Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Fortuna Imperatrix Mundi 1 O Fortuna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Initiale Monteverdi und Curt Sachs Kontrast Rhythmus 2 Fortune plango vulnera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Fortuna Vom mittelalterlichen Text zu Carl Orffs Komposition I. 3 Primo vere Veris leta facies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Debussy Exotik im Ausdruckstanz Mittelalterliche kirchliche Musik als Vorbild 4 Omnia sol temporat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Harmonik 5 Ecce gratum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Tonart Strophenform: Wiederholung und Steigerung Aussprache des Lateinischen Uf dem anger 6 Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Zwiefache Orff und die bayerische Volksmusik »Klavier-Übung« als Vorlage Zusammenarbeit mit Dorothee Günther Blockflöte 7 Floret silva nobilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Motettischer Charakter Der Übergang von der lateinischen zur deutschen Sprache 8 Chramer, gip die varwe mir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Der Inhalt des mittelalterlichen Codex Buranus Die Musik im mittelalterlichen Codex Buranus 9 Reie – Swaz hie gat umbe – Chume, chum geselle min – Swaz hie gat umbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Textübersetzung wird zugrunde gelegt? Oper, Oratorium oder Kantate? »Mit magischen Bildern« 61 10 Were diu werlt alle min . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Orffs Herkunftsfamilie: geprägt von Militär, Wissenschaft und Musik Orff und das Militär Orff und der Faschismus II. In Taberna 11 Estuans interius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Die Vagantenbeichte Archipoeta 12 Olim lacus colueram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Groteske Klangfarbe Tenor oder Altus? Jazz 13 Ego sum abbas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Perkussionsinstrumente 14 In taberna quando sumus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Reim auf Latein Perkussion und Sprechen III. Cours d’amours 15 Amor volat undique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Eine Frau betritt die Bühne 16 Dies, nox et omnia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Verzierungen Virtuosität versus Elementares 17 Stetit puella. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Die komponierte Handlung Körperperkussion Ostinato, Pattern, Minimal music und Weltmusik 18 Circa mea pectora. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Umgang mit der Textüberlieferung des Codex Buranus 19 Si puer cum puellula. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Orff und die Comedian Harmonists Orff und das Singen 20 Veni, veni, venias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Orff und Stravinskij 21 In trutina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Orff und Sprache Motivisch-thematische Arbeit Die Musikwissenschaft und Orff 22 Tempus est iocundum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Humor und Witz 23 Dulcissime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orff, Sexualität und die Frauen Zwei Welterfolge im Abstand von 30 Jahren: Carmina Burana und »Hair« 128 Blanziflor et Helena 24 Ave formosissima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Orff und Religion Fortuna Imperatrix Mundi 25 O Fortuna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Trionfi Aufführungsgeschichte der Carmina Burana Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ausgaben und Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 I. Primo vere 3 Veris leta facies Kleiner Chor und Orchester Nach dem harten Winter bringt der Frühling wieder Leben und Liebe zu Natur und Mensch zurück. »Veris leta facies / mundo propinatur, / hiemalis acies / victa iam fugatur« »Frühlings heiteres Gesicht / Schenkt der Welt sich wieder. / Winters Strenge muß, besiegt, / Nun vom Felde weichen.« Mit der Nr. 3 schlägt Orff ein neues Kapitel auf, auch musikalisch sofort unüberhörbar dadurch, dass er das tonale Zentrum von d nach a rückt. Thema in den Nummern 3 bis 10 ist nicht mehr Fortuna, sondern »Primo Vere«, der Frühlingsanfang, wie es gleich die ersten Zeilen zeigen: »Veris leta facies / mundo propinatur« (Schadewaldt: »Frühlings heiteres Gesicht / Schenkt der Welt sich wieder«). Als mythologische Allegorien für den Frühling treten dabei auf: Flora, Göttin der Blumen und des Frühlings; Phebus / Phoebus, der »Strahlende«, Beiname von Phöbus Apollo, in der späteren Antike vor allem als Sonnengott verehrt; und Zephyrus, der milde Westwind. Philomena, in anderen Zusammenhängen auch Philomele genannt, ist ebenfalls eine mythologische Gestalt, hat aber eine tragische Geschichte: Sie war die Schwester der Königin von Thrakien und wurde auf der Flucht vor dem Mann, der sie vergewaltigt hatte und an dem sich ihre Schwester furchtbar gerächt hatte, von den Göttern schließlich in eine Nachtigall verwandelt.1 Seitdem steht ihr Name für diesen lieblichen Vogel. Nachdem Nr. 2 (»Fortune plango«) bereits wesentlich transparenter war als die kompakte Nr. 1 (»O Fortuna«), ist Nr. 3 noch zarter in der Struktur des musikalischen Gewebes, noch sparsamer instrumentiert und auch in der Lautstärke noch geringer. Der Chor singt nicht nur grundsätzlich in verschiedenen Nuancen leise, sondern ist auch noch zum »Coro piccolo« verkleinert. Selbst die drei Fortissimo-Akzente in der instrumentalen Einleitung sind zwar grell, aber durch die geringe Zahl der beteiligten Instrumente in der Summe nicht wirklich laut. Schon in diesen Einleitungstakten fällt die besondere Klangfarbe auf, die aus der ungewöhnlichen 30 Kombination von Instrumenten entsteht: Piccoloflöte, zwei Querflöten, zwei Oboen, Xylofon und zwei Klaviere in hohen Registern, die gemeinsam eine virtuos schnelle Unisono-Verzierung über einem Halteton spielen. Der dabei entstehende Klang klingt exotisch, lässt sich möglicherweise auch als Vogelruf deuten,2 ohne dass sich die Exotik geografisch genau fixieren ließe. Der Klang ist in einem imaginären Land irgendwo zwischen dem fernen Osten und dem europäischen Mittelalter angesiedelt. Debussy Orff hatte keine prägenden Kompositionslehrer, aber wichtige Vorbilder. Monteverdi wurde schon im Zusammenhang mit Nr. 1 (»O Fortuna«) genannt; in seiner Jugend in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war besonders Claude Debussy wichtig für ihn, der dann abgelöst wurde von Richard Strauss. Besonders beschäftigt hat Orff sich mit Debussys »Nocturnes« und »Pelléas et Mélisande«. Es ist nicht erstaunlich, dass er selbst in seinen Erinnerungen im Zusammenhang mit Debussy von der »unerhörten Instrumentationskunst« 3 spricht, die ihn an dessen Kompositionen faszinierte und deren Einfluss an Stellen wie der Einleitung zu Nr. 3 hörbar ist. Gleichzeitig hatte er aber auch gelesen, dass sich Debussy mit javanischen Gamelan-Ensembles beschäftigt hatte, und sich die Instrumente im Münchener Völkerkundemuseum angesehen.4 Zu den Instrumenten des Gamelan zählen neben Gongs vor allem Glockenspiele und Xylofone, Trommeln, Flöten und Spießlauten. Das Xylofon hat hier in den Einleitungstakten seinen ersten Auftritt; seine Verwendung zusammen mit den hohen Holzblasinstrumenten erzeugt den fernöstlichen Klang. Exotik im Ausdruckstanz Anregungen zum Schaffen besonderer Klangfarben fand Orff aber nicht nur bei Debussy, sondern auch außerhalb der Sphäre der Kunstmusik im modernen Ausdruckstanz und in der dazu komponierten und improvisierten neuartigen Musik, die in gewisser Weise radikal einfach und archaisch war. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich auf dem Gebiet des Tanzes neben dem traditionellen Ballett und in Abgrenzung davon eine völlig neue Tanzform entwickelt: der Ausdruckstanz. Besonders begeistert war Orff von Mary Wigman, die 1919 ihre erste Deutschlandtournee mit Tänzen unternahm, die sie selbst erfunden hatte und die von allen BinI. Primo vere 31 Tanzensemble von Mary Wigman mit Perkussionsinstrumenten dungen an überkommene Tanztraditionen frei waren. Dazu schuf sie auch eine eigene geräuschmusikalische Begleitung,5 die Orff sehr beeindruckte. Orff schrieb über Wigman: »Für mich und mein späteres Werk bedeutete die Kunst Mary Wigmans viel. Alle ihre Tänze waren von einer unerhörten Musikalität beseelt, auch der berühmte ›musiklose‹ Hexentanz. Sie konnte mit ihrem Körper musizieren und Musik in Körperlichkeit umsetzen. Ihren Tanz empfand ich als elementar. Auch ich suchte das Elementare, die elementare Musik. In ihren oft ans Kultische reichenden Gruppentänzen, die zum Teil noch auf konventioneller Klavierbegleitung basierten, zog sie immer wieder und immer mehr exotische Schlaginstrumente und Flöten hinzu, die, fernöstlichen oder afrikanischen Kulturen entstammend, alle dem Tanz verbunden waren und ihm entsprachen.« 6 Mittelalterliche kirchliche Musik als Vorbild Auf die dreitaktige Einleitung folgen in Nr. 3 drei musikalisch fast identische Strophen von ebenfalls ganz besonderer Klanglichkeit, die zwar auch fremd, aber nicht im geographischen Sinne exotisch ist. Sie erinnert stark an mittelalterliche sakrale Musik: Der Gesang bewegt sich einstimmig 32 in Oktaven, melodisch strukturiert wie gregorianischer Gesang, rhythmisch frei durch Zäsuren und Fermaten sowie durch lange, nicht mehr durch Taktstriche unterbrochene Phrasen, begleitet von Halteakkorden, teilweise in parallel verschobenen Quinten und Quarten wie im mittelalterlichen Organum. Jeweils der erste Teil jeder Strophe wird unisono von Bass und Alt gesungen; darauf antworten, ebenfalls unisono, die hohen Stimmen Tenor und Sopran, eine Struktur, die wir aus den Frage- und Antwort-Gesängen der christlichen Liturgie seit dem Mittelalter unter der Bezeichnung »Antiphon« kennen. Den zweiten Teil dieser antiphonalen Struktur markiert Orff in Nr. 3 durch Triangelschläge, die wie die helle Glocke klingen, mit der noch heute in der katholischen Messe wichtige Teile hervorgehoben werden. Orff produziert hier die Atmosphäre des Kultischen, die er bei Wigman so bewunderte, indem er nicht nur durch die Klangfarben, sondern auch durch alle anderen musikalischen Parameter die akustische Vision von mittelalterlicher Kirchenmusik heraufbeschwört. Das sakrale Klangbild reibt sich dabei auffällig mit dem sehr weltlichen Text über Frühling und Liebe, in dem auch noch ausgerechnet mehrere antike, also nicht-christliche Gottheiten vorkommen. Vermutlich war das konkret Christliche dieser Musiktradition Orff ziemlich gleichgültig. Ihm ging es um die in diesem Fall nicht geographische, sondern zeitlich exotische Klangwelt. Orff stand und steht mit dieser Rückwendung zur mittelalterlichen Musik nicht allein. Schon im 19. Jahrhundert hatte die Musikwissenschaft das Mittelalter neu als Forschungsgegenstand entdeckt und Editionen mittelalterlicher Musik in Denkmälerausgaben erstellt. Seit dem Ende der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgte Orff aufmerksam und mit Begeisterung Aufführungen mittelalterlicher Musik im Rahmen eines Programmes mit dem Namen »Musik der Gotik« in Wien und München, für das der Musikwissenschaftler Rudolf von Ficker unter anderem Perotins »Sederunt Principes« für Knabenchor, Chor und gemischtes Orchester bearbeitet hatte.7 In der achtbändigen Dokumentation seines Werkes zitiert Orff Ficker mit folgender Aussage (und dokumentiert damit gleichzeitig, wie er selbst die mittelalterliche Musik wahrgenommen hat): »Die ›barbarische‹ Satztechnik, die wir um 1200 in den großangelegten Organa Perotins, des Hauptmeisters der Schule von Notre Dame zu Paris, gewahren können, empfinden wir heute als künstlerische Notwendigkeit, als den sinnvollen Ausdruck eines uns bisher kaum mehr bewußten, ursprünglichen Klangerlebens … Kennzeichnend für alle Stilformen der musikaI. Primo vere 33 lischen Gotik ist das Vorherrschen rhythmischer Energien: in den Steigerungen der alten Kunst die Wucht strenger Metren, in der neuen hingegen das zarte Filigran einer gelösten, feingegliederten Rhythmik.« 8 Die heutige musikwissenschaftliche Forschung teilt zwar Fickers Meinungen über die mittelalterliche Musik nicht mehr, insbesondere nicht im Bereich der Rhythmik, doch Orff hat die Musik des Mittelalters genau in dieser Weise wahrgenommen und besonders im Hinblick auf Rhythmik und Klangfarbe für sich fruchtbar gemacht. Zum Weiterlesen empfohlen Annette Kreutziger-Herr: Ein Traum vom Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit, Köln 2003 nur gelegentlich zu Orff (S. 177f.), aber spannend zur Verortung Orffs in einer Zeitströmung 4 Omnia sol temperat Bariton-Solo und Orchester Lied eines Mannes über die Frühlingsgefühle im wörtlichen und übertragenen Sinn »Omnia sol temperat / purus et subtilis, / nova 9 mundo reserat / facies Aprilis« »Alles macht die Sonne mild, / Sie, die reine, zarte. / Neues schließt das Angesicht / Des April der Welt auf.« Nr. 4 atmet denselben Geist wie die vorhergehende Nr. 3: sehr zart, leise, rhythmisch freier (»rubato«) einstimmiger Gesang über liegenden Halteklängen, drei musikalisch identische Strophen, die durch transparente instrumentale Vor- und Zwischenspiele voneinander getrennt sind, ungewöhnliche Klangeffekte. Wieder spielt der Glöckchenklang eine zentrale Rolle, der kultische Erinnerungen wachruft. Dieses Mal wird er nicht durch die Triangel erzeugt, sondern durch das Glockenspiel, dessen Wichtigkeit noch durch Orffs Vermerk »Solo« unterstrichen wird. Während Orff die besonderen Klangfarben in Nr. 3 gerade unter Ausschluss der sonst im Orchester zentralen Streichinstrumenten-Klangfarbe gemischt hatte, bezieht er sie in Nr. 4 wieder ein. Allerdings benutzt er 34 sie nur verfremdet, im Vor- und Zwischenspiel als Flageolett (isolierter, flötenartig klingender Oberton) oder während des Gesanges mit Dämpfer in den Halteklängen der Bratschen. Dieser Halteklang klingt zusätzlich deshalb ungewöhnlich, weil Orff den Bratschen sechs verschiedene Töne übertragen hat; in den meisten Aufführungen (je nach Besetzungsstärke) wird also jeder Ton nur von einem einzelnen Instrument gespielt. Außerdem ist der oberste Ton für eine Bratsche recht hoch. Alles zusammen trägt dazu bei, dass der Halteklang eine sehr leise, aber doch auch sehr besondere Klangfarbe hat. Sie erinnert entfernt an den Klang der Drehleier, ein aus dem Mittelalter stammendes Instrument, das sowohl in der Kirche als auch von Spielleuten gespielt wurde und dessen Saiten (mehrere davon Bordunsaiten für Haltetöne) über ein Rad angestrichen wurden, so dass es klingt, als sei der Bogen und damit der Ton endlos. Eine Drehleier war Teil des Instrumentariums der Güntherschule.10 Anders als in Nr. 3 und anders als in allen vorhergehenden Nummern tritt hier zum ersten Mal ein Gesangssolist auf: der Bariton. Erstens ist das schlüssig, weil Orff vom mächtigen Anfang bis hierher das Klangvolumen von Satz zu Satz reduziert hat und ein Solist im Klang noch zurückgenommener ist als der kleine Chor aus Nr. 3. Orff stellt sich den Klang des Solisten noch zusätzlich zurückhaltend vor, nämlich, wie er an Hofmann schreibt: im Stile eines Briefes, »›quasi schreibend‹, pp ohne eigentlichen Ausdruck«.11 Zweitens passt eine solistische Männerstimme zu dem Text, in dem es um die Frühlingsgefühle eines Mannes im wörtlichen und übertragenen Sinn geht. Das persönliche menschliche Gefühl, die Liebe, und die Liebesgottheit Amor werden zum Hauptthema. Harmonik Die Halteklänge der Bratschen bestehen aus zwei aufeinander folgend lang ausgehaltenen Akkorden: jeweils zuerst ein Akkord aus den Tönen d – e –f – g – a in verschiedenen Lagen, gefolgt von einem Akkord aus den Tönen es – g – d – a in verschiedenen Lagen. Bei beiden Akkorden lassen sich Bauprinzipien erkennen: Im ersten Akkord erklingen quasi die ersten fünf Töne einer Molltonleiter gleichzeitig; im zweiten Akkord ist eine Stapelung von Quinten erkennbar ( g – d – a), zu denen der Ton es dissonant ist. Beide Akkorde klingen trotz der erkennbaren Bauprinzipien als Ganzes dissonant und entsprechen nicht der funktionalen Harmonik, wie wir sie aus der Klassik und Romantik kennen, in der das mitteleuroI. Primo vere 35 päisch geprägte Ohr von allen Akkorden erwartet, dass sie sich entweder in die eine oder andere Richtung quasi logisch entwickeln oder auflösen oder dass sie das Ergebnis solch eines Prozesses sind. In der Spätromantik wurden solche Entwicklungen durch Chromatik – die Anreicherung mit Halbtönen – und komplizierte Tonarten zusätzlich verstärkt. Orff setzt diese spätromantische Tradition nicht fort; bei ihm spielt Chromatik keine tragende Rolle.12 Seine in Nr. 4 nebeneinander gestellten Akkorde erklären sich aber auch nicht aus der Zwölftontechnik seines Zeitgenossen Arnold Schönberg. Stattdessen stehen sie einfach da und bilden den harmonischen Rahmen für das in diesem Moment stattfindende Gesangssolo, ohne darüber hinausgehenden Sinn und Zweck, und sie werden in jeder Strophe genau gleich wiederholt.13 Modisch ausgedrückt hieße das: Diese Akkorde existieren ausschließlich im Hier und Jetzt. Ähnliche Kompositionstechniken in Bezug auf die Harmonik mit völlig anderen Klangergebnissen hat übrigens ein anderer Einzelgänger der Musikgeschichte, Erik Satie, einige Jahre vor Orff in Frankreich entwickelt. Die Akkorde sind nicht aufeinander bezogen, aber das Wechseln von einem Akkord zum anderen hat als Vorgang eine Bedeutung. Es ist, als ob sich an dieser Stelle – in Nr. 4 stets exakt in der Mitte jeder Strophe – die Beleuchtung der Szene ändert; das Gesangssolo wird in ein neues harmonisches Licht getaucht und die Mitte der Strophe markiert.14 Die Harmonik wird damit im wörtlichen Sinne zu einer Art Klang-Farbe. Orff wendet diese Technik der von mir eben so genannten »Harmonik im Hier und Jetzt« übrigens nicht nur für die in der herkömmlichen Sprechweise »dissonanten« Akkorde wie in Nr. 4 an, sondern auch für die »konsonanten«; auch sie sind häufig jeder Funktionalität entkleidet.15 Ein sehr anschauliches Beispiel dafür findet sich in der folgenden Nr. 5 (»Ecce gratum«): Die Akkorde (F-Dur und g-Moll ) sind vertraut und geradezu banal schlicht, aber sie haben ihre vertraute Bedeutung verloren. Bildlich gesprochen ist die musikalische Szene mit F-Dur ausgeleuchtet; diese Beleuchtung passt für die ganze Nummer, und darum bleibt sie auch für die gesamte Nummer unverändert bestehen. Das in den Melodiestimmen über dem stehenden F-Dur regelmäßig auftauchende g-Moll ist kein g-Moll im funktionalen Sinne, sondern nur eine Art technischer Parallelverschiebung des F-Dur-Akkords einen Ton aufwärts, das die einen Ton aufwärts steigende Melodie mit den Nebenstimmen parallel begleitet – sozusagen ein dreistimmiges Organum oder eine Mixtur. 36 Bei Orff ist die Harmonik nicht die zentrale musikalische Dimension, in der die Neuerungen stattfinden wie etwa bei Richard Wagner und Richard Strauss und in gewisser Weise sogar auch bei Arnold Schönberg. Eine seiner entscheidenden Neuerungen ist vielmehr, dass er dieses Schlachtfeld sang- und klanglos verlässt, es zur befriedeten Nebensache erklärt und sich neue Gefilde erschließt. Das hat dazu geführt, dass die traditionelle Musikwissenschaft, die sich daran gewöhnt hat, alle Musikwerke nach dem aus der Romantik überkommenen Raster der musikalischen Parameter wie Harmonik, Melodik, Rhythmik und Form abzuklopfen und zu beurteilen, beim Anblick seines Werkes schlicht ratlos war, weil der bis dahin zentrale Parameter Harmonik bei Orff nur noch einer unter vielen ist. Zum Weiterlesen empfohlen Wer die bewährte musikwissenschaftliche Praxis der harmonischen Analyse – auch wenn sie bei Orff möglicherweise nicht die zentralen musikalischen Parameter erreicht – dennoch nicht unangewendet lassen möchte, kann zurückgreifen auf die Dissertation von Ingeborg Kiekert: Die musikalische Form in den Werken Carl Orffs, Regensburg 1957, dort insbesondere S. 124–127. 5 Ecce gratum Großer Chor und Orchester Freudiger Empfang des Frühlings und der Liebe »Ecce gratum / et optatum / ver reducit gaudia« »Sieh! Der holde / Und ersehnte / Frühling bringt zurück die Freuden!« Nach den sehr zarten ersten Begrüßungen des Frühlings und der Liebe in den Nummern 3 (»Veris leta facies«) und 4 (»Omnia sol temporat«) folgt mit der Nr. 5 als Zwischenbilanz eine erste kräftige Zusammenfassung unter Einbeziehung des jetzt wieder kompletten Orchesters und des Chores. Erneut spielen antike Gottheiten und Gestalten eine Rolle: Cupido, wie Amor der Gott der Liebe; Cypris, der lateinische Name Zyperns, das als Heimat der Liebesgöttin Venus galt und hier für sie steht; und Paris, der Sohn des trojanischen Königs Priamus. Paris löste durch seine Affäre mit Helena, der Frau des Königs von Sparta, den trojanischen Krieg aus. I. Primo vere 37 Auch musikalisch werden Elemente aus den beiden vorhergehenden Nummern übernommen: Es gibt drei Strophen, sowohl am Anfang wie am Schluss jeder Strophe stehen Halteklänge, einstimmiger, rhythmisch freier – Orff schreibt dafür: »più sciolto« –, gregorianisch klingender Gesang kommt in jeder Strophe vor (z. B. »purpuratum floret pratum«) und glockenähnliche Klangfarben spielen eine wichtige Rolle. Wurden sie in Nr. 3 durch die Triangel vertreten und in Nr. 4 durch das Glockenspiel, wird das Glockenspiel hier noch durch die kräftigen Röhrenglocken und die Zimbeln verstärkt. Die mittelalterlich-sakrale Klangwelt bleibt präsent, obwohl der lebensfrohe, weltliche Inhalt dazu nicht passt. Die Frage bleibt offen: Hat Orff diesen Kontrast bewusst erzeugt, vielleicht mit einem Augenzwinkern, oder war er für ihn ganz unwichtig, weil es ihm nur ganz allgemein um die Kreation einer mittelalterlichen Klangkulisse ging? Tonart Auch wenn für Orff die Harmonik insgesamt weniger wichtig war als der Komponistengeneration vor ihm in der Spätromantik (vgl. zur vorhergehenden Nr. 4), heißt das nicht, dass er ihr völlig gleichgültig gegenüberstand. Die Tonart von Nr. 5 ist F-Dur, seit Jahrhunderten die Tonart für fried- und freudvolle Naturschilderungen, zum Beispiel in allen Pastoralen, auch in Beethovens berühmter gleichnamiger 6. Sinfonie. Der Inhalt von Nr. 5, freudiger Empfang des Frühlings, ruft in der großen Tradition der Tonartencharakteristik in der europäischen Kunstmusik genau nach dieser Tonart. Gerade dadurch, dass Orff in Nr. 5 so wenig harmonische Bewegung komponiert, und dadurch, dass die gesamte Nummer quasi einfarbig in F-Dur gesetzt ist, erhält die Wahl der Grundfarbe, um im Bild zu bleiben, umso größeres Gewicht. Dass auch Orff selbst gerade in diesem Fall der Tonart, die er auswählt, eine besondere Bedeutung zumaß, ist einem Brief zu entnehmen, den er an seinen Freund Hofmann schrieb, einen Monat, nachdem er mit der Komposition der Carmina Burana begonnen hatte. Darin stellt er ihm die Stücke vor, die Teil seines ersten Entwurfes sind.16 Er macht dort zu jedem der erwähnten Stücke nur ganz wenige Anmerkungen, schreibt etwa »Volkslied und tanz«, aber die Nr. 5 charakterisiert er ausdrücklich mit »F-Dur«. Offensichtlich hält er diese Tonart für ein wesentliches Merkmal des Stückes. Noch an einer anderen Stelle innerhalb des selben Briefes nennt er übrigens eine Tonart: nämlich bei den beiden der Fortuna gewidmeten 38 Nummern 1 und 2; dort ist es d-Moll. Das ist die traditionelle Tonart für Requiem-Vertonungen, auch Schuberts Streichquartett »Der Tod und das Mädchen« steht in d-Moll. Wenn wir davon ausgehen, dass Orff sich der Tradition, die mit Tonarten in seiner Musiktradition verbunden ist, bewusst war, können wir daraus Rückschlüsse auf die Interpretation der Nummern 1 und 2 ziehen: Orff hat beide Nummern sehr ernst verstanden, er hat von den zwei Gesichtern Fortunas und des Schicksals die düstere Seite für die beherrschende gehalten. Gleichzeitig hat er offensichtlich ganz bewusst auf die Düsternis des Anfangs mit dem positiv lebensbejahenden F-Dur in Nr. 5 geantwortet. Die beiden in den Tonarten aufeinander bezogenen Teile bildeten bereits in der Frühphase von Orffs Kompositionsprozess den Kern des Werkes. Strophenform: Wiederholung und Steigerung Auch in der Form teilt die Nr. 5 ein wesentliches Merkmal mit den ebenfalls gleich im ersten Monat von Orff in großer Begeisterung komponierten Nummern 1 und 2: Es sind Lieder mit drei Strophen. Dieses ist eine Eigenschaft, die allerdings, und das ist sehr auffällig, viele Nummern der Carmina Burana miteinander teilen; die Nummern 1 bis 5 sind ohne Ausnahme dreistrophig, und es werden noch viele folgen. Ungewöhnlich sind eher diejenigen Nummern, die nicht drei Strophen haben oder die sogar überhaupt nicht als Strophenlied gebaut sind. Dass Strophenlieder generell eine große Rolle spielen, liegt zweifelsohne an der Textvorlage: Der Codex Buranus ist eine mittelalterliche Sammlung von in Strophen verfassten Gedichten. Dass die musikalische Form der Textform folgt, liegt nahe, wäre im Prinzip aber nicht zwingend gewesen, wie die Musikgeschichte zeigt. Und dass Orff die Textform ohne Zögern auch für die Musik übernimmt, ist bereits ein Indiz dafür, wie zentral für sein Komponieren generell der Text ist. Ohne Zusammenhang mit der Textvorlage ist dagegen der Umstand, dass Orff bevorzugt gerade drei Strophen vertont. Zwar bestehen auch die Vorlagen zu seinen Nummern 1 und 2 (»O Fortuna« und »Fortune plango«) im Codex Buranus ebenfalls nur aus drei Strophen, doch die Vorlagen zu den Nummern 3, 4 und 5 (»Veris leta facies«, »Omnia sol temperat« und »Ecce gratum«) haben mehr Strophen. Aber auch daraus wählt Orff wie an vielen anderen Stellen nur drei aus. Die Gründe dafür wären noch aufzuklären. I. Primo vere 39