Gerhard Roth Universität Bremen, Institut für Hirnforschung Die Entwicklung von Gehirn und Psyche bei Kindern - Normalität und traumatische Störung Die psychische Entwicklung des Kindes ist aufs Engste mit der Entwicklung des Gehirns verbunden. Dies bedeutet nicht, dass diese Entwicklung rein neurobiologisch verstanden werden kann. Vielmehr treffen im Gehirn mehrere Faktoren zusammen und interagieren in komplexer Weise miteinander. Hierzu gehören (1) genetische Prädispositionen und Eigenheiten der Hirnentwicklung, (2) frühe Bindungserfahrung, (3) psychosoziale Prägung und Erfahrung im Kleinkindalter und (4) Erziehung und Bildung im späteren Kindes- Jugendund Erwachsenenalter. Im Laufe der kindlichen Entwicklung entstehen nacheinander sechs psychobiologische „Grundsysteme“. Das erste System ist das Stressverarbeitungssystem. Es befähigt den Organismus zur Bewältigung körperlicher und psychischer Belastungen und Herausforderungen und beruht auf der Produktion und Regulation der Neurotransmitter Adrenalin-Noradrenalin sowie des Hormons Cortisol und seiner Vorstufen (CRF, ACTH). Das zweite psychische Grundsystem ist das interne Beruhigungssystem. Es ist überwiegend vom Neuromodulator Serotonin bestimmt. Beide Systeme beginnen ihre Entwicklung vor der Geburt, stabilisieren sich aber erst in den ersten 3 Jahren nach der Geburt und sind sehr anfällig für Psychotraumatisierungen (vorgeburtlich über das Gehirn der Mutter). Das dritte System ist das interne Bewertungs-und Motivationssystem, das mit der Ausschüttung endogener Opiate (Belohnung) und Dopamin (Belohnungserwartung und –bewertung) verbunden ist. Das vierte ist das Impulshemmungssystem. Es bewirkt eine Hemmung starker Affekte und eine Toleranz gegenüber Belohnungsaufschub. Es ist an die Ausbildung der hemmenden Wirkung limbischer corticaler Areale (z.B. orbitofrontaler Cortex) auf limbische subcorticale Zentren (Amygdala, Nucleus accumbens u.a.) gebunden. Das fünfte ist das Bindungs- und Empathiesystem, das mit der Produktion und Regulation von Oxytocin zu tun hat. Alle drei Systeme beginnen mit ihrer Entwicklung in der frühen Kindheit, setzen diese aber bis in das Erwachsenenalter hinein fort. Das letzte ist das System des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung. Es entwickelt sich im Laufe der späteren Kindheit bis weit in das Erwachsenenalter hinein und ist an die Ausreifung des dorsolateralen präfrontalen und anterioren cingulären Cortex gebunden. Affektive Störungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen gehen sämtlich einher mit Störungen mindestens drei dieser Grundsysteme, wobei solche der ersten beiden Systeme die schwerstwiegenden sind. Die Ursachen dieser Störungen sind in der Regel zu 20-30% genetisch (über Störungen der Gen-Expression) bedingt, zum größeren Teil durch traumatische Erfahrungen in früher Jugend (körperliche Misshandlung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch) und durch ausgrenzende und beschämende Ereignisse in Kindheit und Jugend gebunden. Diese Störungen lassen sich neurobiologisch nachweisen.