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Vorlesung „Rhetorica“, Arno Dusini im Wintersemester 2008/09
1. Einheit
Durch das Heranziehen von Handbüchern der Rhetorik ist die Wirklichkeit des Sprechens niemals
in den Griff zu bekommen. Freud meint, das Sprechen sei ein dunkler Kontinent (vgl. z. B. den
Turmbau zu Babel); rhetorische Expeditionen haben so immer etwas von einer Reise ins Herz der
Finsternis.
Heinrich F. Plett plädierte dafür, die künftige Rhetorik solle metarhetorisch verfahren, d. h. kritisch
und skeptisch gegenüber allem Überlieferten und aufgeschlossen gegenüber allen Innovationen.
(Bei der Forderung nach einer Metarhetorik muss man sich aber fragen, ob dieses „meta“ im Sinne
von „über“ oder von „nach“ zu verstehen sei; wobei weiterzufragen sei, ob man in einer rhetorischen Situation gleich „über“ die Rhetorik hinausgehen kann.) Die Forderung Pletts kann jedoch
umgedreht werden – für eine Position die aufgeschlossen gegenüber allem Überlieferten ist und
skeptisch gegenüber allen Innovationen.
Das Zuhören
Zuhören heißt nicht, eine Sprache zu vernehmen. Zuhören meint vielmehr, diese Sprache gleichzeitig zu konstruieren. Hören ist (wie etwa Roland Barthes sagte) ein Aktivum, eine Tätigkeit, die mit
dem, was jemand spricht, umgeht. Wie bei einem Palimpsest, einem schon beschriebenen Papyrus,
das wiederverwendet werden soll und mit Bimsstein abgerieben wird, verschwindet die alte Schrift
niemals ganz bzw. ist eben das Ohr, das die Informationen lesbar machen soll, immer schon imprägniert.
In diesem Sinne ist der Vorgang des Sprechens weitaus komplexer, als es ein einfaches Sender-Botschaft-Empfänger-Modell suggeriert., das den Sender als aktiv, die Botschaft als unveränderlich und
den Empfänger als passiv, als eine Rekonstrukteurin konstruiert. Schon der Sender kann nie völlig
kontrollieren, was er eigentlich sagt.
Rabenweger und Kurz schrieben1 über Vorlesungsmitschriften. Diese seien Protokolle des Hörens.
Die Mitschriften gleichen abenteuerlichen Wegen – vor allem, wenn sie Stockungen enthalten. In
der Mitschrift wird das Hören lesbar.
Arno Dusini selbst hat sich in demselben Sammelband dem Hören in der Hegelschen Dialektik von
Herr und Knecht gewidmet. Das Hören ist dichotisch, es ist zwischen beiden Ohren immer leicht
versetzt, das Gehirn geht mit den Informationen, die von den beiden Ohren kommen, immer anders
1
In: „Vorlesung2“
um – so ist das Verhältnis vom einen zum anderen wie das von Hund und Herr. Der Hund ist dabei
immer abseitig. Sie gehen dieselbe Strecke, jedoch immer auf anderen Wegen.
Roland Barthes unterscheidet in einem Artikel2 drei Typen des Zuhörens:
1) Das Lebewesen richtet sein Hören auf Indizien; hier gibt es keinen Unterschied zwischen
Mensch und Tier. Dies gleicht dem Hören eines Alarms: Das „Undifferenzierte muss erkennbar und
unterschieden werden – dies wird durch das Hinhören unternommen.
2) Das Entziffern, das Erfassen von Zeichen. Hier befindet sich das menschliche „Ich höre zu, wie
ich lese, d.h. nach bestimmten Codes“.
„[Dieses zweite Hinhören] horcht nicht mehr auf das Mögliche, sondern auf das Geheimnis: was,
in der Wirklichkeit vergraben, nur über einen Code in das menschliche Bewusstsein dringen kann,
der zugleich zur Chiffrierung und Dechiffrierung dieser Wirklichkeit dient. Das Zuhören ist somit
[...] mit einer Hermeneutik verbunden: Zuhören heißt die Stellung einnehmen, in der das Dunkle,
Verschwommene oder Stumme dekodiert wird, um das 'Dahinter' des Sinns, was als verborgen erlebt, postuliert oder anvisiert wird, im Bewusstsein erscheinen zu lassen“.
3) Das dritte Zuhören
„wartet nicht auf bestimmte, klassifizierbare Zeichen: nicht darauf, was gesagt oder gesendet wird,
sondern wer spricht und wer sendet: Es soll sich in einem intersubjektiven Raum entfalten, in dem
'ich höre zu' auch heißt 'höre mir zu'; was es erfasst, um es zu verwandeln und endlos in das Spiel
der Übertragung einzubringen, ist eine allgemeine 'Signifikanz', die ohne die Bestimmung des Unbewussten nicht mehr denkbar ist. [...] Das Zuhören schließt heute nicht nur das Unbewusste, im
topischen Sinne des Wortes, in sein Feld ein, sondern sozusagen auch dessen weltliche Formen: das
Implizite, das Indirekte, das Zusätzliche, das Hinausgezögerte. Es gibt eine Öffnung des Zuhörens
auf alle Formen der Polysemie, der Überdeterminierung und der Überlagerungen, es gibt ein Abbröckeln des Gesetzes, das ein geradliniges, einmaliges Zuhören vorschreibt“3.
Wichtig ist nun, dass diese drei Formen des Zuhörens für Barthes nicht nur eine geschichtliche, eine
Nachfolgedimension haben, sondern dass er sie auch in einem Verhältnis der Simultanität denkt. So
kann, beispielsweise, schon das Nichtfunktionieren der Tonanlagen ein Alarm sein.
Barthes macht noch auf eine weitere, genuin geschichtliche Dimension des Hörens in seinen Kontexten aufmerksam:
„Es haben die durch den Hörakt bedingten Rollen nicht mehr dieselbe Starrheit wie früher; es gibt
nicht mehr auf der einen Seite den Sprechenden, der sich ausliefert und gesteht, und auf der anderen Seite den Zuörenden, Schweigenden, Urteilenden und Bestrafenden. Man muss es wiederholen,
das Zuhören spricht. Von hier aus zeichnet sich eine Bewegung ab: Die Orte des Sprechens sind
immer weniger durch die Institution geschützt. Die traditionellen Gesellschaften kannten zwei Orte
des Zuhörens, und zwar zwei entfremdete: das arrogante Zuhören des Ranghöheren und das servile
Zuhören des Untergebenen [...]; dieses Paradigma wird heute auf allerdings noch grobe und ungeeignete Weise angefochten. Man glaubt, zur Befreiung des Zuhörens brauche man nur selbst das
Wort zu ergreifen – wo doch ein freies Zuhören im wesentlichen ein Zuhören ist, das zirkuliert,
permutiert und durch seine Beweglichkeit das starre Netz der Sprechrollen auflöst: Eine freie Gesellschaft ist unvorstellbar, wenn man im Vorhinein akzeptiert, in ihr die alten Orte des Zuhörens
zu erhalten: die des Gläubigen, des Schülers und des Patienten.“4
Das Drama des Sprechens besteht darin, dass das, was man hört, was man hörend konstruiert, immer unter dem Einfluss der eigenen sprachlichen Biographie erfolgt.
2
3
4
Barthes: Zuhören. In: „Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn“
ebd. S. 262
ebd
Wenn Zuhören Sprechen heißt, wäre auch unser eigenes Sprechen eine zirkulierende Erzählung.
2. Einheit
Rhetorik und Raum
Es gibt viele Typen von Räumen: geometrische Räume, euklidische, architektonische, symbolische,
imaginäre...5 Für die Vorlesung ist vor allem der rhetorische Raum wichtig. Aus drei Gründen:
1) Auf das Sprechen stellt man sich ein, indem man sich den Raum vorstellt, wo man reden soll. Die
Rede wird also auf den Rederaum hin formatiert. Dies ist eine Sache der eigenen Sprachkompetenz.
So kommt es auch zu einer Irritation, wenn der erwartete Rederaum nicht den Vorstellungen entspricht. Die Rede bleibt auch in Bezug auf den Raum nicht gleich: je nach dem Raum, wo sie stattfindet, wird sie sich verändern.
Die Vorstellung des Raumes formatiert alle Rede schon im Vorhinein.
2) Es kann effizient sein, wenn der Raum der Rede zu ihrem Gegenstand wird; so wird nämlich in
Bezug auf die Zuhörer ein gemeinsamer Raum kenntlich gemacht. Alle teilen den Raum miteinander; auch die Geschichte des Raumes hinein, die die Rede aufladen kann (z. B. „In diesem Hohen
Hause...“, „Am Grab des Verstorbenen...“, Romeos Balkon...). Der Raum affiziert so die Rede thematisch.
3) In jedem Bericht über die Rede sind Hinweise auf den Raum. Es gibt keinen Raum, der dem
Sprechen gegenüber neutral wäre. Etwas ist immer „differant“ (anders verstehbar), je nachdem wo
man es ausspricht. Der Raum kann die Rede auch im Nachhinein verändern.
Mit diesen Präliminarien zeigt sich, dass aktives Sprechen nicht vorstellbar ist ohne den Ort, an
dem es geschieht. So hat auch jedes Wort seine spezifischen Orte und jeder Ort seine spezifischen
Worte. Das Wort ist vom Raum imprägniert. Der Raum kann bestimmen, was gesagt werden kann.
Er ist das Medium des Gesprächs. Nietzsche sagt, beim Schreiben schreibt das Schreibzeug am Gedanken mit6. Ebenso spricht der Raum in unserem Sprechen.
Praktisch stellt sich bei dieser Diversität der Räume die Frage, wie ich mit dem Raum meines Sprechens umgehen kann. Die Rede am Markt ist ja bestimmt anders als die Rede im Gefängnis. Es
zeigt sich, dass nicht nur der physikalische Raum wichtig ist: gesellschaftlich regulierte Sprechorte
drängen in die Rede. Beispiele dafür:
Bei Canetti: „Die Stimmen von Marrakesch“, wo aus der Sicht eines fremden Reisenden ein orientalischer Bazar geschildert wird (Bourdieu meint, die Soziologie ist immer auch Verhandlung der
Sprach- und Sprechmöglichkeiten des Individuums in einer Gesellschaft.)
Im Gefängnis: Mandelstern erfährt im Gefängnis vom Tod eines Freundes nur durch Hörensagen.
Im Hörsaal: Begegnung von Studierenden und Professorinnen. Mephistopheles etwa familiarisiert
5
6
In: Raumtheorie. Hrsg. v. Dünne/Günzel gibt es einen Überblick über die Raumtypen
In: Brief an Köselitz.
im Faust die Universität, spricht von einer Mutter-Kind-Beziehung, sexualisiert und ödipalisiert sie
damit.
Vier Thesen zum Raum:
1) Das Sprechen ist je nach Raum unterschiedlich reguliert. (Was wird in bestimmten Räumen auf
bestimmte Weise hörbar gemacht?)
2) Die Sätze der Rede selbst dringen in sich erlaubende oder verbietende Sprechorte ein.
3) Unterschiedliche Rederäume unterliegen auch je unterschiedlichen Graden der Regulation. Manche Räume sind überreguliert (Gefängnis, Rektorenkanzlei...), andere sind scheinbar (!) unterreguliert. (Beichtstühle, Beratungen...) Foucault weist jedoch darauf hin, dass freiere Redesituationen
tieferliegenden Zwängen unterliegen (beim Beichtstuhl etwa ein Zwang, zur Beichte zu gehen).
4) Das wesentliche Kalkül der Rhetorik liegt in der Überschreitung der von einem Ort vorgegebenen Rederegeln.
Es besteht in der Theorie eine grundlegende Tendenz zwischen essentialistischen Definitionen von
Raum und einer Auffassung von Raum, die relational ausgerichtet ist: Wie stellt sich ein Raum her?
Ein Raum ergibt sich immer auch aus physischen und relationalen Zusammenhängen der Sprechenden. Der physische Raum ist demnach nicht identisch mit dem Raum der Rede. Man kann einen
Raum sogar durch eine Rede zerstören. Der Redeakt versetzt uns in Relation zu denen die zuhören
und so auch sprechen.
Kafkas Romankapitel „Im Dom“7
Politzer bemerkt, dass der Dom des Romans mit der gotischen St. Veits Kathedrale zu identifizieren
ist; er spielt also in Prag eine ebensogroße Rolle wie im Roman.
Die Szene im Dom ist ein topographischer und abgründiger Höhepunkt. In der Kapelle des Veitsdoms finden sich Wandmalereien, auf denen der Leidensweg Christi dargestellt ist. Josef K. kann
jedoch mit seiner Taschenlampe nur die Szene der Grablegung beleuchten (gerade die wird ihm
selbst ja verwehrt bleiben!).
Das Kapitel kann in sechs Abschnitte eingeteilt werden:
1) „Der Auftrag“: K. soll den Italiener begleiten (Sprechakt)
2) „In der Bank“: Grammatikbuch, Vokabular, Begegnung mit dem Italiener (Ortsbezeichnung)
3) „Anruf“: Telefonanruf („hetzen“!; Jagd zum Spaß?) (Sprechakt)
4) „Im Dom“: Ruf: Josef K.! (Ortsbezeichnung)
7
Die Abfolge der Kapitel des Romans hat große Aufmerksamkeit gehabt; sie stellt uns vor das Problem der Dispositio: was soll in der Rede an welcher Stelle stehen? Von wo wohin führt der Weg des Romans? Doch auch die Dispositio der einzelnen Kapitel ist interessant.
5) „Die Anklage“ (Sprechakt)
6) Erzählung vor dem Gesetz und Auslegung (Dies ist auch und vor allem durch die Doppeltheit
von Ortsbezeichnung und Sprechakt so besonders)
Diese Aufteilung in Abschnitte ist entscheidend, um die systematische Bewegung des Kapitels von
A zu B zu C... zu verstehen: von der Kanzlei zur Kanzel, von der Bank zur Kirchenbank,... dies verweist auf eine Hybridität des Raumes.
3. Einheit
Durch die Türhüterlegende und ihren Titel „Vor dem Gesetz“ werden die Parameter von Raum und
Sprechakt zugleich aufgerufen. Der Raum und das Sprechen erscheinen so als Problemkonfiguration. Man könnte unterscheiden zwischen dem
Rederaum: der Raum, den sich die Rede schafft
und dem
Raum der Rede: der Raum, in dem die Rede sich vollzieht.
Wie der Rederaum mit dem Raum der Rede konvergiert, hängt ab vom Sprechvermögen, von den
Zuhörerinnen, den Regeln und dem Raum der Rede.
Der rhetorische Raum existiert nur in der und durch die Rede.
Max Hermann spricht in „Das theatralische Raumerlebnis“8 davon, dass Bühnenkunst Raumkunst
ist, jedoch nicht in dem Sinne, dass der Raum zum Selbstzweck wird.9
In Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ wird der Raum des Theaters zum Thema:
„Die Zuschauer finden, wenn sie den Theatersaal betreten, den Vorhang vorgezogen und die Bühne
wie am Tag vor, ohne Kulissen und Ausstattung, fast im Dunkeln und verlassen, damit von Anfang
an der Eindruck einer nicht vorbereiteten Aufführung entsteht. Zwei kleine Treppen, eine auf der
rechten, die andere auf der linken Seite, verbinden die Bühne mit dem Saal. Auf der Bühne ist der
Aufsatz des Souffleurkastens abgenommen...“10
Dies wirft Fragen auf, ob es sich nur um ein kurzes Leersein des Schauplatzes handelt, oder ob die
Personen nur den Raum nutzen, der selbst leer ist. Das Theater ist ja die meiste Zeit unbespielt...
Das Faszinierende daran liegt im Wechsel von Theaterraum und dem Raum des Theaters. Die Theaterkunst besteht ja in der Verführung der menschlichen Bewegung in den theatralischen Raum, der
nie deckungsgleich ist mit dem Raum des Theaters. Erst durch die innerliche Verwandlung des
Raumes wird die Schauspielkunst möglich.
Max Herrmann schreibt:
8
9
10
In: Raumtheorie.
Interessanterweise ist sowohl das Rhetorische im Theatralischen wie auch das Theatralische im Rhetorischen stets
negativ besetzt, wohl aufgrunddessen, dass hinter beiden Vorbehalten der Gedanke steht, dass eine Rede, wenn sie
als gemachte Rede erkannt wird, keine gute Rede mehr ist. Ein Blödsinn.
Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor. S. 23
„Durchaus im Dreidimensionalen vollzieht sich das Raumerlebnis des Schauspielers, das 'wichtigste' theatralische Raumerlebnis: in der modernen Schauspielkunst liegt ja [...] das Entscheidende der
theatralischen Leistung, die Schauspielkunst erzeugt das eigentliche, das reinste Kunstwerk, das
das Theater hervorzubringen imstande ist. [...] Und diese schöpferische Leistung bezieht sich nun
auch auf den Raum. Innerhalb der Bühne hat er Räume zu erschaffen, die den inneren Notwendigkeiten seiner Rolle gemäß sind. Hier müssen wir etwas Allgemeines betonen, das sich auch auf das
Verhältnis jedes Menschen zum Raum überhaupt bezieht. Jeder Mensch ist von dem Raum, in dem
er sich jeweilig befindet, in bezug auf seinen ganzen Habitus durchaus abhängig: unser Gehen, unsere Gesten, unser Sprechen sind anders als in der freien Natur als im geschlossenen Raum und im
einzelnen wieder entscheidend von den Besonderheiten dieser Natur oder dieses geschlossenen
Raumes bedingt. Und so wird auch in den großen schauspielerischen Leistungen, in den Bewegungen, in der Sprechart der dargestellten Personen indirekt immer der besondere Raum enthalten
sein, in dem sich in dem betreffenden Moment der dargestellte Mensch zu befinden hat.“11
Der gelungene Schauspielakt muss aus dem Raum der Darstellung in den Raum des Dargestellten
versetzen. Herrmann meint,
„der bedeutende Schauspieler schafft sich seinen Raum selber, oder, genauer, er deutet sich den
Bühnenraum um in einen tatsächlich nicht vorhandenen Realitätsraum, der nun seinen ganzen Habitus in dem vorhin bezeichneten Sinne bedingt. Ein solches Umdeuten kann wohl bis zu einem
wirklichen und vollständigen Erleben dieses Raumes in der Seele des Schauspielers führen.“ Diese
Identifikation des Schauspielers mit der Figur kann nun auf das Publikum übergreifen: „Mitspieler
im weitesten Sinne des Wortes ist ja auch das Publikum, von dessen Raumerlebnis wir nun zu sprechen haben. Jene schöpferische, mitschöpferische Tätigkeit des Publikums an allem schauspielerischen Spiel besteht zu allertiefst in einem heimlichen Nacherleben, in einer schattenhaften Nachbildung der schauspielerischen Leistung, in einer Aufnahme nicht sowohl durch den Gesichtssinn wie
vielmehr durch das Körpergefühl, in einem geheimen Drang, die gleichen Bewegungen auszuführen, den gleichen Stimmklang in der Kehle hervorzubringen. Den wenigsten Zuschauern ist dieser
Hergang bewusst.“12
Die Frage stellt sich, warum all dies nur für die Theatersituation gelten soll. Warum kann das nicht
für unser alltägliches Sprechen gelten? Inwiefern wirkt denn die Rede einer Anderen schattenhaft
nach, inwieweit erleben wir sie nach? Kann gar das Zuhören der anderen meinem Sprechakt schaden?
Kann also, was das Theater macht, nicht auch unser Sprechen? Denn die Rede in einer Theatersituation funktioniert nicht wie die alltägliche Rede, sie arbeitet mit der alltäglichen Rede.
Das Ineinandergehen von Raum und Sprechakt in „Im Dom“
Der Titel „Im Dom“ ist nicht falsch oder irreführend. Irritierend ist, dass das Kapitel in der Bank beginnt. So baut sich zwischen dem Raum der Bank und dem des Domes eine Spannung auf. Die
Bank hat aber, wie sich zeigt, weniger Schwierigkeiten mit dem Dom als der Dom mit der Bank; in
der Bank ist ja jemand – Josef K. – der durch den Dom führen kann. Auf der anderen Seite ist da
Josef K.s Album; seine und des Italieners Einstellung zum Dom ist eine Kunsthistorische. Aber die
Einstellung verfehlt ihren Adressaten: das Album hat keinen Platz in der Kirche, sie bringt mit ihrer
Dunkelheit die Sehenswürdigkeiten zum Verschwinden.
Auch finden sich Türhüter eher vor Banken als vor Domen. Der Raum des Türhüters ist ein Schwel11
12
In: Raumtheorie. S. 504
ebd. S506-508
lenraum vor dem Gesetz (K. darf den Dom nicht explizit verlassen!)
„Im Dom“ ist ein Geflecht von diskursiven Verspannungen. Dies irritiert den Glauben von der Gesetzmäßigkeit der Räume. Horst Wenzel gibt in einem Aufsatz13 zwei Hinweise zur Akustik eines
Kirchenraumes: In Kirchen kommt es dazu, dass tiefere Frequenzen länger nachhallen. Dies führt
zu Klangverschmelzungen und zwingt zu langsamem Sprechen. Die Fähigkeit, eine Schallquelle
hörend zu lokalisieren, basiert aber auf der Ortung der hohen Frequenzen. In der Kirche werden die
Gläubigen vom Klang eingehüllt;sie erleben sich in einem Tonraum. Die Kirche gewährleistet so
die Liturgie indem sie die Gläubigen unterwirft.
Bei Kafka wird der Verlust des Lokalisierungsvermögens so über den Raum hergestellt. Die Orientierungslosigkeit wird durch den Ort verstärkt. Der Schall von Anruf, Dialog und Schrei ist über K.s
Kopf, die Stimme kommt von oben; somit ist dem Hörenden keine Orientierung möglich; K. ist die
Orientierung im Dom unmöglich.
Der Dom ist jedoch nicht nur akustisch desorientierend, sondern auch dunkel und geheimnisvoll.
K.s Taschenlampe vermehrt nur die Finsternis, macht nur noch mehr auf sie aufmerksam. Die Finsternis wird so zu einem Produkt des Sehens.
Der Dom ist auch ein Raum des Auftauchens und Verschwindens von Figuren, es ist eine Dialektik
des Auftauchens und Verschwindens: leere Kreuze und leere Kanzeln finden sich neben den kleinen
Engeln, K. greift in eine Lücke... Die Parameter der Figuren gehen durcheinander. Personen sind da
und wieder weg.
Das alte Weib, der Diener und Josef K. gehen in die Bilder; der Ritter, Maria und der Engel sind
zwar im Bilderrahmen aber verlebendigen sich. Der Raum wird also figurativ auf seine Bilder hin
durchlässig, und zwar von beiden Seiten. Nur K. kann nicht verschwinden!
„Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom...“ 14- aber K. muss sie brechen um zu gehen! Die Kopfbewegung K.s; „Siehst du denn nicht zwei Schritte weit?“15-- Bewegung und Rede fallen in eins,
dabei löscht sich aber der Raum aus. Der Schrei ist die Extremform der Äußerung, die dem umgebenden Raum allen Boden entzieht.
Der rhetorische Raum
Der rhetorische Raum ist nicht aus Steinen gebaut und nicht aus Zahlen er ist nicht in Metern messbar und nicht in Symbolen, er besteht nicht aus dem Ich.
Der rhetorische Raum ist aus dem Sprechen gebaut. Das Reden, die Stille, das Schweigen sind die
Kategorien, die ihn konstituieren. Die Konfiguration dieser Kategorien wird je anders sein, aber immer ist der Raum ein Ort der Krise wo eines ins andre übergeht. Er ist der prekäre Ort der Stimme.
13
14
15
Die Manifestation Gottes für das Ohr. In: Sehen und Hören, Schrift und Bild.
Kafka, Prozeß...
ebd.
Pascal sagt: Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“.
Der Raum, in den wir fallen, könnte ohne Rede sein.
4. Einheit
Der rhetorische Raum, der Ort der Rede ist der prekäre Ort der Stimme. Das Zentrum des Raumes
ist ein Ort der Krise (des Übergangs).
Das Problem der Stimme
vor dem Hintergrund des derzeitigen wissenschaftlichen Reflexionsstandes.
Die Stimme hat in der ganzen Geschichte einen interdisziplinären Stellenwert. Peters 16 meint, seit
Aristoteles der Stimme in seinen Schriften einen privilegierten Stellenwert einräumte, steht sie im
Studienplan verschiedenster Studienrichtungen.
Kittler/Macho/Weigel:
Die Frage nach der Stimme verschränkt vielfältige wissenschaftliche Perspektiven. Nachdem die
Kulturwissenschaften lange Zeit mit der Theorie und Geschichte des Bildes befasst waren, sind in
den letzten Jahren vermehrt Studien zur Stimme erschienen: Sie umfassen das weite Feld zwischen
Technologie und Theologie, zwischen Rhetorik und Politik, zwischen Materialität und Metaphorik.
Dabei scheint die Stimme aus ihrem grammatologischen Schatten herausgetreten herausgetreten zu
sein, so daß sich das Verhältnis von Repräsentation, Abwesenheit und Materialität – und zwar differenziert für unterschiedliche mediale Phänomene – neu und verändert stellt. Im Anschluß an Jacques Derridas Analyse des Logophonozentrismus der westlichen, durch die antike Philosophie geprägten Episteme, seiner Kritik an der Stimme als Repräsentanz eines selbstgewissen Subjekts und
der Entwicklung der différance als zentraler grammatologischer Kategorie einer dekonstruktiven
Theorie, war in den Kulturwissenschaften eine Phase mit deutlicher Dominanz der Schrift gegenüber der Stimme zu beobachten. Die Etablierung einer Opposition von Schrift und Stimme wurde
dabei auch durch die Forschungen zur Oralität und Literalität gestützt. Gleichzeitig konnte eine
Konjunktur der Stimme in literaturtheoretischen, philosophischen und historischen Untersuchungen
beobachtet werden, in denen die Kategorie der Stimme überwiegend als Zeichen eines abwesenden
Subjekts oder einer nicht-repräsentativen Instanz in Einsatz kommt: etwa die Stimme der Toten in
den Erinnerungen der Überlebenden, die 'weibliche Stimme im männlichen Text' in der feministischen Literaturtheorie, die Stimme der 'anderen Kultur' in Titeln der Cultural Studies oder das allgemeine Postulat eines „Privilegs der Stimme in der Literatur“, von dem Blanchot spricht, das in
der, der Autortheorie Foucaults entlehnten – Formel: 'Wer spricht?' bis in Proseminare und Schulunterricht Eingang gefunden hat.“17
Foucault sagte, Beckett zitierend: Was liegt daran wer spricht, hat jemand gesagt: was liegt daran
wer spricht.“; Das ist keine lose Formel, sondern die Formulierung des Themas.
Die deutschsprachige Literaturwissenschaft hat das Phänomen der Stimme so gut wie systematisch
übersehen. In fast keinem Lexikon der deutschen Literaturwissenschaft gibt es ein Lemma „Stimme“-- vielleicht aufgrund der Traumatisierung durch Stimmen im 20. Jahrhundert. Die Frage nach
dem weiterhin Hörbaren stellt sich hier. So ist die Literaturwissenschaft in Bezug auf die Stimme in
einer permanenten Unsicherheit gegenüber ihrem Gegenstand.
16
17
In: Kunststimmen, Hrsg. v. Kolesch/Schrödel...
In: Zwischen Rauschen und Offenbarung.
Kann die Konfiguration von Stimme und Medium per se fiktionsfrei sein?
Kann die Medientheorie die Stimme überhaupt restlos erklären?
Das Problem der technischen Haltbarkeit der Stimme ist so alt wie die Stimme selbst. „Flatus voci“:
die Flüchtigkeit der Stimme war schon immer ihre Kostbarkeit und ihr Skandalon. Sie fußt in der
Präsenz, im Gegenwärtigen. Die Stimme ist den Sprechenden niemals völlig verfügbar (sie „bricht
hervor“, er „hat keine Stimme“); ihr Medium ist der eigene, nie ganz beherrschbare Körper.
Die klassische Rhetorik behandelt die vox neben dem gestus in der Rubrik der actio, der Sprechhandlung. Diese Zuordnung ist bedenkenswert, zumal wir auch Sprechen lernen durch die Laute
die mit den Bewegungen einhergehen. Mandelstern spricht von der „Innigkeit von Stimme und Bewegung in poetischer Rede“18, doch das ist allgemein in jedem Sprechen so.
Wo liegt nun genau die Grenze zwischen vox und gestus?
Die Stimme kann ja alle Bewegungen be-stimmen, wie auch der Körper die Stimme zum Verstummen bringen kann.
Die Stimme wird aber auch in einer rhetorischen Figur behandelt: der Prosopopoia; dies ist der
Sachverhalt, dass man an die Stimme einer Person durch die Ausstellung von deren Rede in der eigenen erinnert.19 Ich kann in meiner Rede die Anwesenheit einer anderen Person fingieren: „fictio
personae“. In dieser zeigt sich eine weitere Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit: in der
Schrift wird die fremde Stimme ins Stumme über-setzt. In der mündlichen Rede wird die fremde
Stimme durch Laute wiedergegeben (in der selben Art und Weise). Das Übersetzen von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit hat das abendländische Denken als Lüge gebrandmarkt.
Doch es ist auch eine Differenz in der Stimme selbst, durch die Entwicklung der technischen Medien: Waldenfels hat darauf aufmerksam gemacht20, dass durch diese die Stimme einerseits verstärkt
bzw. erweitert wird wird (Mikrofon, Hörgeräte, Telefone...), wobei es immer noch jemanden gibt,
der spricht. Andererseits gibt es seit der Erfindung des Grammophons Stimmereignisse, die ohne erzeugende Instanz ablaufen. Mittels HiFi-Technologien können Stimmen nachträglich verändert werden. Der Gipfelpunkt ist erreicht, wenn in künstliche Stimmen Störgeräusche eingebaut werden, um
sie natürlich wirken zu lassen. Es kommt so zu einer „künstlichen Natürlichkeit“.
Es gibt einen irreduziblen Rest der Stimme, der nicht von der Medientheorie gefasst werden kann.
Dies wird folgendermaßen begründet: Im eigenen Sprechen kann man ein ernstzunehmendes
sprachliches Subjekt sein (Rousseau). Dieser Akt ist in allen Konsequenzen ernstzunehmen. Selbst
zu sprechen bedeutet, die einzigartige, nicht austauschbare Aufeinanderverwiesenheit von Körper
18
19
20
In: Gespräch über Dante
Menke.
In: Das Lautwerden der Stimme.
und Stimme zu inszenieren. Jede Stimme hat ihre eigene Biographie, diese klingt aus dem Körper,
aus dem sie gesprochen wird. Man spricht mit dem eigenen Körper. In dieser Beziehung der Stimme zur eigenen Biographie und zum eigenen Körper liegt der irreduzible Rest.
In dieser einzigartigen, nicht austauschbaren Aufeinanderverwiesenheit von Körper und Stimme ist
der Ort, wo die Vorstellung vom Subjekt, vom Ich, vom Selbst, vom Individuum, vom Namen, der
Anerkennung und der Person zu suchen ist. All diese Begriffe sind jeweils Subjekte einer Lebenswirklichkeit, das Leben ist niemals zu reduzieren auf eines davon (Gibt es einsprachige Stimmen?
Wie würde sich so eine Stimme anhören?).
Die Stimme ist jene körperliche Erfahrung, in der – und das ist alles andere als natürlich – die Verletzlichkeit der Sprechinstanz und die Integrität ihrer Rede unumgänglich aufeinander verwiesen
bleiben.
Waldenfels bestimmt die Stimme phänomenologisch:
„Der Laut der Stimme schafft sich einen Zeit-Raum. Dieser ist nicht zu verwechseln mit einem Gefüge von Zeit- und Raumstellen. Das Erklingen der Stimme ist zu kurz, wenn sie verklingt, nachdem sie kaum erklungen ist, es dauert zu lang, wenn es uns enerviert. Fünf Sekunden oder zwei Minuten dauert es dann, wenn das Hören auf Gehörtes reduziert und dieses an einem zeitlichen Parameter gemessen wird. Außerdem befindet sich die Stimme nicht einfach im Raum, etwa dort, wo
die Klangquelle, nämlich der Sprechkörper oder das Radio, sich befindet; denn das Hörereignis
trägt von sich aus zur Gestaltung des Raumes bei, indem es [...] darin seine Spuren hinterlässt. Die
Architektur einer Kathedrale oder eines Konzertsaales bildet kein bloßes Gehäuse, innerhalb dessen
akustische Phänomene auftreten, sie weitet und verengt sich zu einem Hörraum, in dem Klänge
sich auf bestimmte Weise verteilen und auf bestimmte Weise zurückkehren“
Aristoteles psychoanalogisiert die Stimme. Die φωνή ist der Laut eines beseelten Wesens, im Gegensatz zu anderen Lauten. In der Stimme äußert sich die ψυχή eines Wesens. Man muss jemand
sein, um eine Stimme zu haben; „etwas“ hat nur Laute. Hier wird die Unterscheidungsgewalt der
Stimme unbeseelt-beseelt offenbar.In der Literatur gibt es Menschen ohne Seele aber Berge mit einer Stimme!
Waldenfels unterscheidet drei Nuancen der Stimme voneinander:
- Sprechstimme: Sprechen drückt sich aus durch Sprechlaute und Rhythmus
- Gesangsstimme: nähert sich der Musik
- Rufstimme: die Stimme, deren Exklamationen sich dem Druck des Augenblicks nähern.
Diese Bestimmungen führen an die Ränder der Sprache (in die Linguistik, die Musik...) aufgrund
einer Anthropozoologie, die das Tierische im Menschen nicht der Humanität opfert.
Die Opernstimme.
Die Opernstimme lotet die Möglichkeiten der Stimme aus.
„Hommage an Maria Callas“ von Bachmann (in Kritischen Schriften: „Hommage à Maria
Callas.“-- zwei Fassungen!“
Weigel:
Die Stimme der Oper ist hier in eine Konstellation gestellt, in der sie als eine Figur des Nachhalls
im doppelten Sinn erscheint: als vokalische Spur des Göttlichen und Teuflischen im Gesang und als
Nachhall kultischer und religiöser Momente in der Kunst. In diesem Sinne hat auch Ingeborg Bachmann in einer „Hommage an Maria Callas“ deren Stimme das Vermögen zugeschrieben, die herrschende Ordnung der vier Dimensionen umzukehren: 'Sie war der Hebel, der eine Welt umgedreht
hat, zu dem Hörenden, man konnte plötzlich durchhören durch Jahrhunderte. Die Stimme der Callas ist für Bachmann mehr als Stimme, vielmehr das Geschöpf namens Maria Callas, „die einzige
Kreatur, die je eine Opernbühne betreten hat, die zehn oder mehr Male groß war, in jeder Geste, in
jedem Schrei, in jeder Bewegung, und so gegenwärtig“. In dieser Vorstellung, dass die Opernstimme einen Zeitraum von Jahrhunderten durchschlägt, darin also Momente einer vergangenen Affektkultur im Augenblick der Aufführung – plötzlich – hörbar werden, verbindet sich die Stimme
der Oper mit der Greenblattschen Stimme der Toten. In beiden Fällen ist es die Stimme, die zwischen Lebenden und Toten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt. Was Bachmanns
Opernstimme, eine hörbare, leibhaftige Stimme, die die Welt in Richtung Vergangenheit umkehrt,
mit Greenblatts eher immaterieller Stimme der abwesenden Toten, die für die Lebenden aus den
Hinterlassenschaften vernehmbar wird, gemeinsam hat, ist die Tatsache, dass in beiden Szenen die
Stimme als Medium des Nachlebens begriffen wird – eines Nachlebens im Warburgschen Sinne.
Wenn Bachmann von der Plötzlichkeit spricht, mit der die vergangenen Jahrhunderte „in jeder Geste, in jedem Schrei“ hörbar werden, dann beschreibt sie die Oper als eine Pathosformel: Wiederbelebung und Erinnerungsspur vergangener Affekte in der Gegenwart. Es geht dabei nicht allein um
das Pathos der Opernstimme im Sinne einer Skala der Gefühle und Leidenschaften, wie beispielsweise in den musikalischen Vortragsbezeichnungen – wie vivace, impetuoso etc. - in denen es um
Tempus, Grad und Modus des Vortrags geht und die als Ausdruck der Leidenschaften verstanden
werden, ein stimmlicher Ausdruck, in dem Klang- und Gemütsbewegungen unmittelbar eins werden. Über diese Dimension der Stimme als Sprache der Leidenschaften hinaus geht es um den
Nachhall von Affekten einer vergangenen Kultur auf der heutigen Bühne, d.h. um die Stimme als
kulturgeschichtliche Erinnerungsspur, die im Moment der Aufführung hörbar wird, ganz gegenwärtig ist. Insofern thematisiert Bachmanns Hommage an Maria Callas die Opernstimme als Pathosformel analog zu der Art und Weise, wie Aby Warburg die Zitate antiker Bildsprache in der Kunst der
Renaissance beschrieben hat.“
5. Einheit (die beiden Bachmanntexte besorgen!!)
Bachmann hat die Callas zum ersten Mal 1956 in einer Generalprobe zur Traviata gesehen. In einem Brief an den Verleger bedient sie sich des Himmel-Hölle-Topos, von dem sie in den zwei Texten (nicht zwei Fassungen eines Textes) weg zu kommen.
Das erste Prosastück beginnt mit „Was große Kunst ist...“-- spiegelt den Bewusstwerdungsprozess
wider, in dem sich Bachmann gewahr wird, was große Kunst bzw. eine große Künstlerin ist. Dies ist
eine schockhafte Erfahrung. Es war die „Personifikation eines Erlebnisses“, nicht eine Person. Die
Sätze sind verfugt. „Entsetzlich in ihrer Präsenz...“-- Callas droht in der Violetta zu verschwinden,
aber das Vokabular, mit dem sie die Sängerin, deren Name so nebensächlich erscheint (Wesen, Geschöpf, Mensch, Violetta, Verirrte,...- der Text schlingert zwischen diesen Namen) zeigt je nach Benennung eine unterschiedliche Nähe zur Bühnenfigur und zu Callas; verschiedene Diskurse überlagern sich (Philosophie, Religion, Psychologie...)- die Bühnenfigur kommt mit der Bühne nicht mehr
aus.
„Später als ich sie die Toska singen hörte...“-- der Satz ist mühevoll zu lesen, führt aber Callas wieder als Person ein.
Der Ausruf am Ende „Ecco un artista“, der unmittelbar auf ein konjunktivisches Anakoluth (ist es
nun ein Wunsch, ein Irrealis?) folgt, kommt schon einmal vor. Weit vorher im Text steht „ein Geschöpf, ein höchst gefährlicher Mensch...“-- die Kunst überschreitet ihren Rahmen: wirklich große
Kunst ist, wenn aus der Rolle ein Mensch wird (Kunst durch Präzision). „Ecco un artisa“ lässt sie
Callas ausrufen (sie singt das)-- eine Figur bezeichnet eine andere Figur. Erinnert an das „ecce
homo“-- „Toska“ überträgt die Frage, was der Mensch ist, auf die Bühne: ein Mensch wird zum
Künstler.
Wir sehen in Bachmanns Text, wie er gegen den zuversichtlichen Ton der Texteinteilung die Frage
nach großer Kunst aufwirft. Wie die große Kunst ist, ist aber nur anderswo, nur ins Leben auszufigurieren.
Der zweite Text, um vieles später geschrieben, setzt mit einem „Ich“ ein, wonach aber gleich zu anderen übergegangen wird. Ist der erste Satz so eine Distanzierung vom ersten Text? Der zweite Text
windet sich in einer Drehbewegung aus dem ersten hinaus. Geht auf Distanz zu anderen, zu denen,
die nicht darüber hinweggekommen sind und zu sich selbst als einer anderen. Der zweite Text dekonstruiert den ersten.
„Callas ist kein Stimmwunder...“-- gegen das allgemeine Sprechen des Boulevards über die Stimme
der Callas zeigt sie, dass die Stimme der Callas in ihrer Essenz in der Affinität zum Sprechen zu suchen ist. Callas spricht im Singen.
Die vielen Satzbrüche und Neuanfänge sind Zeichen dafür, dass die Stimme ein aktives Moment der
Gestaltung, die Erinnerung an die Form des Menschlichen ist. Die Stimme ist nämlich in ihrer Einzigartigkeit eine zutiefst menschliche, kein Wunder.
Callas ist jetzt der Name für den lebendigen Ort wo Kunst und Mensch einander nicht zurückstoßen. Sie hat nun als präsentische Erfahrung Gestalt angenommen. „Callas“ zu sagen, heißt, von
Kunst in einer menschlichen Form zu sprechen. Die Frage nach der Kunst wird zur Frage nach der
menschlichen Relation und Beziehung.
Es wird auf HC Andersens Märchen „Die Nachtigall“ Bezug genommen. In den beiden Vögeln,
dem künstlichen und dem natürlichen, zeigt sich ein Chiasmus von Kunst und Natürlichkeit, von
Leben und Tod. Derselbe Chiasmus ist im Toskazitat „Gabaradossi: Ich werde fallen, sehr natürlich. Toska: Ich vom Theater wüsste, wie das geht“.
Callas hat die Welt zu den Hörenden umgedreht. Ein wichtiges Bild sind ihre Tränen. Diese sind im
Bachmanntext nicht nur Ausdruck von etwas, sondern sind selbst Kommunikation. Tränen sind
auch eine Fähigkeit: sie machen den Blick stark, schärfen die Vernunft und die Gefühle. Sie sind in
der Geschichte der Tragödie das Komplementäre zu Furcht und Entsetzen.
6. Einheit
Bachmann hat im Wintersemester '59 als Gastdozentin die Frankfurter Vorlesungen eröffnet. „Am
Anfang überlegte ich den Titel: sollten Fragen abgehandelt oder Antworten gegeben werden? Kennen Sie oder glauben Sie an Autoritäten, die Antworten liefern? Etwa aus Feuilletons, Akademien,
dem Rundfunk? Ist der psychologische Roman tot? Ist Chronologie noch möglich nach der Relativitätstheorie? Soll die Literaturwissenschaft die einfühlende Interpretation bevorzugen, die sozialistische Interpretation, die Soziologie, die Psychologie? Die Erfahrung ist die einzige Lehrmeisterin.“21
Für eine Schriftstellerin sind all diese scheinbar Fragen, die außerhalb der Literatur liegen.!
Bachmann meint, die Leistungen der Dichtung liegen immer da, wo etwas Neues entworfen wurde.
Sie sieht so einen fundamentalen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Literatur: Neue Sprache ist immer da wo neue Erkenntnisse sind.
Sie kommt in der Vorlesung auf die Stimme der Callas zurück (schon ihr Atemholen ist genial...).
Die Stimme der Callas ist für sie die Verkörperung der Kunst schlechthin. Callas ist eigentlich die
Verkörperung der Stimme schlechthin.
Dies führt zur Frage, wie die Konfiguration von Sprechen und Singen zu fassen ist.
Die Trennung von Wort und Musik, von Sprache und Stimme führt zum Widerstreit in der Stimme
selbst.
Das historische Lexikon der Philosophie erklärt unter dem Lemma „Stimme“, dass bei den Griechen kein Unterschied zwischen Musik und Wort war. Es gab Überlappungen zwischen dem Geräusch im Allgemeinen, dem Laut eines Lebewesens (metaphorisch manchmal für Instrumente gebraucht),... ψόφος stand übergeordnet für alles, was man hören kann. Wort und Musik waren noch
nicht aufgespalten. Der erste Einschnitt kam mit Platons Dialog „Protagoras“; Platon sieht einen
Übergang von den physischen Stimmgliedern zu der Gliederung der Sprache. Die körperliche Physis wird auf Töne übertragen. Die Entstehung der Sprache liegt im Übergang vom unartikulierten
zum artikulierten Sprechen.
In westlichen Kulturen stellt sich das Problem des Übergangs von Natur und Kultur als ein Problem
der Artikulation dar: alle Inszenierungen der Differenz von Natur und Kultur arbeiten sich mithin
an der Schwelle der Artikulation ab.
Aber was ist überhaupt artikuliert, was ist nicht artikuliert? Duften Blumen nur oder sagen sie etwas? Zittern Sträuche nur oder flüstern sie etwas?
21
vgl. Kritische Schriften. S. 254f
„Wir in dieser tausend Äste Flüsterzittern, Säuselschweben,
Reizen tändelnd, locken leise wurzelauf des Lebens Quellen
Nach den Zweigen; bald mit Blättern, bald mit Blüten überschwänglich
Zieren wir die Flatterhaare frei zu luftigem Gedeihn.“22
In diesen Versen Goethes etwa hat das, was als Bewegung von Pflanzen beschrieben wird, die Geschichte in der Entführung der Trojanerinnen, die Helena nicht in die Unterwelt folgen wollten und
sich in Flüsterzittern verwandelte; die Bäume sprechen, artikulieren sich.
Wo sind also die Grenzen zwischen Geräusch, Wort, Logos...? Wo sind die Grenzen zwischen Artikulation und Nicht-Artikulation?
Die Natur-Kultur-Differenz zieht die Grenze zwischen dem, was man hört und dem, dem man nicht
zuhören will. Bachmann: Es gibt Dinge, die hörbar sind, aber die man nicht hören will.
Nach Aristoteles bilden Artikulation und Semantizität keine unterscheidbaren Merkmale zwischen
tierischen und menschlichen Stimmen. Zwischen der tierischen und der menschlichen Sprachfähigkeit bestehe ein gradueller, kein prinzipieller Unterschied (in der „Logik“ schon...).
In „De Interpretatione“ zieht Aristoteles eine semiotische Differenz zwischen menschlicher und tierischer Sprache: tierische Laute seien Anzeichen, menschliche Laute Symbole.
Der Begriff des Symbolischen impliziert Nicht-Präsenz, Distanz, die so groß ist dass der Andere nur
über ein Symbol wieder erkannt werden kann.
Aristoteles verbindet unartikulierte Laute mit Präsenz, Artikulierte Laute dagegen mit Entfernung,
mit unsicherer Präsenz.Der Brief kann etwa nur symbolisch sein; das Handy überträgt dasselbe auf
den mündlichen Bereich.
Die Differenz von physisch realer Präsenz und symbolischer Gegenwart (die auch physisch sein
kann) schwächt die Vorstellung von physischer Präsenz: in dieser Differenz gedacht ist nämlich die
physische Präsenz die Verwiesenheit derer, die vom Logos ausgeschlossen sind, die notwendige Eigenschaft derer, die unartikuliert sind.
Der rhetorische Raum wird zum Raum des Symbolischen, zum Raum des Gesetzes.
Zum Unterschied Wort – Musik
Die Griechen haben den Begriff φωνή auch für intrumentale Töne verwendet! Noch heute bekommen Musikerinnen ihre „Stimmen“ (Noten). Ist das eine tote Metapher? Kann der instrumentale
Laut Artikulationscharakter haben? Bei Bachmann anscheinend nicht: sie hebt bei Callas die Nähe
zum Sprechen hervor.
Nietzsche hat gegen das Sprechen der Singstimme bzw. das Singen der Sprechstimme polemisiert23,
er denkt konkret an das Repertoire der Stimme die an die Grenze der Artikulation führt, wendet sich
22
23
Faust 2, V.9992ff
In: Die Geburt der Tragödie.
gegen die Versprachlichung der Musik. Im 18 Jahre später hinzugefügten, selbstkritischen Vorwort,
meint er, er hätte singen sollen und nicht reden. Gegen diese Vormachtstellung der Musik vor dem
Wort übt Bachmann Widerstand.
Zusammenfassung
1) Bachmann anthropologisiert die Stimme. Sie ist der Entwurf von Menschlichkeit.24 Es ist nie die
Stimme des Menschen, es ist immer die Stimme eines Menschen.
2) Die Stimme (nicht das Wort oder die Musik) ist der Ausdruck von Leiden, Jugend, Alter...
3) Die Stimme entsteht aus der Dialektik von Wort und Musik. Was sich dazwischen scheuert ist das
was die Stimme artikuliert.
4) Die Stimme wirkt in der Spannung von Wort und Musik vergegenwärtigend: die Toten, die Geschichte...)
5) In der Stimme ist ein unentziehbares Moment der Kommunikation. Doch sie ist auch alles Risiko
der Kommunikation.
Die Stimme dreht die Welt zu den Hörenden.
Die Stimme im Malina-Roman
Im Kapitel „Der dritte Mann“ kommt es zu einer Folge von Alpträumen, die vom Vater der Ich-Erzählerin handeln. Das Verhältnis zwischen Musik und Text wird von einem nie ungeschehen zu machenden Riss geprägt (Jelinek: Bachmann ist eine Riss-Autorin, die Rede über das Weibliche ist bei
ihr immer von einem Riss im Zentrum geprägt25). „Nirgends ist ein Textbuch zu bekommen“, „Wer
hülfe mir“-- doch die Musik übertönt die Worte; die Sängerin ist in der falschen Rolle; die Stimme
ist in dieser Oper familiarisiert und patriarchalisiert. Der Frau wird alle Artikulation verweigert, für
sie ist keine Stimme vorgesehen. Wir sehen ein physisch präsentes Wesen, ein Wesen, das die Musik
kennt aber den Text nicht, dessen kommunikative Gesten unterlaufen werden, das auf den Ausdruck
reduziert ist.Wir sehen eine In-fame. Jelinek meint, das Leid dieser Frau sei das Leid aller Frauen,
ist doch auch diese Frau gleich allen andren Frauen.
Es kommen Textbruchstücke aus zwei Opern vor:
- „Wer hülfe mir, wer hülfe mir“: kommt in Wagners „Rheingold“ vor: Mime will seine Tarnkappe
nicht hergeben- es ist so das Zitat einer Tarnkappe, drückt den Wunsch nach Ungesehenheit aus.
- „So stürben wir“ und alle anderen Sätze sind aus „Tristan und Isolde“. Wagner wollte mit dieser
Oper, da er selber nie Liebe genossen hat, ein Denkmal setzen, in dem sich von Anfang bis Ende die
Liebe so recht sättigen soll (Wobei hier die Frau nur die Sätze wiederholt die der Mann sagt, sie
24
25
Weil die Callas die größte Künstlerin ist und die größte Kunst ist es, den Menschen darzustellen und nicht die Rolle.
In: Der Krieg mit anderen Mitteln.
bleibt nur das Echo des Mannes).
Bei Bachmann nun wird nicht einmal der Tod der Sängerin auf der Bühne wahrgenommen.
7. Einheit
„Die menschliche Stimme ist tatsächlich der privilegierte (eidetische) Ort des Unterschieds; ein
Ort, der sich jeder Wissenschaft entzieht, da es keine Wissenschaft gibt, die der Stimme gerecht
wird. Es gibt keine Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus: es gibt keine neutrale Stimme. Und falls mitunter diese Neutralität, dieses Weiß der Stimme
auftritt, so ist dies für uns ein so großes Entsetzen, als entdeckten wir mit Erschrecken eine erstarrte
Welt, in der das Begehren tot wäre.“26
Kolesch27 denkt die Stimme anthropologisch als Ausdruck, als Materialität „auf der Rasierklinge“
zwischen Musik und Wort, von „gefährlicher Präsenz“. Sie ist kommunikativ.
Allerdings behauptet sie auch, dass der Mensch als das Leben, das sich durch den λόγος auszeichnet; die mündliche Sprache und das mündliche Sprechen zeichnen den Menschen als Menschen aus,
nicht Schreiben und Lesen. Dies ist jedoch unzumutbar: die, die nicht reden können werden so zu
Infamen.
Die phänomenologische Stimme
Nach Husserl gibt es keine isolierbaren Noesen neben den Noemata. Es gibt nur Akte in denen die
Noemata konstituiert werden. Nach Derrida liegt das Grundproblem bei Husserl in seiner Frage
nach der Zeichenhaftigkeit. Er mach aufmerksam darauf, dass das Wort „Zeichen“ die Begriffe
„Ausdruck“ und „Anzeichen“ vermengt. Ausdruck ist bei Husserl im stimmlichen hergestellte
Selbstpräsenz. Derrida folgert, dass es keinen Ausdruck „ohne die Intention eines Subjekts [gibt],
das das Zeichen belebt, indem es ihm Geistigkeit verleiht“28. Ausdruck ist also laut Husserl notwendig an das Subjekt und die Intention gebunden.
Nach Derrida ist Sich-sprechen-hören eine singuläre Selbstaffektion.
Anzeige [hingegen] findet immer dann statt, wenn der sinnstiftende Akt, die beseelende Intention,
die belebende Geistigkeit des Bedeutens nicht völlig präsent sind. Und tatsächlich ist, wenn ich
dem anderen zuhöre, mir 'persönlich' sein Erlebnis nicht ursprünglich präsent. Zwar kann ich, wie
Husserl überlegt, von dem innerweltlich Gegebenen, von der Sichtbarkeit des Körpers des anderen,
von seinen Gesten und von seinen Verlautbarungen eine ursprüngliche Intention, d. h. eine unmittelbare Wahrnehmung haben: aber die subjektive Seite seiner Erfahrung, sein Bewusstsein und insbesondere seine – Zeichen mit Sinn ausstattenden – Akte sind mir nicht in der Weise unmittelbar
und ursprünglich präsent, wie es für den anderen selbst oder, umgekehrt, für mich selbst, für meine
Akte gilt. Dort also macht sich eine definitive und irreversible Grenze bemerkbar.“29
Das Erlebnis des Anderen ist so nur über die Physikalität des Zeichens möglich. Andererseits ist jeder Ausdruck im Prozess des Anzeigens aufgehoben.
26
27
28
29
Barthes. In: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn.
In: Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt.
In: Die Stimme und das Phänomen.
ebd.
„Die von der ganzen Geschichte der Metaphysik implizierte notwendige Privilegierung der phoné
wird von Husserl noch radikalisiert, indem er mit größtem kritischen Raffinement deren Mittel und
Möglichkeiten ausschöpft. Denn nicht der sonoren Substanz oder der physischen Stimme, dem
Körper der innerweltlichen Stimme, misst er eine ursprüngliche Affinität mit dem Logos überhaupt
bei, sondern der phänomenologischen Stimme, der Stimme auf ihrer transzendentalen Kanzel, dem
Atem, der intentionalen Beseelung, die den Leichnam des Wortes Fleisch werden lässt, die aus dem
Körper einen Leib, eine geistige Leiblichkeit macht. Die phänomenologische Stimme ist jenes geistige Fleisch, das angesichts der Absenz von Welt zu sprechen und sich präsent zu sein – sich zu vernehmen – fortfährt.“
Bei Derrida hat die Dramatisierung der Schrift mit einer intensiven Erfahrung der Stimme zu tun.
Mit Derrida lässt sich sagen, dass die Schrift eine Modalität der Stimme ist.
Die revolutionäre Kraft des Christentums liegt darin, dass sich im neuen Testament das Gotteswort
sich dem Menschen zudreht.
Phänogesang und Genogesang
Zum einen spricht Barthes vom Phänogesang. Er „umfasst alle Phänomene, alle Merkmale, die zur
Struktur der gesungenen Sprache gehören, den Gesetzen des Genres, der kodierten Form der Koloratur, dem Idiolekt des Komponisten und dem Stil der Interpretationen: kurz, alles, was beim Vortrag im Dienst der Kommunikation, der Darstellung und des Aktes steht: wovon gewöhnlich die
Rede ist, wovon der Stoff der kulturellen Werte gewebt ist, was direkt mit den ideologischen Alibis
einer Epoche verzahnt ist (Subjektivität, Ausdruckswirkung, Dramatik, Persönlichkeit eines Künstlers).“ Dagegen der zweite Text: der Genogesang. Der Genogesang ist das Volumen der singenden
und sprechenden Stimme, der Raum, in dem die Bedeutungen keimen, und zwar aus der „Sprache
und ihrer Materialität heraus“; es ist ein signifikantes Spiel, das nichts mit der Kommunikation,
der Darstellung (von Gefühlen) und dem Ausdruck zu tun hat; es ist die Spitze oder der Grund der
Erzeugung, wo die Melodie tatsächlich die Sprache bearbeitet – nicht, was diese sagt, sondern die
Wollust der Laut-Signifikanten, ihrer Buchstaben: wo sie erforscht, wie die Sprache arbeitet und
sich mit dieser Arbeit identifiziert. Es ist, mit einem sehr einfachen, aber ernstzunehmenden Wort:
die Diktion der Sprache.“
Was bei Barthes Wollust ist, ist bei Bachmann pure Not. Für Bachmann ist die Stimme der Callas
die an ihre äußersten Grenzen getriebene Sprechstimme, der Genogesang.
Mit Kolesch lässt sich sagen, dass der ganze Körper zum stimmlichen Ausdruck gehört; wir hören
bzw. sprechen nicht nur mit den Ohren bzw. dem Mund. Dies ist vergleichbar mit Lukrez: Schall
und Ton werden, so Lukrez30, erst hörbar, wenn sie im Körper ein Gefühl wecken. Die Stimme ist
ein körperliches Wesen. Die Grenze zwischen Mensch und Tier ist nur eine Frage der Verfeinerung;
30
De rerum naturae
der Weg vom Anzeichen zum Zeichen ist nicht unbegehbar.
Es ist schwierig, ohne mythische Bilder die Stimme zu beschreiben. Ihr irreduzibler Rest liegt darin,
dass selbst zu sprechen, sprechen mit dem eigenen Körper ist. Der Körper verhandelt auch die Worte die wir sprechen. Sie sind die Partitur, die von der je eigenen Stimme inszeniert wird. Andererseits klingen in Worten verschiedene Stimmen nach, Worte enthalten Stimmen.
Die Stimme ist nicht Supplement der Präsenz, die Stimme ist Präsenz.
8. Einheit
Pronomina.
Handkes „Publikumsbeschimpfung“ ist ein „Sprechstück“. Ihm gegen Regeln voraus, die den
Schauspielern Hörübungen abverlangen (Fussballplatz, Kirche, Fahrrad, Betonmischmaschine anören...). Es thematisiert die Kommunikation zwischen den SchauspielerInnen und dem Theaterpublikum. Die Beziehung zwischen Schauspielern und Publikum wird sichtbar gemacht durch die Verzerrung: „Wir werden nur Schimpfwörter gebrauchen, die Sie gebrauchen“. Das Allgemeine in
Handkes Gemeinem sind die Pronomina (persönliche Fürwörter, Stellvertreter [Lexikon der Sprachwissenschaft]). Bis zu der Stelle wo die Rede vom Sie ins Du wechselt, kommt der Text ohne Namen
aus-- „Glotzaugen“ ist der erste rudimentäre Name. Es gibt davor keine Eigennamen, nur Pronomina. Schon im Wechsel von Sie ins Du liegt eine Beschimpfung, daraus bezieht das Stück Dramatik.
Harald Weinrich31 meint zur Differenz zwischen Sie und Du: Sie sei die Pronominalform, die bei
Erwachsenen üblich sei, wenn kein spezifisches Sozialverhältnis besteht, das Vertrautheit rechtfertigt, bei Erwachsenen, zu denen man sozial Abstand halten will. Es sei die Distanzform.
Das, was jedoch als Grammatik wertneutral sein soll, ist, wie sich zeigt, durchzogen von sozialen
Regulierungen und Implikationen. Das Sie „rechtfertigt keine Vertrautheit“. Bei Weinrich zeichnet
sich das Sie durch die bloße Unterscheidungsqualität zum korrespondierenden Du aus. Der Spielraum zwischen Distanz (Sie) und Vertrautheit (Du) ist aber eine unzulässige, reduktive Festlegung.
Bei Handke macht das Du die Nähe durch das Schimpfen. Aber Schimpfen ist nicht immer ein Akt
der Distanzierung, kann auch auf Nähe hinweisen. Wenn Dusini zu Vorgesetzten Sie sagt, schafft
das Distanz – aber schafft es auch Distanz, wenn er zu einem von uns Du Arschloch sagt? Nein, das
weist auf Nähe hin. Weinrichs Grammatik ist also eine Grammatik der Höflichkeit, kein Analyseinstrument; die Dimension von Vertrautheit und Unvertrautheit ist hinterfragbar.
31
Textgrammatik
Weinrich zum Pronomen Du: es sei die Vertrautheitsform, die alle Personen gebrauchen, die blutsverwandt oder verschwägert sind; angeheiratete Verwandte werden gleich ins Duzen einbezogen.
Außerdem sagen Jugendliche, Schüler, Studenten, Lehrlinge zueinander Du, sowie erwachsene Arbeiter (das sei das Solidaritätsdu-- als Signal der Klassenzugehörigkeit: Das Du hat eine politische
Konnotation und ist von der gesellschaftlichen Konstellation abhängig).
Weinrich zum Übergang Sie-Du: Personen, die Sie sagen, können Du sagen, wenn sie in ein vertrautes Verhältnis gelangen wollen. Dies wird metakommunikativ bewerkstelligt („ich will dir das
du anbieten“). Das Recht dazu haben die Älteren und sozial Höherstehenden. Es hat den Charakter
eines Privatvertrages (Liebe, Freundschaft...).
Doch hier liegt auch das Problem dieser Sicht: Wenn die Gefühle nicht mehr bestehen oder in negative umschlagen bleibt dennoch das Du erhalten (außer bei explizit feindseligen Akten des DuWort-Entziehens). Auch bei Unvertrautheit (eine Litotes) bleibt dann das Du.
Distanz---->Vertrautheit----------->Feindschaft
Sie
Du
Du!
Distanz und Vertrautheit müssen also abgehoben werden von Sie oder Du, zumal bei der Kostellation Feindschaft-Du die Kongruenz von sprachlicher Form und konventionalem Wert zerbricht. Es
muss damit aufgehört werden, einer grammatischen Form ein Geständnis/Bekenntnis zuzuschreiben
Warum ist es so schwer vom Du ins Sie zu gehen? Du-Sagen wird empfunden als eine Serie von Bekenntnissen, die man widerrufen müsste.
In diesem Sinne muss man „lernen, zu sich selbst Sie zu sagen“.
Distanz und Vertrautheit werden mitunter durch Pronomina angezeigt, aber nicht hergestellt.
Bei Handke ist das Beschimpfen durch die Sie-Form in der Theaterkonvention abgesichert, durch
die Rollen (auch das Sagen, dass es keine Rolle ist, ist eine Rolle). Die Schauspieler dürfen beleidigen, solange sie Sie sagen und den Sprechakt der Beleidigung nur fingieren. Dies ist in der SieForm aber gesicherter als in der Du-Form. Der Skandal des Stückes liegt im Umbruch in die DuForm.
Die Qualitäten der Formen sind weitaus vielfältiger als Weinrich sie darstellt. Was im Sie- oder DuSagen Bekenntnis bzw. Geständnis ist, sind Geldmünzen, die in sozialen Interaktionen je nach Einsatz zur Geltung kommen. Die Sie-Form macht Asymmetrien eher bearbeitbar als das Du mit seiner
emotionalen Aufgeladenheit.
Bei den Pronomina handelt es sich im Prinzip um das
Problem der Anrufung
Bei Kafka, „Im Dom“: „Josef K.!“-- Indem K. sich umwendet gesteht er, dass er der Angerufene
war. Dann: „Du bist Josef K.!“, „Du bist angeklagt.“-- Bewegung vom Eigennamen zum Pronomen.
Nur mehr der Erzähler gesteht den Eigennamen zu. Das Du wird immer wieder auf K. zurückgeworfen.32
Wie Gott den Namen Abrahams kennt, kennt der Geistliche den Namen Josef K.s. Jeweils ist es
eine Instanz von oben, die sich in der Stimme artikuliert. Die Anrufung hat mit Macht, Autorität und
Stimme zu tun.
Judith Butler zitiert die Szene der Anrufung von Althusser (der Polizist, der „He, Sie da“, ruft), wo
der Passant, indem er sich umwendet, eine Identität bekommt. Der Akt der Anrufung wird zum Akt
der Konstitution. Das Subjekt hat vor der Anrufung keine Existenz. Abraham wie K. werden erst
durch die Anrufung sichtbar.
Die Anrufung ist die Bedingung sozialer Existenz. Deshalb halten wir uns selbst an verletzenden
Ausdrücken fest, die uns wenigstens irgendeine Form der diskursiven Existenz bieten.
Die Subjektivität wird so als Unterwerfung betont, die Vorstellung wird korrigiert, dass das Subjekt
seiner Rede vorausgeht. Das Subjekt hat in der Sprache die Position des Adressaten und der Adressierenden inne. Butler kritisiert an Althusser, dass dieser der Stimme göttliche Macht zuschreibt, die
das hervorbringt, was sie benennt. Sie meint, man muss die Anrufung von der Stimme abtrennen,
weil sich die Anrufung in Diskursen konstituiert. Die Stimme gehört zum Bild der souveränen
Macht; nach dem Vorbild der göttlichen Macht der Benennung. Schließlich ist die Erschaffung der
Erde ein Sprechakt. In Wirklichkeit gibt es aber immer Möglichkeiten, der Macht zu widerstehen.
Die Frage ist, wie wir mit dem, was in der Sprache vor uns liegt und durch uns hindurchgeht, umgehen. Man kann nicht bei Null anfangen beim Sprechen. Es ist die Frage, wie und was wir zitieren.
In der Wiederholung liegt die Möglichkeit der Verschiebung.
9.Einheit
Rhetorisierung der Grammatik
Aktiv-Passiv
Der rhetorische Effekt von Grammatischem ist nicht zu unterschätzen. Das Kategoriensystem, das
zwischen Aktiv und Passiv unterscheidet, hält diese beiden Formen weit über die Grammatik hinaus
auseinander. Es instituiert diese Dichotomie als Möglichkeit des Denkens, es instituiert ein grammatisches Schema als Form der Weltordnung (z.B. Täter-Opfer-Schema: könnte man es nicht durch
ein Opfer-Täter-Schema konterkarieren?).
32
Die Anrufung durch Namen/Pronomina ist auch eine prominente biblische Figur.
Subjekt-Objekt-Bestimmung der Syntax
Daran haben sich ganze philosophische Richtungen abgearbeitet. Sprachliche Interaktionsmuster
setzen hier Prioritäten. So wäre der Ausdruck Objekt-Subjekt-Bestimmung schon eine Abweichung.
Diese Kategorisierungen sind immer auch Funktionalisierungen.
Es findet eine allumfassende Naturalisierung der semiotischen Sachverhalte statt, die sich dem
Bewusstsein der Form schnell entzieht.
Was macht eine Äußerung mit mir? Was lasse ich mit mir machen? Was macht die Grammatik mit
mir? Was lasse ich mit mir grammatisch machen?
Was macht eine „Höflichkeitsform“ mit mir? Was mache ich mit so einem Du? Wo wird ein Vertrautheitsangebot zur Nötigung? Warum verweigere ich jemandem die Vertrautheitsformen des Sie?
Reihe der Personalpronomina
Die Reihe der Pronomina ist viel komplexer als das ich-du-er..., es gibt viele Überschneidungen,
wie etwa wir für ich, ich für wir, du zu ich, du zu Sie, du zu wir, du zu ihr,...
Die hybrideste Pronominalform ist „sie“:
- 2. Pers. Sg. Höflichkeitsform
- 2. Pers. Pl. Höflichkeitsform
- 3. Pers. Sg. fem.
- 3. Pers. Pl. mask.
- 3. Pers. Pl. fem.
- 3. Pers. Pl. neut.
- 3. Pers. Pl. gemischt
Doch wird nicht erst mit dieser Aufzählung die Sexualisierung erwirkt? Das Sie im Pl. bleibt doch
in Wahrheit offen, mit unbestimmtem Genus.
Benveniste meint, die Einheitlichkeit der Pronominalreihe ist nicht zu halten. Person zu sein ist nur
eine Qualität der beiden ersten Personen. Der dritten Person fehlt die Person. Die einheitliche Pronomenreihe verdeckt die Unterschiedlichkeit der sprachlichen Formen.
In der arabischen Grammatik beispielsweise ist die erste Person die, die spricht, die zweite Person
die, an die die Rede adressiert ist und die dritte Person die, die abwesend ist.
Gerade da, wo die Grammatik etwas „Persönliches“ vortäuscht, setzt Benveniste an. Das Sprechen
über jemanden versachlicht, macht sie oder ihn zur Un-Person.
Es besteht eine Scheu im Wechsel zwischen zweiter und dritter Person. Das kann die akute Drohung
einer gewaltsamen Szenerie sein; offensiv kann eine Rednerin anwesende Personen mit der dritten
Person anreden.
Der Drang zur Verlebendigung der dritten Person kann bis in symbolische Vernichtung führen. Die
Form des Gerüchts etwa: man spricht in der dritten Person über jemand Abwesenden, aber so, dass
die Rede der dritten Person gleichsam vorausgeht und hinter jeder Situation lauert auf die diese dritte Person trifft. Die Sprechinstanz ist notwendig angewiesen auf jene, die die Rede weitergeben.
Diese „Vernaderung“ läuft auf einen sozialen Hinrichtungsprozess hinaus; das Gerücht ist eine besondere Form der sozialen Gewalt.
Die dritte Person ist die Non-Person, die Nichtperson, die Nullperson. Sie ist immer nur Gegenstand der Rede, niemals ihr Agent. Sie kann selbst niemals sprechen, nur zum sprechen gebracht
werden. Gerade auch die Sexualisierung läuft über die dritte Person. Weinrich schreibt, „in den Pluralformen ist die Opposition Masc. vs. Fem. vs. Neutr. aufgehoben“. Das „versus“, das Weinrich
hier schreibt, kann in diesem Kontext nicht ohne weitere Implikationen gelesen werden. Schon die
Adversativsetzung selbst ist davon abhängig, wie man das Verhältnis denken will – die Antithese ist
nur eine Möglichkeit. Die Bibellektüre etwa hat „sie“ lange Zeit als pars pro toto von „er“ gelesen;
Platon hat er und sie als Komplemente eines Hendyadioins gesehen. Man kann es auch einfach als
Enumeratio aufzählen.
Weinrich weiter:
„Einige Vertreterinnen und Vertreter der 'feministischen Linguistik' haben gelegentlich Anstoß daran genommen, daß das neutrale Pronomen man, das etymologisch auf das Nomen Mann zurückgeht, sowohl für Männer als auch für Frauen gebraucht wird, da es ja die Opposition masc. vs. fem.
neutralisiert. Scherzhaft oder ernsthaft findet man daher in einigen, hauptsächlich journalistischen
Texten bisweilen das neugebildete Kunstpronomen frau für textuelle Zusammenhänge, in denen
sich die Reichweite der Neutralisierung tatsächlich nur auf Personen weiblichen Geschlechts erstreckt“
Dieser Text ist ein rhetorisches Minenfeld. Erstens verkennt Weinrich das Problem: es geht nicht
darum, dass „man“ für Frauen und Männer gebraucht wird, sondern darum, dass Frauen nur
scheinbar gleichermaßen miteingeschlossen sind. Wenn frau ein Kunstpronomen ist, muss man allerdings sagen, dass die Etymologie auch nur eine Kunst ist. Die Frauen tauchen in diesem Text nur
als journalistisch tätig auf. Außerdem ist die Argumentation eine contradictio in adiectio: wie soll
denn das weibliche Geschlecht erkannt werden, wo es doch ohnehin neutralisiert ist.
Die große Frage besteht darin, wie es möglich ist, dem Verhältnis von Sprache und Geschlecht eine
Kontingenz zu sichern, ein Nebeneinander, das verschiedenste Choreographien nebeneinander
möglich macht.
Virginia Woolf: Orlando, S. 103f:
„Er streckte sich. Er erhob sich. Er stand in völliger Nacktheit vor uns, und während die Trompeten
Wahrheit! Wahrheit! Wahrheit! schmettern, bleibt uns keine Wahl, als zu gestehen – er war eine
Frau.... ...“-- Es zeigt sich hier eine auffallende Inkongruenz zwischen der Prädikation („Frau“) und
dem Pronomen. Orlando ist noch einige Zeit ein „er“, wo er schon als Frau dasteht. Orlando braucht
also länger, um zu einer „sie“ als zu einer Frau zu werden. Dieser verzögerte Übergang macht auf
den Konstruktcharakter der Gleichsetzung von Geschlecht und Sprache aufmerksam. Die Bindung
von Geschlecht und Sprache wird so unsicher, dass eine Suspension möglich scheint; dann aber
kommt es doch zur Konvention.
Robert Walser: Der Gehülfe.
„Da stürzten plötzlich Tränen in die Augen der alten Frau. [...] Frau Wirsich hatte die Hand zurückgenommen, gleichsam erklärend, es sei ihr nun gezwungenermaßen ganz gleichgültig, ob jetzt ihr
Sohn trinke oder nicht. Ihre Bewegung sagte: Ja, schenkt ihm nur ein. Es ist ja doch alles verloren!
Wirsich nippte ein wenig an dem Glas, er schien eine unwiderstehliche Scheu zu haben vor dem
Genuß des Dinges, das ihn von einer in der Tat für ihn gemütlichen Weltposition herabgestürzt hatte.
O Frau Wirsich, deine verweinten Augen trüben ja ganz deine paar angenommenen, glänzenden
Weltmanieren. Wie hattest du dir vorgenommen, dich fein zu bewegen, und wie hat dich nun dein
Gram überwältigt. Deine alten Hände zittern recht sehr. Was spricht dein Mund? Nichts? Ei, Mutter
Wirsich, man muß sprechen in guter Gesellschaft. Sieh, sieh, wie dich eine gewisse andere Dame
anschaut.“
Der Erzähler spricht hier eine Figur an. Diese hört auf, dritte Person zu sein und wird zur zweiten.
Wie kommt der Erzähler dazu, die alte Frau mit du anzureden? Warum ist der Erzähler mit seiner
Figur per du? Macht er sich zu einem Sohn? Spricht er mit seiner Mutter?
„Frau Wirsich, deine verweinten Augen...“-- Was ist das überhaupt für eine Anrede? Bezeugt das
Sympathie oder ist es ein Sichhinunterbeugen? Eine Mahnung, die Illusion betreffend?
„Was spricht dein Mund? Nichts?“-- der Erzähler will seine Figur zum Reden zwingen. Aber was
will er wissen? „Ei, Mutter Wirsich, man muss sprechen...“-- aus der Altklugheit der Märchen.
10. Einheit
Virginia Woolf: Orlando S. 181ff
„... 'Madam', rief der Mann, auf den Boden springend, 'Sie sind verletzt!' / 'Ich bin tot, Sir', antwortete sie...“
Die Passage kommentiert (als Ganze) die Rolle der Frau Ende des 19. Jahrhunderts in England. Orlando will sich dem Zeitgeist ergeben und heiraten. Im „ich bin tot, Sir“, liegt darin ein performativer Widerspruch?
Wikipedia definiert den performativen Widerspruch als Folge der Negation von Selbstbezüglichkeit
– wenn eine auf sich selbst anwendbare Aussage negiert wird. „Dieser Satz ist falsch“, bezieht sich
hier nicht auf einen anderen Satz, sondern auf sich selbst; performative Widersprüche sind so auf
die Lesart angewiesen, die diese Selbstbezüglichkeit erst ins Spiel bringt.
Ist nun, dass eine Tote spricht, ein performativer Widerspruch?
Es ist weniger ein Witz als vielmehr ein ernster Scherz. '„Ich bin tot, Sir“, antwortete sie'. Bei Benveniste kommt ja der Gedanke ins Spiel, dass die Reihe von ich, du,... die Personsdistinktionen verdeckt. Die erste und die zweite Person haben Person – in der dritten Person ist die Person unpersönlich, sie ist eine grammatikalische Nullperson. Die dritte Person wirkt immer versachlichend, die
Grammatik täuscht eine Person nur an. In der dritten Person wird eine Person zum Gegenstand, sie
kann selbst niemals sprechen. Im Zitat aber kommt es immer zu einer Umkehrung: die Worte einer
dritten Person werden zu den Worten einer ersten Person.
Umgekehrt macht man in der Autobiographie sich selbst zu einer dritten Person. Man spricht von
sich als von einer dritten Person. Benveniste meint, ich und du gibt es nur in der Form des Sprechakts, ohne Sprechakt gibt es kein ich. Der Diskurs kann nicht ohne Gegenüber auskommen. Das
ich-Pronomen ist zweifach ausgerichtet: es referiert auf die Sprecherin und auch auf das Ich, auf
die Kategorie des Referierten. Bachmann33 unterscheidet zwischen dem ich und dem Ich. Durch die
Großschreibung geht das Ich in die dritte Person über. Wenn ich somit über das Ich spreche, bin ich
in meiner ich-Rede ungesichert. Das kleine ich ist (s. Benveniste) jedesmal einzigartig, das große
Ich ist auf die Referenzklasse bezogen.
Der Redakteur Krüger zitiert Novalis und Freud. Novalis meinte, in jedem Menschen stecke eine
kleine Familie; Freud sagte, in jedem Menschen verstecke sich eine kleine Gesellschaft. Jeder
Mensch hat so viele ich, doch die Gesellschaft will nur ein Ich von uns, will uns auf ein ich festschreiben. Dusini macht jedoch darauf aufmerksam, dass gerade in Zeiten der Flexibilität und Mobilität viele ich von uns verlangt werden. Worauf Krüger allerdings zurecht aufmerksam macht, ist
die Dringlichkeit einer Identität, die sich angesichts der großen Ichs das kleine ich bewahren will.
Stuart Hall spricht von einer Narrativierung des Selbst, aus der Identitäten hervorgehen. Dies bringt
die Frage nach der Autobiographie auf den Plan. Lejeune meinte, der autobiographische Diskurs
verlange einen Vertrag zwischen Autorin und Leser, wonach die Leserin der Autobiographie das
ich-sagen als zwingende Referenz auf eine bestimmte wirkliche Person akzeptiert.
Wenn das kleine ich nur im Sprechakt besteht – hat dann die These, dass alle Texte autobiographisch seien, noch ihre Berechtigung?34 Ist das explizite ich nur die Aktualisierung des impliziten
ich, das sich immer ausspricht? Sage ich sogar dann ich, wenn ich nicht ich sage? Was hat es dann
mit der Verantwortung der ich-Akte auf sich, wo ich doch immer ich sage? Ein Richter beispielsweise spricht das Urteil im Namen der Republik, aber er spricht immer auch selbst! Butler postuliert
33
34
In: Das Ich in der Dichtung
Paul de Man meinte, wenn alle Texte autobiographisch seien, sind gar keine Texte autobiographisch. Dies ist eine fatale Logik. Autobiographie ist Menschenrecht, das Recht, dass nicht jemand für mich spricht, sondern ich selbst
kann mich aussprechen.
ja, dass sich die Verantwortung gerade aus der iterablen, zitathaften Struktur ergibt. Etwa beim Zitieren einer Schimpfrede: Wie kann ich selbst in der Negation die Kraft der Äußerung
kontrollieren?
Muss ein Äußerungssubjekt unbedingt ich sagen, um von sich zu handeln? Kann nicht gerade auch
im Sprechen von Anderen oder über oder für Andere eine Äußerungsinstanz sich als Subjekt modellieren?
Es gibt eine Skala des expliziten Gebrauchs des kleinen ich abnehmend bis hin zur dritten Person.
Der Gang in die dritte Person ist oft effizienter als die Äußerungen, die explizit ich sagen. Es gibt
somit die Möglichkeit, das ich in meiner Rede zu mir auf unterschiedliche Distanz zu setzen. Ich
kann mich auf verschiedene Distanz halten.35
Was ist nun also damit gemeint, wenn wir „autobiographisch“ sagen? Dusini meint, es gibt drei
Ebenen des Autobiographischen:
1) Auf der Ebene des Diskurses (im Foucaultschen Sinne): Es handelt sich um ein Ensemble von
Äußerungen, die sich unter der Frage versammeln, was es heißt, dass Äußerungen als von oder über
sich selbst zu sprechende zu verstehen sind. Was passiert, wenn jemand über sein Leben spricht?
2) Auf der Ebene der Gattungen: Die Autobiographie ist hier die Erzählung des ganzen Lebens, im
Gegensatz zu anderen autobiographischen Gattungen (wie Brief, Tagebuch...).
3) Konkrete Identifizierung von Text und Person: die Autobiographie konstelliert die Äußerung unkündbar mit dem Namen.
Auf jeder Ebene bilden die Konstituenten miteinander Strukturen aus – Begriffe wie Selbst, Ich,
Subjekt werden auf jeweils anderer Ebene anders begriffen (das Diskursselbst ist anders als das
Gattungsselbst).
In der Autobiographie kann im Verhältnis zwischen Text und Leben der Text eine Metapher, eine
Metonymie oder eine Metalepse in Bezug auf das Leben sein. (Metalepse z. B.: das Leben aufgrund
des Schreibens)
Nach dem Schreiben einer Autobiographie lebt man anders; die Autobiographie wird immer auch
strategisch operationalisiert.
Durch die Partikularisierung des großen Ich schafft man für sich eine Konstellation des kleinen ich?
Das kleine ich ist der autobiographische Mehrwert. Die Geschichte (Historie) ist nicht in den Konstituenten fassbar, sondern nur dazwischen.
Wenn Begriffe totalisiert werden, ist das ein Essentialismus. Es ist aber nie etwas so, wie es ist. Es
35
vgl. Zu-sich-selbst-Sie-Sagen
ist immer nur unter bestimmten Umständen so. In der Autobiographie jedoch findet sich immer ein
essentialistischer Rest. Man will die Person lesen. Das Autobiographische arbeitet mit einem Effekt
des Essentiellen. Dies wird dadurch möglich, weil sich im essentialistischen Effekt ein Ort erneuert,
der die Autobiographie überhaupt ermöglicht: der Körper, in seiner Verletzlichkeit, der immer auf
seine Rede verwiesen ist. Daran hängt die Bedingung des historischen Subjekts: wenn es keine
Identität gibt, können wir die Historie nicht mehr sprachlich fassen.
11. Einheit
Zur Autobiographie
Die aufgeworfene Frage nach der Identität führte uns zur Autobiographie. Wie ist nun in Bezug auf
diese das Verhältnis von Performativität und Essentialität zu denken?
Die Rhetorik selbst hat immer schon den Zusammenhang von Körper und Rede reflektiert und beschrieben. Was macht der Körper mit der Rede? Was macht die Rede mit dem Körper? Es scheint
eine Unablösbarkeit des einen vom anderen vorzuliegen. Die Privilegierung der Schrift hat aber
dazu geführt, dass die Trennbarkeit von Körper und Rede heute so alltäglich geworden ist. Wagner
sieht den materiellen Träger einer Äußerung (mit Geschlecht, Körper…) als den textexternen Äußerungsursprung. Genette wies darauf hin, dass die Unterscheidung von Ich-Erzähler und Er-Erzähler
eine trügerische ist. Jeder Akt des Erzählens erfolgt nämlich in der ersten Person. Jeder Lesakt eines Textes schreibt den Äußerungsursprung einem Ich zu. Dieses Ich ist die Rolle, die vom textexternen Äußerungsursprung produziert ist. Diese stattfindende Zuschreibung verführt laut Wagner
naive Menschen dazu, den Erzähler mit der Autorin gleichzusetzen. Sie verleitet dazu, ohne Differenzierung den Sprechakt einem Autor zuzuschreiben.
Dusini setzt dagegen, um nicht darauf zu verfallen, die graduelle Distanzierung des Ich zu sich
selbst; das Zu-sich-selbst-auf-verschiedene-Distanz-Gehen.
Nach Benveniste sind die Funktionen der ersten und zweiten Person in Vebindung mit zeitlichen
und räumlichen Deiktika auf Diskursinstanzen verwiesen und irritieren deswegen in schriftlichen
Erzähltexten. Es kommt zu einer Doppelung der Leerzeichen: „Heute reiste er ab“—in der Zeit des
Textes oder in der Zeit des Lesens? Die Diskursinstanz ist also im Text eine andere als in der Rezeptionssituation. Deswegen produzieren Deiktika aber auch eine Anwesenheitsfunktion:
„Da [die zeitlichen/räumlichen Deiktika] keine materielle Referenz besitzen, können sie
nicht schlecht angewendet werden; da sie nichts behaupten, sind sie der Bedingung der
Wahrheit nicht unterworfen und entgehen jeder Verneinung. Ihre Rolle besteht darin, das
Instrument zu einer Umwandlung zu liefern, die man die Umwandlung der Sprache in den
Diskurs nennen kann. Wenn er sich als Einzelperson identifiziert, indem er ich sagt, stellt
sich jeder Sprecher jeweils als Subjekt hin“36
Doch ist die Rede von diesen leeren und mobilen Zeichen („ein einziges, aber mobiles Zeichen ich,
das von jedem Sprecher angenommen werden kann“, Benveniste, ebd.) verführerisch, wie Wagner
an der Linie Benveniste-Foucault zeigt: „Subjektpositionen kann man nicht leer von kulturellen
Prägungen denken. Verschiedene Diskurse zu verschiedenen Zeiten und Orten ermöglichen ganz
bestimmte Subjektpositionen und schließen bestimmte Subjektpositionen aus. Der leere Platz kann
vielfach, aber nicht beliebig ersetzt werden.“37
Wagner wirft also die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Ich-Sagens auf (da ja Politik und kulturelle Formatierung bedacht werden müssen). Welche Freiheiten kann ich in einem Redeakt überhaupt wahrnehmen?
Wird ein Sprecher als der materiale Träger einer Äußerung definiert, wie bei Wagner, dann zeigt das
nicht nur die terminologische Anstrengung, sondern weist auch auf die Mediengeschichte hin. Es
weist hin auf von der Person abgewandte Speicher- und Widergabemedien. Wenn das Ich der Träger
der Äußerung ist und der Körper das Material der Äußerung, wie weit muss dann schon das Denken
aus dem Körper verschwunden sein, dass man es so wieder hineinbringen muss?
Ist der Satz vom Körper als materiellen Träger der Äußerung eine Metapher? Eine lebendige Metapher? Eine tote Metonymie? Kann man ein metonymisches Verhältnis zum eigenen Körper haben?
Welches ist der Körper, der die symbolischen Verletzungen erleidet? Warum suchen wir nach Spuren des Körpers in den Medien? Warum suchen wir Druckfehler in Büchern? Und wie ist dies alles
hinsichtlich der physischen Verletzbarkeit des Sprechers zu denken?
Ich-Sagen ist eine Sache der Verletzlichkeit, der körperlichen wie der sprachlichen. Das essentialistische Beharren ruft einen Ort auf, der die autobiographische Rede bedingt.
„Ich bin tot, Sir“, antwortete sie.
Dusini bezweifelt, dass es sich bei diesem Widerspruch von Referenz und Diskursinstanz um einen
performativen Widerspruch handelt.38 Wer spricht da? Es ist ein Dialog, der durch Anführungszeichen kenntlich gemacht wird. Die dritte Stimme ist die Erzählinstanz, die über die Person Orlando
anhand von Orlando und über Orlando in der dritten Person spricht. Diese dritte Person ist wiederum in die erste Person der Erzählinstanz eingebettet, die wiederum für die Ich-Rede Orlandos verantwortlich ist. Auch der Erzählinstanz sind die Worte ja in den Mund gelegt.
Autor--- Erzählinstanz--- Figur. Die Figur ist die inklusivste all dieser Instanzen. Die Lesenden machen das Sprechen Orlandos mit, wenn sie lesen; die Romanautorin legt sozusagen die Worte Orlandos den Lesenden in den Mund. Die Lesenden sind auch verstrickt in die pronominalen Konstella36
37
38
Benveniste, Probleme S. 283
Wagner, Das Ich der Texte. S. 154
Eine ähnliche Szene findet sich bei Kafka auch: „Siehst du denn nicht zwei Schritte weit…“—K. spricht weiter, obwohl sich die Vollstreckung eines Todesurteils ankündigt.
tionen und Paradoxien. Um mit Benveniste zu reden, erzwingt der Satz einen Auseinanderfall von
Referenz-Ich und Diskurs-Ich. Die Referenz wird gleichsam ent-sichert: Wenn sich das „ich“ auf
den Diskurs bezieht, kann es nicht tot sein- aber es stellt sich nur über das Sprechen her. Es hat jenseits des Sprechakts keine Identität. Es hat kein großes Ich mehr! Das Ich trifft auf keine möglichen Identifikationsangebote; trifft auf keine großen Ichs mehr.
--Es gibt eine Unmöglichkeit des kleinen ich der Diskursinstanz, in eine Dimension des „mein Ich“
überzugehen.
--Mit dieser drohenden Unmöglichkeit steht auch der Übergang zur dritten Person auf dem Spiel,
der Übergang vom Sprechakt zur sozialen Kommunikation. Der Übergang zur dritten Person ist ja
Bedingung der sozialen Existenz.
--Es gibt für das Subjekt ein nacktes Sprechen (wenn das kleine ich nicht zum großen Ich übergehen kann), das noch lange kein Leben ist. Es ist das Sprechen der Infamen, das infame Sprechen.39
Bachmann hat eine ähnliche Lesart des Ich vorgeschlagen in „Das schreibende Ich“.40 „Vom Ich
möchte ich sprechen…“- Das sprechende ich äußert den Wunsch, vom großen Ich zu sprechen. Von
seinem Aufenthalt in der Dichtung. Im Text geht Bachmann aus vom kleinen ich hin zum großen
Ich; alle Nahtstellen, wo das kleine ich zum großen Ich wird, sind durch Zerstörung und Bruch gekennzeichnet. Sie spricht vom Ich in seiner lebenszeitlichen Entwicklung, von der Entdeckung des
Ich-Sagens, von dem Punkt wo aus dem ich mein Ich wird, vom Ich des Romans, vom Ich des Gedichtes, vom historisch veränderbaren Ich… Der Reichtum der aufgeworfenen Ich-Instanzen macht
es dem kleinen ich aber nicht leichter. Je mehr Ich-Möglichkeiten an das sprechende Subjekt herantreten, umso fragiler wird der Zusammenhang zwischen Sozialem und Individuellem. Vgl. das Ende
eines Romans von Beckett: „Man muss weitermachen, ich werde weitermachen[…] ich muss Worte
sagen, bis sie mich finden…“- hier sehen wir das nackte Sprechen. Ein ich-Sagen, ohne dass dem
ich-Sagen eine soziale Dimension zugewiesen werden kann. Den Sätzen wird sozial keine Referenz
zugewiesen. Man lässt jemanden sprechen, ohne dass ihm gesellschaftliche Referenz gewährleistet
wird, man verweigert ihm die Integrität der dritten Person.
Im Prinzip ist es das Problem der traumatisierten Rede in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Bachmanns ich versuchte, Asyl in der Dichtung zu finden. Dichtung ist das nackte Sprechen in einer fremden Sprache.
Könnten unsere großen Ichs heute andere sein als die der sechziger oder siebziger Jahre? Inwiefern
39
40
In der Erklärung des Etymologischen Wörterbuchs des Begriffes „infam“ wird all das weggelassen, das einen Ausschluss suggerieren könnte.
Bachmann ist eine Autorin, die von der Lyrik zur Prosa übergegangen ist. Dieser Wechsel lässt sich auch pronominal lesen. Laut Jakobson ist der Gegensatz zwischen der ersten Person des sprechenden Subjekts und der dritten Person eine der bedeutsamsten Oppositionen, die das grammatische System insgesamt inszeniert. Auf diesen Gegensatz
stützen sich die Definitionen von Lyrik und Prosa als Sprechen in der ersten bzw. dritten Person. Das große Ich der
Lyrikerin wird sozusagen aufgegeben zu diskursiven ich-Sagen in der Prosa.
bin ich tot? Inwiefern sind wir tot?
Es ist das Thema der Infamen, das die rhetorische Auseinandersetzung trägt. Vielleicht heißt das,
was wir hier tun, nicht nur, Texte zum Sprechen zu bringen, sondern die Stimmen in den Texten hören zu können. Stimmen ohne Gewähr.
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