Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Eine Funktion f : N → N wird als berechenbar angesehen, wenn es einen „Algorithmus“ gibt, der f berechnet: Bei Eingabe n ∈ N stoppt der Algorithmus nach endlich vielen Schritten mit der Ausgabe f (n). Problem: Was sind die zulässigen Schritte? Wie werden Ein- und Ausgabe beschrieben (kodiert)? Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 16 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Eine partielle Funktion f : Nk → N ist eine Funktion, die auf einer Teilmenge Def(f ) ⊆ Nk definiert ist. Sie ist berechenbar, wenn es einen Algorithmus gibt, der sie berechnet: Bei Eingabe (n1 , . . . , nk ) ∈ Nk stoppt der Algorithmus nach endlich vielen Schritten mit Ausgabe f (n1 , . . . , nk ), falls (n1 , . . . , nk ) ∈ Def(f ) ist; ansonsten stoppt der Algorithmus bei Eingabe (n1 , . . . , nk ) nicht. Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 17 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Beispiel 1: INPUT(n); REPEAT UNTIL FALSE; Dieser Algorithmus berechnet die total undefinierte Funktion Ω : n 7→ “undefiniert”. Beispiel 2: 1 falls n ein Anfangsabschnitt der Dezimalbruchentwicklung von π ist f (n) = 0 sonst ist berechenbar. Beispiel 3: 1 falls n in der Dezimalbruchentwicklung von π vorkommt g(n) = 0 sonst ist möglicherweise nicht berechenbar. Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 18 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Beispiel 4: 1 falls in der Dezimalbruchentwicklung von π irgendwo mindestens n-mal hintereinander eine 7 vorkommt h(n) = 0 sonst ist berechenbar, denn: 1. Fall: In der Dezimalbruchentwicklung von π treten beliebig lange 7-er Folgen auf. Dann: h(n) = 1 für alle n. 2. Fall: Es gibt eine Zahl n0 , sodass die längste 7-er Folge die Länge n0 hat. 1 falls 0 ≤ n ≤ n0 Dann: h(n) = 0 falls n > n0 . Problem: Wir wissen nicht, welcher dieser Fälle gilt. Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 19 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Eine reelle Zahl r ist effektiv approximierbar, wenn die folgende Funktion fr berechenbar ist: 1 falls n ein Anfangsabschnitt der Dezimalbruchentwicklung von r ist fr (n) = 0 sonst R ist überabzählbar, d.h. nicht alle reellen Zahlen sind effektiv approximierbar. Aber : alle rationalen Zahlen sind effektiv approximierbar. Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 20 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Definition 1.1 Sei A eine Menge. A heißt abzählbar, wenn A endlich oder abzählbar unendlich ist. A ist abzählbar unendlich, wenn es eine bijektive Abbildung c : A → N gibt. A heißt überabzählbar, wenn A nicht abzählbar ist. Bemerkung: N, Z und Q sind abzählbar unendlich. Satz 1.2 (Cantor) R ist überabzählbar. Satz 1.3 Die Menge der Funktionen f : N → N ist überabzählbar. Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 21 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Beweis zu Satz 1.2 (Cantorsches Diagonalverfahren): Angenommen R wäre abzählbar unendlich. Sei c : R → N eine entsprechende Bijektion. Mit ri bezeichnen wir die Zahl aus R mit Bild i (i ∈ N). ri kann als unendliche Dezimalzahl zm . . . z1 z0 .n0 n1 n2 . . . geschrieben werden. Also lässt sich R durch folgende Tabelle aufzählen: r0 : r1 : r2 : .. . Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) . . . . n0,0 n0,1 n0,2 n0,3 . . . . . . . n1,0 n1,1 n1,2 n1,3 . . . . . . . n2,0 n2,1 n2,2 n2,3 . . . Berechenbarkeit und Formale Sprachen 22 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Wir bilden eine Zahl r ∈ R durch folgende Festsetzung: 9 falls ni,i ∈ {2, . . . , 7}, r = 1.n0 n1 n2 . . . mit ni = 3 falls ni,i ∈ {0, 1, 8, 9}. Dann gibt es ein j ∈ N mit c(r ) = j, d.h. r = rj . Also r = 1.n0 n1 n2 . . . nj . . . = 1.nj,0 nj,1 nj,2 . . . nj,j . . . = rj . Nach Konstruktion ist aber 9 falls nj,j ∈ {2, . . . , 7}, nj = 3 falls nj,j ∈ {0, 1, 8, 9}, d.h. r 6= rj . Widerspruch ! Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 2 23 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Beweis zu Satz 1.3: Angenommen {f : N → N} wäre abzählbar unendlich. Sei c : {f : N → N} → N eine entsprechende Bijektion. Mit fi bezeichnen wir die Funktion mit Bild i (i ∈ N). fi kann als unendliche Folge fi (0), fi (1), fi (2), . . . geschrieben werden. Also lässt sich die Menge f : {N → N} durch folgende unendliche Tabelle auflisten: f0 : f0 (0), f0 (1), f0 (2), . . . f1 : f1 (0), f1 (1), f1 (2), . . . f2 : f2 (0), f2 (1), f2 (2), . . . .. . Wir definieren eine Funktion f : N → N durch folgende Festsetzung: f (i) = fi (i) + 1 (i ∈ N). Dann gibt es ein j ∈ N mit f = fj . Also gilt f (i) = fj (i) für alle i ∈ N. Insbesondere gilt fj (j) = f (j) = fj (j) + 1. Widerspruch ! Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 2 24 / 313 Kapitel 1: Berechenbarkeitstheorie 1.1 Intuitiver Berechenbarkeitsbegriff und Churchsche These Formalisierungen des intuitiven Berechenbarkeitsbegriffs: – Turingmaschinen∗ – Random Access Maschinen – WHILE-Programme∗ – GOTO-Programme∗ – µ-rekursive Funktionen∗ – λ-definierbare Funktionen – Postsche Systeme –... Churchsche These Die durch die formale Definition der WHILE-Berechenbarkeit erfasste Klasse von Funktionen stimmt mit der Klasse der im intuitiven Sinne berechenbaren Funktionen überein. Prof. Dr. F. Otto (Universität Kassel) Berechenbarkeit und Formale Sprachen 25 / 313