von Roy Harris 33 und an Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie schlägt er ein Konzept der Semantik von Wissenschaft vor, das die Funktionen der Limitation (Transformation unbestimmter in bestimmte Komplexi- tems und die Eigenwertproduktion des Rechts. In: Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie, hg. V. Henk de Berg und Johannes F.K. Schmidt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 93-133; Kieserling, André, Die Soziologie der Selbstbeschreibung. Über Reflexionstheorien der Funktionssysteme und ihre Rezeption der soziologischen Systemtheorie, ebd., 38–92. 32 Kaldewey, David, Wahrheit und Nützlichkeit. Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz. Bielefeld: transcript 2013, insbes. Kap. 4., 140 ff. 33 Harris, Roy,The semantics of science. London: Continuum 2005. 9 tät) und der Reflexion (Konstitution der Identität von Wissenschaft in Abgrenzung zu ihrer Umwelt) nicht zwischen Programmen einerseits und Referenzen andererseits verteilt, sondern gleichzeitig in unterschiedlichen, die Semantik der Wissenschaft konstituierenden Diskursen verwirklicht sieht. Dies erlaubt es, zu fragen, ob und in welcher Weise verschiedene Diskurse jeweils Selbst- und Fremdreferenz sowie Limitation und Reflexion ermöglichen. Kaldewey unterscheidet vor diesem Hintergrund vier Diskurse, welche die Semantik der Wissenschaft kennzeichnen, nämlich Methoden und Theorien sowie Autonomie- und Praxisdiskurse.34 Da Semantiken gegenüber der Umwelt des jeweiligen Systems offen sind, können innerhalb der wissenschaftlichen Semantik Selbst- und Fremdbeschreibungen aufeinandertreffen. Damit wird es theoriearchitektonisch möglich, dass die Identität des Systems nicht allein vom System selbst konstituiert wird – »[d]ie Umwelt spräche gewissermaßen mit.«35 Kaldeweys Konzept geht also über Luhmann und Kieserling hinaus, deren Interesse stärker den Selbstbeschreibungen als den Fremdbeschreibungen gilt, indem es die Denkmöglichkeit offen hält, »dass es im Medium von Diskursen zur Äquilibration von Selbst- und Fremdbeschreibungen kommen kann.«36 Mit Hilfe dieser wissenschaftssoziologischen Neuorientierung gegenüber der auch in den rechtssoziologischen Reflexionstheorien gängigen unidirektionalen Anlage kann das Feld der Rechtssoziologie neu analysiert werden. Man kann fragen, ob aus historischen Konfigurationen wissenschaftstheoretischer Selbstbeschreibungen in Rechtswissenschaft und Soziologie semantische Passungs-, Konkurrenz- oder Konfliktkonstellationen resultieren, welche die Entwicklung des Faches in einem neuen Licht erscheinen lassen, das dann eine in dem hier skizzierten Sinne symmetrische bzw. äquilibrierte Selbstbeschreibung ermöglicht. 4. Diskurse der Rechtssoziologie Die formative Phase der deutschen Rechtssoziologie fällt in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesen Zeitraum institutionalisiert sich nicht nur die Soziologie in Deutschland. Es bilden sich auch die diskursiven Konfigurationen der Rechtssoziologie. Im Folgenden können nur erste, sehr vorläufige Hinweise auf Diskurse der Rechtssoziologie gegeben werden, da eine umfassende Analyse des Materials noch aussteht. Zwischen 1950 und 1980 entstehen nach vorläufigen Analysen vor allem folgende Diskurse: 34 Der hier verwendete Diskursbegriff weicht von den in den Sozialwissenschaften im Anschluss an Foucault, Habermas oder Goffman gebräuchlichen Varianten ab, Kaldewey a.a.O. (Fn. 32), 140 ff.; Angermüller, Johannes und Martin Nonhoff, Diskursforschung: ein interdisziplinäres Handbuch, Bielefeld: transcript 2014, Bora, Alfons and Hausendorf, Heiko, Participation and Beyond: Dynamics of Social Positions in Participatory Discourse. In: Comparative Sociology 8 (2009), 4, 602-625. 35 Kaldewey a.a.O. (Fn. 32), 139 36 Ebd. (Fn. 35) (Hervorh. im Orig.) 10 Beobachtung und Irritation sind die zentralen Konzepte eines Diskurses, der zwar den Anspruch erhebt, Rechtssoziologie aus der »Insassenperspektive« zu betreiben, konzeptionell aber die Dimension des Praxisbegriffs vernachlässigt. Man findet ihn sowohl in soziologischen, als auch in rechtstheoretischen Reflexionsdiskursen. Er betont gewissermaßen die Fremdreferenz der wissenschaftlichen Beobachtung des Rechts, ohne innerhalb dieser über einen Praxisbegriff zu verfügen. Steuerung der Gesellschaft durch Recht unter Einsatz soziologischer Instrumente ist das Modell eines juristischen Praxisdiskurses, der an einen soziologischen Praxisdiskurs anschließt. Das gelingt, weil die Berufung auf die Grundlagen der allgemeinen Soziologie unscharf bleibt, so dass die wissenschaftlichen Prämissen dieser Praxisdiskurse als geklärt unterstellt werden können. Beobachtungs- und Steuerungsdiskurs sind deshalb zueinander inkongruent. Der Diskurs der Kritik des Rechts ist das dominante Muster in den sechziger und siebziger Jahren. In vielen einschlägigen Texten bildet eine vorwissenschaftlich begründete gesellschaftskritische Attitüde die Grundlage der Reflexionstheorie sowohl der Soziologie als auch des Rechts. Engagierte Wissenschaft auf empirischer Basis setzt die Legitimität der Gesellschaftskritik als intuitive Gewissheit voraus. Die kritische Rechtssoziologie amalgamiert mit sozialtechnologischem Positivismus in einem Praxisdiskurs. Dieser bleibt gegenüber der Autonomie sowohl des Rechts als auch der Wissenschaft blind und schafft so fundamentale Inkongruenzen zu den beiden erstgenannten Diskursen. Der Diskurs der Hilfswissenschaft und »Verwendung« soziologischen Wissens markiert eine Position der Wissenschaft im Praxisdiskurs des Rechts. Semantische und konzeptionelle Unschärfen auf der soziologischen Seite dieses Praxisdiskurses verdecken allerdings grundlegende wissenschaftssoziologische Differenzen zwischen dem linearen und komplexeren Modellen, Konzepten wechselseitigen Lernens, der späteren Mode-2-Semantik usw. Hierzu gehören Modelle der Rechtssoziologie als aufklärender Hilfswissenschaft einer sich spezialisierenden Jurisprudenz, aber auch die theoretisch anspruchsvollere soziologische Jurisprudenz. Der Diskurs zielt auf die Selbstereferenz des Rechts, vernachlässigt dabei Probleme der wissenschaftlichen Autonomie und schafft weitere Inkongruenzen gegenüber allen anderen Diskursen. Am Rande dieser dominanten Diskurse bildete sich in den 1960er und 1970er Jahren ein Diskurs der Praxis als transzendentem Bezugspunkt für Wissenschaft und Recht als zentrales Moment 11 der Wissenschaftstheorie und der Rechtssoziologie Helmut Schelskys.37 Dieser Diskurs, der die skizzierten Inkongruenzen zu überwinden versuchte, ist aus historischen Gründen marginal geblieben und heute nur seiner Intention nach noch anschlussfähig, obwohl er die Probleme einer soziologischen Reflexionstheorie vielleicht am deutlichsten herausgearbeitet hatte. Seit den 1990er Jahren steht Semantik von »Recht und Gesellschaft« für einen Diskurs, der sich, so die Vermutung, auf der Basis der oben erwähnten Krisendiagnosen vor allem einer Verlegenheitsformel angesichts ungelöster Inkongruenzen bedient. Er entsteht am Ende der 1980er Jahre, als die Rechtssoziologie sich nicht nur mit dem Verhältnis der Kritik des Rechts zur marxistischen Rechtstheorie der untergegangenen DDR zu befassen hatte, sondern sich der durch die beschriebenen Diskurs-Kollisionen entstandenen Blockaden bewusst wurde. Fast will es so scheinen, als ob mit dem Erscheinen der »großen« Lehrbücher im Jahr 1987 die deutsche Rechtssoziologie ihren Höhepunkt und zugleich einen diskursiven Abschluss gefunden hätte, als ob danach der Mut zu weiteren Klärungen zwischen den Diskursen gefehlt habe. Es war die Zeit des Programms "Recht und Verhalten" der Volkswagen-Stiftung und der (zwar zu Ende gehenden, aber noch vorhandenen) Förderung durch das Referat Rechtstatsachenforschung im BMJ. Die Entwicklung in Deutschland stand seither in auffälligem Kontrast zum internationalen Erfolg der Rechtssoziologie.38 Man arrangierte sich gewissermaßen im unterstellten Routinebetrieb, ohne dass die heterogene Diskurslandschaft eine institutionelle Konsolidierung erwarten ließ. »Recht und Gesellschaft« wäre dann Ausdruck dieser Verlegenheit. Die Rechtssoziologie tritt mit diesen – hier nur beispielhaft und nicht abschließend genannten – Diskursen also in unterschiedlichen Identitäten auf, die jeweils genuine Kongruenzprobleme schaffen. Als engagierte Sozialwissenschaft mit sozialtechnologischem Instrumentarium scheitert sie an der Robustheit der Jurisprudenz, die sich – im Gegensatz zu anderen Lebensbereichen – kaum »versozialwissenschaftlichen« lässt. Als Rechtstatsachenforschung bleibt sie im Laufe der Zeit hinter der Entwicklung soziologischer Theorien zurück. Als soziologische Jurisprudenz ist sie sehr eng auf die Systemtheorie fokussiert, deren Praxis-Abstinenz sie um den Preis theoretischer Inkonsistenzen in Gestalt eines ungeklärten Normativismus überwindet. Als soziologi- 37 Schelsky, Helmut, Die Soziologen und das Recht: Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1980. Parallelen zu Wiethölter, Rudolf, Rechtswissenschaft. Frankfurt/M.: Fischer 1968 und dessen »Kollisions«-Modell wären genauer zu analysieren. 38 Zur Stagnation in Deutschland vgl. Fn. 30. International beeindruckt die Gründung des International Institute for the Sociology of Law in Oñati 1988/89 und außerhalb Europas der enorme Aufschwung der Law and Society Association in den USA, der Zuwachs rechtssoziologischer Vereinigungen und Lehrstühle in Lateinamerika und Asien, aber auch die Entwicklungen in europäischen Nachbarländern. Vgl. z.B. Noreau, Pierre and André-Jean Arnaud, The Sociology of Law in France: Trends and Paradigms, In: Journal of Law and Society (25) 1998, 2, 257-283; Hillyard, Paddy, Law's Empire: Soci-Legal Empirical Research in the Twenty-First Century, In: Journal of Law and Society (34) 2007, 2, 266-279. 12 sche Theorie des Rechts setzt sie sich in Folge ihrer reflexionstheoretischen Selbstimmunisierung gegen rechtssoziologische Praxisdiskurse im Vergleich zu den anderen Varianten nur schwer durch. Eine der Komplexität des modernen Rechts angemessene soziologische Theorie entwickelt sich zwar seit den siebziger Jahren bei Luhmann, bleibt aber von der die Luhmannsche Theorie insgesamt durchziehenden »Unterkühlung« im Hinblick auf eine Theorie der Praxis durchdrungen. Das Verhältnis zwischen Autonomie und Praxis ist deshalb in der soziologischen Theorie des Rechts noch nicht so weit geklärt, dass diese auf Resonanz in der Jurisprudenz hoffen und gleichzeitig anspruchsvolle Soziologie bleiben kann. 5. Responsive Rechtssoziologie Wenn dieses Argument auf der Basis der historischen Entwicklung rechtssoziologischen Denkens in Deutschland empirisch ausgearbeitet ist, fragt sich, ob eine theoretisch komplexe Rechtssoziologie aus der »Insassenperspektive« der Juristen, die im Unterschied zu Luhmann praxisorientierte Theorie sein will, tatsächlich möglich scheint. Weshalb wird der Weg zu einer Rechtstheorie aus dieser scheinbar »externen« Perspektive vorgeschlagen? Weil, so das zentrale wissenschaftstheoretische Argument, diese Perspektive nicht «extern« ist, sondern weil interdisziplinäre und praktische Leistungsfähigkeit Teil der identitätsstiftenden Reflexionstheorie selbst sind. Eine im Sinne Luhmanns verstandene Koppelung von Wissenschaft und Recht dürfte über die Beobachtung von Funktion und Leistung an Tiefenschärfe gewinnen. Sie kann beobachten, ob die Relevanzen der anderen Teilsysteme in irgendeiner Gestalt in der Soziologie, als Aspekt von deren Selbstbeschreibung auftauchen. Der Diskursbegriff ermöglicht diese Tiefenschärfe der Beschreibung. Er macht sichtbar, dass sich auf Seiten der wissenschaftliche Beobachtung und der rechtlichen Praxis sowohl gleichartige als auch verschiedenartige Diskurstypen miteinander verschränken. Die Methodendiskurse in Soziologie und Recht beispielsweise laufen allem Anschein nach ziemlich irritationsfrei nebeneinander, ohne dass etwa gemeinsame Wurzeln in der hermeneutischen Tradition noch eine Rolle spielen würden. Gleichzeitig mag es lebhaften Austausch zwischen statistischen Methoden in der Soziologie und Selbstbeschreibungen des Rechts, insbesondere dessen Praxisdiskursen (»Rechtswirkung«, »soziale Einflüsse« etc.) geben – unter Umständen auch vermittelt durch und in Kooperation mit (beispielsweise ökonomischen) Sozialtheorien und spezifischen Praxisdiskursen in der Soziologie. Theoriediskurse, beispielsweise Verfassungstheorien, sehen sich mit externen Beschreibungen durch soziologische Theorien konfrontiert. 13 Von großer Bedeutung für die innere Verfassung des interdisziplinären Feldes der Rechtssoziologie dürfte angesichts dieser phänomenologischen Vielfalt und der Komplexität möglicher Irritationsbeziehungen die Chance sein, resonanzfähige, responsive Reflexionstheorien zu formulieren. Damit sind Theorien gemeint, die jeweils Autonomie- und Praxisdiskurse so kombinieren können, dass externe Anschlussmöglichkeiten mit einbezogen werden. Ob man das dann als Hyperzyklen oder ultrazyklische Kopplungen bezeichnet oder begrifflich etwas voraussetzungsärmer ansetzt, sei vorerst dahin gestellt. Die aus der Diskursanalyse resultierende Suchbewegung richtet sich jedenfalls auf Lernmöglichkeiten in Reflexionstheorien und gegebenenfalls dann in den auf sie zugeschnittenen Fachtheorien. Damit wäre ein Anhaltspunkt gewonnen, nicht nur nach den »Theoriekatastrophen« zu fragen, die eine Immunisierung der Rechtsdogmatik gegenüber der Sozialtheorie verursacht haben.39 Vielmehr geht es um eine, den anspruchsvollen Stand der Theorieentwicklung nicht unterlaufende soziologische Theorie des Rechts, die komplementär zu dem in der Rechtstheorie erreichten Stand sich auf der soziologischen Seite mit der konkurrierenden juristischen Rechtstheorien, mit Wissenstransfer und »Eigennormativität« auseinanderzusetzen.40 Die Bandbreite dieser theoretischen Suchbewegung kann noch nicht abschließend bestimmt werden. Beispielhaft sind etwa – anknüpfend an die Entwicklungen in der soziologischen Verfassungstheorie – Theorien der Regulierung als Schlüsselstellen diskursiver Inkongruenz zu erwähnen, welche die verschütteten Ansätze einer soziologisch anspruchsvollen Interpretation gesellschaftlicher Gestaltung jenseits der Governance-Debatte wieder aufgreifen41 und in diesem Rahmen eine praxisorientierte Selbstbeschreibung generieren. Dazu trägt auch eine aktualisierte soziologische Theorie der Professionen bei, mit welcher der Praxisbezug des Rechts selbst in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Administration und Juristenausbildung theoretisch abgebildet und soziologisch beschrieben werden kann.42 Diese Bausteine bilden, so kann man vorläufig vermuten, den reflexionstheoretischen Kernbestand einer Rechtssoziologie, die auf der Basis avancierter Sozialtheorien dann gleichermaßen Fremd- und Selbstreferenz sowie Limitation und Reflexion in Theorien und Methoden, aber auch in Autonomie- und Praxisdiskursen integriert. 39 Noch einmal Teubner 2014 (Fn.1) Auch dies unter Bezug auf Teubner 2014 (Fn. 1), allerdings transformiert in eine soziologische Fragestellung; vergleichbare Suchbewegungen kann man bspw. auch beobachten bei Neves, Marcelo, Transconstitutionalism. Oxford and Portland Oregon: Hart 2013; Guibentif 2010 (Fn. 24); Mölders Marc, Kluge Kombinationen, In: ZfRSoz (33) 2012, 1, 5 ff. 41 Bora, Alfons, Rethinking regulation: What governance is all about. In: Portuguese Journal of Social Science 13 (2014), 2, 197213. Siehe dazu auch mit Bezug auf Wissenschaftssoziologie und ein »grundsätzliches Dilemma wissenschaftlicher Praxisberatung« in der Rechtssoziologie Jansen, Dorothea, Soziologie, Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft. In: Machura, Stefan, und Stefan Ulbrich (Hg.), Recht - Gesellschaft - Kommunikation: Festschrift für Klaus F. Röhl. Baden-Baden: Nomos, 2003, 24-39 42 Bora, Alfons, Referenz und Resonanz. Zur Funktion von Methoden in Rechtstheorie, Rechtslehre und Rechtspoiesis. In: Rechtstheorie (32) 2001, 2/3, 259-272 40 14 III Zusammenfassung Die innere Verfassung der Rechtssoziologie lässt sich, das ist die grundlegende Vermutung, die hier knapp skizziert wurde, als Konfiguration reflexionstheoretischer Diskurse rekonstruieren. Durch den Anschluss an die neuere Wissenschaftssoziologie kann man mit dieser Strategie einen Zugang zu dem bislang eher unterbelichteten Aspekt des Praxisbezugs von Reflexionstheorien gewinnen. Schließlich kann damit der Anspruch begründet werden, über die für die Rechtssoziologie zur Referenz gewordene soziologische Theorie hinaus ein symmetrisches Modell von Autonomie und Praxis zu entwerfen, das Rechtssoziologie jenseits der Unverbindlichkeit von »Recht und Gesellschaft« wieder möglich erscheinen ließe. 15