30. Oktober

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Ansprache:
Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
499 Jahre Reformation – Martin Luther: Rebell und Reformator!
Ratgeber in Umbruchszeiten.
Das ist unser Thema! Was jetzt folgt, ist nur in Aspekten eine Predigt,
da, wo es um den Glauben geht und wie er, wie ich meine, von innen
heraus zu verstehen ist. Der Rest ist eine Kanzelrede, da geht es um
Luthers Reformation und die Folgen.
Fast 500 Jahre Reformation zu würdigen, das dauert allerdings etwas
länger als eine übliche Predigt, wofür ich bereits jetzt um Vergebung
bitte.
Ich beginne mit einem Zitat:
„Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er
auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und
Nachwelt“.
„Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er
auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und
Nachwelt“.
Ich vermute, Sie haben ambivalente Empfindungen, wenn Sie diesem
Zitat nachsinnen, Empfindungen, die reichen können von Zustimmung
und ja… Stolz aufgrund der phänomenalen Kulturleistungen, die die
Religionen erbracht haben bis hin zu Skepsis und Zweifel aufgrund der
langen Spur aus Gewalt, Intoleranz und Zersplitterung, die sich als Folge
von in die Irre geleitetem Glauben durch die Geschichte zieht.
In der Tat ist es nur ein kleiner Schritt, wie ein Wechselspiel zweier
Buchstaben, und aus der Fruchtbarkeit des Glaubens für Mitwelt und
Nachwelt wird eine Furchtbarkeit der Religion für Mitwelt und Nachwelt.
Und es gehört einiger Optimismus dazu, um dauerhaft auf die
Fruchtbarkeit des Glaubens zu setzen.
Es war kein Einfallspinsel, der das tat: Johann Wolfgang von Goethe.
Er, der Aufgeklärte, sagte über Martin Luther im Jahr 1832:
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„Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Reformation alles zu
danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger
Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig
geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner
Reinheit zu fassen ... Je tüchtiger aber wir Protestanten in edler
Entwicklung voranschreiten, desto schneller werden die Katholiken
folgen“.
Entscheiden Sie selbst: sind uns die Katholiken gefolgt, 499 Jahre nach
dem Thesenanschlag? Immerhin durfte man in der SZ vom vergangenen
Wochenende einen ausführlichen Artikel über eine im Vorfeld des
Reformationsjubiläums durchgeführte gemeinsame Pilgerreise von
Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx ins Heilige Land lesen,
sozusagen gemeinsam ad fontes. Ein beachtliches Zeichen. Die beiden
Kirchenoberen durften sich sogar gemeinsam ein wenig in Geduld und
Demut üben, als sie von einem in sich ruhenden Wächter an der
Geburtskirche in die lange Warteschlage vor der Geburtsgrotte
verwiesen wurden, wie zu lesen war. Bischöfe aller Art stünden hier
jeden Tag vor der Tür, da gibt es keine Extrawurst und vorne anstellen.
Vielleicht haben die Bischöfe die Zeit des Wartens ja für einen
substantiellen ökumenischen Fortschritt genutzt.
Worin könnte der bestehen?
Wie sehen wir das Erbe Martin Luthers heute, ein Jahr bevor seine
Reformation ihren 500ten Geburtstag feiert?
Goethe schwärmte 1832 vom Christentum in seiner Reinheit, das uns
Luther wieder erschlossen habe und er meinte damit die Stärkung der
humanistischen Seite des Christentums, die Stärkung und
Wertschätzung des Menschen. Ein von Fundamentalismus und
Engstirnigkeit gereinigtes Christentum. Goethe sah in Luther die Ideale
seiner eigenen Zeit.
Und auch vor und nach Goethe haben sich Befürworter und Gegner
durch die Jahrhunderte hindurch jeweils den Luther ihrer Wahl
erschaffen.
Dieser Prozess begann noch zu Lebzeiten Luthers und kurz danach,
wenn z.B. Luther auf Bildern stehend neben der knienden sächsischen
Fürstenfamilie dargestellt wird, während sie gemeinsam der Taufe Jesu
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durch Johannes den Täufer beiwohnen. Luther wurde noch im 16.
Jahrhundert sozusagen selbst zur biblischen Figur stilisiert, zum
Vergegenwärtiger des Heils. Er war der, der die Bibel öffnete.
Im 17. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der konfessionellen Kriege,
wurde Luther dann zum konfessionellen Kirchenvater gemacht, der wie
die Evangelisten oder die alten Kirchenväter ein Symboltier erhielt.
Luthers Symboltier war und ist der Schwan, was auf eine Aussage des
Luthervorläufers Johannes Hus zurückgeführt wurde. Dieser habe vor
seiner Verbrennung auf dem Konzil von Konstanz, zu dem er vom Papst
unter Gewährung von freiem Geleit gelockt worden war, ausgerufen:
„Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan
auferstehen“. Und dieses Erbe sollte Luther antreten.
Im 18. Jahrhundert wird Luther dann zum evangelischen Heiligen, er
erscheint in eher pietistischen Umfeldern auf Emporenmalereien,
Lutherporträts in Kirchen rechtfertigen die Reformation als Gottes Werk,
Luther wird zu Gottes Werkzeug, es entsteht eine protestantische
Orthodoxie, zu der die volksfromme Verehrung des Reformators gehört.
Gleichzeitig wird Luther im 18. Jahrhundert zum Vater der geistigen
Freiheit erklärt, zum Wegbereiter der Aufklärung, womit allerdings auch
eine gewisse Säkularisierung des religiösen Luther einher ging.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Luther dann jedenfalls erst einmal
zum deutschen Held, zum nationalen Denkmal. Ein feste Burg ist unser
Gott wurde zur Marseillaise der Reformation im Befreiungskampf der
Deutschen gegen Napoleon. Luther wurde zum Kitsch-Motiv auf
Teetassen, es gab Luther-Spieluhren und Luther-Statuen im
Massenformat. So wie diese (Luther-Statue zeigen). Diese LutherInterpretation, besser Luther-Verzeichnung steigert sich dann nochmals
massiv im frühen 20ten Jahrhundert. 1917, beim letzten runden
Lutherjubiläum wurde der Reformator zum Legitimator der deutschen
Sache im 1. Weltkrieg stilisiert.
Luther, der Mensch der alten deutschen Geschichte, von dem wir am
allermeisten wissen, über dessen Leben und Denken so detaillierte
Texte vorliegen wie sonst für keine Figur in der deutschen
Vergangenheit, er wurde ungeachtet dessen zur Projektionsfläche der
jeweils herrschenden Weltanschauungen, wie paradox.
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Die Lutherrezeption geschah allerdings nicht nur in Form einer
positivistischen Luther-Verklärung im Sinne der eigenen
Lieblingsgedanken, sondern durchaus auch in Ablehnung des
Reformators, dessen Rolle als ein Wegbereiter der Moderne man zwar
zugestand, von dessen intensiver christlicher Religiosität man aber
nichts mehr wissen wollte.
Luther erschien dann nicht mehr als früher Freiheitsheld der Aufklärung,
sondern vielmehr als der Verhinderer ihrer vollständigen Durchsetzung.
So bei Friedrich Nietzsche:
„Luther war ein Verhängnis für die Menschheit, denn er kam, als die
Renaissance eben sogar das Papsttum erobert hatte und das Leben
daran war, mit dem Christentum stillschweigend aufzuräumen. Und
Luther stellte die Kirche wieder her. Ach, diese Deutschen! … Sie haben
auch die unsauberste Art Christentum, die es gibt … den
Protestantismus, auf dem Gewissen. Wenn man nicht fertig wird mit dem
Christentum, die Deutschen werden daran schuld sein“.
Ich versuche, als moderner Protestant auf Nietzsche persönlich zu
antworten: Der Protestantismus ist also die unsauberste Art Christentum,
Herr Nietzsche. Was meinst du damit? Missfällt dir das Freiheitspathos
von uns Protestanten, missfällt dir, dass wir uns als Evangelische mit
uns selbst gut und erst einmal glücklich und zufrieden fühlen dürfen, und
gleichzeitig als moderne Menschen? Wäre es dir lieber, wir würden dem
Clichee der ewig düster mittelalterlichen Kirche entsprechen, mit Teufeln
aller Art. Den Gefallen tun wir dir nicht.
Wir können uns sehr wohl als aufgeklärte Menschen des 21.
Jahrhunderts im Bewusstsein unserer Möglichkeiten und der Grenzen
allen Wissens und Könnens von Gott angenommen fühlen aufgrund
unseres Glaubens, wie es Luther in seiner Rechtfertigungslehre
formuliert hat. Und wir brauchen gleichzeitig nicht Luthers
mittelalterliches Denken zu übernehmen, auch nicht seine
Judenfeindschaft und seine Angst vor dem Islam, die ja doch nur
Ausdruck seiner apokalyptischen, eben typisch mittelalterlichen Ängste
waren.
So frei sind wir modernen Protestaten, alles zu prüfen, das Schlechte
entschlossen hinter uns zu lassen und das nach wie vor Gute zu
behalten.
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Herr Nietzsche, ich glaube, dich ärgerte es, dass wir dich im Grunde als
Befreier nicht mehr brauchen und dass uns eigentlich der Leidensdruck
fehlt, um unsere Religion hinter uns zu lassen. Damit ist natürlich
keineswegs gesagt, dass damit schon alles gut ist. Die Welt zu
verbessern im Sinne der Bergpredigt Jesu ist eine Riesenaufgabe. Aber
sie lastet nicht mehr als erdrückende Sündenlast wie beim
vorreformatorischen Luther auf unseren Schultern, sondern wir können
in Freiheit die Probleme angehen, wie Luther sagt, aufgrund unseres
Glaubens aus Freiheit und Liebe heraus, wie ein guter Baum, der auch
gute Früchte trägt, ohne sich dadurch von sich selbst zu entfremden.
Das heißt evangelisch sein.
Dass du, Herr Nietzsche, hämisch darauf verweist, viele Christen, auch
viele Protestanten, sähen gleichwohl nur allzu oft unerlöst aus, ändert
daran gar nichts, aber es erinnert uns daran, dass wir allen Grund
haben, unsere Freiheit auch glücklich und selbstbewusst zu feiern.
Dafür danke ich dir.
Ende der persönlichen Antwort.
Nietzsches eigenes, von der Begrenztheit des Durchschnitts-Geschöpfes
losgelöstes Konzept des Übermenschen wurde später von den Nazis zu
ihrer nationalsozialistisch faschistischen Herrenmenschen-Ideologie
weiterentwickelt.
Zu Beginn seiner Herrschaft versuchte Hitler zwar noch, Luther als
religiöse „Führergestalt“ zu vereinnahmen. Er verlor dann aber bald das
Interesse an den Kirchen, die nach dem Endsieg wohl auch einer
Endlösung zugunsten der arischen Herrenmenschenreligion zugeführt
worden wären. Aber dazu kam es ja glücklicherweise nicht mehr.
Gleichwohl: Nach 1945 kam die Darstellung Luthers dann erst einmal
weitgehend zum Erliegen, zu sehr hatten sich die deutschen Christen
unter den Protestanten den Nazis angebiedert.
Erst 1983, zum 500 Geburtstag des Reformators, machte er wieder von
sich reden. Die DDR versuchte eine geschichtliche Anknüpfung an
Luthers emanzipatorisches Erbe, durchaus im Sinne einer Art politischer
Selbstlegitimation unter Rückgriff auf das historische Erbe der
Lutherstätten.
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Nach der Wiedervereinigung wurde Luther schließlich sprichwörtlich vom
Sockel geholt. Luther wurde sozusagen geschrumpft, zu dem Mönch und
religiösen Lehrer, der er selbst einmal sein wollte. Davon geben auch
die 800 bunten Lutherstatuen, genannt „Lutherzwerge“, die der Künstler
Ottmar Hörl im Rahmen einer Kunstaktion auf dem Marktplatz von
Wittenberg aufgestellt hat und die inzwischen über ganz Deutschland
verteilt sind, Zeugnis, sie reichen einem gerade einmal bis zur Hüfte.
Trotz tausender Veranstaltungen rund um Luther und das
Luthergedenken setzt die im Jahr 2017 zu ihrem Höhepunkt kommende
Lutherdekade insgesamt auf Reduktion.
Die beiden großen Kirchen in Deutschland werden das
Reformationsjubiläum 2017, insoweit sie es gemeinsam begehen, als
großes Christusfest begehen, weil es, wie sie sagen, das ist, was Luther
wollte, Christus in die Mitte zu stellen. Dies stimmt, geschieht aber sicher
auch, weil sich darauf eben auch Katholiken einlassen können, die
ansonsten nach wie vor Probleme mit Luther haben.
Daher lautet die Devise in gewisser Wiese: Haltet Luther klein, damit wir
ökumenisch feiern können. (Playmobilfigur zeigen) Übrigens die bisher
erfolgreichste Playmobilfigur ever.
Auch der Reduktions-Zugang zu Luther ist allerdings wohl vom Zeitgeist
geleitet. Beide Kirchen verlieren in Deutschland immer mehr Mitglieder,
die religiösen Milieus lösen sich teilweise auf, der rasante Wandel
Deutschlands hin zu einer Migrationsgesellschaft wirft die Frage auf,
welche Rolle die Christen darin in Zukunft spielen werden? Als
zerstrittene Konkurrenten würden sie sicher nur selbst zu ihrer weiteren
Marginalisierung beitragen.
Trotzdem dürfen wir uns fragen: Was hat uns der kleiner gewordene
Martin Luther hinterlassen, das uns auch heute noch Orientierung
geben kann? Was bedeutet es 2016, Jesus Christus lutherisch in die
Mitte stellen?
Martin Luther war ein Rebell und ein Reformator. Er wurde zum Rebell,
weil er ein extremer Mensch war, der in dem, was ihm wesentlich schien,
keine Kompromisse einging. Weil er ein extrem religiöser Mensch war,
und weil die Zeit 1517 reif war, wurde er zum Kirchengründer. Daraus
ziehe ich schon einmal die eine Lehre, dass man im Sinne Luthers auch
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heute noch Überzeugungen haben darf und auch zu seinen
Überzeugungen stehen sollte. Erkennbarkeit ist identitätsstiftend.
Dabei wollte Luther ja keine Kirchenspaltung, er wollte nur eine bessere,
man könnte auch sagen eine zentriertere Kirche. In heutiger Sprache
gesprochen: Es ging Luther um die Konzentration auf die universale
Kernbotschaft. Sola fide, allein durch den Glauben, sola gratia, allein
durch die Gnade, solus Christus, Jesus Christus alleine und sola
scriptura, allein durch die Schrift, das war das Programm, mit dem Luther
die Kirche zu sich selbst zurückführen wollte. Diese Merkmale sind auch
heute noch für Protestanten konstitutiv.
Seine reformatorische Erkenntnis war für Luther so hell, so klar, so
befreiend und positiv, er selbst sah sich so sehr –trotz bleibender
Sündigkeit- als von Gott berufener Botschafter des Evangeliums, dass er
zu mindestens in den Anfangsjahren der Reformation fest damit
rechnete, dass bald alle, auch der Papst in Rom seiner klaren und
einfachen Einsicht zustimmen würde. Luther wollte die Einheit einer
Weltanschauung, einen universalen biblisch-evangelischen Glauben,
den er für heilsam hielt.
Als andere dies aber nicht für sich nachvollziehen konnten oder wollten, so deutlich er es
auch immer wieder erklärte, wurde er leider ungerecht und unduldsam, in seinen späteren
Jahren auch gefährlich bösartig: der Papst wurde zum Antichristen, die Juden zu Lügnern,
die Muslime zu Ankündigern der Apokalypse.
Davon distanzieren wir uns. Aber bis heute ist es auch für uns schwer auszuhalten, dass
andere das, was uns existentiell gültig und klar ist, für sich selbst nicht nachvollziehen. Damit
müssen wir aber leben.
Aber schon der in seine italienische Machtfülle und
Renaissanceherrlichkeit verstrickte Papst Leo X. sah keinerlei Anlass,
auf Luthers Argumente auch nur einzugehen. Er wollte seinerseits
ebenso eine universale Kirche, deren Einheitsgedanke aber auf der alles
beherrschenden Autorität des römischen Pontifex beruhte. Wer dagegen
opponierte, stürzte aus seiner Sicht die Welt ins Chaos, egal woran er
glaubte. Er musste zum Schweigen gebracht werden. Dies wiederum
gelang auch nicht.
Auch das dritte Schwergewicht der Zeit, Kaiser Karl der V., wollte ein
universales Reich unter einem Kaiser und mit einer Religion. All die
Kleinstaaterei, die sich in Deutschland etabliert hatte, das Gleichgewicht
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der Mächte, Kurfürsten und Stände war ihm eigentlich zuwider, er wollte
das eine Kaisertum nach dem Vorbild seiner großen Vorfahren.
Als die drei Protagonisten des Weltgeschehens aus der ersten Hälfte
des 16. Jahrhunderts, Luther, Karl der V. und Leo X. sich schließlich von
der Weltbühne verabschiedeten, war ihr Traum vom Universalismus, von
der einen Welt-weltanschaung und Weltregierung allerdings
ausgeträumt, sie, die sie alle die Einheit wollte, hatten der Welt die
Pluralität und Partikularität der Religion und am Vorabend der
Konfessionskriege auch einen konfessionell verkleideten politischen
Pluralismus hinterlassen.
Das ist vielleicht die wichtigste, orientierende Lehre, die wir aus der
Geschichte der Reformation und ihrer Nachwirkungen ziehen können
und wohl auch müssen: Es gibt keine einheitliche Wahrheit und wohl
auch keine einheitliche Kultur, Weltanschauung oder ein alles
dominierendes Gesellschaftsmodell mehr. Und wir sollten uns auch
nichts Derartiges mehr wünschen. Wenn wir trotzdem weiterhin als
lutherische Christen glauben und dazu stehen wollen, müssen wir ein
scheinbar paradoxes Ziel ansteuern: Es kann nur noch eine Einheit
(Universalität) in versöhnter Verschiedenheit geben. Und dies nicht nur
religiös, sondern wohl auch im gesellschaftlichen Zusammenleben. Mit
anderen Worten: Wir dürfen an unsere eigene Wahrheit glauben und
müssen gleichzeitig positiv akzeptieren, dass diese Wahrheit immer
begrenzt, partikular, eben Wahrheit für uns bleiben muss. Man nennt die
Fähigkeit, die man dafür braucht, in Psychologie und Pädagogik
Ambiguitätstoleranz. Positv formuliert als Fähigkeit:
Ambiguitätskompetenz. Beim näheren Hinsehen beschreibt sie die
innere Struktur des Glaubens selbst: Er ist eine Gewissheit, eine
Wahrheit im gleichzeitigen Bewusstsein der Tatsache, dass wir sie nie
sicher haben, sie nie besitzen können. Wäre aller Glaube, der auf dieser
Welt heute existiert und sich in ihr auslebt, von dieser Grundeinsicht
durchdrungen, dann wäre diese Glaubenswelt wohl tatsächlich glänzend,
herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt.
Leider ist so viel selbstbewusste Selbstdistanz immer noch selten. Aber
man darf nichts erzwingen: Überzeugen lässt sich ein Mensch nie durch
Druck, immer nur durch offene Begegnung: Non vi, sed verbo, niemals
durch Gewalt, sondern durch das Wort. Das ist ein lutherischer Kernsatz.
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Was angesagt ist, sind Austausch, Dialog, Begegnung mit
Andersdenkenden und Andersglaubenden.
Zu Lösungen kommt man im religiösen wie im Politischen nur noch über
Aushandlungsprozesse, für die es Foren, Kommunikationsorte und v.a.
eine Praxis des wertschätzenden Zusammenlebens und des sich
Einigen Wollens braucht. Mit anderen Worten: Eine Zivilgesellschaft, zu
der auch unsere Gemeinden viel beitragen können.
Die Relativität der eigenen Geltungsansprüche auszuhalten war aber
schon immer schwer. Und immer wieder gab es
Restaurationsbewegungen, die meist mit einfachen aber mächtigen
Symbolen und Botschaften die vermeintliche Bedrohung durch
Komplexität bzw. Ambiguität abzuwehren versuchten.
Ein Beispiel: Der große Barockkünstler Gian Lornezo Bernini hat in der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts versucht, mit der kolossalen,
weltumspannenden Gestaltung des Petersplatzes in Rom für Papst
Alexander VII nochmals dessen universalen Weltanspruch sozusagen
virtuell architektonisch in Szene zu setzen. Es entstand grandiose
Architektur, aber der Versuch musste scheitern: der römische
Katholizismus war längst eine Konfession unter anderen geworden.
Es sollte nicht der letzte Versuch bleiben. Die Nationalstaaten und ihre
vermeintlichen Leitkulturen hingen in den folgenden Jahrhunderten der
irgendwo verständlichen Sehnsucht nach Universalität im Kleinen nach.
Völlig pervertiert und endgültig disqualifiziert wurde der nationale
Universalismus aber schließlich in der Naziparole: Ein Volk, ein Reich,
ein Führer. Mit desaströsen Folgen.
Das Projekt der europäischen Einigung, gestartet aus den Ruinen des
zweiten Weltkrieges heraus, aus der Einsicht heraus, dass es nie wieder
ein Auschwitz geben darf, ist im Politischen ein ähnlich paradoxes
Projekt, eine Gemeinschaft Verschiedener, die Einheit und Solidarität in
versöhnter Verschiedenheit sucht, wie der ökumenische Prozess der
Kirchen.
Dabei darf Einheit in Verschiedenheit allerdings nicht mit Indifferenz
verwechselt werden. Die Einheit ist geprägt, durch gemeinsame Werte,
zu denen auch das Christentum beigetragen hat und die für alle auch
jenseits religiöser Prägung nachvollziehbar in den Menschenrechten
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formuliert sind. Ich denke, Luther könnte damit heute gut leben, die
Menschenrechte sind gute Früchte eines guten Baumes.
Wie schwer es aber ist, diese Rechte für alle Menschen auch
durchzusetzen, wird uns jeden Abend in den Nachrichten vorgeführt.
Ob wir dabei die Grenzen, die wir haben und auf die wir stoßen, als
Trenn- oder als Verbindungslinien gestalten, das hängt von Vielem ab,
aber ganz sicher auch von der Überzeugung, dass es Gott ist, der den
Frieden zwischen all den verschiedenen Menschen will!
Das wusste schon Luther als er dichtete: Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott zu unsern Zeiten, es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns
könnte streiten.
Amen
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