Rhetorik und Sprachpraxis 20 5 Arumentation 5.1 Ziele des Argumentierens Argumentation spielt in der Rede wie im Gespräch eine wichtige Rolle. Sie richtet sich immer an ein Gegenüber (Publikum bzw. Gesprächspartner). D.h. wenn ich argumentiere, will ich bei meinem Gegenüber etwas erreichen: 1. Mein Gegenüber soll den geschilderten Zustand so sehen, wie ich ihn darstelle. 2. Mein Gegenüber soll das von mir gezeigte Ziel als erstrebenswert erachten. (Für sie / ihn persönlich wie auch in "überpersönlicher" Hinsicht.) 3. Mein Gegenüber soll erkennen, dass mein Vorschlag (Verhalten, Entscheidung, Massnahme etc.) Erfolg verspricht. 4. Mein Gegenüber soll einsehen, dass andere Vorschläge weniger oder keinen Erfolg versprechen. Argumentation zielt im allgemeinen darauf, a) einen Zustand zu verändern oder b) einen Zustand vor Veränderung zu bewahren. Deshalb basieren argumentative Schritte meist auf drei inhaltlichen Grundgrössen: 1. Zustand a) Schilderung des verbesserungswürdigen Zustands b) Schilderung des drohenden schlechteren Zustands 2. Ziel a) Schilderung des anstrebenswerten verbesserten Zustands b) Schilderung des erhaltenswerten jetzigen Zustands 3. Mittel Schilderung von erfolgversprechenden Massnahmen Argumentation in einem Sachreferat zielt im allgemeinen darauf, • einen Sachverhalt korrekt, nachvollziehbar und überzeugend bzw. • eine Sicht- oder Vorgehensweise als sinnvoll, effizient und angemessen darzustellen. Wolfgang Wellstein, 2001 Rhetorik und Sprachpraxis 21 5.2 Fundstätten der Beweise Ziel der logischen Argumentation ist der Beweis, dass eine Aussage wahr ist. In der wissenschaftlichen Sach-Diskussion hat die logische Argumentation deshalb Vorrang. Im politischen wie auch privaten Alltag werden komplexe Argumentationsketten meist so stark verkürzt, dass nur noch gezeigt werden muss, dass eine Aussage glaubwürdig ist. Dazu reicht es im allgemeinen, statt logisch zu argumentieren, eine bestimmte Denkweise anzusprechen. Man bezieht sich (beispielsweise in Form einer "Wenn-dannVerknüpfung") auf 5.3 - das von den Sinnen Wahrnehmbare, - allgemeine Ansichten (Moral, Ethik), - gesetzlich Festgelegtes (z.B. Persönlichkeitsrechte), - überliefertes Brauchtum, - durch Übereinkunft akzeptiertes, - Bewiesenes, - eine Sache, der der Gegner nicht widerspricht - usw. Ebenen der Argumentation In kontroversen Diskussionen spielen verschiedene kommunikative und rhetorische Mittel, die helfen sollen, ein Gegenüber von der eigenen Sicht der Dinge zu überzeugen. Diese Mittel sind nicht immer fair. Eines der gebräuchlichsten Mittel ist der "Ebenenwechsel". Diese Taktik kann nötig sein, um ein ausuferndes Gespräch wieder in die ursprünglichen (sachgerechten) Bahnen zurückzuführen. Häufiger aber verwenden GesprächsteilnehmerInnen diese Taktik, um einen "Sieg" über andere zu erringen. In diesem Fall handelt es sich im allgemeinen um einen unredlichen Einsatz des Ebenenwechsels. Der "Trick" dabei liegt darin, dass einE GesprächspartnerIn zwar immer noch von derselben Sache spricht wie das Gegenüber, dass er/sie aber an eine andere Basis derselben Sache appelliert. Argumentationsebenen zeigen, welches Wertesystem eine Argumentation beim Gegenüber "treffen" will: - rationale Ebene (Appell an die Vernunft) - emotionale Ebene (Appell an die Gefühle; Ängste, Hoffnungen usw.) - moralisch-ethische Ebene (Appell an Werte, Prinzipien usw.) Bezugsebenen zeigen, auf welchen Aspekt der Sache sich die Argumentation bezieht: - inhaltlicher Bezug Wolfgang Wellstein, 2001 - formaler Bezug - persönlicher Bezug Rhetorik und Sprachpraxis 22 5.4 Alltagsargumentation Im privaten und politischen Alltag (manchmal auch Hochschulen) vermischen sich Fundstätten und Argumenationseben, Hauptaussagen und Argumente. Klaus Pawlowski und Hans Riebensahm haben in ihrem Buch „Konstruktiv Gespräche führen“ Beispiele von Alltagsargumenten dargestellt (Reinbeck bei Hamburg, 1998; rororo Sachbuch 60396). Beispiele von Alltagsargumenten Eine Hauptaussage (Behauptung Argumentandum) lässt sich mit verschiedensten Argumenten belegen. Dazu ein Beispiel: Argumentandum: Wir sollten den Opel verschrotten und einen neuen Wagen anschaffen. 1. Fakten Ich habe zusammengestellt, was wir in letzter Zeit für Reparaturen für den Wagen ausgegeben haben. Sieh dir das an. Fakten sind in der Regel die wirkungsvollsten Argumente. 2. Abmachungen Wir hatten vor einem Jahr beschlossen: Spätestens im Mai 99. Jetzt haben wir November. Von Vorteil ist es, wenn ich diese Abmachungen belegen kann. Gegen Verträge ist schlecht etwas einzuwenden. 3. (Gemeinsame) Erfahrungen Wie oft hat der Wagen mich im letzten Jahr im Stich gelassen! Denk nur an unsere gemeinsame Fahrt nach Bern. Erfahrungen sind besonders schlagkräftige Argumente, wenn sie mit eindrucksvollen Beispielen gestützt werden. 4. Beispiele Im September die Bremsen, im November die Kupplung, und als der erste Frost kam, die ewigen Startprobleme. Beispiele sind eine der geläufigsten Argumentationsformen. Wir schliessen gerne von einer Besonderheit auf eine Verallgemeinerung. Grund: Das Beispiel kann kaum bestritten werden, höchstens die Zulässigkeit des Schlusses. Wolfgang Wellstein, 2001 Rhetorik und Sprachpraxis 23 5. Normen und Wertvorstellungen Du, es geht auch um unser Renommee. Ich kann mit dieser alten Karre nicht mehr bei unseren Kunden/Kundinnen vorfahren. Die Überzeugungskraft normativer Argumente ist stark von der Einstellung des Gegenübers abhängig, also davon, ob er/sie die Prämisse anerkennt. 6. Meinung anderer Personen Herr Meier (Leiter der Reparaturwerkstatt) sagt auch, der Wagen ist kaputt. Frau Huber (Nachbarin) sagt, in den Wagen würde sie sich nicht mehr setzen. Die Überzeugungskraft solcher Argumente hängt davon ab, ob und in welchem Masse das Gegenüber die genannte Person als Autorität anerkennt. Als Autoritäten können auch Institutionen („Das haben sie im Fernsehen gesagt“) oder Gruppierungen dienen („Der ganze Ruderklub meint das“). 7. Statistik Der Wagen hat jetzt in acht Jahren 260 000 km gefahren. Ich habe in der Fachzeitschriff gelesen, dass da 80% aller Wagen mit 200 000 km schon auf der Halde sind. Statistische Argumente sind oft sehr wirkungsvoll, denn sie geben der Argumentation den Anschein von wissenschaftlicher Stimmigkeit und Objektivität: Kein Wunder, dass die Strassen so verstopft sind, 90% aller Haushalte haben mindestens einen Wagen, 25% sogar zwei. Allerdings versprechen Statistik-Argumente nur dann Erfolg, wenn Statistiken für unser Gegenüber „Autoritäten“ darstellen. 8. Prognosen Prognosen sind argumentative „Blicke in die Zukunft'`, obwohl sie kaum nachprüfbar sind. Den Wagen bringen wir mit Sicherheit nicht mehr durch die Kontrolle. Der versagt uns demnächst auf der Autobahn. Prognoseargumente sind deshalb oft wirkungsvoll, weil sie die Gefühle unserer Partner/Partnerinnen berühren: bei einer positiven Prognose ihre Hoffnungen und Wünschen, bei einer negativen ihre Ängste. 9. Gefühle Du, versteh‘ das doch, ich fühl mich immer unsicherer in dem Ding. Weisst du, ich kann den alten Rostkarren nicht mehr sehen. Wenn wir mit Empfindungen und persönlichen Bedürfnissen argumentieren, gehen wir davon aus, dass das Gegenüber bereit ist, sich in uns hineinzuversetzen, unsere Gefühle nachzuempfinden, unsere Bedürfnisse zu akzeptieren. Wir hoffen auf Zustimmung auf der Ebene von Verständnis. Fazit 1 - 9 Die Beispiele zeigen, dass alle Argumente (1 - 9) das Ziel haben zu begründen, warum der ältere Wagen nicht mehr gefahren werden sollte. Im Mittelpunkt stehen also die Nachteile, die dieser Wagen hat. Wolfgang Wellstein, 2001