Chronisches Erschöpfungssyndrom Wenn das Leben nur noch eine

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P O L I T I K
Medizinreport
Chronisches Erschöpfungssyndrom
Wenn das Leben nur noch
eine Last ist
Etwa 300 000 Menschen in Deutschland leiden an einem
Symptomenkomplex, für den bisher kein Auslöser bekannt ist.
D
er Tag ist vollgestopft mit Terminen, der Chef erwartet ein Ergebnis, und eine Erkältung kündigt
sich an. Für die meisten Menschen
reicht in diesen Fällen eine kurze „Auszeit“, um sich zu erholen. Bei wenigen
Personen jedoch wird die Erschöpfung
zum Dauerzustand. Der Verdacht auf
ein chronisches Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue
Syndrome/CFS) drängt sich auf – eine
Erkrankung, die über Jahre andauern
kann und für die keine Ursache bekannt ist.
Etwa 300 000 Menschen leiden in
Deutschland an CFS, wenn man die
Zahl der angloamerikanischen Fälle
auf Deutschland umrechnet, schätzt der
Wie bei ihr beginnen viele Leidensgeschichten mit einer Infektionserkrankung, extremer Erschöpfung sowie Muskel-, Glieder- und Kopfschmerzen. „Solche klassischen CFS-Fälle beginnen
akut, aus dem Nichts“, erklärt HansMichael Sobetzko, Umweltmediziner
und CFS-Experte aus Hamburg. Nach
einiger Zeit verschlimmern Schlafstörungen, Gedächtnislücken und Konzentrationsschwächen den Zustand der Patienten. Viele haben durchgehend erhöhte
Temperatur – ein Zeichen dafür, dass das
Immunsystem hochaktiv ist. Körperliches Training verschlechtert die Situation. Nach einer gewissen Zeit (Monate oder Jahre) kommt es zu Stagnation oder Erholung auf unterschiedlichem Niveau. Schlechter
ergeht es Patienten mit
einer schleichenden Variante der CFS. „Eine
beginnende Erschöpfung
verschlechtert sich langsam, ohne dass irgendwann eine Besserung eintritt“, sagt Sobetzko.
Einen Auslöser kennen die Wissenschaftler
bisher nicht. Infektionen,
Toxine, seelische Konflikte – für alle fanden sie
Hinweise. Einige ExperDas chronische Erschöpfungssyndrom ist eine Erkrankung jüngerer Menschen – vielfach sind Frauen betroffen. Foto: Superbild
ten vermuten ein Zusammenspiel von verFörderverein für CFS-Erkrankte Fati- schiedenen Faktoren: genetische Verangatio. Die meisten Patienten erkranken lagung, Veränderungen im Gehirn, geim Alter zwischen 20 und 40 Jahren. schädigtes Immunsystem gemeinsam
Frauen trifft es häufiger – wie zum Bei- mit einer viralen Infektion und psyspiel die jetzt 24-jährige Marion, die ein chischer Disposition. Eine Theorie beJahr vor dem Abitur an einer „Grippe“ sagt, dass die akute Erschöpfung
erkrankte, die sie bis heute – fünf Jahre durch eine Virusinfektion ausgelöst
später – quält. Das Abitur schaffte sie wird, während die schleichende Form
mit größter Mühe, an ein Studium aber hauptsächlich psychologische Ursachen
war nicht mehr zu denken.
habe.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 21½ 24. Mai 2002
Die Centers of Disease Control and
Prevention (CDC) in Atlanta lieferten
erstmals im Jahr 1988 eine Definition
für die Erkrankung: Danach muss der
Erschöpfungszustand mit grippeähnlichen Symptomen mindestens sechs Monate andauern, ohne dass er von einer
anderen Krankheit verursacht wird.
Die heute bevorzugte Definition (Textkasten) stammt von Fukuda et al. aus
dem Jahr 1994 und wurde in den Annals
of Internal Medicine veröffentlicht
(1994; 121: 953–959) .
Ebenfalls im Jahr 1994 hat das Bundesgesundheitsministerium eine ergänzende Klassifikation vorgeschlagen
(DÄ 91:A 2946–2953 [Heft 43]). Sie unterscheidet „primäres“ CFS, das entsprechend der CDC-Definition durch
eine Infektion oder ohne Ursache auftritt, von „unklassifizierbaren“ CFS, die
nur einige Kriterien erfüllen. Abgesehen davon sprechen die Autoren von einem „sekundären“ CFS, wenn der Erschöpfung ein anderes Leiden zugrunde
liegt.
Beim Immunsystem laufen die
Fäden zusammen
Als gesichert gilt die Schlüsselrolle des
Immunsystems. Nachweisen konnten
Wissenschaftler bei der überwiegenden
Anzahl der Patienten eine Aktivierung
der Immunabwehr: Die Zahl aktivierter
T-Zellen nimmt zu, Interleukin-2-Rezeptoren werden vermehrt exprimiert
und die Zytokinsekretion verstärkt.
Englische und amerikanische Wissenschaftler sehen eine hochregulierte Zytokinproduktion als Ursache für den
Ausbruch.
Die Konzentration der Zytokine im
Serum könne somit ein guter Marker
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für das CFS sein, mutmaßt Dr. Roberto
Patarca-Montero von der University of
Miami School of Medicine. Sie ändert
sich mit der Zeit und abhängig davon,
wie schwer ein Patient erkrankt ist. Ein
Zusammenspiel zwischen fehlgesteuertem Immunsystem und einer Infektion
mit Viren oder Bakterien liegt nahe. Insbesondere Herpesviren (Epstein-BarrVirus, Humanes Herpesvirus 6, Cytomegalievirus), Enteroviren und Retroviren
diskutieren die Experten als Ursache.
Aber auch Mycoplasmen, die amerikanische Ärzte bei Golfkriegsveteranen fanden, Chlamydien, Borrelien, Legionellen
und Salmonellen stehen unter Verdacht.
Für die Muskelschmerzen gibt es folgende Erklärungsversuche: Toxine von
Staphylokokken schädigen die Zellmembran und verursachen so den myofazialen Schmerz. Australische Ärzte
des Royal Hospital in Adelaide haben
festgestellt, dass Glucose im Organismus von CFS-Kranken vermehrt über
die anaerobe Glykolyse zu Milchsäure
abgebaut wird. Auch das könnte die
Muskelschmerzen erklären.
Bei einige Patienten mit ATP-Mangel bewirkte die Gabe von NADH, um
die ATP-Produktion „anzuheizen“, eine Verbesserung der Beschwerden.Vie-
das Enzym RNase-L, das bei der Virusabwehr des Organismus eine zentrale
Rolle spielt und bei vielen CFS-Erkrankten eine unerwartet hohe Aktivität aufweist. Ob sich der labortechnische Nachweis dieser Ribonuklease als Beweis für
die Erkrankung eignet, ist Gegenstand
zurzeit laufender Untersuchungen.
Doch wie sollen Ärzte bei der Fülle
an möglichen Ursachen den Betroffenen am besten helfen? Für die meisten
Patienten beginnt mit dem andauernden Erschöpfungszustand ein „Arztmarathon“. „Wie sagen Sie einem Patienten, den jede Bewegung schmerzt, dass
Sie nichts für ihn tun können?“ fragt
Hans-Michael Sobetzko. „So übertrieben es klingen mag: In schweren Fällen
leidet der Patient wie ein Aidskranker –
nur dass er weiter lebt“, sagt Sobetzko.
Die Therapie sollte individuell ausgerichtet sein und auf drei Säulen ruhen. „Die besten Erfahrungen haben
wir mit einer symptomausgerichteten
Behandlung gemacht“, berichtet Prof.
Rüdiger von Baehr, Immunologe aus
Berlin. Von besonderer Wichtigkeit sei
die psychologische Betreuung, da die
Betroffenen – bedingt durch die soziale
Isolation – häufig an einer reaktiven
Depression leiden. Bei einigen Patienten stabilisierten zudem
Textkasten
therapeutische Zytokine
den körperlichen ZuDefinition des chronischen Erschöpfungsstand, andere sprechen
syndroms von Fukuda et al.:
jedoch nicht darauf an.
❃ Erstmalig auftretender Erschöpfungszustand, der länger als sechs
Verbessert sich der ZuMonate andauert, sich durch Ruhe nicht bessert und die Lebensquastand des Patienten –
lität erheblich einschränkt.
durch welche Interven❃ Symptome:
tion auch immer –, emp– vermindertes Kurzzeitgedächtnis und Konzentrationsschwierigkeiten
fiehlt von Baehr, so wur– Halsschmerzen
de berichtet, den Patien– Muskelschmerzen
ten, mit einem dosierten
– Empfindliche Lymphknoten an Achseln und Hals
– Gelenkschmerzen
Muskeltraining zu be– Kopfschmerzen (eines neuen Typs, Muster oder Schweregrades)
ginnen.
– Zustandsverschlechterung nach Anstrengung
In Großbritannien
– Schlafstörungen
hat
eine von der Regie❃ Krankheiten, die diese Symptome ebenfalls hervorrufen können,
rung
beauftragte Armüssen sicher ausgeschlossen sein.
beitsgruppe aus Ärzten,
Wissenschaftlern und
le CFS-Patienten plagen zudem unter- Patienten drei Jahre lang Erkenntnisse
schiedliche Allergien. Für den briti- über mögliche Auslöser, Therapiemögschen Allergologen Jonathan Brostoff lichkeiten, aber auch Erfahrungsberichkönnen CFS-Symptome auch durch te gesammelt. Seit Anfang des Jahres
Getreide- und Milchprodukte ausgelöst liegt ein umfassender Bericht vor. Dawerden. Neuere Studien legen eine ge- nach sind 0,4 Prozent der englischen
netische Prädisposition nahe. Zuneh- Bevölkerung vom Erschöpfungssynmend richtet sich das Interesse auch auf drom betroffen. Die Briten fordern da-
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her, das CFS in den Ausbildungskatalog
der Medizinstudenten aufzunehmen.
Doch nicht nur Erwachsene reißt die
Krankheit aus ihrem bisherigen Leben.
Den britischen Erkenntnissen zufolge sind Jugendliche im Alter von 13 bis
15 Jahre vermehrt durch CFS gefährdet.
„Kindern müssen wir besonders schnell
helfen“, sagt Dr. Charles B. Shepherd,
der am CFS-Bericht mitwirkte. „Denn
unter der monatelangen Schulunterbrechung leidet ihre Ausbildung.“ Bei der
Diagnose von CFS in dieser Altersklasse
sollten auf jeden Fall Kinder- und Jugendpsychiater hinzugezogen werden, da
differenzialdiagnostisch auch eine Verhaltensstörung infrage kommt.
Wie es ist, ohne ersichtlichen Grund
seines ehemaligen Lebens beraubt zu
werden, beschreibt Marion S. eindrucksvoll: „Es ist, wie wenn ein geliebter Mensch gestorben ist. Man vermisst
ihn noch nach Jahren. So geht es mir mit
Edda Grabar
meinem Leben.“
Neue Pilzspezies:
Candida africana
Eine neue Spezies der Pilzgattung Candida als Erreger von Mykosen der
Scheide und des Penis hat der Berliner
Mikrobiologe Prof. Hans-Jürgen Tietz
von der Klinik für Dermatologie der
Charité entdeckt. Ursprünglich hat der
Forscher die neue Art im Vaginalabstrich von Prostituierten in Madagaskar
und in Angola gefunden, inzwischen
aber auch bei drei deutschen und bei einer polnischen Patientin diagnostiziert.
Tietz benannte die neue Art nach
ihrem Fundort „Candida africana“ und
beschrieb die Morphologie des Pilzes,
seine biochemischen und serologischen
Eigenschaften, sodass der Pilz als eigenständiger Krankheitserreger von
Entzündungen im Vaginalbereich erkannt werden kann (Mycosis 2001; 44:
437–445). Inzwischen werden Referenzstämme vom Candida africana sowohl in den Niederlanden beim Europäischen Referenzzentrum CBS als
auch in den Vereinigten Staaten bei den
Centers for Disease Control in Atlanta
EB
bereitgehalten.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 21½ 24. Mai 2002
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