Vorwort

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Vorwort
Seit einigen Jahren vollzieht sich ein faszinierender Prozess: Man kann beobachten, wie die
Psychologie als bisher stark geisteswissenschaftlich orientiertes Fach vermittels der Ergebnisse
der Neurowissenschaften ein verbreitertes Fundament erh!lt. Zur Erkl!rung einer immer gr$ßeren Zahl psychischer Ph!nomene (wie Lernen,
Ged!chtnis, Emotion, Motivation, psychische
St$rungen) werden neurobiologische Befunde
herangezogen. Auf der Basis dieses Fundaments
er$ffnen sich vielf!ltige Entwicklungsm$glichkeiten der Psychologie (etwa in der kognitiven oder
der klinischen Psychologie), die dem Fach ein
neues Gepr!ge geben d-rften. Ich hoffe, es ist
mir mit diesem Buch auch gelungen, ein wenig
von der Faszination dieser neurowissenschaftlichen Herangehensweise an die Psychologie zu
vermitteln.
Als Lehrbuch richtet sich dieses Werk in erster
Linie an Studierende der Psychologie im Hauptund Nebenfach. Daneben kann es auch Lesern
aus den Nachbardisziplinen und interessierten
Laien einen fundierten Einblick in das Fach Biologische Psychologie geben. F-r den letztgenannten Leserkreis d-rfte von Bedeutung sein, dass
zum Verst!ndnis des Textes kaum Vorkenntnisse
hinsichtlich biologischen oder medizinischen
Wissens notwendig sind.
Beim Schreiben eines Lehrbuchs begibt man
sich immer auf eine Gratwanderung zwischen
wissenschaftlicher Fundiertheit und Pr!zision auf
der einen Seite und gr$ßtm$glicher Verst!ndlichkeit auf der anderen. Mein Ziel war es, die angesprochenen Themen so ausf-hrlich darzustellen,
dass sie ein abgerundetes Bild des jeweiligen Fragenkomplexes liefern. Dazu geh$ren gelegentlich
auch Exkurse etwa zu Ph!nomenen der Tierund Pflanzenwelt oder zu psychiatrischen und
neurologischen Krankheitsbildern. Aus meinen
Vorlesungen zur Biologischen Psychologie weiß
ich, dass diese Blicke -ber den Zaun des eigentli-
chen Fachs hinaus sehr gesch!tzt werden, auch
wegen ihres »Erholungswerts« von einer ansonsten systematisch aufgebauten Pr!sentation der
Inhalte.
Die inhaltliche und formale Gestaltung des Buchs
basiert auf einigen grunds!tzlichen 9berlegungen.
(1) Die Themenauswahl wurde so gestaltet, wie
sie einer zweisemestrigen Vorlesung zur Biologischen Psychologie (auch: Physiologischen
Psychologie) in etwa entspricht. Der Umfang des pr!sentierten Materials d-rfte dagegen hier und da -ber das hinaus gehen, was
im Rahmen einer solchen Vorlesung vermittelt werden kann. Das Buch ist als Begleittext zur Vorlesung zu gebrauchen, der
insbesondere auch f-r die Pr-fungsvorbereitung im Fach Biologische Psychologie geeignet ist.
(2) Diejenigen Kapitel im zweiten Teil des Buchs,
die sich mit bestimmten psychischen Ph!nomenen befassen (z.B. Schmerz, Stress, Sprache, Sexualit!t, Drogenabh!ngigkeit) sind relativ ausf-hrlich, da diese Themen innerhalb
des Studiums der Psychologie (Haupt- und
insbesondere Nebenfach) nicht zwingend an
anderer Stelle noch einmal als eigenst!ndiger
Unterrichtsgegenstand auftauchen m-ssen.
Da es mir aber wichtig erscheint, dass jeder
Studierende der Psychologie hier -ber ein abgerundetes Faktenwissen verf-gt, entschloss
ich mich zu einer – im Vergleich zu anderen
einschl!gigen Lehrb-chern – vertieften Darstellung.
(3) Es werden naturgem!ß zahlreiche wissenschaftliche Ergebnisse berichtet (ohne allerdings experimentelle Details zu referieren).
Herbei bevorzugte ich stets, Befunde aus dem
Humanbereich zu berichten und tierexperi-
Vorwort
XVII
mentelle Ergebnisse nur dort mitzuteilen, wo
sie von ganz besonderer (evtl. auch historischer) Bedeutung sind. Auch habe ich es
weitgehend vermieden, auf spekulative Interpretationen von empirischen Befunden oder
auf wissenschaftliche Kontroversen einzugehen.
(4) Die berichteten Forschungsergebnisse werden
nur in Ausnahmef!llen durch Angabe von
diesbez-glichen Literaturstellen im Text belegt. W!hrend dies fr-her in Lehrb-chern die
Regel war, kommt man mehr und mehr von
dieser Gepflogenheit ab (vgl. Lehrb-cher der
Medizin). Hierf-r sprechen m.E. zwei Gr-nde: (1) Das wissenschaftliche Schrifttum zu
Themen aus der Neurowissenschaft w!chst
mit einer enormen Geschwindigkeit an, so
dass zu den meisten der Fragestellungen bereits nach Erscheinen eines Lehrbuchs schon
wieder neuere Literatur vorliegt. (2) Es ist
heute nahezu jedermann (insbesondere Studierenden) ohne großen Aufwand m$glich,
innerhalb von elektronischen Literaturdatenbanken und Internet-Suchmaschinen auf der
Basis von Schlagw$rtern zu einem bestimmten Thema zu recherchieren. Auf diese Weise
ist stets ein Einblick in die modernste Fachliteratur zu jedwedem wissenschaftlichen Fragenkomplex m$glich.
(5) Es finden sich an vielen Stellen, abgesetzt
vom normalen Text, blau unterlegte K!sten.
Diese dienen als ein – auch optisches –
Gliederungshilfsmittel f-r die unterschiedlichen Typen von Informationen (z.B. »Zusam-
XVIII
Vorwort
menfassung«, »Vertiefung«, »St$rungsbild«).
Diese Textbereiche k$nnen f-r sich, außerhalb des normalen Textflusses gelesen werden,
was jedoch nicht heißen soll, dass sie -bergangen werden sollten.
Am Ende des Buchs befindet sich ein Glossar.
Hier sind wichtige Begriffe noch einmal erl!utert.
Dies soll das schnelle Auffinden der Definitionen
von Schl-sselbegriffen erleichtern. Auf diese Glossarbegriffe wird im Text immer dort, wo es inhaltlich angezeigt erschien, verwiesen. Des weiteren
sind die zahlreichen Abbildungen -bersichtlich in
einem Verzeichnis im Anhang aufgef-hrt.
Dieses Buch ist unter Mithilfe zahlreicher Personen entstanden, denen ich an dieser Stelle danken m$chte. Frau Dipl.-Psych. Anja Weber hat
wichtige inhaltliche Beitr!ge zu einzelnen Kapiteln geleistet. Bei der Erstellung der Grafiken haben mitgewirkt: Frau Lisa H!mmel, Frau Pamela
Prechtl und Frau Christa Lorenz. Frau Lorenz hat
mich dar-ber hinaus tatkr!ftig bei der Literaturrecherche unterst-tzt. Im Zusammenhang mit
der Erstellung des Glossars und des Abbildungsverzeichnisses halfen mir Frau Julia K$nig und
Frau Kathrin Holler. Seitens des Verlags BeltzPVU haben zum Gelingen des Buchs beigetragen
Frau Dr. Heike Berger, Frau Dipl.-Psych. Daniele
Sch!fer, Frau Monika Radecki und Frau Uta Euler.
Rainer Schandry
M-nchen im Januar 2003
Stress
17
Stress
17
Stress ist ein Prozess, der aus drei Komponenten
besteht:
(1) einer Interaktion des Individuums mit seinem Reizumfeld, die durch Anforderungscharakter gekennzeichnet ist;
(2) einem oder mehreren Bew'ltigungsversuchen
im Umgang mit dieser Situation;
(3) einer Auslenkung aus der Balance k*rperlicher und psychischer Funktionen als Ergebnis dieser Anstrengungen des Individuums
(»Stress« im engeren Sinne).
Das Stress-Ph'nomen setzt sich also zusammen
aus einem Stimulus – dem Stressor, definiert 3ber
die Umwelt –, einem Element subjektiven Erlebens im Sinne eines Bew'ltigungsversuchs und einer Stress-Reaktion. Schließlich ist noch hinzuzuf3gen, dass die Stress-Reaktion wiederum oft
als eine – unangenehm erlebte – Befindlichkeitsver'nderung wahrgenommen wird und damit
selbst Stimulus-Charakter erh'lt. Stress wird in
dem Moment gesundheitsgef'hrdend, in dem die
Bew'ltigungsversuche erfolglos bleiben und der
Zustand psychophysischer Imbalance 3ber einen
l'ngeren Zeitraum herrscht.
Physiologische Stressreaktion. Die physiologischen Reaktionen bei Stress sind aus evolution'rer Perspektive gesehen, sinnvolle Reaktionen auf
Stressoren, die eine unmittelbare Bedrohung der
Unversehrtheit eines Organismus darstellen. Diese Bedrohungen kamen bei unseren tierischen
und sehr fr3hen menschlichen Vorfahren vor allem als »Fressfeinde« vor. In der Auseinandersetzung mit Feinden kann man einerseits fliehen,
man kann aber auch versuchen, sie durch Kampf
zu 3berw'ltigen. Schon zu Beginn der Stressforschung wurde daher die sog. »fight-flightreaction« (Kampf-Flucht-Reaktion) als weitgehend deckungsgleich mit der physiologischen
Stressreaktion angesehen. Sowohl der Begriff der
Kampf-Flucht-Reaktion als auch die Verwendung
des Wortes Stress im Zusammenhang mit psychophysischen Belastungen wurde von Walter B.
Cannon (s. Kap. 7.2) in den dreißiger Jahren des
20. Jahrhunderts eingef3hrt.
Der moderne Stressbegriff geht aber nicht prim'r von derart extremen oder außergew*hnlichen Belastungen aus, sondern man spricht bei
jeder Art von Belastung, die den Organismus zu
einer Anpassungsleistung zwingt, von einer
»Stressbelastung«. Unter solche Anforderungssituationen fallen z.B. auch Nahrungsmangel,
starke Temperaturschwankungen, Zwang zu Entscheidungen bei Unsicherheit, Arbeiten unter
Zeitdruck oder emotionale Belastungen ohne Bew'ltigungsm*glichkeiten.
Wie geht nun ein biologischer Organismus,
dessen Evolution nicht so schnell verlaufen ist,
dass sich seine genetische Ausstattung den kulturellen bzw. zivilisatorischen Anforderungen bereits anpassen konnte, mit den Stressoren unserer
Zivilisation um? Die »nat3rliche« (physiologische) Stressreaktion, die f3r besondere akute Anforderungen an den Organismus vorgesehen ist,
ist hier inad'quat. Offenes Kampf-Flucht-Verhalten ist im Regelfall unangemessen. Dennoch
kommt es zu Aktivierungsanstiegen in vielen Organsystemen.
!
Der Komplex »Stress« setzt sich zusammen
aus
P einem Stimulus (Stressor)
P einer Erlebenskomponente, die meist in eine
Bew'ltigungshandlung m3ndet
P einer Auslenkung aus dem optimalen, im
Gleichgewicht befindlichen k*rperlichen
Funktionsniveau.
17 Stress
333
17.1 Die Stressreaktion
17
Stress
Die Evolution hat solche Spezies 3berleben lassen,
die sich den naturgegebenen Anforderungen anpassen konnten. Die Stressreaktion ist eine auf
viele Stressoren generalisierte Anpassungsreaktion, bei der endokrine und neuronale Reaktionen in koordinierter Weise ablaufen. Durch diese
Abstimmung kann der Stoffwechsel, das Verhalten und auch das Immunsystem eines Organismus angemessen auf die gestellten Anforderungen
reagieren.
Historische Befunde. Die Idee einer generalisierten Stressreaktion auf sehr unterschiedliche Stressoren geht auf Hans Selye zur3ck, der als Begr3nder der modernen Stressforschung gilt. Er fand
in einer langen Reihe von Tierexperimenten in
der Zeit von 1950 bis 1970 relativ 3bereinstimmende (patho-)physiologische Reaktionen
(s.u.) auf verschiedene Stressoren – Temperaturschwankungen, Immobilisierung und soziale
Stressoren. Aufgrund dessen formulierte er die
These, dass die Stressreaktion eine unspezifische,
hinsichtlich der Ausl*sereize aber einheitliche Reaktion sei.
In ihrer strengen Form ist Selyes These einer
generalisierten Stressreaktion heute nicht mehr
haltbar. Auf der Basis sehr sorgf'ltiger neuerer
Untersuchungen hat man davon auszugehen, dass
unterschiedliche Stressoren keineswegs immer zu
identischen Reaktionen f3hren m3ssen. Ebenso
hat sich gezeigt, dass auch interindividuell bei
gleichen Stressoren unterschiedliche Reaktionen
auftreten k*nnen.
17.1.1 Beobachtungen zu Stressfolgen
im Tierreich
Die Stressreaktion 'ußert sich 3ber die verschiedenen Arten hinweg in vergleichbaren Verhaltensmustern, die im Rahmen einer nat3rlichen Bedrohung sinnvolle Anpassungen darstellen. Im
nat3rlichen Umfeld werden Tiere vor typische
Herausforderungen gestellt: Innerhalb der eigenen Gruppe m3ssen Rangordnungen geschaffen
und nach außen das Territorium verteidigt werden. Es muss Nachwuchs gezeugt und aufgezogen, d.h. vor allem ern'hrt und verteidigt werden,
weshalb zumindest zeitweise eine Paarbeziehung
aufgebaut werden muss. Außerdem sind Anpassungen an wechselnde Umweltbedingungen zu
leisten und es kann die Eroberung eines neuen
FORSCHERPERS,NLICHKEIT
Hans Selye wurde 1907 in Wien geboren. Er studierte Medizin und Philosophie an den Universit'ten Prag, Paris und Rom. Im Jahr 1932 nahm
er seine T'tigkeit an der McGill-Universit't in
Montreal (Kanada) auf. Er gr3ndete das International Institute of Stress (University of Montreal). Hier f3hrt er bis zu seinem Tode seine
bahnbrechenden Arbeiten zum Thema Stress
durch.
Er entdeckte, dass bei Labortieren eine F3lle von
Stressoren (Giftstoffe, Verletzungen, ung3nstige
Umweltbedingungen, soziale Belastungen)
schwerwiegende k*rperliche Ver'nderungen
hervorriefen. Dazu geh*rten Schrumpfung der
Thymusdr3se und Magengeschw3re. Viele Tiere
starben an den Folgen dieser Belastungen. Er
334
17 Stress
nannte das Syndrom stressbedingter k*rperlicher Ver'nderung »General Adaptation Syndrome« (GAS). Selye 3bertrug diese Ergebnisse
auf den Menschen, wobei er vor allem auf die
sch'dlichen Begleiterscheinungen einer Imbalance im hormonellen System aufmerksam
machte.
Es ist das Verdienst Selyes, dass der Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen und somatischen Krankheiten eine wissenschaftliche
Fundierung fand und von einer breiteren Hffentlichkeit beachtet wurde. In seiner 50j'hrigen
Laufbahn als Stressforscher schrieb Selye 33 B3cher, die in mehrere Sprachen 3bersetzt wurden.
Außerdem verfasste er 3ber 1500 Zeitschriftenartikel. Er starb 1982 in Montreal.
wie Stressmanagementtraining oder kognitive
Umstrukturierung. Insbesondere eine chronische
Stressbelastung – verbunden mit fehlenden Bew'ltigungsm*glichkeiten – setzt beim Menschen
ebenso wie im Tierreich physische Reaktionen in
Gang, die den betreffenden Organismus noch
mehr schw'chen.
Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit. Die Verhaltensbeobachtung bei Tieren kann wichtige
Anregungen zur Erkl'rung f3r menschliche
Adaptationsmechanismen liefern. Dies zeigt das
Beispiel eines zentralen Konzepts der Depressionsforschung. Die »Theorie der erlernten Hilflosigkeit« nach M. Seligman (1975) bildet eine
theoretische Verkn3pfung von Stress, Angst und
Depression. Seligman beobachtete, dass Hunde,
die einem aversiven Reiz ausgesetzt wurden, unterschiedliche Verhaltensweisen zeigten, je nachdem, ob sie Einfluss auf den Reiz nehmen konnten oder nicht. Wurden die Hunde durch einen
Ton akustisch vor einem Elektroschock gewarnt,
so dass sie durch Sprung in einen anderen Bereich des K'figs dem aversiven Stimulus ausweichen konnten, blieb ihr weiteres Verhalten normal. Tiere, die dagegen unsystematisch und ohne
Vorwarnung Elektroschocks erhielten und keine
Gelegenheit zur Flucht hatten, zeigten zunehmend passives Verhalten. Sie kauerten sich zusammen und unternahmen – selbst wenn sich
ihnen sp'ter die Gelegenheit bot – kaum noch
Anstrengungen, den Schocks zu entfliehen. Sie
verhielten sich auch 3beraus schreckhaft. Dieses
Benehmen ist einem depressiven Verhaltensmuster 'hnlich, das auch durch Passivit't und Antriebslosigkeit gekennzeichnet ist. Nach Seligmans Theorie k*nnte also eine Depression durch
die Erfahrung von Kontrollverlust und Hilflosigkeit ausgel*st werden. Obwohl dies nur einen
Teilaspekt des Zusammenhangs zwischen Depression und Stress betrifft (Weiteres zur Depression s. Kap. 21.1.4), hat dieses Konzept sowohl
die Stressforschung als auch verhaltenstherapeutische Behandlungsans'tze bei der Depression
angeregt.
17.1 Die Stressreaktion
17
Stress
Territoriums erforderlich werden. Einige dieser
Anforderungen erfordern eine schnelle Reaktion
auf sich pl*tzlich 'ndernde Situationen. Insbesondere f3r diese Situation enth'lt die Stressreaktion bestimmte Elemente, die rasch und automatisiert ausgel*st werden. Dazu geh*ren auch
bestimmte Emotionen.
Stresstypische Emotionen. Angst ist die wichtigste Emotion im Zusammenhang mit dem Einwirken von Stressoren. Bei Tieren 'ußert sie sich
h'ufig im sog. »freezing« (Erstarren). Auch Aggressivit't tritt h'ufig auf – besonders bei sozialen
Stressoren. Sie kann sich z.B. als Drohgeb'rde vor
oder w'hrend eines Kampfes zeigen. W'hrend
dieser Vorg'nge im Zuge einer Kampf- oder
Fluchtreaktion werden zwei andere prinzipiell f3r
das Jberleben wesentliche Verhaltenskomponenten zur3ckgestellt: Die Nahrungsaufnahme und
das reproduktive Verhalten.
Dauerstress und seine Folgen. Von besonderer
Bedeutung sind die langfristigen Folgen anhaltender Stressbelastung. So scheint bei bestimmten
Arten ihre Populationsdichte nicht nur durch die
stressbedingte Reduzierung des Reproduktionsverhaltens verringert zu werden, sondern sogar
durch den stressbedingten Tod hierarchisch niedriger Tiere. Insgesamt scheint bei einem durch
Stress chronisch aktivierten Organismus das Aggressionsverhalten zu sinken, wodurch eine stabile Rangordnung erm*glicht wird. Bei einigen
Tierspezies zeigt sich nach wiederholtem Misserfolg im Kampf um die Rangordnung eine drastische Reaktion: Der K*rper scheint gleichsam
seine Reserven zu verbrauchen, die Tiere magern
ab, werden schw'cher und das Immunsystem
bricht zusammen. Dies kann zum Tod dieser Tiere f3hren.
Auch beim Menschen werden typische Stressreaktionen, einerseits gekennzeichnet durch aggressives Verhalten (Kampf), andererseits aber
auch durch R3ckzug (Flucht), beobachtet. Viele
dieser Reaktionen werden innerhalb k3rzester
Zeit aktiviert, was auf automatisierte Prozesse
hinweist. Sollen diese im Zuge einer Verhaltensmodifikation ver'ndert werden, erfordert das
meist langwierige therapeutische Interventionen
335
17.1.2 Die Physiologie der Stressreaktion
Stressreaktion und
sympathisches Nervensystem
Sympathikus (vgl. Kap. 7.2.1) und Parasympathikus sind die beiden Hauptbestandteile des peripheren vegetativen
(autonomen) Nervensystems. Der Sympathikus steuert prim'r Aktivierungsvorg'nge, wie sie f3r die Kampf- oder
Flucht-Reaktion n*tig ist, (s. Abb. 17.1),
der Parasympathikus ist dagegen in Zust'nden der Ruhe und der Erholung besonders aktiv, also dann, wenn regenerative Prozesse ablaufen.
Der Sympathikus sorgt bei einer
Lnderung des inneren oder 'ußeren
Milieus – z.B. aufgrund einer Temperatur'nderung, bei Blutverlust oder der
Angst w'hrend eines Kampfes – u.a.
f3r eine Aktivierung des Herzens, f3r
die Weitstellung der Bronchien und
f3r Ver'nderung im peripheren Gef'ßsystem. Der Transport des Blutes mit
seinen Inhaltsstoffen zu den Muskeln
der Arbeitsmuskulatur wird gef*rdert.
Auch die Haarbalgmuskeln und die
Augenmuskeln werden aktiviert. Die
zu Berge stehenden Haare und geweiteten Augen lassen ein erschrecktes Individuum deutlich erkennen.
Adrenalin und Noradrenalin. Von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit der sympathisch vermittelten
Stressreaktion ist die Aussch3ttung
von Õ Adrenalin und Õ Noradrenalin
336
17 Stress
St
re
ss
or
17
Stress
Das innerorganismische Netzwerk zur Steuerung
der verschiedenen Komponenten einer Stressreaktion verf3gt 3ber ein System, das die Abstimmung
der einzelnen Regelstufen erm*glicht. Dies ist die
Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenrindenAchse (auch Õ HPA-Achse: engl. hypothalamuspituitary-adrenocortical axis). Sie steht in enger
Verbindung sowohl zum hormonellen System als
auch zum sympathischen Nervensystem.
aus dem Nebennierenmark in den Blutstrom (s.
Kap. 8.5.4.). Diese beiden Hormone wirken an
vielen inneren Organen funktionssteigernd. So
wird z.B. die Herzarbeit intensiviert und der Blutdruck erh*ht. Adrenalin f*rdert dar3ber hinaus
durch Eingriff in den Glucose-Stoffwechsel die
Freisetzung energieliefernder Substanzen. Noradrenalin wirkt zugleich als ein Neurotransmitter
im Gehirn. Es wird davon ausgegangen, dass einige der psychischen Komponenten der Stressreaktion von noradrenergen Neuronen vermittelt werden. Zumindest ist (aus dem Tierexperiment)
bekannt, dass beim Einwirken verschiedener
Stressoren die Aussch3ttung von Noradrenalin
Neokortex
Limbisches System
Hypothalamus
CRH/ADH
Sympathisches
Nervensystem
Hypophyse
ACTH
Nebennierenrinde
Nebennierenmark
Cortisol
Adrenalin
Noradrenalin
Abbildung 17.1 Die zwei Systeme der Stressreaktion. Die Abbildung
zeigt das Zusammenspiel der HPA-Achse (links) und des sympathischen Nervensystems (rechts) bei der Stressreaktion. CRH = Corticotropin-Releasing-Hormone, ADH = Antidiuretisches Hormon, ACTH
= Adrenocorticotropes Hormon. Die Arbeit der HPA-Achse wird
durch zahlreiche Feedback-Schleifen sehr eng reguliert (unterbrochene
Linien). So besitzen v.a. die Hypophyse und der Hypothalamus Chemosensoren zur Registrierung der im Blut vorhandenen Konzentrationen verschiedener Hormone
Die HPA-Achse
F3r die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse hat sich auch im Deutschen
weithin die Bezeichnung »HPA-Achse« eingeb3rgert. Dies steht f3r Hypothalamus-Pituitary
gland-Adrenal cortex.
Das Zusammenspiel des unter Stress aktivierten Regelkreises von Hypothalamus, Hypophyse
und Nebennierenrinde dient insbesondere zur
Sekretionsregulation der Õ Glucocorticoide. Der
wichtigste Vertreter der Glucocorticoide beim
Menschen ist das Õ Cortisol.
Funktion der Glucocorticoide. Die Glucocorticoide werden sowohl f3r basale Regulationsmechanismen – z.B. die morgendliche Aktivierung nach dem Aufwachen – als auch bei Stress
zur Stabilisierung der Hom*ostase ben*tigt. Die
Glucocorticoid-Sekretion folgt einerseits einem
circadianen Rhythmus, andererseits als schneller
Anpassungsvorgang auf Stressoren. Dar3ber hinaus sind sie ein wichtiges Bindeglied zwischen
der HPA-Achse mit dem Immunsystem (s.u.).
Auch im Gehirn, das von den fettl*slichen Glucocorticoiden 3ber die Blut-Hirn-Schranke erreicht
werden kann, haben sie Wirkungen, etwa im Zusammenhang mit Lernen und Ged'chtnis.
Schnittstelle Hypothalamus. Der Hypothalamus
ist mit 3ber- und untergeordneten Bereichen des
ZNS efferent und afferent verschaltet. Er erh'lt
sowohl Informationen 3ber den sensorischen Input als auch 3ber Eingeweide-Vorg'nge. Auf der
Basis der Informationen 3ber den Zustand des inneren Milieus, wie Temperatur, Ionenhaushalt
oder Hormonkonzentrationen im Blut, kann er
seine Funktion als oberstes Integrationsorgan vegetativer Funktionen aus3ben. Er ist u.a. f3r die
Anpassung von Atmung, Kreislauf, Fl3ssigkeitsund Nahrungsaufnahme, K*rpertemperatur und
Reproduktionsverhalten verantwortlich. Hypo-
thalamische Efferenzen verlaufen auf neuronalem
Wege zu Neuronen des sympathischen und parasympathischen Nervensystems und zum Õ Hypophysen-Hinterlappen (Neurohypophyse), auf
hormonalem Weg vermittels neurosekretorischer
Neuronen zum Hypophysenvorderlappen. Der
Hypothalamus bildet also eine wichtige Schnittstelle zwischen neuronalem und endokrinem System.
Hormonelle Umsetzung in der Hypophyse. Die
Hypophyse ist das hormonelle Ausf3hrungsorgan
des Hypothalamus. Durch die Freisetzung des
Corticotropin-Releasing-Hormons (Õ CRH) in
den hypophys'ren Portalkreislauf der Adenohypophyse reguliert der Hypothalamus die
Aussch3ttung des Adrenocorticotropen Hormons
ACTH aus dem Hypophysen-Vorderlappen. (Die
ACTH-Sekretion wird auch in geringerem Maße
durch ADH und Noradrenalin beeinflusst.)
Wirkungen an der Nebennierenrinde. An der
Nebennierenrinde l*st ACTH vor allem die Sekretion von Glucocorticoiden aus. Diese werden in
der mittleren der drei Schichten der Nebennierenrinde, der Zona fasciculata, gebildet, w'hrend die
innere Schicht (Zona reticularis) haupts'chlich
Androgene (s. Kap. 18.5.5) und die 'ußere
Schicht (Zona glomerulosa) vor allem Mineralokortikoide produziert. (Die Mineralokortikoide
17
Stress
z.B. im Bereich des Õ Hypothalamus und des
Frontalkortex ansteigt. Ebenso d3rften die Zellk*rper noradrenerger Neuronen im Hirnstamm
zahlreiche Zufl3sse von der Õ Amygdala erhalten.
Letztere gilt als das wichtigste Gehirngebiet f3r
die Entstehung von Angstreaktionen.
VERTIEFUNG
Bedeutung des Hippocampus
Der HPA-Achse ist u.a. der Õ Hippocampus
als Teil des limbischen Systems vorgeschaltet.
Der Hippocampus ist bei S'ugetieren eine
Sammelstelle f3r sensorische Eing'nge optischer, akustischer, olfaktorischer und viszeraler
Information. Als Bestandteil des limbischen
Systems ist der Hippocampus auch beim Zustandekommen von Aggression, Affektverhalten, Bewusstsein und Motivation beteiligt.
Durch seine Verbindungen mit dem Hypothalamus, den Septum-Kernen und dem Gyrus
cinguli beeinflusst er neben dem emotionalen
auch das viszerale und endokrine Geschehen.
17.1 Die Stressreaktion
337
17
Stress
– Hauptvertreter ist das Aldosteron – spielen z.B.
eine wichtige Rolle in der Regulation des Wasserhaushalts durch die Niere.)
Die Feinabstimmung der HPA-Achse geschieht
durch mehrere negative R3ckkopplungsmechanismen auf nahezu allen Ebenen des Systems (s.
Abb. 17.1).
Funktionen der Glucocorticoide
Glucocorticoide – vor allem Cortisol – erf3llen eine Reihe wichtiger Funktionen im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der Hom*ostase.
Im Zuge der Stressreaktion dient die Glucocorticoid-Aussch3ttung der Energiebereitstellung.
Jber vielf'ltige biochemische Reaktionsketten
kann dem K*rper durch die Glucocorticoid-Wirkung Õ Glucose zur Verf3gung gestellt werden.
Die Õ Gluconeogenese der Leber wird stimuliert,
Aminos'uren werden in Glucose umgewandelt,
wof3r Muskelproteine abgebaut werden. Dar3ber
hinaus wird die Muskelproteinsynthese gehemmt
und der Fettstoffwechsel wird beeinflusst. So werden Triglyzeride gespalten, wodurch sich der Fetts'urespiegel im Blut erh*ht. Die Glucoseaufnahme in Fettzellen wird reduziert und damit die
Fettsynthese gehemmt. Die Summe all dieser Einzelwirkungen besteht u.a. in einer Erh*hung des
Blutzuckerspiegels. Eine diabetogene Wirkung
der Glucocorticoide – z.B. bei st'ndiger Erh*hung des Cortisolspiegels – hat hier ihre Ursache.
Weitere Begleiterscheinungen eines chronisch
erh*hten Glucocorticoid-Spiegels k*nnen sein:
Bluthochdruck, Abbau von Muskelgewebe, Fertilit'tsst*rungen und Wachstumshemmung.
Beeinflussung von Immunsystem und Gehirn.
Eine weitere wichtige Funktion erf3llen die Glucocorticoide bei Entz3ndungsreaktionen, indem
sie Entz3ndungsprozesse hemmen und das Immunsystem supprimieren (= d'mpfen) k*nnen.
Sie scheinen jedoch an anderer Stelle des Immunsystems auch aktivierende Funktionen auszu3ben.
Im Gehirn k*nnen die Glucocorticoide direkte
Wirkungen ausl*sen. Hierf3r sind zwei Rezeptorsysteme verantwortlich: die Mineralocorticoid338
17 Stress
Rezeptoren und Glucocorticoid-Rezeptoren. Beide Rezeptoren scheinen differenzierte Funktionen
zu erf3llen, die sowohl f3r die positiven als auch
f3r die sch'dlichen Wirkungen der Glucocorticoide – und damit von Stress – im Gehirn verantwortlich sind. So modulieren sie
(1) Emotionen wie Angst und depressive Verstimmungen,
(2) kognitive Prozesse wie Lernen und Ged'chtnis.
Die Glucocorticoide scheinen im Bereich des
Õ Hippocampus eine auf Dauer sch'digende
Wirkung auszu3ben. Es konnte am Gehirn von
Nagetieren gezeigt werden, dass anhaltende
Stressbelastung (3ber mehrere Wochen) zu einem
Untergang hippocampaler Neuronen f3hrt. Es liegen auch einige Befunde am Menschen vor, die
auf eine sch'digende Wirkung der Glucocorticoide auf den menschlichen Hippocampus hinweisen: Zum einen zeigt sich bei Patienten mit dem
Õ Cushing Syndrom, das durch eine Jberproduktion von Glucocorticoiden gekennzeichnet ist,
eine Hippocampus-Atrophie. Diese ist umso
st'rker, je h*her die Glucocorticoid-Konzentration im Blut ist. Zum anderen fand sich bei Vietnamkriegs-Veteranen, die ein Posttraumatisches
Stresssyndrom (Posttraumatic Stress Disorder
PTSD) entwickelt hatten, eine sehr viel st'rkere
Hippocampus-Atrophie als bei denjenigen Kriegsveteranen ohne PTSD (vgl. Sapolsky, 1996).
ZUSAMMENFASSUNG
Glucocorticoide, deren wichtigster Vertreter
das Cortisol ist, erf3llen wichtige Funktionen
im Zusammenhang mit der Energiebereitstellung im Organismus. Sie wirken außerdem immunsuppressiv. Jber Rezeptoren im Gehirn
k*nnen sie einen Einfluss auf die emotionale
Befindlichkeit und kognitive Leistungen aus3ben.
Bei langanhaltender erh*hter GlucocorticoidKonzentration kann es zu St*rungen einer
ganzen Reihe von Systemen kommen. Dazu
E
Das Corticotropin-Releasing-Hormon System
Das Corticotropin-Releasing-Hormon (Õ CRH)
l*st in der Hypophyse die ACTH-Sekretion aus,
die wiederum in der Nebennierenrinde die Glucocorticoid-Synthese in Gang setzt. Dar3ber hinaus hat CRH aber auch eigenst'ndige Wirkungen im ZNS, die f3r die Stressreaktion von großer
Bedeutung sind.
Im Tierversuch wurden die Wirkungen von
CRH-Injektionen in die Ventrikel des Gehirns
untersucht. Auf diese Weise konnten verschiedene Verhaltensauff'lligkeiten beobachtet werden,
die sonst auch in Anwesenheit von Stressoren
auftreten: reduzierte Nahrungsaufnahme, verminderte sexuelle Aktivit't, erh*hte Schreckhaftigkeit und Angst. Auch das Lernen und die Ged'chtnisleistung ver'ndern sich durch CRH.
Einzelne CRH-Gaben f*rderten die Lernleistung
im Experiment. Es gibt jedoch Hinweise darauf,
dass chronische Stressaktivierung und damit erh*hte CRH-Konzentrationen die Merkf'higkeit
verschlechtert. Dar3ber hinaus f3hren Ver'nderungen der CRH-Konzentration zu einer Destabilisierung des Schlaf-Wachzyklus und der
Schlaf-Phasen.
Zwei Typen von CRH-Rezeptoren. Bisher sind im
Gehirn zwei Typen von CRH-Rezeptoren identifiziert worden: der CRH1- und der CRH2a-Rezeptor. (Ein CRH2b-Rezeptor findet sich in der Peripherie.) Diese Rezeptoren scheinen f3r unterschiedliche Aufgaben zust'ndig zu sein. So ist der
CRH1- Rezeptor bei Angstverhalten, Lernen und
Ged'chtnis beteiligt, w'hrend der CRH2a-Rezeptor bei der Nahrungsaufnahme und Gewichtsregulation eine Rolle spielt. Die aktuelle CRH-Rezeptorendichte in unterschiedlichen Hirnarealen
hat also neben der CRH-Konzentration selbst eine wichtige Bedeutung f3r die Regulation der genannten Vorg'nge. Dar3ber hinaus kann die
wirksame CRH-Konzentration auch durch ein
Protein ver'ndert werden, das an CRH bindet
und es damit unwirksam macht.
17
Stress
geh*ren erh*hter Blutdruck, Zerst*rung muskul'ren und hippocampalen Gewebes, Unfruchtbarkeit, Wachstumshemmung, Hemmung von Immunreaktionen, Hemmung von
Entz3ndungsreaktionen und Diabetes.
ZUSAMMENFASSUNG
Das CRH-System ist nicht nur als Startpunkt
der HPA-Achse von zentraler Bedeutung f3r
die Regulation zahlreicher wichtiger K*rperfunktionen, sondern es spielt selbst eine entscheidende Rolle auch bei kognitiven und
emotionalen Prozessen. Demnach k*nnen Dysregulationen im Bereich des CRH-Systems und
nachgeschalter Funktionen auch an der Entstehung von St*rungen kognitiver und emotionaler Prozesse beteiligt sein.
17.2 Stress und Immunsystem
Eine F3lle von Untersuchungen an Mensch und
Tier belegen, dass Stressbelastungen einen (meist
negativen) Einfluss auf das Immunsystem aus3ben k*nnen. Dies scheint nicht nur f3r Stressoren aus der Umwelt zu gelten, sondern auch f3r
negative Emotionen und psychopathologische
Zust'nde. Jber die Aussch3ttung der Glucocorticoide, die einen Einfluss auf Immunfunktionen
haben, herrscht hier eine enge Verzahnung.
Neben dieser hormonellen Interaktion existieren auch nervale Verbindungen zwischen dem vegetativen Nervensystem und Organen des Immunsystems, n'mlich der Thymusdr3se und der
Milz. Ein Beleg f3r eine zellul're Basis der Interaktion zwischen Nervensystem und Immunsystem
ist die Tatsache, dass auf Zellen des Immunsystems, z.B. auf den Lymphozyten (s.u.), Rezeptoren
f3r Neurotransmitter gefunden wurden.
Zwei-Wege-Kommunikation. Ebenfalls empirisch abgesichert ist, dass auch die umgekehrte
Kommunikation existiert: Immunparameter k*nnen auch auf Gehirnfunktionen und damit auf
das Verhalten wirken. Es ließ sich beispielsweise
nachweisen, dass Produkte des Immunsystems,
z.B. Interferon und Interleukin, die Gehirnaktivit't beeinflussen. Auch zeigten erh*hte Antik*r-
17.2 Stress und Immunsystem
339
17
Stress
per-Konzentrationen Effekte auf die Entladungsraten hypothalamischer Neuronen. Auf der Basis
dieser und zahlreicher weiterer Untersuchungen
ist gesichert, dass die zellul're und biochemische
Ausgestaltung des Immunsystems sowie des Nervensystems eine Zwei-Wege-Kommunikation gestattet. Das Vorhandensein dieser Kommunikationswege bildet die organismische Grundlage f3r
einerseits die Entstehung k*rperlicher Krankheit
durch anhaltenden Stress, andererseits f3r die
(positiven oder negativen) Auswirkungen des somatischen Zustands auf kognitive und emotionale Prozesse.
Die Zusammenh'nge zwischen psychischen
Prozessen und dem Immunsystem untersucht
die Psychoneuroimmunologie. In umfangreichen
und systematisch angelegten tierexperimentellen
Versuchsreihen werden detailliert die einzelnen
bekannten Parameter der großen endokrinen und
neurochemischen Systeme manipuliert und die
Auswirkungen auf das Verhalten untersucht.
17.2.1 Immunabwehr
Die Aufgabe des Immunsystems besteht darin,
den K*rper vor Einfl3ssen durch sch'dliche Substanzen von außen zu sch3tzen. Hierzu z'hlen Parasiten oder Krankheitserreger wie Bakterien und
Viren, aber auch bestimmte chemische Stoffe.
Das Immunsystem muss also in der Lage sein,
zwischen »fremd« und »eigen« zu unterscheiden.
Daher handelt es sich bei diesem System um ein
hochkomplexes hierarchisch strukturiertes Gebilde mit zahlreichen f3r spezifische Aufgaben zust'ndigen Untereinheiten. Die einzelnen Bereiche
werden im Folgenden kurz dargestellt.
Zun'chst unterscheidet man grob die unspezifischen angeborenen Immunmechanismen von
den spezifischen, die im Laufe des Lebens erworben werden und sich gegen einzelne Erreger richten.
Unspezifische Immunabwehr
Zur unspezifischen Immunabwehr geh*ren – neben der Abwehr auf zellul'rer Basis – auch die
physikalischen und chemischen Barrieren der
340
17 Stress
Haut und Schleimh'ute, die den K*rper vor dem
Eindringen fremder Substanzen von außen sch3tzen. Auch die M*glichkeit, durch Fieber bereits
eingedrungene Mikroorganismen zu sch'digen,
ist Teil der unspezifischen Abwehr.
Zellul?re Abwehr. Der K*rper produziert verschiedene Zellen, die vollst'ndig im Dienste des
Abwehrsystems stehen. Hierzu z'hlen insbesondere die Makrophagen, große Fresszellen, die eingedrungene Erreger in sich aufnehmen und dort
abbauen k*nnen. Auch chemische Systeme wie
das sog. Komplementsystem, das in kaskadenartigen Reaktionsketten fremde Zellmembranen zerst*ren und dadurch diese Zellen aufl*sen kann,
geh*rt zur angeborenen Ausstattung des Organismus zum Schutz vor Eindringlingen. Daneben
beteiligen sich einige Substanzen wie Lysozym
und b-Lysin an der unspezifischen chemischen
Abwehr fremder Mikroorganismen. Õ Interferone tragen dagegen vor allem zur Zerst*rung virusinfizierter Zellen bei und hemmen die Virusreplikation.
MHC-Proteine erkennen »fremd« und »eigen«.
Die unspezifischen Abwehrmechanismen sind bereits in jedem Organismus angelegt. Woher weiß
nun das Immunsystem, welche Zellen es bek'mpfen soll und welche nicht? Die Antwort liegt in
bestimmten Proteinen, die fast jede Zelle auf ihrer
Oberfl'che tr'gt, den sog. MHC-Proteinen (Major Histocompatibility Complex). Diese Glycoproteine sind auch f3r die Abstoßungsreaktionen
bei Organtransplantationen verantwortlich. Das
Gen, das den Bauplan f3r diese MHC-Proteine
tr'gt – beim Menschen liegt es auf Chromosom 6
– zeigt eine extrem große Variabilit't, so dass nur
bei eineiigen Zwillingen identische MHC-Proteine vorhanden sind. Insbesondere das MHC-Klasse-1-Protein ist f3r die Erkennung der Zellen als
eigen oder fremd verantwortlich. Bei Organtransplantationen versucht man daher, eine m*glichst
große Jbereinstimmung zwischen dem Spenderund Empf'nger-MHC-Gen zu erreichen.
Die spezifische Immunabwehr
Die unspezifischen Abwehrmechanismen funktionieren im Regelfall auch bevor der Organismus
Rachenmandel
17
Stress
mit dem Erreger das erste Mal in Kontakt getreten
ist. Die spezifische Abwehr zeichnet sich dagegen
durch ein erworbenes »Ged'chtnis« gegen bestimmte Õ Antigene aus. Ein Antigen ist demnach eine Substanz, die eine spezifische Immunreaktion ausl*st. Wenn das Antigen bereits
einmal mit dem spezifischen Immunsystem in
Kontakt geraten ist, kann es ins »Ged'chtnis« der
Abwehr gelangen und beim zweiten Kontakt
schneller und wirksamer bek'mpft werden. Unsere Schutzimpfungen machen sich diese spezifische
Abwehr zunutze. Durch Kontakt mit weniger gef'hrlichen, aber f3r das Immunsystem gleich aussehenden Antigenen wird der Organismus auf
diese Krankheitserreger vorbereitet und kann sie
im Ernstfall schnell erkennen und bek'mpfen, bevor sie gr*ßeren Schaden anrichten.
Zellul?re und humorale Abwehr durch Lymphozyten. Die spezifische Abwehr wird in die zellul're und humorale Abwehr unterteilt. F3r beide
sind besondere immunkompetente Zellen, die
Lymphozyten verantwortlich. Die humorale Abwehr ist jener Teil des spezifischen Immunsystems, der durch im Plasma oder in anderen Fl3ssigkeiten des K*rpers vorhandene Antik*rper
(s.u.) vermittelt wird. Hier wird die Abwehr vor
allem von den sog. B-Lymphozyten 3bernommen.
Bei der zellul'ren Immunabwehr 3bernehmen
die T-Lymphozyten diese Aufgabe. Wie auch die
anderen Zellen des Immunsystems werden beide
Lymphozytenarten im Knochenmark gebildet.
Die T-Lymphozyten wandern jedoch von dort zun'chst in den Thymus (daher der Name), wo sie
einen Reifungsprozess durchmachen, bevor sie ihre Aktivit't im Rahmen des Immunsystems aufnehmen k*nnen. Das Knochenmark und der
Thymus werden daher als prim're lymphatische
Organe (s. Abb. 17.2) bezeichnet. Die gereiften
Lymphozyten warten in den sog. sekund'ren
lymphatischen Organen auf Antigene, die das
Ged'chtnis des Immunsystems aktivieren und eine spezifische Immunantwort ausl*sen. Diese
sekund'ren lymphatischen Organe sind die
Lymphknoten, die Milz, die Rachenmandeln, der
Blinddarm und die sog. Peyerschen Plaques im
Darm.
Gaumenmandel
Lymphknoten
Thymus
Lymphgefäße
Milz
Peyersche
Plaques
Knochenmark
Abbildung 17.2 Lymphatische Organe
Die zellul're Abwehr der T-Lymphozyten bek'mpft vor allem virusinfizierte, fremde oder tumor*s entartete Zellen. Eine spezielle Form der
T-Lymphozyten sind die sog. T-Helferzellen. Sie
helfen bei der Aktivierung der humoralen Immunit't durch die B-Lymphozyten. Letztere stellen
im Falle einer Immunreaktion sog. Õ Antik*rper
her, die sich an die fremde Zelle oder das Virus
binden und dadurch weitere unspezifische Immunmechanismen ausl*sen.
Eine dritte wichtige Klasse von immunkompetenten Zellen sind die sog. nat@rlichen KillerZellen (NK-Zellen). (Sie werden auch als NullZellen oder die »3. Population« bezeichnet, da sie
weder zu den lymphatischen Zellen noch zu den
Zellen der unspezifischen Abwehr z'hlen.) Ihre
17.2 Stress und Immunsystem
341
17
Stress
Aufgabe besteht vor allem in der Bek'mpfung
von virusinfizierten Zellen und Tumorzellen.
Diese k*nnen sie durch Anheftung an die Zelloberfl'che und Abgabe von zytolytischen (= zellaufl*senden) oder zytotoxischen Substanzen zerst*ren.
Zusammenwirken spezifischer und unspezifischer Abwehr. Bei einer Reaktion des K*rpers
aufgrund einer Infektion wirken sowohl unspezifische als auch spezifische Abwehrmechanismen
zusammen, wobei zahlreiche Interaktionen stattfinden. Die Aktivit't des Immunsystems wird
h'ufig am Vorhandensein und der Aktivit't bestimmter Komponenten des Immunsystems gemessen. Da die Aufgabenteilung zwischen diesen
Komponenten und ihr komplexes Zusammenspiel sehr genau geregelt ist, k*nnen aus der spezifischen Aktivit't einzelner Subsysteme h'ufig
R3ckschl3sse auf die Erreger geschlossen werden.
Bei dem Ausfall oder der Sch'digung eines Abwehrmechanismus resultieren spezifische Krankheitsbilder.
halb weniger Minuten einstellen. Es kommt im
Extremfall zum Kreislaufversagen mit Todesfolge.
Bei leichteren Formen betreffen die Symptome
eher die Haut, die Bronchien oder die Blutgef'ße.
Symptome und Ursachen der Allergie. Die typischen Allergiesymptome wie Hautr*tung und
-schwellung (z.B. bei Nesselsucht), vermehrte
Schleimabsonderung (Heuschnupfen) oder Jucken sind meist eine Folge der Freisetzung von
Õ Histamin und Õ Serotonin sowie der Bildung
von Õ Prostaglandinen. F3r die Entwicklung einer Allergie kommen zahlreiche Ursachen in Frage: Es kann eine genetische Veranlagung vorliegen, es k*nnen extreme Allergen-Expositionen
stattgefunden haben, die Durchl'ssigkeit der
Haut und der Schleimh'ute kann durch Infekte
erh*ht sein oder es kann eine Entgleisung der Immunabwehr infolge starker psychischer Belastung
vorliegen.
ZUSAMMENFASSUNG
17.2.2 Allergie
Unter einer Allergie versteht man eine Ver'nderung der spezifischen Reaktionsweise des Immunsystems gegen3ber einer k*rperfremden, eigentlich unsch'dlichen Substanz. Es bilden sich
Antik*rper, das Antigen wird damit zum Õ Allergen. Die ver'nderte Reaktion besteht in den allermeisten F'llen in einer Hypersensibilt't (Jberempfindlichkeitsreaktion).
Eine Allergie kann sich nach einem unbemerkt verlaufenden Erstkontakt 3ber Tage bis
Jahre hinweg entwickeln. Kommt es zu einem erneuten Kontakt, stellt sich die Antigen-Antik*rper-Reaktion ein. Es zeigen sich dann beim sog.
verz*gerten Typ Entz3ndungsreaktionen an den
allergisierten Organsystemen. Beim sog. Soforttyp kann es dagegen innerhalb von Sekunden
oder Minuten zu einer Jberreaktion kommen.
Eine besonders dramatische allergische Reaktion
vom Soforttyp ist der sog. anaphylaktische
Schock. Dieser kann sich z.B. nach einer Medikamenteninjektion oder einem Bienenstich inner-
342
17 Stress
Es herrscht eine enge Koppelung zwischen der
Stressreaktion und Immunprozessen. Dies wird
z.B. daran deutlich, dass auf Zellen des Immunsystems Rezeptoren f3r Neurotransmitter
gefunden wurden. Andererseits beeinflussen
Produkte des Immunsystems die Gehirnaktivit't.
Bei der Immunabwehr unterscheidet man (a)
die unspezifischen angeborenen Immunmechanismen unter Beteiligung der Makrophagen
und (b) die spezifischen Immunprozesse. Letztere werden im Laufe des Lebens erworben. Sie
sind 3ber die Lymphozyten vermittelt. Die
Lymphozyten werden in den lymphatischen
Organen des K*rpers gebildet.
Bei einer Allergie liegt eine Ver'nderung der
spezifischen Reaktionsf'higkeit des Immunsystems vor, die sich gegen eine k*rperfremde, eigentlich unsch'dliche Substanz richtet. Es bilden sich Antik*rper. In diesem Fall bezeichnet
man das Antigen als Allergen.
Der Einfluss psychischer Faktoren auf die Entstehung und Aufrechterhaltung organischer St*rungen bzw. Erkrankungen ist von jeher bekannt. Bereits in der Antike wusste man 3ber diese
Zusammenh'nge. Im 20. Jahrhundert entwickelte
sich eine eigenst'ndige medizinische Fachrichtung, die sich insbesondere mit derartigen St*rungen besch'ftigt: die Psychosomatik. Diese
Disziplin entstand aus der Erkenntnis, dass bestimmten Erkrankungen offenbar keine erkennbaren externen Ursachen wie etwa eine Infektion
o.'. zugrunde liegen. Dar3ber hinaus sprachen
viele Symptome dieser Erkrankungen auf psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen an. In
enger Beziehung zur psychoanalytischen Theorie
wurde das Krankheitsmodell der Psychosomatik
entwickelt. Dieses sieht die Ursache f3r die auftretenden organischen Symptome in erster Linie in
unbewussten psychischen Konflikten, die auch in
der Vergangenheit aufgetreten sein k*nnen. Ein
solcher Konflikt, der sich nach dieser Ansicht im
Symptom manifestiert, soll zudem eine Entsprechung im Symptom und damit eine L*sung erfahren. Der Therapeut hat nach diesem Ansatz
also die Aufgabe, die unbewussten Konflikte aufzudecken und dem Patienten psychotherapeutisch bei deren Bewusstmachung zu helfen. Es
konnten bisher kaum wissenschaftliche Nachweise f3r die Bedeutung dieses Konfliktmodells und
die Entwicklung charakteristischer Symptome gefunden werden.
Zun'chst wurden zahlreiche Erkrankungen,
f3r die kein externer Verursacher gefunden wurde, mit dem Stempel »psychosomatisch« oder
»psychisch bedingt« etikettiert und damit dem
T'tigkeitsfeld der Psychosomatik zugeordnet. F3r
einige dieser St*rungsbilder wurden mittlerweile
k*rperliche (Mit-)Ausl*ser gefunden, so dass sie
nach und nach aus der klassischen Psychosomatik
herausfielen.
Neben der klassischen psychosomatischen Medizin auf der Basis psychoanalytischer Konfliktmodelle wurde ein weiterer Ansatz entwickelt,
aufgrund dessen Erkrankungen mit m*glichen
psychogenetischen Faktoren empirisch und experimentell untersucht wurden. Dies ist die Verhaltensmedizin. Insbesondere die psychophysiologische Forschung konnte im Experiment zahlreiche
Effekte psychischer Faktoren – v.a. auch im Zuge
von Stressbelastungen – auf k*rperliche Parameter nachweisen. Hierunter fallen insbesondere
Herzkreislauf-Funktionen wie die Herzfrequenz
oder der Blutdruck, aber auch der Muskeltonus,
die Magens'ureproduktion und die Speichelsekretion. Man nimmt demnach an, dass Symptome mit Krankheitswert durch ver'nderte Aktivierung dieser Funktionen bedingt sein k*nnten.
Erkrankungen, f3r die ein solches Modell anwendbar ist, werden von vielen Autoren als psychophysiologische StArungen bezeichnet. Es sollen beispielhaft einige Krankheiten beleuchtet
werden, bei denen eine Mitverursachung durch
Stressbelastungen als sehr wahrscheinlich gilt.
17
Stress
17.3 Stressbezogene kArperliche
Erkrankungen
17.3.1 Koronare Herzkrankheit
Insbesondere das Herz-Kreislauf-System stand
bereits fr3h im Mittelpunkt des Interesses der
Verhaltensmedizin. Die Beobachtung, dass das
Auftreten von koronarer Herzkrankheit mit bestimmten Pers*nlichkeitseigenschaften der Patienten gekoppelt zu sein schien, gab Anlass f3r
intensive Forschung.
Die koronare Herzkrankheit manifestiert sich
in reduzierter Durchblutung bestimmter Bereiche
der Herzmuskulatur bis hin zum Herzinfarkt. Sie
z'hlt zu den h'ufigsten Todesursachen in der zivilisierten Welt. Es wurde in L'ngsschnittstudien
aus den 70er Jahren verschiedentlich beobachtet,
dass Personen, die ein erh*htes Risiko f3r koronare Herzkrankheit bzw. f3r Herzinfarkt haben,
besonders h'ufig ein starkes Konkurrenzverhalten, Kontrollbed3rfnis, Feindseligkeit und Ehrgeiz
zeigten. Dieses Verhaltensmuster kann z.B. mit einem standardisierten Interview identifiziert werden. Man nennt diese Kombination von Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen Typ-A-Verhalten.
Die gelasseneren, ausgeglicheneren Personen zeigen danach Typ-B-Verhalten. Auf der Basis neue-
17.3 Stressbezogene k*rperliche Erkrankungen
343
17
Stress
rer Studien konnten die Befunde weiter eingeengt
werden. Dabei stellte sich heraus, dass insbesondere die Merkmale »Feindseligkeit« und »Lrger«,
die ebenfalls bei Typ-A-Personen besonders ausgepr'gt sind, zu einer Risikoerh*hung f3r koronare Herzkrankheit beitragen.
17.3.2 Stress und Magengeschw@r
Eine zweite chronische Erkrankung, die – vor allem in der Vergangenheit – als typischerweise
stressinduziert angesehen wurde, ist das Magengeschw3r. So zeigte sich in verschiedenen, gut
kontrollierten Studien ein Zusammenhang zwischen Stressbelastung in den zur3ckliegenden Monaten und dem Auftreten von Magengeschw3ren.
In den 1990er Jahren stellte sich heraus, dass
ein großer Teil der Magengeschw3r-Patienten mit
dem Bakterium Helicobacter pylori infiziert ist
und dass eine antibakterielle Behandlung zu sehr
guten Heilungserfolgen f3hrt. Infolge dieser Ergebnisse trat der Faktor »Stress« im Zusammenhang mit der Entstehung von Magengeschw3ren
in den Hintergrund. Dennoch kann – auch aus
moderner Sicht – kein Zweifel daran bestehen,
dass anhaltende Stressbelastung entweder mittelbar – 3ber damit einhergehende ungesunde Verhaltensweisen – oder unmittelbar 3ber Beeinflussung der Immunfunktion einen Beitrag zur
Entstehung von Magengeschw3ren leistet. Eine
beispielhafte Darstellung des Zusammenspiels
von Stressbelastungen und sekund'r damit zusammenh'ngenden Faktoren bei der Entstehung
von Magengeschw3ren gibt Abb. 17.3 (Levenstein, 2000). Hier erkennt man, dass die Verhaltensbesonderheiten, die sich bei stressgeplagten
Stressoren
Geänderte
Physiologie
Geändertes
Verhalten
Rauchen
Alkohol
Schmerzmittel
Frühstück
Schlaf
Abwehrkraft der
Schleimhaut
Blutfluss
Säure
Sekretion?
Säuregehalt im
Zwölffingerdarm
Magenbewegungen
Immunsystem
Helicobacter
Pylori
ZwölffingerdarmGeschwür
Abbildung 17.3 Modell der Magengeschw3r-Entstehung. In diesem Modell wird einerseits eine Beteiligung des Bakteriums Helicobacter pylori ber3cksichtigt, andererseits werden auch Stressfolgen auf der Ebene des Verhaltens integriert.
Nach oben gerichtete Pfeile bedeuten eine Zunahme der entsprechenden Aktivit't, nach unten gerichtete eine Abnahme
(nach Levenstein, 2000, S. 179)
344
17 Stress
17.3.3 Stress und Bluthochdruck
Auch der Bluthochdruck (essentielle Hypertonie)
gilt als eine Erkrankung, zu deren Entstehung der
Faktor Stress beitr'gt. Dies wird u.a. dadurch nahegelegt, dass Stressoren im Regelfall eine Blutdrucksteigerung ausl*sen. Die unbewiesene aber
plausibel erscheinende Annahme ist, dass st'ndig
wiederkehrende, stressbedingte Blutdruckerh*hungen schließlich zu einer Chronifizierung des
hohen Blutdrucks f3hren k*nnten. Schl3ssig belegt werden k*nnte diese Annahme nur durch
groß angelegte L'ngsschnitt-Studien, die allerdings noch ausstehen. In j3ngster Zeit mehrt sich
die empirische Evidenz, dass ein wichtiger Faktor
bei der Entstehung des Bluthochdrucks eine bestimmte Komponente des Stress-Erlebens ist,
n'mlich der sog. »Negative Affekt«. Dies ist ein
psychologisches Konstrukt, das sich in erster Linie
aus Depressivit't, Angst und Anspannung zusammensetzt. Es l'sst sich mit diesbez3glichen Frageb*gen leicht erfassen. So konnte in einer 13j'h-
rigen prospektiven Studie gezeigt werden, dass
die Personen, die zu einem ersten Messzeitpunkt
(mit normalem Blutdruck) erh*hte Werte im
Merkmal »Negativer Affekt« aufwiesen, in den
folgenden Jahren eine deutlich erh*hte Inzidenz
des Bluthochdrucks aufwiesen. Bei M'nnern war
sie um den Faktor 1,6 erh*ht, bei Frauen um den
Faktor 2. Eine These zur Erkl'rung dieses Befunds
besagt, dass erh*hte Plasma-Adrenalin- und Noradrenalinspiegel, wie sie typischerweise bei Angst
und Depression vorliegen, durch ihre Wirkung
auf Herz und Gef'ße langfristig eine Hypertonie
bewirken (s. Jonas & Lando, 2000).
»Auswahl« von Symptomen. Die individuelle
Neigung zur Entwicklung eines bestimmten
psychosomatischen Symptoms wie z.B. Herzbeschwerden, hat ihre Ursache oft auch in k*rperlichen Faktoren. Hierunter fallen insbesondere
genetische Pr'dispositionen, die zu einer Organschw'che f3hren. Auch k*nnen fr3h erlernte k*rperliche Reaktionen auf bestimmte Reize wie z.B.
Stressoren eine Rolle spielen. Ein Organismus
kann aufgrund seiner fr3heren Erfahrung die Neigung, mit einer bestimmten Krankheit auf Belastungen zu reagieren, durchaus stabilisieren. Dies
ist vergleichbar den Mechanismen, wie wir sie f3r
den Erwerb psychischer Verhaltensmuster kennen.
17
Stress
Personen einstellen k*nnen, schließlich einen
durchaus relevanten Beitrag zum Risiko f3r Geschw3re v.a. im Bereich des Zw*lffingerdarms
leisten k*nnen.
ZUSAMMENFASSUNG
Die Stressforschung belegt immer deutlicher,
dass Zusammenh'nge zwischen psychischen Faktoren und Krankheitsentstehung und -aufrechterhaltung bestehen. Daher sollte die strikte Trennung zwischen psychischen und k*rperlichen
Ursachen von Krankheit aufgegeben werden. Das
Immunsystem und das endokrine System k*nnen durch psychische Faktoren in betr'chtlichem
Ausmaß beeinflusst werden, aber umgekehrt haben auch psychische St*rungen oft eine organische (neurochemische) Entsprechung.
Die Psychosomatik sieht die Ursache f3r organische Symptome in unbewussten psychischen
Konflikten, die auch in der Vergangenheit liegen
k*nnen. Ein solcher Konflikt manifestiert sich
in einem bestimmten k*rperlichen Symptom.
In der Verhaltensmedizin werden Dysfunktionen
als Folge der generell engen Verzahnung zwischen psychischen und physiologischen
Prozessen verstanden. Diese f3hrt bei extremen
psychischen Belastungen auch zu extremen k*rperlichen Reaktionen, die chronifizieren k*nnen.
Die koronare Herzkrankheit tritt geh'uft bei
Personen auf, bei denen die psychischen Merkmale »Feindseligkeit« und »Lrger« besonders
ausgepr'gt sind. Auch beim Magengeschw3r ist
davon auszugehen, dass der Faktor Stress –
wenn auch sekund'r – eine pathogenetische Relevanz besitzt. Der Bluthochdruck scheint speziell bei Personen, bei denen negative Affektivit't als Pers*nlichkeitsmerkmal von Bedeutung
ist, geh'uft aufzutreten.
17.3 Stressbezogene k*rperliche Erkrankungen
345
17
Stress
17.4 Stress und psychische
StArungen
Aus zahlreichen experimentellen Untersuchungen
weiß man, dass alle großen Transmittersysteme –
das serotonerge, das noradrenerge, das dopaminerge und das cholinerge System – mit der HPAAchse (s.o.) interagieren. Umgekehrt werden die
Rezeptordichte und die Transmitteraussch3ttung
offensichtlich durch einzelne Komponenten der
HPA-Achse – insbesondere die Glucocorticoide
und CRH – beeinflusst.
Depression. Im Mittelpunkt des Interesses der
psychiatrischen Forschung steht seit einigen Jahren das Krankheitsbild der Major Depression (s.
Kap. 21.14). Man beobachtete, dass viele depressive Patienten eine gesteigerte HPA-Aktivit't
zeigten, was insbesondere durch erh*hte CortisolSpiegel gekennzeichnet ist. Bei einigen Antidepressiva normalisierte sich dieser Zustand bei gleichzeitigem Einsetzen einer klinischen Besserung der
depressiven Symptome. Zur Zeit wird untersucht,
inwieweit eine angestiegene HPA-Aktivit't – z.B.
durch lang anhaltende oder besonders schwere,
belastende Lebensereignisse – auch depressionsausl*send sein kann. Klassische psychologische
Theorien von der Entstehung einer Depression
durch kritische Lebensereignisse fanden so auf der
Basis der Neurochemie Unterst3tzung.
Posttraumatische BelastungsstArung. Die Posttraumatische Belastungsst*rung weist 'hnliche
Ver'nderungen in der HPA-Achsen-Aktivit't wie
bei der Depression auf. Es handelt sich hierbei
um eine St*rung, die durch extreme Traumatisierung wie z.B. Folter oder Vergewaltigung
ausgel*st wird. Sie ist durch einschießende Erinnerungen (Flashbacks), Ged'chtnisl3cken oder
emotionale Ver'nderungen wie hohe Schreckhaftigkeit, depressive Verstimmung und emotionale
Verflachung gekennzeichnet. Es ist nahe liegend,
dass durch das Trauma eine extreme Aktivierung
des Stresssystems eintrat, die biochemische Ver'nderung im ZNS ausl*ste, welche sp'ter zu den
genannten Symptomen f3hrte.
Angst-, Ess-, Schlaf-, ZwangsstArungen und
Schizophrenie. Andere psychische St*rungen wie
346
17 Stress
die Angstst*rungen, Essst*rungen, Schlafst*rungen und die Zwangsst*rungen sowie die Schizophrenie werden zurzeit ebenfalls auf eine m*gliche Abh'ngigkeit vom Stresssystem untersucht.
Nicht zuletzt werden bekanntermaßen h'ufig
Episoden dieser Erkrankungen durch besondere
Stresssituationen ausgel*st.
Die HPA-Achse scheint einen zentralen Einfluss auf das biochemische Gleichgewicht unseres
K*rpers und Gehirns auszu3ben, das auf unterschiedliche Art und Weise durch Stress gest*rt
werden kann. Schließlich werden durch den Hypothalamus fast alle vegetativen Funktionen wie
z.B. Nahrungsaufnahme und Sexualit't kontrolliert und beeinflusst. Außerdem sind dem Hypothalamus Anteile des Limbischen Systems, die bei
Emotionen und kognitiven Prozessen wie Lernen
und Ged'chtnis beteiligt sind, vorgeschaltet. Sowohl auf der Ebene des Gehirns, als auch zwischen den zerebralen Strukturen einerseits und
dem Vegetativum und dem Immunsystem andererseits gibt es zahlreiche R3ckkopplungs- und
Steuerungsmechanismen. In dieser Verzahnung
liegt der Schl3ssel zur Erkl'rung von Entwicklung
und Aufrechterhaltung stressbedingter Krankheiten.
ZUSAMMENFASSUNG
Zu den psychischen Erkrankungen, bei denen
eine Mitverursachung durch Stressfaktoren anzunehmen ist, geh*ren die Major Depression,
die Posttraumatische Belastungsst*rung, bestimmte Angstst*rungen, verschiedene Essst*rungen, die Schlafst*rungen und m*glicherweise auch die Zwangsst*rungen sowie die
Schizophrenie.
Weiterf@hrende Literatur
Debus, G., Erdmann, G. u. Kallus, K. W. (1995)
Biopsychologie von Stress und emotionalen
Reaktionen. G*ttingen: Hogrefe.
Stanford, S. C. u. Salmon, P. (1993). Stress – From
synapse to syndrome. San Diego: Academic
Press.
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