2.1 Konvergenz von Folgen und Reihen 28 2. Grundlagen der Differentialrechnung 2.1 Konvergenz von Folgen und Reihen Folgen (genauer: unendliche Folgen reeller Zahlen) sind – anschaulich ausgedrückt – eine „Aneinanderreihung“ von Zahlen. Diese Be- bzw. Umschreibung ist aber als strenge Definition unbrauchbar. (Warum?) Definition: Unter einer unendlichen Folge reeller Zahlen (xn) = (x1, x2, x3, ...) versteht man eine Funktion f: Õ* → —, n 6 f(n) = xn. Beispiele: • xn = 1/n2: (1, 1/4, 1/9, 1/16, ...) • xn = 2: (2, 2, 2, ...) ist eine konstante Folge. • x1 = 5, xn+1 = (xn + 5/xn)/2 für n = 1,2,3,... ergibt (5, 3, 2 1/3, ...) und ist eine rekursiv definierte Folge. • xn = x1 + (n − 1)d ist eine arithmetische Folge (= eine lineare Funktion mit Definitionsmenge Õ*). Es gilt: (xn) ist genau dann eine arithmetische Folge, wenn gilt: xn+1 – xn = d ∀n∈Õ* bzw. xn+1 = xn + d ∀n∈Õ* • xn = x1 qn − 1 ist eine geometrische Folge (= eine Exponentialfunktion mit Definitionsmenge Õ*). Es gilt: (xn) ist genau dann eine geometrische Folge, wenn gilt: x n +1 = q ∀n ∈ N * bzw. x n +1 = x n ⋅ q ∀n ∈ N * xn Eigenschaften von Folgen (i) Folgen können monoton sein. Die Folge (xn) sei rekursiv definiert gemäß x1 = 0, xn+1 = (xn + 4)/2 für n = 1,2,3,..., d.h. (*) x1 = 0, x2 = 2, x3 = 3, x4 = 3 1/2, x5 = 3 3/4, ... Diese Folge ist offensichtlich streng monoton wachsend. Definition: Eine Folge (xn) heißt • streng monoton wachsend, wenn ∀ n ∈ Õ*: xn < xn+1 • streng monoton fallend, wenn ∀ n ∈ Õ*:xn > xn+1 • monoton wachsend, wenn ∀ n ∈ Õ*: xn ≤ xn+1 • monoton fallend, wenn ∀ n ∈ Õ*: xn ≥ xn+1 2.1 Konvergenz von Folgen und Reihen 29 (ii) Folgen können beschränkt sein. Für die Glieder obiger Folge (*) gilt stets 0 ≤ xn ≤ 4, die Folge ist (nach unten und nach oben) beschränkt. Definition: Eine Folge heißt beschränkt, wenn es Zahlen a, b gibt, sodass a ≤ xn ≤ b für alle n ∈ Õ*. Dabei ist a eine untere, b eine obere Schranke. (Jede beschränkte Folge besitzt in — sogar eine kleinste obere Schranke (Supremum) und eine größte untere Schranke (Infimum).) (iii) Folgen können einen oder mehrere Häufungswerte besitzen. Die Glieder der Folge (*) häufen sich bei 4, d.h., in jeder Umgebung von 4, etwa jedem Intervall ]4 − ε, 4 + ε[ mit ε > 0 liegen unendlich viele Folgenglieder xn. Die Folge 1/2, 1/3, 2/3, 1/4, 3/4, 1/5, 4/5, ..., 1/m, (m − 1)/m, ... hingegen hat zwei Häufungswerte, nämlich 0 und 1. Definition: Eine Zahl c heißt Häufungswert einer Folge (xn), falls in jeder Umgebung von c, also in ]c-ε,c+ε[, unendlich viele Glieder der Folge liegen, d.h., falls für jedes ε > 0 gilt |xn − c| < ε für unendlich viele n ∈ Õ*. Es gilt der Satz von Bolzano-Weierstraß: Jede beschränkte reelle Zahlenfolge besitzt mindestens einen Häufungswert. (iv) Folgen können einen Grenzwert besitzen. Die Folge (*) hat bei 4 ihren einzigen Häufungswert, welcher Grenzwert (oder Limes) genannt wird: In jeder ε-Umgebung von 4 liegen fast alle (d.s. alle bis auf endlich viele) Folgenglieder xn. Man schreibt lim x n = 4 . n →∞ Definition: Eine Zahl c heißt Grenzwert der Folge (xn), falls in jeder ε-Umgebung von c fast alle Glieder der Folge liegen, d.h., falls es zu jedem ε > 0 einen Index N(ε) gibt, sodass gilt |xn − c| < ε für alle n ≥ N(ε). Eine Folge, die einen Grenzwert besitzt, heißt konvergent, anderenfalls divergent. 2.1 Konvergenz von Folgen und Reihen 30 Zur Bestimmung von Grenzwerten von Folgen sind (u. a.) nachstehende Sätze nützlich: 1. Jede konvergente Folge ist beschränkt. 2. Eine monotone Folge ist genau dann konvergent, wenn sie beschränkt ist (Hauptsatz für monotone Folgen). 3. Für Summen, Differenzen, Produkte und Quotienten konvergenter Folgen gilt: lim x n = x , lim y n = y n →∞ n →∞ ⇒ lim ( x n ± y n ) = x ± y n →∞ ⇒ lim ( x n ⋅ y n ) = x ⋅ y n →∞ xn x = n →∞ y y n ⇒ lim (falls y n ≠ 0, y ≠ 0) Beispiele: • xn = (−1)n : (−1, 1, −1, 1, ...) ist beschränkt und besitzt zwei Häufungswerte. • xn = 1/n ist streng monoton fallend, beschränkt und daher konvergent, lim xn = 0. • xn = n2 ist streng monoton wachsend, nicht nach oben beschränkt und daher auch nicht konvergent, jedoch bestimmt divergent mit lim xn = ∞. • xn = (n2 + n − 1)/(3n2 − 11) ist konvergent mit dem Grenzwert 1 1 − 2 n + n −1 n n = 1+ 0 − 0 = 1 . lim x n = lim = lim 2 n →∞ n →∞ 3n − 11 n →∞ 11 3−0 3 3− 2 n 1+ 2 • xn = qn , d.i. die geometrische Folge q, q2, q3, ... erfüllt ⎧0 für − 1 < q < 1 ⎪ lim q = ⎨1 für q = 1 . n →∞ ⎪∞ für q > 1 ⎩ n • xn = (1 + 1/n)n hat den Grenzwert e = 2,71828... . • xn = n n hat den Grenzwert 1. Reihen Endliche Reihen sind eigentlich nur Summen von (meist) vielen (meist) gleichartigen Summanden, z. B.: 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 + ... 1/231 Von besonderer Bedeutung sind die (endlichen) geometrischen Reihen, d. s. Reihen, deren Glieder eine (endliche) geometrische Folge bilden. Obiges Beispiel ist eine solche geometrische Reihe. Für solche gibt es eine einfache Summenformel: 2.1 Konvergenz von Folgen und Reihen 31 2 n−1 1 + q + q + ... + q 1− qn = 1− q b + bq + bq2 + ... + bqn−1 = b bzw. : 1− qn 1− q Beispiel aus der Finanzmathematik: Ein Kapital K0 wird auf ein Sparkonto gelegt, und jeweils am Ende eines jeden Jahres wird ein gleichbleibender Betrag E eingezahlt. Dann beträgt der Endwert Kn aller geleisteten Zahlungen nach n Jahren bei einem jährlichen Zinssatz r K n = K 0 (1 + r ) n + E(1 + r ) n −1 + " + E (1 + r ) + E ( = K 0 (1 + r ) n + E 1 + (1 + r ) + " + (1 + r ) n −1 = K 0 (1 + r ) n + E ) (1 + r ) n − 1 r Bezieht man sämtliche Zahlungen auf den Beginn des Zahlungszeitraumes, erhält man daraus den Barwert Bn gemäß Bn = Kn (1 + r ) n − 1 K E = + . 0 (1 + r ) n r (1 + r ) n In der Rentenrechnung setzt man K0 = 0, und Bn ist dann jener Betrag, den man jetzt aufbringen muss, um n Perioden hindurch eine Rente E zu erhalten. So entspricht beispielsweise einem Einmalerlag (Barwert) B15 = 500.000,- bei einem jährlichen Zinssatz von r = 4% eine 15-jährige jährliche Rente in folgender Höhe: Bn = E 1,0415 − 1 (1 + r ) n − 1 = 500.000 ⇒ E = 44.970,− . = E 0,04 ⋅ 1,0415 r (1 + r ) n Unendliche Reihen ∞ Eine unendliche Reihe x 1 + x 2 + x 3 + ... = ∑ x n sieht zwar einer endlichen Reihe sehr n =1 ähnlich, ist aber etwas prinzipiell Neues (insb. gelten für unendliche Reihen z. T. andere Regeln wie für endliche Reihen) und erfordern daher eine eigene Definition: ∞ Definition: Unter einer unendlichen Reihe x 1 + x 2 + x 3 + ... = ∑ x n versteht man die Folge n =1 der Partialsummen s1 = x 1 s 2 = x1 + x 2 " s n = x1 + x 2 + " + x n " 2.1 Konvergenz von Folgen und Reihen 32 Wenn der Grenzwert lim sn = s existiert, so heißt die Reihe Σxn konvergent und s ihre Summe, andernfalls heißt die Reihe divergent. Beispiel: Für die unendliche geometrische Reihe 1 + q + q2 + ... gilt sn = 1 + q + q2 + ... + qn−1 = (1 − qn)/(1 − q) und weiter lim sn = lim(1 − qn)/(1 − q) = 1/(1 − q), falls |q| < 1, also ∞ ∑q n = 1+ q + q2 +" = n =0 ∞ Beispiel: 1 ∑ 10 n =1 n = 1 1− q für | q |< 1 . • 1 1 1 1 + + + " = 0,1 = 10 100 1000 9 Eine notwendige (aber keine hinreichende) Bedingung für die Konvergenz einer Reihe Σxn ist lim xn = 0. D. h., wenn Σxn konvergiert, dann gilt: lim xn = 0 Denn wenn Σxn konvergiert, dann gilt für die Partialsummenfolge lim sn = s, und daraus folgt lim xn = lim (sn − sn−1) = s − s = 0. Andererseits ist die harmonische Reihe ∞ 1 1 1 1 ∑ n = 1+ 2 + 3 + 4 +" = ∞ n =1 divergent, und dennoch gilt lim 1/n = 0. Wenn bei einer Reihe Σxn auch die Reihe aus den Beträgen, also Σ|xn| konvergiert, dann ist auch Σxn selbst konvergent. In diesem Fall nennt man Σxn absolut konvergent. So konvergiert z.B. mit der Reihe Σ 1/10n (siehe oben) automatisch auch die Reihe (−1) n +1 1 1 1 1 = − + − +" = . ∑ n 10 100 1000 11 n =1 10 ∞ Andererseits ist die Reihe 1 1 1 (−1) n +1 = 1 − + − + −" = ln 2 ∑ 2 3 4 n n =1 ∞ konvergent, obwohl die zugehörige Reihe der Absolutbeträge, nämlich die harmonische Reihe (siehe oben!) divergiert. Man spricht in diesem Fall von bedingter Konvergenz. Für unendliche Reihen ergibt sich damit folgende Einteilung: unendliche Reihen konvergente Reihen absolut konv. Reihen bedingt konv. Reihen divergente Reihen Absolut konvergente Reihen können – wie endliche Summen – beliebig umgeordnet werden, ohne dass sich der Wert oder das Konvergenzverhalten ändern. Eine Umordnung bedingt konvergenter Reihen ist jedoch nicht zulässig. 2.1 Konvergenz von Folgen und Reihen 33 Zum Nachweis der absoluten Konvergenz (und damit der Konvergenz) einer Reihe Σxn stehen folgende Konvergenzkriterien zur Verfügung: 1. Gilt |xn| ≤ yn für fast alle n und ist Σyn konvergent, dann ist Σxn absolut konvergent (Majorantenkriterium). x n +1 ≤ q < 1 für fast alle n, dann ist Σxn absolut konvergent (Quotientenxn kriterium). 2. Gilt 3. Gilt n | x n | ≤ q < 1 für fast alle n, dann ist Σxn absolut konvergent (Wurzelkriterium). Funktionenreihen Neben Folgen und Reihen aus Zahlen sind in der Mathematik auch Folgen und Reihen, deren Glieder Funktionen sind, von großer Bedeutung. ∞ x2 x3 xk + +" = ∑ Beispiel: Die Reihe 1 + x + ist für alle x ∈ — konvergent, denn nach 2! 3! k = 0 k! dem Quotientenkriterium gilt x n +1 |x| (n + 1)! = ≤ q < 1, n n +1 x n! sobald n genügend groß ist. ∞ xk = e x (Vgl. später!) k = 0 k! Diese Reihe ist deshalb von besonderem Interesse, da gilt: ∑ 2.2 Stetige Funktionen 34 2.2 Stetige Funktionen Anschaulich: Man nennt eine Funktion stetig, wenn ihr Graph eine durchgehende Linie ist. Wie aber kann man den Begriff „stetig“ mathematisch präzise beschreiben (definieren)? Einige Beispiele von nicht durchgezeichneten Graphen: Fig. a Fig. b Fig. c Aus obigen Zeichnungen erkennt man: Wenn p nicht zur Definitionsmenge gehört, dann muss der Graph an der Stelle p unterbrochen sein. Aber auch wenn p ein Element der Definitionsmenge ist, kann der Graph unterbrochen sein: Fig. d Fig. e Fig. f Fig g Der Graph einer an einer Stelle p stetigen Funktion hat – im Gegensatz zu obigen Funktionen - folgende Eigenschaft Definition: Eine Funktion f: D → — heißt stetig an der Stelle p∈D, wenn für jede Folge (xn), die gegen p konvergiert, die Folge der dazugehörigen Funktionswerte (f(xn)) gegen f(p) strebt. (Begründen Sie selbst, dass das in den obigen Figuren nicht zutrifft!) Die obige Definition der Stetigkeit einer Funktion f an einer Stelle p ist ein spezieller Fall eines Grenzwerts von Funktionen, der auch in anderen Zusammenhängen von Bedeutung ist. 2.2 Stetige Funktionen 35 Grenzwerte von Funktionen Betrachten wir nun die Funktion f: —\{0} → —, f(x) = sin x . x „Loch“ Gegen welchen Wert strebt f(x), wenn x gegen 0 geht? Aus dem Funktionsgraphen ersehen wir: der Funktionswert f(x) kommt 1 beliebig nahe, wenn x genügend nahe bei 0 liegt. sin x Genauer: Für jede Folge (xn) mit xn ≠ 0 und lim xn = 0 folgt lim f(xn) = 1, also: lim =1 n→∞ n→∞ x →0 x Allgemein: Definition: Eine Funktion f besitzt an der Stelle x0 den Grenzwert c, wenn für jede Folge (xn) mit xn ≠ x0 gilt lim x n = x 0 ⇒ lim f ( x n ) = c . n →∞ n →∞ c = lim f ( x) Kurz: x → x0 Oder anders ausgedrückt: Definition: Eine Funktion f besitzt an der Stelle x0 den Grenzwert c = lim f ( x) , wenn es zu x → x0 jedem ε > 0 eine Zahl δ = δ(ε) > 0 gibt, sodass gilt | x − x 0 |< δ ⇒ | f ( x ) − c |< ε für alle x ∈ D, x ≠ x 0 . Beide Grenzwertdefinitionen sind äquivalent. Analog können die Grenzwerte lim f ( x ) = c , lim f ( x ) = ∞ oder auch einseitige (d.s. linksx →∞ x →x 0 oder rechtsseitige) Grenzwerte definiert werden. (1) lim f ( x ) = c , (2) lim f ( x ) = c , (3) lim f ( x ) = ∞ , (4) lim f ( x ) existiert nicht x →x 0 x →∞ x →x 0 x→ x 0 2.2 Stetige Funktionen 36 Zur Berechnung von lim f(x) stehen folgende Möglichkeiten zur Verfügung: 1. Ausnützung der Definition des Grenzwerts 2. Anwendung von Rechenregeln zur Bestimmung des Grenzwerts von Summe und Produkt von Funktionen (entsprechend den Grenzwertregeln für Folgen) 3. Umformung des f(x) darstellenden Ausdrucks 4. Entwicklung von f(x) in eine Reihe Beispiele: • (3x + 1) 4 3x + 1 lim = x →1 = =2 x →1 x + 1 lim( x + 1) 2 lim x →1 1 x = 3+ 0 = 3 1 1+ 0 1+ x 3+ • 3x + 1 lim = lim x →∞ x + 1 x →∞ • sin x 1 x3 x5 x2 x4 lim = lim ( x − + − +...) = lim(1 − + − +...) = 1 x →0 x →0 x x →0 x 3! 5! 3! 5! • 100 100 100 = = = 100 − x − x x →∞ 1 + 9e lim (1 + 9e ) 1 + 0 lim x →∞ Mit Hilfe des Grenzwertbegriffs können wir auch den Begriff Stetigkeit exakt definieren: Definition: Eine Funktion f: A→ — heißt stetig an der Stelle x0, wenn 1. der Grenzwert lim f ( x ) existiert und x →x 0 2. gleich dem Funktionswert f(x0) ist. Eine stetige Funktion f ändert also ihren Funktionswert f(x) nur wenig, wenn sich das Argument x wenig ändert. Beispiele für stetige Funktionen sind alle elementaren Funktionen (auf den jeweiligen Definitionsmengen). Summen, Produkte, Zusammensetzungen usw. von stetigen Funktionen sind wieder stetig. Beispiele für Unstetigkeitsstellen sind etwa Sprungstellen von Funktionen. Stetige Funktionen besitzen – unter anderem - nachfolgende Eigenschaften: 1. Ist f: I = [a,b] → — stetig und ist f(a) < 0, f(b) > 0, dann existiert mindestens eine Nullstelle x0∈[a,b], also eine Stelle x0 mit f(x0) = 0 (Nullstellensatz). 2. Ist f: I = [a,b] → — stetig, so nimmt f auf dem Intervall I einen kleinsten Wert m = min{f(x)|x ∈ I}, einen größten Wert M = max{f(x)|x ∈ I} (Satz vom Maximum/Minimum) 3. und alle Werte in [m,M] mindestens einmal an. (Zwischenwertsatz; = Verallgemeinerung des Nullstellensatzes) 2.3 Differenzierbarkeit von Funktionen 37 2.3 Differenzierbarkeit von Funktionen Beispiel: Die Geschwindigkeit eines bewegten Körpers kann mittels seiner Weg-ZeitFunktion s = s(t) folgendermaßen beschrieben werden: Gibt man ein Zeitintervall [t0,t1] vor, so beschreibt der Quotient v= zurückgelegter Weg in [ t 0 , t 1 ] s( t 1 ) − s( t 0 ) ∆s = = Länge des Zeitintervalls [ t 0 , t 1 ] t1 − t 0 ∆t die mittlere Geschwindigkeit des Körpers in [t0,t1]. Für t1 → t0 erhält man daraus v(t 0 ) = lim t1 →t 0 s(t1 ) − s(t 0 ) ∆s = lim , ∆t →0 ∆t t1 − t 0 d.i. die Momentangeschwindigkeit zum Zeitpunkt t0. Tangente y Sekante P f(x1) ∆y P0 f(x0) y = f(x) ∆x x x0 x1 Sei nun f: D → —, y = f(x), eine beliebige reellwertige Funktion. Das Änderungsverhalten von f in einem Intervall [x0,x1] wird beschrieben durch die absolute Änderung des Funktionswerts ∆y = f(x1) − f(x0) bzw. durch die relative Änderung des Funktionswerts f ( x 1 ) − f ( x 0 ) ∆y = . x1 − x 0 ∆x Definition: f ( x 1 ) − f ( x 0 ) ∆y = heißt Differenzenquotient von f im Intervall [x0,x1]. x1 − x 0 ∆x Der Differenzenquotient kann geometrisch als Anstieg der Sekante P0P1 (siehe Abbildung) gedeutet werden. Die relative Änderung des Funktionswerts an der Stelle x0 erhält man daraus durch Grenzübergang lim x →x 0 f (x) − f (x 0 ) ∆y = lim . ∆ x → 0 x − x0 ∆x 2.3 Differenzierbarkeit von Funktionen 38 Dieser Grenzwert – falls er überhaupt existiert – heißt Differentialquotient oder Ableitung von f an der Stelle x0 und entspricht geometrisch dem Anstieg der Tangente in P0. Definition: Unter der Ableitung (dem Differentialquotienten) einer Funktion f: D → — im Punkt x0 ∈ D versteht man den Grenzwert f (x) − f (x 0 ) . x →x 0 x − x0 f ' ( x 0 ) = lim Existiert dieser Grenzwert, heißt f in x0 differenzierbar. Existiert der Grenzwert an allen Stellen x ∈ D, so heißt f in D differenzierbar und die Funktion f′(x) die Ableitung von f. Schreibweisen: f′(x0), y′(x0), dy dy df d , (x 0 ) , f (x 0 ) , dx dx dx dx , (d/dx)(f(x0)) x=x0 dy den „Differentialquotienten“. dx Unter Differentialen stellten sich Mathematiker früherer Zeiten so etwas wie „unendlich kleine Zahlen ≠ 0“ vor. Diese Vorstellung führt aber auf logische Schwierigkeiten. Dennoch ist der „Differentialquotient“ - abgesehen von der Bezeichnung „Quotient“ - sinnvoll und mit obiger Definition präzise definiert. Bemerkung: Man nennt dx, dy „Differentiale“ und daher Interpretationen des Differentialquotienten: • Tangentenanstieg = f′(x0) = tan(α). Die Gleichung der Tangente an die Kurve y = f(x) in x0 lautet dann y = f(x0) + f′(x0) (x − x0). • Monotonieverhalten: Ist f ’(x)>0 für alle x∈]a,b[, so ist f in [a,b] streng monoton wachsend. Ist f ’(x)<0 für alle x∈]a,b[, so ist f in [a,b] streng monoton fallend. (Entsprechendes gilt auch für unbeschränkte Intervalle.) • in der Physik: Geschwindigkeit ds/dt (Wegänderung pro Zeiteinheit), Stromstärke dq/dt (Ladungsänderung pro Zeiteinheit), Induktionsspannung dΦ/dt (zeitliche Änderung des magnetischen Flusses) • in der Wirtschaft: Grenzkosten: K′(x) ≈ Zuwachs der Kosten pro Mengeneinheit in Abhängigkeit von der produzierten Menge x, „Kosten der letzten Einheit“: K(x) − K(x 0 ) K(x) − K(x 0 ) ≈ , x →x 0 x − x0 x − x0 K´(xo) = lim wenn x nahe bei x0 liegt, also wenn x − x 0 sehr klein im Verhältnis zu x0 ist (man schreibt dafür: x − x 0 << x 0 ). Setzt man insbesondere x = x0 + 1, so erhält man: K´(x0) ≈ K(x0+1) - K(x0) bzw. K(x0+1) ≈ K(x0) + K´(x0) 2.3 Differenzierbarkeit von Funktionen 39 x ⋅ K´(x ) gibt an, um wie viel % sich K ungefähr ändert, wenn sich K(x) x um 1% ändert. Elastizität: ε = Denn es gilt: K´(x) ≈ K(x + ∆x ) − Κ ( x ) , wenn |∆x| klein ist. ∆x Sei ∆x=0,01x (Erhöhung um 1%), dann gilt: ε≈ x K(x + 0,01x ) − Κ ( x ) K(1,01x ) − Κ ( x ) ⋅ = 100 ⋅ K(x ) 0,01x K(x) ⇒ K(1,01x ) − Κ ( x ) ≈ ε K(x) ⋅ ε ⇒ K(1,01x ) ≈ K(x) ⋅ (1 + ) 100 100 Beispiele: f (x) − f (x 0 ) 0 = lim = 0 für alle x0 x →x 0 x →x 0 x − x x − x0 0 • f(x) = c (konstant) ⇒ f ' ( x 0 ) = lim • f(x) = 2x2 + 1 ⇒ 2 x 2 + 1 − (2 x 0 + 1) 2( x 2 − x 0 ) = lim = lim 2( x + x 0 ) = 4 x 0 x→x0 x→x0 x − x0 x − x0 2 f ' ( x 0 ) = lim x→x0 2 für alle x0, d.h. f′(x) = 4x • ⎧ x x≥0 f ( x ) − f (0) | x | ⎧ 1 x > 0 f ( x ) =| x |= ⎨ , x0 = 0 ⇒ = =⎨ , x−0 x ⎩− x x < 0 ⎩− 1 x < 0 d.h. f′(0) existiert nicht und f(x) = |x| ist an der Stelle 0 nicht differenzierbar (aber stetig). Umgekehrt gilt jedoch: Jede in x0 differenzierbare Funktion ist in x0 auch stetig, denn aus f (x) = f (x 0 ) + f (x) − f (x 0 ) (x − x 0 ) x − x0 folgt durch Grenzübergang x → x0 lim f ( x ) = f ( x 0 ) + f ' ( x 0 ) ⋅ 0 = f ( x 0 ) , x →x 0 d.h., f ist stetig in x0. 2.3 Differenzierbarkeit von Funktionen 40 Ableitungen einiger Grundfunktionen: f(x) C xn ex ln(x) ax sin(x) cos(x) tan(x) arctan(x) f′(x) 0 nxn−1 ex 1/x x a ln(a) cos(x) −sin(x) 1/cos2x 1/(1+x2) Bemerkungen n ∈ Õ oder x > 0, n ∈ — x>0 a>0 x ≠ π/2 + kπ (k ∈ Ÿ) Zur Berechnung der Ableitung stehen weiters folgende Regeln zur Verfügung: 1. (cf)′ = c f′ (Regel vom konstanten Faktor) 2. (u + v)′ = u′ + v′ (Summenregel) 3. (u⋅v)′ = u′v + uv′ (Produktregel) 4. (u/v)′ = (u′v − uv′)/v2 (Quotientenregel) 5. F(t) = f(x(t)) ⇒ F′(t) = f′(x)⋅x′(t), kurz df/dt = df/dx⋅dx/dt (Kettenregel) 6. y = f(x) streng monoton ⇒ (f−1)′(y) = 1/f′(x), kurz dx/dy = 1/(dy/dx) (Ableitung der Umkehrfunktion) Beispiele: • f(x) = x4 − 3x3 − 3x2 + 5x + 1 − 2ln(x) ⇒ f′(x) = 4x3 − 9x2 − 6x + 5 – 2/x • f(x) = (1 + x)ex ⇒ f′(x) = 1⋅ex + (1 + x)ex = (2 + x)ex • f(x) = tan(x) = sin(x)/cos(x) ⇒ f′(x) = (cos2x + sin2x)/(cos2x) = 1/cos2x = 1 + tan2x • f(x) = 1 + x 2 ⇒ f′(x) = (2x)/(2 1 + x 2 ) = x/ 1 + x 2 • y = f(x) = arctan x, d.h. x = tany ⇒ f′(x) = dy/dx = 1/(dx/dy) = 1/(1 + tan2y) = 1/(1 + x2) • Gesucht ist die Gleichung der Tangente an die Parabel y = x2 im Punkt (x0,y0). Wo schneidet die Tangente die x-Achse? Aus y = x2 folgt y′(x0) = 2x0, und die Gleichung der Tangente in (x0,y0 = x02) ist demnach gegeben durch y − x02 = 2x0 (x − x0) bzw. y = 2x0x − x02. Diese Tangente schneidet bei x = x0/2 die x-Achse (woraus sich eine einfache Tangentenkonstruktion für die Parabeltangente ergibt). 2.3 Differenzierbarkeit von Funktionen 41 Höhere Ableitungen Neben der ersten Ableitung einer Funktion f können auch höhere Ableitungen gebildet werden. Ist f: I → — eine differenzierbare Funktion, so existiert (d/dx)f(x) = f′(x) für alle x ∈ I, die erste Ableitung von f. Ist die Funktion f’: I → — wieder differenzierbar, so existiert auch (d/dx)f′(x) = f′′(x) für alle x ∈ I, die zweite Ableitung von f. Wir schreiben f′′(x), y′′(x), d2y d2 f ( x ) oder . dx 2 dx 2 Aufgabe: Begründen Sie, dass die zweite Ableitung das Krümmungsverhalten charakterisiert: Ist f“(x)>0 für alle x∈]a,b[, so ist f in [a,b] linksgekrümmt. Ist f“(x)<0 für alle x∈]a,b[, so ist f in [a,b] rechtsgekrümmt Analog sind die weiteren Ableitungen f′′′(x), f(4)(x),..., allgemein die n-te Ableitung f(n)(x) erklärt. Beispiele: • f(x) = 2x2 + 1 ⇒ f′(x) = 4x, f′′(x) = 4, f′′′(x) = f(4)(x) = ... = 0 • f(x) = sin(x) ⇒ f′(x) = cos(x), f′′(x) = −sin(x), f′′′(x) = −cos(x), f(4)(x) = sin(x), usw. • f(x) = ln(x) ⇒ f′(x) = 1/x, f′′(x) = −1/x2, f′′′(x) = 2/x3, f(4)(x) = − 6/x4, usw., allgemein ist f(n)(x) = (−1)n−1(n − 1)!/xn (Beweis durch vollständige Induktion) • Beim freien Fall ist die Weg-Zeit-Funktion gegeben durch s(t) = (g/2)t2, die Geschwindigkeit durch v(t) = ds/dt = gt und die Beschleunigung durch b(t) = d2s/dt2 = g. Differentiation komplexwertiger Funktionen Abschließend betrachten wir komplexwertige Funktionen und deren Ableitungen. Die Funktion z: — → ¬, z(t) = x(t) + j y(t) ist eine komplexwertige Funktion einer reellen Variablen und beschreibt i.a. eine Kurve (in Parameterdarstellung) in der Gaußschen Zahlenebene. Beispiele: • z(t) = r(cos(t) + j sin(t)) = r ejt, 0 ≤ t < 2π Kreis im Ursprung mit Radius r • z(t) = cos(mt) + j sin(nt), 0 ≤ t < 2π, m,n ∈Õ Lissajoux-Figur (siehe Abbildung) 2.3 Differenzierbarkeit von Funktionen 42 Grenzwerte und Ableitungen für komplexwertige Funktionen sind jeweils für Real- und Imaginärteil – wie bei reellwertigen Funktionen – erklärt: lim z( t ) = lim x ( t ) + j lim y( t ) t →t 0 t →t 0 t →t 0 bzw. dz/dt = dx/dt + j dy/dt, wobei dz/dt als Tangentenvektor an die Kurve z(t) gedeutet werden kann. Für den Einheitskreis z(t) = ejt = cos(t) + j sin(t) beispielsweise lautet die Ableitung bzw. der Tangentenvektor dz/dt = − sin(t) + j cos(t).