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Jahrbuch 2010/2011 | Renault, Andrew | Keimzellmigration: Auch Zellen brauchen W anderführer
Keimzellmigration: Auch Zellen brauchen Wanderführer
Germ cell migration: Even cells need a travel guide
Renault, Andrew
Max-Planck-Institut für Entw icklungsbiologie, Tübingen
Korrespondierender Autor
E-Mail: andrew [email protected]
Zusammenfassung
W ie kann aus einer Zelle ein mehrzelliger Embryo entstehen? W ie w erden Teilung, Differenzierung und
Wanderung (Migration) von Zellen exakt koordiniert? An der Embryonalentw icklung der Fruchtfliege Drosophila
melanogaster lässt sich die Migration von Zellen in idealer Weise untersuchen. Die Arbeitsgruppe beschäftigt
sich im Besonderen mit der Migration von Keimzellen, den Vorläufern von Ei- und Samenzellen. Dieser Bericht
zeigt, w elche Rolle Lipide dabei spielen, das Überleben und die Wanderung von Keimzellen zu regulieren und
w elche biologischen Prinzipien dabei w irksam w erden.
Summary
How a single cell gives rise to a complex multicellular embryo is a fascinating question in biology. This process
involves coordination of cell division, differentiation and migration. We investigate the embryonic development
of the fruitfly, Drosophila melanogaster, and focus on studies of cell migration and in particular of germ cells, the
cells that give rise to sperm and egg cells. This report describes how lipids play a crucial role in regulating the
survival and migration of Drosophila germ cells and w hich biological principles w e can learn from this research.
Fruchtfliegen und Entwicklungsbiologie
Seit den 1980er Jahren, als Christiane Nüsslein-Volhard und Eric W ieschaus ihre bahnbrechenden genetischen
Untersuchungen veröffentlichten, ist die Fruchtfliege das Arbeitspferd der Entw icklungsbiologie (Abb. 1; [1]).
Mit ihrer Hilfe w urden und w erden grundlegende biologische Prinzipien entdeckt und w ichtige molekulare
Signalw ege identifiziert. Das Geheimnis des Erfolgs von Drosophila liegt in ihrer einfachen, im Labor gut zu
manipulierenden Genetik, ihrer kurzen Generationszeit von w eniger als zw ei Wochen und der Möglichkeit, ihre
Embryonalentw icklung zu beobachten. Jedes Weibchen legt Dutzende von Eiern, die sich außerhalb ihres
Körpers entw ickeln.
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A bb. 1: Drosophila: a usge wa chse ne s Mä nnche n (link s) und
W e ibche n (re chts).
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Innerhalb von nur einem Tag entw ickelt sich der Embryo zur Larve. In einem hochgradig reproduzierbaren und
geordneten Prozess entstehen dabei aus einer einzigen Zelle viele tausende. Wenn der Embryo schlüpft,
besitzt er viele komplexe Organe w ie etw a ein Nervensystem, einen Verdauungstrakt, Gew ebe für den
Gasaustausch, Muskeln und ein offenes Kreislaufsystem. Am Fruchtfliegenembryo lässt sich daher in idealer
Weise untersuchen, w ie Zellen w andern und sich spezialisieren, um Gew ebe und Organe zu bilden, und
w elche Gene diese Prozesse steuern.
Die Migration der Keimzellen
A bb. 2: Ke im ze lle n ste lle n in ge wisse r W e ise e ine unste rbliche
Ze lllinie da r und ve rbinde n die Ge ne ra tione n.
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Keimzellen sind diejenigen Zellen, aus denen die Ei- und Samenzellen des erw achsenen Tieres entstehen. In
gew isser Weise stellen Keimzellen also eine unsterbliche Zelllinie dar, die eine Generation mit der nächsten
ve rbinde t (Abb. 2). Bei vielen Organismen entstehen die Keimzellen bereits zu einem frühen Zeitpunkt
w ährend der Embryogenese [2]. Zellen, die die somatischen Anteile der Keimdrüsen bilden, entstehen
dagegen erst später und an einer anderen Stelle des Embryos. Die Keimzellen müssen daher innerhalb des
Embryos w andern, um ihre somatischen Gegenstücke zu finden und sich mit ihnen zu assoziieren.
Keimzellen beginnen ihre Reise nach Abschluss der Gastrulation, einer Abfolge somatischer Zellbew egungen,
an deren Ende ein Embryo mit mehreren Zellschichten steht. Zunächst liegen sie noch als dicht gedrängter
Zusammenschluss von rund 30 Zellen in der Mitteldarmtasche des Embryos (Abb. 3). Nach der Gastrulation
beginnen sie schnell, sich zu vereinzeln und sich in alle Richtungen zu verteilen. Als einzelne Zellen bew egen
sie sich zw ischen den Mitteldarmzellen hindurch und in das darüberliegende Mesoderm hinein. Dabei spalten
sie sich in zw ei Gruppen auf, die den Keimdrüsen des Embryos entsprechen: Jede Gruppe findet sich später in
einem Eierstock oder einem Hoden des erw achsenen w eiblichen oder männlichen Tieres w ieder. Im Mesoderm
entstehen auch die somatischen Zellen der Keimdrüsen. Sobald die Keimzellen auf ihre somatischen Partner
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treffen, endet ihre Wanderung, und sie bleiben w ährend der gesamten w eiteren Entw icklung mit diesen Zellen
assoziiert. Bei erw achsenen Tieren bilden die Keimzellen einen sich stetig teilenden Stammzellpool. Durch die
Teilungen w ird zum einen der Pool erneuert, zum anderen w erden Ei- und Samenzellen in nahezu
unbegrenzter Menge zur Verfügung gestellt.
A bb. 3: W a nde rnde Ke im ze lle n in Drosophila-Em bryos
unte rschie dliche n Alte rs. Die Ke im ze lle n lie ge n zunä chst a ls
cluster im Mitte lda rm (obe n), ve rte ile n sich da nn a be r ra sch
und wa nde rn a ls e inze lne Ze lle n (Mitte ). Unte n: die Ze lle n
be we ge n sich se itwä rts und a ssoziie re n m it de n som a tische n
Ze lle n de r be ide n e m bryona le n Ke im drüse n.
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Gene, die das Verhalten der Keimzellen steuern
Mithilfe genetischer screens w urden einige Gene identifiziert, die auf das Verhalten der Keimzellen w ährend
ihrer Wanderung einw irken. Zw ei w ichtige Gene, die dabei entdeckt w urden, sind wunen und das verw andte,
benachbart liegende Gen wunen2 [3, 4], die gemeinsam als wunens bezeichnet w erden. Benannt nach einer
eigensinnigen Figur aus dem klassischen chinesischen Roman „Die Reise nach Westen“, sind diese Gene dafür
verantw ortlich, die w andernden Keimzellen auf Kurs zu halten. Sie w erden in einigen somatischen Gew eben
exprimiert und halten die Keimzellen davon ab, in diese Gew ebe einzuw andern. Sie beeinflussen aber nicht
nur, w ohin diese Zellen sich bew egen, sondern regulieren auch ihr Überleben: W ird eines der beiden Gene
w ährend der Embryonalentw icklung überexprimiert, sterben die Keimzellen w ährend der Migration ab. Die
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Zellen w erden also durch das Zusammenw irken zw eier Mechanismen auf ihrem Pfad gehalten: i.) abstoßen
von peripheren Gew eben und ii.) Elimination, w enn sie in einen Bereich hoher wunen-Expression vordringen.
D i e wunen-Gene w erden nicht nur in bestimmten somatischen Gew eben exprimiert, sondern auch in den
Keimzellen selbst. Überraschend w ar die Entdeckung, dass die Keimbahn-Expression von wunen notw endig
ist, um die Zellen auf ihrer Wanderung am Leben zu erhalten [5, 6]. Dieselben Gene, die bei somatischer
Expression zum Absterben von Keimbahnzellen beitragen, fördern also deren Überleben, w enn sie in den
Keimbahnzellen selbst aktiv sind. Was passiert, w enn man die wunens in den Zellen der Keimbahn und in
somatischen Zellen gleichzeitig ausschaltet? W ir fanden, dass sich in diesem Fall die Keimzellen erst gar nicht
auf Wanderschaft begeben, sondern eng miteinander verbunden in der Mitteldarmtasche bleiben [7]. Eine
Vereinzelung der Keimzellen zu Beginn der Migration findet nicht statt. Wenn man bedenkt, dass somatische
wunen-exprimierende Zellen die Keimzellen abstoßen: Könnte es dann sein, dass die wunens der Keimzellen
dazu dienen, die Zellen selbst auseinander zu drängen und so die anfängliche Vereinzelung herbeizuführen?
Direkte Bew eise hierfür zu finden, ist schw ierig. Denkbar w äre, die Verteilung der Keimzellen auf die
Keimdrüsen als Indikator zu verw enden; sie könnte Hinw eise auf eine mögliche gegenseitige Abstoßung der
Keimzellen geben. In W ildtyp-Embryos verteilen sich die Keimzellen immer gleichmäßig auf beide Keimdrüsen
(Abb. 3; [7]). Fehlen den Keimzellen jedoch die wunen-Gene, dann versammeln sich die w enigen Zellen, die
überleben und die Keimdrüsen erreichen, bevorzugt in einer Keimdrüse. Die wunen-vermittelte Abstoßung der
Keimzellen untereinander ist demnach tatsächlich notw endig, damit sich die Zellen gleich zu Beginn der
Migration vereinzeln und gleichmäßig auf die beiden embryonalen Keimdrüsen verteilen. Möglicherw eise
optimiert diese Verteilungsfunktion das reproduktive Potenzial der Tiere, indem sie dafür sorgt, dass beide
Keimdrüsen so dicht w ie möglich mit Keimzellen besiedelt sind.
Lipide und Keimzellen
Was
aber
ereignet
sich
auf
der
molekularen
Ebene?
Beide wunen-Gene
kodieren
Lipidphosphat-
Phosphatasen, Enzyme also, die eine Phosphat-Gruppe von einem Lipid-Substrat abspalten. Durch die
Dephosphorylierung kann die Signalw irkung des Lipidphosphats verlorengehen und sein Abbau eingeleitet
w erden.
Interessanterw eise
enthalten
Lipidphosphat-Phosphatasen
mehrere
Transmembran-Domänen,
sodass sie in der Membran von intrazellulären Organellen oder in der äußeren Zellhülle, der Plasmamembran,
liegen können. Im zw eiten Fall w äre die Domäne mit der Phosphatase-Aktivität auf der Außenseite der Zelle
platziert, sodass die Enzyme in der Lage w ären, extrazelluläre Substrate zu dephosphorylieren.
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A bb. 4: Mode ll zum Einfluss de r wunen-Ge ne a uf die Migra tion
de r Ke im ze lle n be i Drosophila. Nä he re Erlä ute runge n im Te x t.
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Einem Modell zufolge basiert die W irkung der auf der Oberfläche somatischer Zellen liegenden wunens darauf,
dass sie einen zur Gruppe der Lipidphosphate zählenden „Lockstoff“ (Attraktor) abbauen. Die Keimzellen
w erden daraufhin von den wunen-exprimierenden somatischen Zellen abgestoßen (Abb. 4; [5, 7]). Auch die
Keimzellen, in denen die wunens aktiv sind, zerstören den Lipidphosphat-Attraktor, sodass die Keimzellen sich
gegenseitig auf Abstand halten. Daher durchqueren sie den Mitteldarm in alle Richtungen und verteilen sich
gleichmäßig
auf die
embryonalen
Keimdrüsen. Ohne
die
Möglichkeit, Lipidphosphat-Lockmoleküle
zu
dephosphorylieren, sterben die Keimzellen ab – unabhängig davon, ob dies auf den Mangel an wunen-Aktivität
in den Keimzellen selbst zurückzuführen ist oder darauf, dass somatische wunen-exprimierende Zellen den
lokalen Lipidphosphat-Vorrat bereits erschöpft haben.
Schlussbemerkungen und Ausblick
Die genetische Kontrolle der Keimzell-Migration bei Drosophila verdeutlicht einige interessante biologische
Prinzipien. Zunächst zeigt sie, dass nicht nur die Bildung, sondern auch die Zerstörung von Signalmolekülen
eine w ichtige Rolle bei der Navigation von Zellen spielen kann. Zw eitens kann die gegenseitige Abstoßung von
Zellen offenbar als Mechanismus genutzt w erden, um diese Zellen zu verteilen. Und letztlich scheinen Signale,
die das Überleben und die Richtungskontrolle zugleich beeinflussen, besonders effektiv zu sein, um eine
zuverlässige
Migration
zu
gew ährleisten.
Ein
w ichtiges
Forschungsziel
ist
nun,
den
mutmaßlichen
Lipidphosphat-Attraktor zu identifizieren. Die Untersuchung von Lipiden bei Drosophila w ird uns nicht nur
tiefere Einblicke darin verschaffen, w elche Vielfalt an Signalmolekülen die Natur zur Steuerung von Zellen
benutzt. Es besteht auch die Hoffnung, dass w ir in der Lage sein w erden, Krankheiten zu identifizieren, die auf
eine Fehlregulation von Lipidsignalen zurückgehen.
[1] C. Nüsslein-Volhard, E. Wieschaus:
Mutations affecting segment number and polarity in Drosophila.
Nature 287, 795 – 801 (1980).
[2] B. E. Richardson, R. Lehmann:
Mechanisms guiding primordial germ cell migration: strategies from different organisms.
Nature Review s Molecular Cell Biology 11, 37 – 49 (2010).
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[3] N. Zhang, J. Zhang, K. J. Purcell, Y . Cheng, K. Howard:
The Drosophila protein Wunen repels migrating germ cells.
Nature 385, 64 – 67 (1997).
[4] M. Starz-Gaiano, N. K. Cho, A. Forbes, R. Lehmann:
Spatially restricted activity of a Drosophila lipid phosphatase guides migrating germ cells.
Development 128, 983 – 991 (2001).
[5] A. D. Renault, Y . J. Sigal, R. Lehmann:
Soma-germ line competition for lipid phosphate uptake regulates germ cell migration and survival.
Science 305, 1963 - 1966 (2004).
[6] K. Hanyu-Nakamura, S. Kobayashi, A. Nakamura:
Germ cell-autonomous Wunen2 is required for germline development in Drosophila embryos.
Development 131, 4545 – 4553 (2004).
[7] A. D. Renault, P. S. Kunwar, R. Lehmann:
Lipid phosphate phosphatase activity regulates dispersal and bilateral sorting of embryonic germ cells in
Drosophila.
Development 137, 1815 – 1823 (2010).
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