Musiktherapeutische Umschau Online Eha Rüütel Integrative kreative Therapie in Estland - ein Überblick zur Entwicklung der Musiktherapie und der künstlerischen Therapien Kreative Selbstdarstellung und künstlerische Hobbies sind ein natürlicher Teil des Lebens in Estland. Ein Beweis dafür ist die anderthalb Jahrhunderte lange und immer noch sehr populäre Tradition der Sänger- und Tanzfeste, die alle in Estland tätigen Sänger- und Volkstanzgruppen verbindet. Künste sind für uns Esten auch in kritischen Momenten hilfreich gewesen – das beste Beispiel dafür ist die wiedererlangte Unabhängigkeit Estlands durch die „Singende Revolution” in den Jahren 1987-88. Damals äußerten wir unsere Wünsche und Bestrebungen in Liedern; wir fanden Kraft in der Musik, um an Veränderungen zu glauben und standhaft zu bleiben. Auch Untersuchungen zur Erforschung von Lebensverhältnissen haben gezeigt, dass kreative Hobbies, und hier zuerst die Musik, ein wichtiges Mittel sind, um Stress abzubauen, besonders bei Jugendlichen (Rüütel 1999; Rüütel, Elenurm, Kutsar & Uljas 1998). Gerade deshalb, weil Künste als Hobbies populär sind und eine direkte Auswirkung auf Wohlbefinden und Gesundheit haben, ist es notwendig, von Kunst als spezifischem Therapiemedium zu sprechen und Künstlerische Therapien als professionelles Tätigkeitsfeld in Estland einzuführen. Diese Professionalisierung hat sich auf längere Sicht als komplizierter erwiesen als erwartet. Wir wurden dabei weitgehend durch Initiativen aus dem Ausland unterstützt. Entwicklungsgeschichte der Künstlerischen Therapien Die Entwicklungsgeschichte der Künstlerischen Therapien in Estland geht zurück auf Anfang 1980, als die an therapeutischer Wirkung interessierten Praktiker und Wissenschaftler sich an der Universität Tallinn zusammengeschlossen haben. Es wurden Gäste aus anderen Ländern eingeladen, man hat experimentiert, untersucht und diskutiert über Musik-, Farb- und Bewegungstherapie. Im Mittelpunkt des Interesses stand Musik. Als Wegbereiter estnischer Musiktherapie sind Petri Lehikois, Professor an der Sibelius-Akademie, Finnland, Professor Olav Skille aus Norwegen, (der Autor von vibroakustischer Therapie) und Professor Tony Wigram von der Universität Aalborg in Dänemark zu nennen. Wenn man dieses Vierteljahrhundert professioneller Entwicklung überblickt, zeigen sich einige wichtige Faktoren: dies sind Offenheit, Schlüsselpersonen aus dem Ausland und große internationale Veranstaltungen. Die erste große Veranstaltung Im Rahmen der 19. Weltkonferenz des Internationalen Verbandes für Musikausbildung, die im Jahre 1990 in Helsinki, Finnland stattfand, erfolgte an der Universität Tallinn eine Konferenz für Musiktherapie, deren Leiter Professor Petri Lehikoinen aus Finnland war. Danach erfolgte eine schnelle Entwicklung in Richtung Musiktherapie. Im Jahre 1990 wurde der Verband Estnischer Musiktherapeuten gegründet und seit 1995 ist Estland in der European Music Therapy Confederation und seit 1996 in der World Federation of Music Therapy vertreten. In Zusammenarbeit mit Musiktherapeuten aus dem Ausland hat man mit Weiterbildungskursen angefangen; im Jahre 1996 ist Musiktherapie als Nebenfach an der Universität Tallinn eingeführt worden. Aber allgemein blieb die Anwendung von Musiktherapie bescheiden, bedingt durch das geringe Interesse der Arbeitgeber. Als eine belebende Spritze in diesem langsam etablierten Stillleben wirkte die Unterstützung von Mäzenen: Professor Dr. Hannelore Greve und Professor Dr. Helmut Greve (Deutschland); die wissenschaftliche- und Ausbildungstätigkeit wurde durch die Musiktherapieseminare von Professor Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt an der Universität Tallinn in den Jahren 2001-2007 gefördert. April 08 Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion [email protected] Musiktherapeutische Umschau Online Die zweite große Veranstaltung Im Jahr 2004 fand in der Universität Tallinn das Internationale Symposion für Künstlerische Therapien, „Gewalt und Toleranz” statt, dessen Initiator Professor Dr. Peter Petersen aus Hannover (Forschungsinstitut für Künstlerische Therapien) war. Nach dem Symposion erhielt die therapeutische Anwendung verschiedener Kunstmedien einen eindrucksvollen Aufschwung. Im Jahr 2004 wurde der Verband Estnischer Kreativtherapien (Estonian Society of Creative Therapies) gegründet. Seit 2005 ist die Universität Tallinn assoziiertes Mitglied des European Consortium for Arts Therapies Education (ECArTE). Wir haben das Curriculum Künstlerische Therapien vorbereitet und im Jahre 2007 hat an der Universität Tallinn das dreijährige Bachelorstudium (180 ECTS) und das zweijährige Magisterstudium (120 ECTS) begonnen. Die dritte große Veranstaltung Im Jahre 2007 wird an der Universität Tallinn die 9. Konferenz Europäischer Künstlerischer Therapien stattfinden. Der Initiator ist ECArTE. Welches Ergebnis wird diese Konferenz für die Entwicklung estnischer Künstlerischer Therapie bringen? Unsere Erwartungen sind gerichtet auf breitere Anwendung im allgemeinen Gesundheitswesen; zugleich erhoffen wir auch wissenschaftliche Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen Kunst und Gesundheit. Wesentlich ist uns die Gründung einer Estland-spezifischen (auf die KreativitätsUntersuchungen bezogene) Therapierichtung. Vor allem hoffen wir auf eine breitere Akzeptanz der Künstlerischen Therapien als professionelle Tätigkeit. Das alles würde einen Übergang von äußerer/ausländischer Initiative zu innerer/lokaler Initiative bedeuten. Betonungen der integrierten Richtung Eine Richtung des im Jahre 2007 an der Universität Tallinn eröffneten Curriculums für Künstlerischen Therapien ist die integrierte Anwendung kreativer Tätigkeiten. Diese bezieht sich auf die Tradition der jahrzehntelangen Kreativitäts-Untersuchungen, auf intensive Entwicklung des Gesundheitswesens (im obg. Sinne) und auf die Vertretung verschiedener Künste (Musik, bildende Kunst, Film- und Videokunst, Wort- und Ausdruckskunst, Choreografie) an der Universität Tallinn. Aspekt der Kreativität In Untersuchungen der Kreativität an der Universität Tallinn hat man vor allem das verbale und bildlich kreative Denken von Kindern und Jugendlichen behandelt und für dieses Denken förderliche Faktoren wie soziale Verhältnisse, häusliches Milieu, mit Interessengebieten verbundenes und schöpferisches Verhalten (Heinla, 2006) gefunden. In diesen Untersuchungen hat man Kreativität als eine Fähigkeit definiert, die Voraussetzungen gibt, in jedem Bereich der menschlichen Tätigkeit Probleme in neuer Weise zu lösen und originelle Ergebnisse zu erreichen (Heinla 2002, S. 13). Durch kreative Therapien können wir schöpferische Prozesse einleiten. Rogers (Rogers 1961, S. 350) definiert den schöpferischen Prozess als ein neues Beziehungsprodukt (relational product); dieses erscheint in der Tätigkeit; es lebt einerseits von der Einzigartigkeit der Person und andererseits von Materialien, Ereignissen, Menschen oder Lebensbedingungen. Der kreative Prozess enthält immer mehr als nur die im Therapieraum existierenden Kunstmittel. Immerhin, je größer die Auswahl der Kunstmittel ist, desto mehr Anregungen gibt es für den Prozess. In kreativer Therapie spricht man den Klienten in seiner Gesundheit und seinem Wohlbefinden an. Rogers (1961) spricht in diesem Zusammenhang von konstruktiver Kreativität. Kreativität kann man konstruktiv gestalten, wenn sie auf Offenheit nach allen Seiten der Erfahrung basiert; wenn sie auf der inneren Mitte bei der Bewertung des Produkts (und nicht auf April 08 Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion [email protected] Musiktherapeutische Umschau Online sozialen Standards) basiert und auf spielerischer Haltung, so dass Farben, Gestalten und Verhältnissen frei behandelt werden. Karkou und Sanderson (2006) betonen: Kreativtherapeuten sollen den Boden für den kreativen Prozess vorbereiten und dann den Prozessverlauf fördern. Die Wichtigkeit der Umgebung als Anreiz für Kreativität betont auch der holländische Psychologe Herman Smitskamp (1989). Er glaubt, es brauche für die Entwicklung des kreativen Prozesses zwei Bedingungen: eine Umwelt mit Anregungen, die dem Bedürfnismuster der Person in diesem Moment entsprechen, und die Möglichkeit sich genügend geschützt zu fühlen, um auf solche Anregungen zu antworten. Untersuchungen haben gezeigt, dass einige Menschen begabter sind im verbalen, andere im bildlichen Denken (Heinla 2006). Die Richtung integrierter kreativer Therapien kann Vorteile vor einem spezifischen Kunstmedium haben. Denn so entwickelt sich die Möglichkeit, Kreativität auf der Basis verschiedener verbaler und bildlicher Anregungen zu fördern. Aspekt Gesundheitsförderung In unserem vorliegenden Curriculum möchten wir Gesundheitsförderung als Prinzip verstehen. Damit fördern wir den von Aaron Antonovsky (1979, 1987) aufgestellten Grundsatz der salutogenetischen Orientierung. Dieses Prinzip ist ein Gegengewicht zu den gesundheitlichen Risikofaktoren des klassischen medizinischen Denkens. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen die „salutary factors”, die „negentropisch sind und aktiv die Gesundheit fördern; medizinische Risikofaktoren sind niedriger zu bewerten”. Zudem hat sich die Verwendung der Begriffe Gesundheit und Krankheit erweitert - von der Beschreibung der körperlichen Funktion zu verschiedenen Lebensbereichen. Wir sprechen über gesunde und kranke Gebäude, Organisationen, TV-Shows, Lebensstile, Einstellungen und Selbstvorstellungen von Menschen. So enthält die persönliche Gesundheitsgeschichte des Menschen verschiedene innere und äußere Gesundheitseinflüsse und unterschiedliche Betonungen. Es ist ein dichter Zusammenhang zwischen Lebensbewältigung und Gesundheitsindikatoren. Rogers hat betont, „Wenn der Mensch sich nicht in neuer und originaler Weise genauso schnell an die Umwelt gewöhnen kann, wie die Wissenschaft diese Umwelt verändert, wird unsere Kultur untergehen” (Rogers 1961, S. 348). Schnelle gesellschaftliche Veränderungen stellen für Menschen ständig neue Anpassungsaufgaben. Auch das weist auf den Bedarf nach solchen Gesundheitsdienstleistungen hin, die die Fähigkeit zur Lebensbewältigung entwickeln. Damit erweitern sich auch die Ziele und Möglichleiten der Künstlerischen Therapien außerhalb des klinischen Kontextes. Integrativer Aspekt Die integrierte Richtung bezieht sich auf bestimmte gemeinsame Grundlagen der Künstlerischen Therapien. In diesem Sinne haben Kunsttherapeuten verschiedener Richtungen die folgenden Kennzeichen: demokratische Benutzung der Künste, die die natürlichen, menschlichen Ausdrücke und Prozesse des Handelns und Gestaltens bestätigen; Glauben an präverbale Entwicklung der Künste; der Hinweis auf die Person als Ganzes; Betonung der Heilung; therapeutisches Potenzial der Künste; Kreativität ist angesehen als entscheidend wichtige Rolle im Prozess der Künstlerischen Therapie (Karkou & Sanderson 2006). Wir sind überzeugt, dass die Entwicklung des Handelns früher als verbale Fähigkeit beginnt. Auch glauben wir zu wissen: früher zurückliegende Erfahrungen von Kunst (in auditiver, Bewegungsoder visueller Form) sind in jedem von uns als päverbale Erinnerungen gespeichert. Sie bestimmen durchgehend unser Erwachsenenleben mit (Payne 1990). So ergibt sich: indem wir Mittel und Verfahren aus mehreren schöpferischen Bereichen kombinieren, können wir Therapieziele auf neue Art erreichen. Die Entwicklungsgeschichte estnischer Künstlerischer Therapien ist eklektisch und abhängig von ausländischen Strömungen gewesen; ähnlich ist auch das Profil Künstlerischer Therapien in Estland geformt – typisch ist die Verbindung verschiedener Richtungen und Medien. Positive Ergebnisse von kombinierten Medien zeigte auch die Untersuchung von therapeutischer April 08 Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion [email protected] Musiktherapeutische Umschau Online Intervention, bei der mit der vibroakustischen Therapiemethode (Skille 1989) Musikhören, Zeichnen, Checkliste von Selbstanalyse und Gespräche verbunden wurden (Rüütel, Ratnik, Tam & Zilensk 2004). Das Ziel kreativer Therapie ist auf die schöpferische Lebensbewältigung des Klienten gerichtet. Dabei ist auch wesentlich die professionelle Selbstbestimmung der Therapeuten. Sie sind offen für die Möglichkeiten ihrer Techniken und Materialien und können so ihr eigenes schöpferisches Potenzial erreichen. So ist jeder kreative Therapeut in seinem Ausdrucksmittel einzigartig, genau so wie jeder Künstler, jeder schöpferischer Mensch. Der therapeutische Raum, die therapeutische Beziehung, der therapeutische Prozess und das Ergebnis sind ein Produkt der Umstände (relational product). Auf diesen Aspekt weist auch Alex Howard in seiner kritischen Analyse über die Natur und den gegenwärtigen Stand bei der Beratung hin: „Jeder humanistische Künstler, wäre er Komponist oder Berater, würde vor allem als Person in seiner glückenden oder misslingenden Tätigkeit zu betrachten sein. Seine frühere Ausbildung sollte weniger bedeutend sein als seine gegenwärtige praktische Tätigkeit” (Howard 2005, S. 223). Pavlicevic (1999, S. 86) hat in ihrem Artikel über den musiktherapeutischen Dialog gesagt: Dialoge helfen, unsere Realität zu gestalten: „Der Akt vom Sprechen mit anderen formt die Weise wie wir denken, und ermöglicht uns ständig zu erschaffen und neu zu erschaffen, unsere Welt zu formen und zu definieren”. Das Curriculum Künstlerischer Therapien ist ebenfalls ein Produkt der gegenwärtigen Umstände; es steht am Anfang seiner Entwicklung und ist für Diskussionen geöffnet Literatur Antonovsky, A. (1979): Health, stress and coping: New perspectives on mental and physical well being. San Francisco: Jossey-Bass. Antonovsky, A. (1987): Unraveling the mystery of health: How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass. Heinla, E. (2002): Lapse loova mõtlemise seosed sotsiaalsete ja käitumisteguritega [Relationship of child creative thinking with social and behavioural factors]. Tallinna Pedagoogikaülikool, sotsiaalteaduste dissertatsioonid. Tallinn: TPÜ Kirjastus. Heinla, E. (2006): Creative thinking of adolescents in Estonian society. Young, 14(3), 235-255. Howard, A. (2005): Counselling and identity: Self realisation in a therapy culture. New York, NY: Palgrave Macmillan. Karkou, V. & Sanderson P. (2006): Arts therapies: A research based mapof the field. Edinburgh: Elsevier. Payne, H. (1990): Creative movement and dance in groupwork. Oxon: Winslow. Pavlicevic, M. (1999): With listeners in mind: creating meaning in music therapy dialogues. The Arts in Psychotherapy, 26, no 2, 85-94. Rogers, C. R. (1961): On becoming a person. A therapist’s view of psychotherapy. London: Constable. 349-359. Rüütel, E. (1999): Õpilaste ja õpetajate arvamusi koolistressist [Students and teachers oppinions about school stress]. Haridus, 6, 34-38. Rüütel, E., Elenurm, T., Kutsar, D.,Uljas, J. (Hg) (1998): Tudengitervis: arve ja näpunäiteid [Students health: facts and suggestions]. Tallinn: Tallinn Pedagogical University. Rüütel, E., Ratnik, M., Tamm, E., Zilensk, H. (2004): The experience of Vibroacoustic Therapy in the self-development of adolescent girls. Nordic Journal of Music Therapy, 13 (1), 33-46. Skille, O. (1989): VibroAcoustic therapy. Music Therapy, 8 (1), 61-67. Smitskamp, H. (1989): The creative process in therapy. In: Houben, J., Smitskamp, H. , te Velde, J. (Hg.): The creative process. Part I: Applications in therapy and education (33-39). Culemborg, Netherlands: Phaedon. Autoren Rüütel, Eha Prof. Ph. D., Faculty of Fine Arts Tallin Univ., Tallinna Ülikool, Kultuurteaduskond, Lai 13, 0133 Tallinn. E-mail: [email protected] Univ.-Prof. Dr. Peter Petersen, Kauzenwinkel 22, D 30627 Hannover In Zusammenarbeit mit Peter Petersen; aus dem Estnischen übersetzt von Grete Arro. April 08 Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie, Libauer Straße 17, 10245 Berlin Internetredaktion [email protected]