1 Ansprache: Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, 499 Jahre Reformation – Martin Luther: Rebell und Reformator! Ratgeber in Umbruchszeiten. Das ist unser Thema! Was jetzt folgt, ist nur in Aspekten eine Predigt, da, wo es um den Glauben geht und wie er, wie ich meine, von innen heraus zu verstehen ist. Der Rest ist eine Kanzelrede, da geht es um Luthers Reformation und die Folgen. Fast 500 Jahre Reformation zu würdigen, das dauert allerdings etwas länger als eine übliche Predigt, wofür ich bereits jetzt um Vergebung bitte. Ich beginne mit einem Zitat: „Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt“. „Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt“. Ich vermute, Sie haben ambivalente Empfindungen, wenn Sie diesem Zitat nachsinnen, Empfindungen, die reichen können von Zustimmung und ja… Stolz aufgrund der phänomenalen Kulturleistungen, die die Religionen erbracht haben bis hin zu Skepsis und Zweifel aufgrund der langen Spur aus Gewalt, Intoleranz und Zersplitterung, die sich als Folge von in die Irre geleitetem Glauben durch die Geschichte zieht. In der Tat ist es nur ein kleiner Schritt, wie ein Wechselspiel zweier Buchstaben, und aus der Fruchtbarkeit des Glaubens für Mitwelt und Nachwelt wird eine Furchtbarkeit der Religion für Mitwelt und Nachwelt. Und es gehört einiger Optimismus dazu, um dauerhaft auf die Fruchtbarkeit des Glaubens zu setzen. Es war kein Einfallspinsel, der das tat: Johann Wolfgang von Goethe. Er, der Aufgeklärte, sagte über Martin Luther im Jahr 1832: 2 „Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Reformation alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen ... Je tüchtiger aber wir Protestanten in edler Entwicklung voranschreiten, desto schneller werden die Katholiken folgen“. Entscheiden Sie selbst: sind uns die Katholiken gefolgt, 499 Jahre nach dem Thesenanschlag? Immerhin durfte man in der SZ vom vergangenen Wochenende einen ausführlichen Artikel über eine im Vorfeld des Reformationsjubiläums durchgeführte gemeinsame Pilgerreise von Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx ins Heilige Land lesen, sozusagen gemeinsam ad fontes. Ein beachtliches Zeichen. Die beiden Kirchenoberen durften sich sogar gemeinsam ein wenig in Geduld und Demut üben, als sie von einem in sich ruhenden Wächter an der Geburtskirche in die lange Warteschlage vor der Geburtsgrotte verwiesen wurden, wie zu lesen war. Bischöfe aller Art stünden hier jeden Tag vor der Tür, da gibt es keine Extrawurst und vorne anstellen. Vielleicht haben die Bischöfe die Zeit des Wartens ja für einen substantiellen ökumenischen Fortschritt genutzt. Worin könnte der bestehen? Wie sehen wir das Erbe Martin Luthers heute, ein Jahr bevor seine Reformation ihren 500ten Geburtstag feiert? Goethe schwärmte 1832 vom Christentum in seiner Reinheit, das uns Luther wieder erschlossen habe und er meinte damit die Stärkung der humanistischen Seite des Christentums, die Stärkung und Wertschätzung des Menschen. Ein von Fundamentalismus und Engstirnigkeit gereinigtes Christentum. Goethe sah in Luther die Ideale seiner eigenen Zeit. Und auch vor und nach Goethe haben sich Befürworter und Gegner durch die Jahrhunderte hindurch jeweils den Luther ihrer Wahl erschaffen. Dieser Prozess begann noch zu Lebzeiten Luthers und kurz danach, wenn z.B. Luther auf Bildern stehend neben der knienden sächsischen Fürstenfamilie dargestellt wird, während sie gemeinsam der Taufe Jesu 3 durch Johannes den Täufer beiwohnen. Luther wurde noch im 16. Jahrhundert sozusagen selbst zur biblischen Figur stilisiert, zum Vergegenwärtiger des Heils. Er war der, der die Bibel öffnete. Im 17. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der konfessionellen Kriege, wurde Luther dann zum konfessionellen Kirchenvater gemacht, der wie die Evangelisten oder die alten Kirchenväter ein Symboltier erhielt. Luthers Symboltier war und ist der Schwan, was auf eine Aussage des Luthervorläufers Johannes Hus zurückgeführt wurde. Dieser habe vor seiner Verbrennung auf dem Konzil von Konstanz, zu dem er vom Papst unter Gewährung von freiem Geleit gelockt worden war, ausgerufen: „Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan auferstehen“. Und dieses Erbe sollte Luther antreten. Im 18. Jahrhundert wird Luther dann zum evangelischen Heiligen, er erscheint in eher pietistischen Umfeldern auf Emporenmalereien, Lutherporträts in Kirchen rechtfertigen die Reformation als Gottes Werk, Luther wird zu Gottes Werkzeug, es entsteht eine protestantische Orthodoxie, zu der die volksfromme Verehrung des Reformators gehört. Gleichzeitig wird Luther im 18. Jahrhundert zum Vater der geistigen Freiheit erklärt, zum Wegbereiter der Aufklärung, womit allerdings auch eine gewisse Säkularisierung des religiösen Luther einher ging. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Luther dann jedenfalls erst einmal zum deutschen Held, zum nationalen Denkmal. Ein feste Burg ist unser Gott wurde zur Marseillaise der Reformation im Befreiungskampf der Deutschen gegen Napoleon. Luther wurde zum Kitsch-Motiv auf Teetassen, es gab Luther-Spieluhren und Luther-Statuen im Massenformat. So wie diese (Luther-Statue zeigen). Diese LutherInterpretation, besser Luther-Verzeichnung steigert sich dann nochmals massiv im frühen 20ten Jahrhundert. 1917, beim letzten runden Lutherjubiläum wurde der Reformator zum Legitimator der deutschen Sache im 1. Weltkrieg stilisiert. Luther, der Mensch der alten deutschen Geschichte, von dem wir am allermeisten wissen, über dessen Leben und Denken so detaillierte Texte vorliegen wie sonst für keine Figur in der deutschen Vergangenheit, er wurde ungeachtet dessen zur Projektionsfläche der jeweils herrschenden Weltanschauungen, wie paradox. 4 Die Lutherrezeption geschah allerdings nicht nur in Form einer positivistischen Luther-Verklärung im Sinne der eigenen Lieblingsgedanken, sondern durchaus auch in Ablehnung des Reformators, dessen Rolle als ein Wegbereiter der Moderne man zwar zugestand, von dessen intensiver christlicher Religiosität man aber nichts mehr wissen wollte. Luther erschien dann nicht mehr als früher Freiheitsheld der Aufklärung, sondern vielmehr als der Verhinderer ihrer vollständigen Durchsetzung. So bei Friedrich Nietzsche: „Luther war ein Verhängnis für die Menschheit, denn er kam, als die Renaissance eben sogar das Papsttum erobert hatte und das Leben daran war, mit dem Christentum stillschweigend aufzuräumen. Und Luther stellte die Kirche wieder her. Ach, diese Deutschen! … Sie haben auch die unsauberste Art Christentum, die es gibt … den Protestantismus, auf dem Gewissen. Wenn man nicht fertig wird mit dem Christentum, die Deutschen werden daran schuld sein“. Ich versuche, als moderner Protestant auf Nietzsche persönlich zu antworten: Der Protestantismus ist also die unsauberste Art Christentum, Herr Nietzsche. Was meinst du damit? Missfällt dir das Freiheitspathos von uns Protestanten, missfällt dir, dass wir uns als Evangelische mit uns selbst gut und erst einmal glücklich und zufrieden fühlen dürfen, und gleichzeitig als moderne Menschen? Wäre es dir lieber, wir würden dem Clichee der ewig düster mittelalterlichen Kirche entsprechen, mit Teufeln aller Art. Den Gefallen tun wir dir nicht. Wir können uns sehr wohl als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts im Bewusstsein unserer Möglichkeiten und der Grenzen allen Wissens und Könnens von Gott angenommen fühlen aufgrund unseres Glaubens, wie es Luther in seiner Rechtfertigungslehre formuliert hat. Und wir brauchen gleichzeitig nicht Luthers mittelalterliches Denken zu übernehmen, auch nicht seine Judenfeindschaft und seine Angst vor dem Islam, die ja doch nur Ausdruck seiner apokalyptischen, eben typisch mittelalterlichen Ängste waren. So frei sind wir modernen Protestaten, alles zu prüfen, das Schlechte entschlossen hinter uns zu lassen und das nach wie vor Gute zu behalten. 5 Herr Nietzsche, ich glaube, dich ärgerte es, dass wir dich im Grunde als Befreier nicht mehr brauchen und dass uns eigentlich der Leidensdruck fehlt, um unsere Religion hinter uns zu lassen. Damit ist natürlich keineswegs gesagt, dass damit schon alles gut ist. Die Welt zu verbessern im Sinne der Bergpredigt Jesu ist eine Riesenaufgabe. Aber sie lastet nicht mehr als erdrückende Sündenlast wie beim vorreformatorischen Luther auf unseren Schultern, sondern wir können in Freiheit die Probleme angehen, wie Luther sagt, aufgrund unseres Glaubens aus Freiheit und Liebe heraus, wie ein guter Baum, der auch gute Früchte trägt, ohne sich dadurch von sich selbst zu entfremden. Das heißt evangelisch sein. Dass du, Herr Nietzsche, hämisch darauf verweist, viele Christen, auch viele Protestanten, sähen gleichwohl nur allzu oft unerlöst aus, ändert daran gar nichts, aber es erinnert uns daran, dass wir allen Grund haben, unsere Freiheit auch glücklich und selbstbewusst zu feiern. Dafür danke ich dir. Ende der persönlichen Antwort. Nietzsches eigenes, von der Begrenztheit des Durchschnitts-Geschöpfes losgelöstes Konzept des Übermenschen wurde später von den Nazis zu ihrer nationalsozialistisch faschistischen Herrenmenschen-Ideologie weiterentwickelt. Zu Beginn seiner Herrschaft versuchte Hitler zwar noch, Luther als religiöse „Führergestalt“ zu vereinnahmen. Er verlor dann aber bald das Interesse an den Kirchen, die nach dem Endsieg wohl auch einer Endlösung zugunsten der arischen Herrenmenschenreligion zugeführt worden wären. Aber dazu kam es ja glücklicherweise nicht mehr. Gleichwohl: Nach 1945 kam die Darstellung Luthers dann erst einmal weitgehend zum Erliegen, zu sehr hatten sich die deutschen Christen unter den Protestanten den Nazis angebiedert. Erst 1983, zum 500 Geburtstag des Reformators, machte er wieder von sich reden. Die DDR versuchte eine geschichtliche Anknüpfung an Luthers emanzipatorisches Erbe, durchaus im Sinne einer Art politischer Selbstlegitimation unter Rückgriff auf das historische Erbe der Lutherstätten. 6 Nach der Wiedervereinigung wurde Luther schließlich sprichwörtlich vom Sockel geholt. Luther wurde sozusagen geschrumpft, zu dem Mönch und religiösen Lehrer, der er selbst einmal sein wollte. Davon geben auch die 800 bunten Lutherstatuen, genannt „Lutherzwerge“, die der Künstler Ottmar Hörl im Rahmen einer Kunstaktion auf dem Marktplatz von Wittenberg aufgestellt hat und die inzwischen über ganz Deutschland verteilt sind, Zeugnis, sie reichen einem gerade einmal bis zur Hüfte. Trotz tausender Veranstaltungen rund um Luther und das Luthergedenken setzt die im Jahr 2017 zu ihrem Höhepunkt kommende Lutherdekade insgesamt auf Reduktion. Die beiden großen Kirchen in Deutschland werden das Reformationsjubiläum 2017, insoweit sie es gemeinsam begehen, als großes Christusfest begehen, weil es, wie sie sagen, das ist, was Luther wollte, Christus in die Mitte zu stellen. Dies stimmt, geschieht aber sicher auch, weil sich darauf eben auch Katholiken einlassen können, die ansonsten nach wie vor Probleme mit Luther haben. Daher lautet die Devise in gewisser Wiese: Haltet Luther klein, damit wir ökumenisch feiern können. (Playmobilfigur zeigen) Übrigens die bisher erfolgreichste Playmobilfigur ever. Auch der Reduktions-Zugang zu Luther ist allerdings wohl vom Zeitgeist geleitet. Beide Kirchen verlieren in Deutschland immer mehr Mitglieder, die religiösen Milieus lösen sich teilweise auf, der rasante Wandel Deutschlands hin zu einer Migrationsgesellschaft wirft die Frage auf, welche Rolle die Christen darin in Zukunft spielen werden? Als zerstrittene Konkurrenten würden sie sicher nur selbst zu ihrer weiteren Marginalisierung beitragen. Trotzdem dürfen wir uns fragen: Was hat uns der kleiner gewordene Martin Luther hinterlassen, das uns auch heute noch Orientierung geben kann? Was bedeutet es 2016, Jesus Christus lutherisch in die Mitte stellen? Martin Luther war ein Rebell und ein Reformator. Er wurde zum Rebell, weil er ein extremer Mensch war, der in dem, was ihm wesentlich schien, keine Kompromisse einging. Weil er ein extrem religiöser Mensch war, und weil die Zeit 1517 reif war, wurde er zum Kirchengründer. Daraus ziehe ich schon einmal die eine Lehre, dass man im Sinne Luthers auch 7 heute noch Überzeugungen haben darf und auch zu seinen Überzeugungen stehen sollte. Erkennbarkeit ist identitätsstiftend. Dabei wollte Luther ja keine Kirchenspaltung, er wollte nur eine bessere, man könnte auch sagen eine zentriertere Kirche. In heutiger Sprache gesprochen: Es ging Luther um die Konzentration auf die universale Kernbotschaft. Sola fide, allein durch den Glauben, sola gratia, allein durch die Gnade, solus Christus, Jesus Christus alleine und sola scriptura, allein durch die Schrift, das war das Programm, mit dem Luther die Kirche zu sich selbst zurückführen wollte. Diese Merkmale sind auch heute noch für Protestanten konstitutiv. Seine reformatorische Erkenntnis war für Luther so hell, so klar, so befreiend und positiv, er selbst sah sich so sehr –trotz bleibender Sündigkeit- als von Gott berufener Botschafter des Evangeliums, dass er zu mindestens in den Anfangsjahren der Reformation fest damit rechnete, dass bald alle, auch der Papst in Rom seiner klaren und einfachen Einsicht zustimmen würde. Luther wollte die Einheit einer Weltanschauung, einen universalen biblisch-evangelischen Glauben, den er für heilsam hielt. Als andere dies aber nicht für sich nachvollziehen konnten oder wollten, so deutlich er es auch immer wieder erklärte, wurde er leider ungerecht und unduldsam, in seinen späteren Jahren auch gefährlich bösartig: der Papst wurde zum Antichristen, die Juden zu Lügnern, die Muslime zu Ankündigern der Apokalypse. Davon distanzieren wir uns. Aber bis heute ist es auch für uns schwer auszuhalten, dass andere das, was uns existentiell gültig und klar ist, für sich selbst nicht nachvollziehen. Damit müssen wir aber leben. Aber schon der in seine italienische Machtfülle und Renaissanceherrlichkeit verstrickte Papst Leo X. sah keinerlei Anlass, auf Luthers Argumente auch nur einzugehen. Er wollte seinerseits ebenso eine universale Kirche, deren Einheitsgedanke aber auf der alles beherrschenden Autorität des römischen Pontifex beruhte. Wer dagegen opponierte, stürzte aus seiner Sicht die Welt ins Chaos, egal woran er glaubte. Er musste zum Schweigen gebracht werden. Dies wiederum gelang auch nicht. Auch das dritte Schwergewicht der Zeit, Kaiser Karl der V., wollte ein universales Reich unter einem Kaiser und mit einer Religion. All die Kleinstaaterei, die sich in Deutschland etabliert hatte, das Gleichgewicht 8 der Mächte, Kurfürsten und Stände war ihm eigentlich zuwider, er wollte das eine Kaisertum nach dem Vorbild seiner großen Vorfahren. Als die drei Protagonisten des Weltgeschehens aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Luther, Karl der V. und Leo X. sich schließlich von der Weltbühne verabschiedeten, war ihr Traum vom Universalismus, von der einen Welt-weltanschaung und Weltregierung allerdings ausgeträumt, sie, die sie alle die Einheit wollte, hatten der Welt die Pluralität und Partikularität der Religion und am Vorabend der Konfessionskriege auch einen konfessionell verkleideten politischen Pluralismus hinterlassen. Das ist vielleicht die wichtigste, orientierende Lehre, die wir aus der Geschichte der Reformation und ihrer Nachwirkungen ziehen können und wohl auch müssen: Es gibt keine einheitliche Wahrheit und wohl auch keine einheitliche Kultur, Weltanschauung oder ein alles dominierendes Gesellschaftsmodell mehr. Und wir sollten uns auch nichts Derartiges mehr wünschen. Wenn wir trotzdem weiterhin als lutherische Christen glauben und dazu stehen wollen, müssen wir ein scheinbar paradoxes Ziel ansteuern: Es kann nur noch eine Einheit (Universalität) in versöhnter Verschiedenheit geben. Und dies nicht nur religiös, sondern wohl auch im gesellschaftlichen Zusammenleben. Mit anderen Worten: Wir dürfen an unsere eigene Wahrheit glauben und müssen gleichzeitig positiv akzeptieren, dass diese Wahrheit immer begrenzt, partikular, eben Wahrheit für uns bleiben muss. Man nennt die Fähigkeit, die man dafür braucht, in Psychologie und Pädagogik Ambiguitätstoleranz. Positv formuliert als Fähigkeit: Ambiguitätskompetenz. Beim näheren Hinsehen beschreibt sie die innere Struktur des Glaubens selbst: Er ist eine Gewissheit, eine Wahrheit im gleichzeitigen Bewusstsein der Tatsache, dass wir sie nie sicher haben, sie nie besitzen können. Wäre aller Glaube, der auf dieser Welt heute existiert und sich in ihr auslebt, von dieser Grundeinsicht durchdrungen, dann wäre diese Glaubenswelt wohl tatsächlich glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Leider ist so viel selbstbewusste Selbstdistanz immer noch selten. Aber man darf nichts erzwingen: Überzeugen lässt sich ein Mensch nie durch Druck, immer nur durch offene Begegnung: Non vi, sed verbo, niemals durch Gewalt, sondern durch das Wort. Das ist ein lutherischer Kernsatz. 9 Was angesagt ist, sind Austausch, Dialog, Begegnung mit Andersdenkenden und Andersglaubenden. Zu Lösungen kommt man im religiösen wie im Politischen nur noch über Aushandlungsprozesse, für die es Foren, Kommunikationsorte und v.a. eine Praxis des wertschätzenden Zusammenlebens und des sich Einigen Wollens braucht. Mit anderen Worten: Eine Zivilgesellschaft, zu der auch unsere Gemeinden viel beitragen können. Die Relativität der eigenen Geltungsansprüche auszuhalten war aber schon immer schwer. Und immer wieder gab es Restaurationsbewegungen, die meist mit einfachen aber mächtigen Symbolen und Botschaften die vermeintliche Bedrohung durch Komplexität bzw. Ambiguität abzuwehren versuchten. Ein Beispiel: Der große Barockkünstler Gian Lornezo Bernini hat in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts versucht, mit der kolossalen, weltumspannenden Gestaltung des Petersplatzes in Rom für Papst Alexander VII nochmals dessen universalen Weltanspruch sozusagen virtuell architektonisch in Szene zu setzen. Es entstand grandiose Architektur, aber der Versuch musste scheitern: der römische Katholizismus war längst eine Konfession unter anderen geworden. Es sollte nicht der letzte Versuch bleiben. Die Nationalstaaten und ihre vermeintlichen Leitkulturen hingen in den folgenden Jahrhunderten der irgendwo verständlichen Sehnsucht nach Universalität im Kleinen nach. Völlig pervertiert und endgültig disqualifiziert wurde der nationale Universalismus aber schließlich in der Naziparole: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Mit desaströsen Folgen. Das Projekt der europäischen Einigung, gestartet aus den Ruinen des zweiten Weltkrieges heraus, aus der Einsicht heraus, dass es nie wieder ein Auschwitz geben darf, ist im Politischen ein ähnlich paradoxes Projekt, eine Gemeinschaft Verschiedener, die Einheit und Solidarität in versöhnter Verschiedenheit sucht, wie der ökumenische Prozess der Kirchen. Dabei darf Einheit in Verschiedenheit allerdings nicht mit Indifferenz verwechselt werden. Die Einheit ist geprägt, durch gemeinsame Werte, zu denen auch das Christentum beigetragen hat und die für alle auch jenseits religiöser Prägung nachvollziehbar in den Menschenrechten 10 formuliert sind. Ich denke, Luther könnte damit heute gut leben, die Menschenrechte sind gute Früchte eines guten Baumes. Wie schwer es aber ist, diese Rechte für alle Menschen auch durchzusetzen, wird uns jeden Abend in den Nachrichten vorgeführt. Ob wir dabei die Grenzen, die wir haben und auf die wir stoßen, als Trenn- oder als Verbindungslinien gestalten, das hängt von Vielem ab, aber ganz sicher auch von der Überzeugung, dass es Gott ist, der den Frieden zwischen all den verschiedenen Menschen will! Das wusste schon Luther als er dichtete: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott zu unsern Zeiten, es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten. Amen