Christian Lehnert „Aufkommender Atem“

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Christian Lehnert „Aufkommender Atem“
Ilka Scheidgen
in: „Die Tagespost“, 25. Februar 2012
Dieser Befund hat Seltenheitswert. Im deutschen Feuilleton wird ein zeitgenössischer Dichter
dezidiert als religiöser Dichter beschrieben und das durchaus ganz ohne Häme, vielmehr mit
einem Anflug von Staunen, ja Bewunderung, mit einem Impetus „Seht her, es gibt sie doch,
es gibt sie wieder – eine religiöse Dichtung!“
„Man darf ihn einen religiösen Dichter nennen“, schreibt Harald Hartung in seiner
Besprechung des neuesten Gedichtbandes „Aufkommender Atem“ in der FAZ, und Michael
Braun nannte ihn sogar einen „Nachfahren der Mystik“ (in Freitag vom 7.5.99 und in Basler
Zeitung im März 2003).
Die Rede ist von Christian Lehnert, 1969 in Dresden geboren und während der DDR-Zeit mit
ihrer atheistischen Doktrin aufgewachsen. Den obligatorischen Wehrdienst hat er verweigert,
stattdessen musste er als „Bausoldat“ arbeiten: bei den kasernenartigen Kolossen in Prora auf
Rügen, eine Hinterlassenschaft aus einer anderen Diktatur. Diese traumatischen Erfahrungen
musste und wollte er aufarbeiten. Die Wahrheit, verbogen und verlogen während einer
Diktatur, musste er neu suchen: in der Sprache und im Glauben. Dafür musste viel
Gedankenmüll, viel Sprachschutt durchgewühlt werden auf der Suche nach dem Korn
Wahrheit. Die Wende muss für ihn Befreiung gewesen sein. Christian Lehnert begann ein
Studium der Theologie und der Orientalistik, das ihn zu den heiligen Stätten der Christenheit
in Israel und Palästina führte. Seine Suchbewegungen fanden in der Verbindung von Poesie
und Theologie sehr bald ein „Klanggewölbe für die Stimmen der poetischen Mystik“.
(Lehnert)
„Aufkommender Atem“ ist Lehnerts fünfter Gedichtband. 1997 veröffentlichte der Suhrkamp
Verlag seinen ersten Lyrikband „Der gefesselte Sänger“. Es folgten „Der Augen Aufgang“
(2000), „Finisterre“ (2002) „Ich werde sehen, schweigen und hören“ (2004), „Auf Moränen“
(2008). Die jeweiligen Titel der Gedichtbände sind zugleich Programm, führen hinein in den
Kosmos des Dichters. Lehnerts Sprache ist von Anfang an verhalten, die Gedichte streng in
ihrer Komposition, oft mit Reimen – hierin dem Kirchenlied ähnlich– einer poetischen
Verwandtschaft, die sicher nicht zufällig ist. Zugleich erinnern Lehnerts Verse an die Lyrik
eines Rainer Maria Rilke aus seinem „Stundenbuch“, bei dem es sich ebenso wie bei den
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Gedichtbänden Christian Lehnerts um „geistliche“ Lyrik – wenn auch im weitesten Sinne –
handelt.
Trotzdem: dass ein heutiger Dichter sich ungeniert traut, über Gott, die Schöpfung, das
Heilige, die Passion, Golgatha, über Beten und Verzeihen oder vom „Spiegel in einem
dunklen Wort“ des Apostels Paulus zu sprechen, das verwundert und begeistert und lässt das
Diktum Gottfried Benns, „Gott ist ein schlechtes Stilprinzip“ alt aussehen. Denn gerade das
Stilprinzip beherrscht Christian Lehnert auf vollkommene Weise. Ihm gelingen Sonette
ebenso wie Verse mit freien Rhythmen. In seinem neuen Gedichtband komponiert er
größtenteils strenge Achtzeiler mit Kreuzreimen.
„Ich habe ein Geländer, / das ich mir selber halte, es ist fest“ heißen Verse in seinem neuen
Gedichtband und geben Auskunft über das, was dem lyrischen Ich im Verlaufe seiner
spirituellen Wanderschaft zur Gewissheit geworden ist: die Dauer in der Unstetigkeit, die
Geborgenheit im „aufkommenden Atem“ eines Heilsversprechens. „Ich bin geduldig, warte
nicht, die Zeit / kann keiner Ankunft als Begründung dienen“. Man fühlt, hier denkt einer weit
über sich selbst hinaus. Mit Datum und Ortsangabe versehen kann man den Dichter über ein
Jahr begleiten und den „aufkommenden Atem“, der an das Pfingstereignis des Heiligen
Geistes denken lässt, von Gedicht zu Gedicht spüren. „Es ist Gottes Tun, das ich nicht fasse /
und das mich birgt, das um mein Leben ringt.“ Und immer spürt man als Leser diese
Ambivalenz zwischen Unruhe und Gewissheit, zwischen Vergeblichkeit und der Zusage des
Heils, der Heilung, zwischen Golgatha und Auferstehung. „Das Schweigen können Einzelne
nicht brechen, / Wir sind erwartet. Wie ein leerer Rahmen / beginnt am Hang der Wald, hat
keinen Namen: / Daß nichts bestimmt ist, das ist sein Versprechen.“
Christian Lehnert war Pfarrer in einem kleinen Ort bei Dresden, bevor er seit kurzem zum
Studienleiter an die Evangelische Akademie in Wittenberg berufen wurde. Es ist den
sorgsamen Gebrauch von Worten gewohnt. Dass er nicht predigerhaft Gewissheiten
verkündet, sondern seine eigenen Fragen und auch Zweifel über das Woher und Wohin, das
Warum und das Wie hineingießt in seine Poesie, macht sie glaubhaft und lässt auch den
Leser, der sich auf die Gedichte einlässt, einen pfingstlichen Atem spüren. Lehnert schafft es,
Vertrauen in offenbar nicht Evidentes zu vermitteln in alltäglichen Erfahrungen von Verlust,
Verrat, Einsamkeit und Schmerz. „Doch, daß der Augenschein nicht stimmt, daß jeder /
zerhackte Stamm, die Finger ohne Kuppen, / die Kinderaugen, die nichts mehr begreifen, /
weil den Geschichten nicht zu trauen ist, // weil nichts zurückbleibt in den Sätzen, weder / das
Haus, noch Schmerz, das Holz im dunklen Schuppen, // weil niemand weiß, wohin die Laute
weisen, / in wessen Sinn, wo du, Vater, bist.“ ( 8. Juni 2009)
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„Religion“, so hat Christian Lehnert in seiner Dankrede zur Verleihung des LessingFörderpreises 2003 formuliert, ziele „über die Widersprüche und Zufälligkeiten des Lebens
hinaus auf eine fremde Mitte zu, wo jedes Bild, jeder Begriff, jeder Name verstummt“. Wo
aber Begriffe versagen, dort kann Poesie beginnen. Und wo Poesie und Religion sich
berühren, findet sich Mystik, ein Ineinssein ohne Begründung. Was bei einem Angelus
Silesius. dem berühmten Theologen und Dichter aus der Barockzeit, so heißt: „Die Ros ist
ohn Warum. / Sie blühet, weil sie blühet. / Sie acht nicht ihrer selbst, / fragt nicht, ob man sie
siehet.“ Oder: „Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir: / Suchst du Gott anderswo,
du fehlst ihn für und für.“ Oder: „Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. / Er kann
nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.“ – das liest sich bei einem modernen Nachfahren
wie Christian Lehnert so: „Du bist die Aussicht und du bist das Auge, / das über Auenland und
Sümpfe streift, / ein Weg, der nicht zu gehen ist: Der Taube / hört nicht den Wind und folgt
den Gräsern, greift // in Wurzelbüschel, und er fühlt sich reich. / Du bist der andere und bist
derselbe. / Du bist das grüne Blatt und bist das gelbe. / Du bist, der bleibt, und der, der immer
weicht.“ (2. November 2009)
Es herrscht eine eigentümliche Stille in den Gedichten Christian Lehnerts. Die überträgt sich
auf den Leser, so dass er plötzlich wie neu in sich hineinhören kann.
Christian Lehnert: Aufkommender Atem. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 99 Seiten,
gebunden, 17,90 EUR
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