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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Fortuna Imperatrix Mundi
1
O Fortuna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Initiale Monteverdi und Curt Sachs Kontrast Rhythmus
2
Fortune plango vulnera . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Fortuna Vom mittelalterlichen Text zu Carl Orffs Komposition
I.
3
Primo vere
Veris leta facies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
Debussy Exotik im Ausdruckstanz Mittelalterliche kirchliche Musik als
Vorbild
4
Omnia sol temporat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
Harmonik
5
Ecce gratum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Tonart Strophenform: Wiederholung und Steigerung Aussprache des
Lateinischen
Uf dem anger
6
Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Zwiefache Orff und die bayerische Volksmusik »Klavier-Übung« als Vorlage Zusammenarbeit mit Dorothee Günther Blockflöte
7
Floret silva nobilis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
Motettischer Charakter Der Übergang von der lateinischen zur deutschen
Sprache
8
Chramer, gip die varwe mir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
Der Inhalt des mittelalterlichen Codex Buranus Die Musik im mittelalterlichen Codex Buranus
9
Reie – Swaz hie gat umbe – Chume, chum geselle min – Swaz
hie gat umbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Welche Textübersetzung wird zugrunde gelegt? Oper, Oratorium oder
Kantate? »Mit magischen Bildern«
61
10 Were diu werlt alle min . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Orffs Herkunftsfamilie: geprägt von Militär, Wissenschaft und Musik Orff
und das Militär Orff und der Faschismus
II. In Taberna
11 Estuans interius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Die Vagantenbeichte Archipoeta
12 Olim lacus colueram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
Groteske Klangfarbe Tenor oder Altus? Jazz
13 Ego sum abbas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Perkussionsinstrumente
14 In taberna quando sumus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
Reim auf Latein Perkussion und Sprechen
III. Cours d’amours
15 Amor volat undique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
Eine Frau betritt die Bühne
16 Dies, nox et omnia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
Verzierungen Virtuosität versus Elementares
17 Stetit puella. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
Die komponierte Handlung Körperperkussion Ostinato, Pattern, Minimal music und Weltmusik
18 Circa mea pectora. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Umgang mit der Textüberlieferung des Codex Buranus
19 Si puer cum puellula. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114
Orff und die Comedian Harmonists Orff und das Singen
20 Veni, veni, venias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
Orff und Stravinskij
21 In trutina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
Orff und Sprache Motivisch-thematische Arbeit Die Musikwissenschaft
und Orff
22 Tempus est iocundum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
Humor und Witz
23 Dulcissime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Orff, Sexualität und die Frauen Zwei Welterfolge im Abstand von 30 Jahren: Carmina Burana und »Hair«
128
Blanziflor et Helena
24 Ave formosissima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
Orff und Religion
Fortuna Imperatrix Mundi
25 O Fortuna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
138
Trionfi Aufführungsgeschichte der Carmina Burana
Anhang
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
Ausgaben und Quellentexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
I. Primo vere
3 Veris leta facies
Kleiner Chor und Orchester
Nach dem harten Winter bringt der Frühling wieder Leben und Liebe
zu Natur und Mensch zurück.
»Veris leta facies / mundo propinatur, / hiemalis acies / victa iam fugatur«
»Frühlings heiteres Gesicht / Schenkt der Welt sich wieder. / Winters
Strenge muß, besiegt, / Nun vom Felde weichen.«
Mit der Nr. 3 schlägt Orff ein neues Kapitel auf, auch musikalisch sofort
unüberhörbar dadurch, dass er das tonale Zentrum von d nach a rückt.
Thema in den Nummern 3 bis 10 ist nicht mehr Fortuna, sondern »Primo
Vere«, der Frühlingsanfang, wie es gleich die ersten Zeilen zeigen: »Veris
leta facies / mundo propinatur« (Schadewaldt: »Frühlings heiteres Gesicht /
Schenkt der Welt sich wieder«). Als mythologische Allegorien für den
Frühling treten dabei auf: Flora, Göttin der Blumen und des Frühlings;
Phebus / Phoebus, der »Strahlende«, Beiname von Phöbus Apollo, in der
späteren Antike vor allem als Sonnengott verehrt; und Zephyrus, der milde
Westwind. Philomena, in anderen Zusammenhängen auch Philomele genannt, ist ebenfalls eine mythologische Gestalt, hat aber eine tragische
Geschichte: Sie war die Schwester der Königin von Thrakien und wurde
auf der Flucht vor dem Mann, der sie vergewaltigt hatte und an dem sich
ihre Schwester furchtbar gerächt hatte, von den Göttern schließlich in eine
Nachtigall verwandelt.1 Seitdem steht ihr Name für diesen lieblichen Vogel.
Nachdem Nr. 2 (»Fortune plango«) bereits wesentlich transparenter war
als die kompakte Nr. 1 (»O Fortuna«), ist Nr. 3 noch zarter in der Struktur
des musikalischen Gewebes, noch sparsamer instrumentiert und auch in
der Lautstärke noch geringer. Der Chor singt nicht nur grundsätzlich
in verschiedenen Nuancen leise, sondern ist auch noch zum »Coro piccolo« verkleinert. Selbst die drei Fortissimo-Akzente in der instrumentalen
Einleitung sind zwar grell, aber durch die geringe Zahl der beteiligten Instrumente in der Summe nicht wirklich laut. Schon in diesen Einleitungstakten fällt die besondere Klangfarbe auf, die aus der ungewöhnlichen
30
Kombination von Instrumenten entsteht: Piccoloflöte, zwei Querflöten,
zwei Oboen, Xylofon und zwei Klaviere in hohen Registern, die gemeinsam eine virtuos schnelle Unisono-Verzierung über einem Halteton spielen. Der dabei entstehende Klang klingt exotisch, lässt sich möglicherweise
auch als Vogelruf deuten,2 ohne dass sich die Exotik geografisch genau
fixieren ließe. Der Klang ist in einem imaginären Land irgendwo zwischen dem fernen Osten und dem europäischen Mittelalter angesiedelt.
Debussy
Orff hatte keine prägenden Kompositionslehrer, aber wichtige Vorbilder.
Monteverdi wurde schon im Zusammenhang mit Nr. 1 (»O Fortuna«)
genannt; in seiner Jugend in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war
besonders Claude Debussy wichtig für ihn, der dann abgelöst wurde von
Richard Strauss. Besonders beschäftigt hat Orff sich mit Debussys »Nocturnes« und »Pelléas et Mélisande«. Es ist nicht erstaunlich, dass er selbst
in seinen Erinnerungen im Zusammenhang mit Debussy von der »unerhörten Instrumentationskunst« 3 spricht, die ihn an dessen Kompositionen
faszinierte und deren Einfluss an Stellen wie der Einleitung zu Nr. 3 hörbar ist. Gleichzeitig hatte er aber auch gelesen, dass sich Debussy mit javanischen Gamelan-Ensembles beschäftigt hatte, und sich die Instrumente
im Münchener Völkerkundemuseum angesehen.4 Zu den Instrumenten
des Gamelan zählen neben Gongs vor allem Glockenspiele und Xylofone,
Trommeln, Flöten und Spießlauten. Das Xylofon hat hier in den Einleitungstakten seinen ersten Auftritt; seine Verwendung zusammen mit den
hohen Holzblasinstrumenten erzeugt den fernöstlichen Klang.
Exotik im Ausdruckstanz
Anregungen zum Schaffen besonderer Klangfarben fand Orff aber nicht
nur bei Debussy, sondern auch außerhalb der Sphäre der Kunstmusik im
modernen Ausdruckstanz und in der dazu komponierten und improvisierten neuartigen Musik, die in gewisser Weise radikal einfach und archaisch war. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich auf dem Gebiet des
Tanzes neben dem traditionellen Ballett und in Abgrenzung davon eine
völlig neue Tanzform entwickelt: der Ausdruckstanz. Besonders begeistert
war Orff von Mary Wigman, die 1919 ihre erste Deutschlandtournee mit
Tänzen unternahm, die sie selbst erfunden hatte und die von allen BinI. Primo vere
31
Tanzensemble von Mary Wigman mit Perkussionsinstrumenten
dungen an überkommene Tanztraditionen frei waren. Dazu schuf sie auch
eine eigene geräuschmusikalische Begleitung,5 die Orff sehr beeindruckte.
Orff schrieb über Wigman: »Für mich und mein späteres Werk bedeutete
die Kunst Mary Wigmans viel. Alle ihre Tänze waren von einer unerhörten
Musikalität beseelt, auch der berühmte ›musiklose‹ Hexentanz. Sie konnte
mit ihrem Körper musizieren und Musik in Körperlichkeit umsetzen.
Ihren Tanz empfand ich als elementar. Auch ich suchte das Elementare, die
elementare Musik. In ihren oft ans Kultische reichenden Gruppentänzen,
die zum Teil noch auf konventioneller Klavierbegleitung basierten, zog sie
immer wieder und immer mehr exotische Schlaginstrumente und Flöten
hinzu, die, fernöstlichen oder afrikanischen Kulturen entstammend, alle
dem Tanz verbunden waren und ihm entsprachen.« 6
Mittelalterliche kirchliche Musik als Vorbild
Auf die dreitaktige Einleitung folgen in Nr. 3 drei musikalisch fast identische Strophen von ebenfalls ganz besonderer Klanglichkeit, die zwar auch
fremd, aber nicht im geographischen Sinne exotisch ist. Sie erinnert stark
an mittelalterliche sakrale Musik: Der Gesang bewegt sich einstimmig
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in Oktaven, melodisch strukturiert wie gregorianischer Gesang, rhythmisch frei durch Zäsuren und Fermaten sowie durch lange, nicht mehr
durch Taktstriche unterbrochene Phrasen, begleitet von Halteakkorden,
teilweise in parallel verschobenen Quinten und Quarten wie im mittelalterlichen Organum. Jeweils der erste Teil jeder Strophe wird unisono von
Bass und Alt gesungen; darauf antworten, ebenfalls unisono, die hohen
Stimmen Tenor und Sopran, eine Struktur, die wir aus den Frage- und
Antwort-Gesängen der christlichen Liturgie seit dem Mittelalter unter der
Bezeichnung »Antiphon« kennen. Den zweiten Teil dieser antiphonalen
Struktur markiert Orff in Nr. 3 durch Triangelschläge, die wie die helle
Glocke klingen, mit der noch heute in der katholischen Messe wichtige
Teile hervorgehoben werden. Orff produziert hier die Atmosphäre des
Kultischen, die er bei Wigman so bewunderte, indem er nicht nur durch
die Klangfarben, sondern auch durch alle anderen musikalischen Parameter die akustische Vision von mittelalterlicher Kirchenmusik heraufbeschwört. Das sakrale Klangbild reibt sich dabei auffällig mit dem sehr
weltlichen Text über Frühling und Liebe, in dem auch noch ausgerechnet
mehrere antike, also nicht-christliche Gottheiten vorkommen. Vermutlich
war das konkret Christliche dieser Musiktradition Orff ziemlich gleichgültig. Ihm ging es um die in diesem Fall nicht geographische, sondern
zeitlich exotische Klangwelt.
Orff stand und steht mit dieser Rückwendung zur mittelalterlichen
Musik nicht allein. Schon im 19. Jahrhundert hatte die Musikwissenschaft
das Mittelalter neu als Forschungsgegenstand entdeckt und Editionen
mittelalterlicher Musik in Denkmälerausgaben erstellt. Seit dem Ende der
20er-Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgte Orff aufmerksam und mit Begeisterung Aufführungen mittelalterlicher Musik im Rahmen eines Programmes mit dem Namen »Musik der Gotik« in Wien und München, für
das der Musikwissenschaftler Rudolf von Ficker unter anderem Perotins
»Sederunt Principes« für Knabenchor, Chor und gemischtes Orchester bearbeitet hatte.7 In der achtbändigen Dokumentation seines Werkes zitiert
Orff Ficker mit folgender Aussage (und dokumentiert damit gleichzeitig,
wie er selbst die mittelalterliche Musik wahrgenommen hat): »Die ›barbarische‹ Satztechnik, die wir um 1200 in den großangelegten Organa Perotins, des Hauptmeisters der Schule von Notre Dame zu Paris, gewahren
können, empfinden wir heute als künstlerische Notwendigkeit, als den
sinnvollen Ausdruck eines uns bisher kaum mehr bewußten, ursprünglichen Klangerlebens … Kennzeichnend für alle Stilformen der musikaI. Primo vere
33
lischen Gotik ist das Vorherrschen rhythmischer Energien: in den Steigerungen der alten Kunst die Wucht strenger Metren, in der neuen hingegen das zarte Filigran einer gelösten, feingegliederten Rhythmik.« 8 Die
heutige musikwissenschaftliche Forschung teilt zwar Fickers Meinungen
über die mittelalterliche Musik nicht mehr, insbesondere nicht im Bereich
der Rhythmik, doch Orff hat die Musik des Mittelalters genau in dieser
Weise wahrgenommen und besonders im Hinblick auf Rhythmik und
Klangfarbe für sich fruchtbar gemacht.
Zum Weiterlesen empfohlen
Annette Kreutziger-Herr: Ein Traum vom Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher
Musik in der Neuzeit, Köln 2003 nur gelegentlich zu Orff (S. 177f.), aber spannend zur
Verortung Orffs in einer Zeitströmung
4 Omnia sol temperat
Bariton-Solo und Orchester
Lied eines Mannes über die Frühlingsgefühle im wörtlichen und übertragenen Sinn
»Omnia sol temperat / purus et subtilis, / nova 9 mundo reserat /
facies Aprilis«
»Alles macht die Sonne mild, / Sie, die reine, zarte. / Neues schließt
das Angesicht / Des April der Welt auf.«
Nr. 4 atmet denselben Geist wie die vorhergehende Nr. 3: sehr zart, leise,
rhythmisch freier (»rubato«) einstimmiger Gesang über liegenden Halteklängen, drei musikalisch identische Strophen, die durch transparente
instrumentale Vor- und Zwischenspiele voneinander getrennt sind, ungewöhnliche Klangeffekte. Wieder spielt der Glöckchenklang eine zentrale
Rolle, der kultische Erinnerungen wachruft. Dieses Mal wird er nicht
durch die Triangel erzeugt, sondern durch das Glockenspiel, dessen Wichtigkeit noch durch Orffs Vermerk »Solo« unterstrichen wird.
Während Orff die besonderen Klangfarben in Nr. 3 gerade unter Ausschluss der sonst im Orchester zentralen Streichinstrumenten-Klangfarbe
gemischt hatte, bezieht er sie in Nr. 4 wieder ein. Allerdings benutzt er
34
sie nur verfremdet, im Vor- und Zwischenspiel als Flageolett (isolierter,
flötenartig klingender Oberton) oder während des Gesanges mit Dämpfer
in den Halteklängen der Bratschen. Dieser Halteklang klingt zusätzlich
deshalb ungewöhnlich, weil Orff den Bratschen sechs verschiedene Töne
übertragen hat; in den meisten Aufführungen (je nach Besetzungsstärke)
wird also jeder Ton nur von einem einzelnen Instrument gespielt. Außerdem ist der oberste Ton für eine Bratsche recht hoch. Alles zusammen
trägt dazu bei, dass der Halteklang eine sehr leise, aber doch auch sehr besondere Klangfarbe hat. Sie erinnert entfernt an den Klang der Drehleier,
ein aus dem Mittelalter stammendes Instrument, das sowohl in der Kirche
als auch von Spielleuten gespielt wurde und dessen Saiten (mehrere davon
Bordunsaiten für Haltetöne) über ein Rad angestrichen wurden, so dass
es klingt, als sei der Bogen und damit der Ton endlos. Eine Drehleier war
Teil des Instrumentariums der Güntherschule.10
Anders als in Nr. 3 und anders als in allen vorhergehenden Nummern
tritt hier zum ersten Mal ein Gesangssolist auf: der Bariton. Erstens ist das
schlüssig, weil Orff vom mächtigen Anfang bis hierher das Klangvolumen
von Satz zu Satz reduziert hat und ein Solist im Klang noch zurückgenommener ist als der kleine Chor aus Nr. 3. Orff stellt sich den Klang des
Solisten noch zusätzlich zurückhaltend vor, nämlich, wie er an Hofmann
schreibt: im Stile eines Briefes, »›quasi schreibend‹, pp ohne eigentlichen
Ausdruck«.11 Zweitens passt eine solistische Männerstimme zu dem Text,
in dem es um die Frühlingsgefühle eines Mannes im wörtlichen und übertragenen Sinn geht. Das persönliche menschliche Gefühl, die Liebe, und
die Liebesgottheit Amor werden zum Hauptthema.
Harmonik
Die Halteklänge der Bratschen bestehen aus zwei aufeinander folgend
lang ausgehaltenen Akkorden: jeweils zuerst ein Akkord aus den Tönen
d – e –f – g – a in verschiedenen Lagen, gefolgt von einem Akkord aus den
Tönen es – g – d – a in verschiedenen Lagen. Bei beiden Akkorden lassen
sich Bauprinzipien erkennen: Im ersten Akkord erklingen quasi die ersten
fünf Töne einer Molltonleiter gleichzeitig; im zweiten Akkord ist eine
Stapelung von Quinten erkennbar ( g – d – a), zu denen der Ton es dissonant ist. Beide Akkorde klingen trotz der erkennbaren Bauprinzipien
als Ganzes dissonant und entsprechen nicht der funktionalen Harmonik,
wie wir sie aus der Klassik und Romantik kennen, in der das mitteleuroI. Primo vere
35
päisch geprägte Ohr von allen Akkorden erwartet, dass sie sich entweder
in die eine oder andere Richtung quasi logisch entwickeln oder auflösen
oder dass sie das Ergebnis solch eines Prozesses sind. In der Spätromantik wurden solche Entwicklungen durch Chromatik – die Anreicherung
mit Halbtönen – und komplizierte Tonarten zusätzlich verstärkt. Orff
setzt diese spätromantische Tradition nicht fort; bei ihm spielt Chromatik
keine tragende Rolle.12 Seine in Nr. 4 nebeneinander gestellten Akkorde
erklären sich aber auch nicht aus der Zwölftontechnik seines Zeitgenossen
Arnold Schönberg.
Stattdessen stehen sie einfach da und bilden den harmonischen Rahmen für das in diesem Moment stattfindende Gesangssolo, ohne darüber
hinausgehenden Sinn und Zweck, und sie werden in jeder Strophe genau
gleich wiederholt.13 Modisch ausgedrückt hieße das: Diese Akkorde existieren ausschließlich im Hier und Jetzt. Ähnliche Kompositionstechniken
in Bezug auf die Harmonik mit völlig anderen Klangergebnissen hat übrigens ein anderer Einzelgänger der Musikgeschichte, Erik Satie, einige
Jahre vor Orff in Frankreich entwickelt. Die Akkorde sind nicht aufeinander bezogen, aber das Wechseln von einem Akkord zum anderen hat
als Vorgang eine Bedeutung. Es ist, als ob sich an dieser Stelle – in Nr. 4
stets exakt in der Mitte jeder Strophe – die Beleuchtung der Szene ändert;
das Gesangssolo wird in ein neues harmonisches Licht getaucht und die
Mitte der Strophe markiert.14 Die Harmonik wird damit im wörtlichen
Sinne zu einer Art Klang-Farbe. Orff wendet diese Technik der von mir
eben so genannten »Harmonik im Hier und Jetzt« übrigens nicht nur
für die in der herkömmlichen Sprechweise »dissonanten« Akkorde wie in
Nr. 4 an, sondern auch für die »konsonanten«; auch sie sind häufig jeder
Funktionalität entkleidet.15
Ein sehr anschauliches Beispiel dafür findet sich in der folgenden Nr. 5
(»Ecce gratum«): Die Akkorde (F-Dur und g-Moll ) sind vertraut und
geradezu banal schlicht, aber sie haben ihre vertraute Bedeutung verloren.
Bildlich gesprochen ist die musikalische Szene mit F-Dur ausgeleuchtet;
diese Beleuchtung passt für die ganze Nummer, und darum bleibt sie
auch für die gesamte Nummer unverändert bestehen. Das in den Melodiestimmen über dem stehenden F-Dur regelmäßig auftauchende g-Moll
ist kein g-Moll im funktionalen Sinne, sondern nur eine Art technischer
Parallelverschiebung des F-Dur-Akkords einen Ton aufwärts, das die einen
Ton aufwärts steigende Melodie mit den Nebenstimmen parallel begleitet – sozusagen ein dreistimmiges Organum oder eine Mixtur.
36
Bei Orff ist die Harmonik nicht die zentrale musikalische Dimension, in der die Neuerungen stattfinden wie etwa bei Richard Wagner
und Richard Strauss und in gewisser Weise sogar auch bei Arnold Schönberg. Eine seiner entscheidenden Neuerungen ist vielmehr, dass er dieses
Schlachtfeld sang- und klanglos verlässt, es zur befriedeten Nebensache
erklärt und sich neue Gefilde erschließt. Das hat dazu geführt, dass die
traditionelle Musikwissenschaft, die sich daran gewöhnt hat, alle Musikwerke nach dem aus der Romantik überkommenen Raster der musikalischen Parameter wie Harmonik, Melodik, Rhythmik und Form abzuklopfen und zu beurteilen, beim Anblick seines Werkes schlicht ratlos
war, weil der bis dahin zentrale Parameter Harmonik bei Orff nur noch
einer unter vielen ist.
Zum Weiterlesen empfohlen
Wer die bewährte musikwissenschaftliche Praxis der harmonischen Analyse – auch wenn
sie bei Orff möglicherweise nicht die zentralen musikalischen Parameter erreicht – dennoch
nicht unangewendet lassen möchte, kann zurückgreifen auf die Dissertation von Ingeborg
Kiekert: Die musikalische Form in den Werken Carl Orffs, Regensburg 1957, dort insbesondere S. 124–127.
5 Ecce gratum
Großer Chor und Orchester
Freudiger Empfang des Frühlings und der Liebe
»Ecce gratum / et optatum / ver reducit gaudia«
»Sieh! Der holde / Und ersehnte / Frühling bringt zurück die Freuden!«
Nach den sehr zarten ersten Begrüßungen des Frühlings und der Liebe in
den Nummern 3 (»Veris leta facies«) und 4 (»Omnia sol temporat«) folgt
mit der Nr. 5 als Zwischenbilanz eine erste kräftige Zusammenfassung
unter Einbeziehung des jetzt wieder kompletten Orchesters und des Chores. Erneut spielen antike Gottheiten und Gestalten eine Rolle: Cupido,
wie Amor der Gott der Liebe; Cypris, der lateinische Name Zyperns, das
als Heimat der Liebesgöttin Venus galt und hier für sie steht; und Paris,
der Sohn des trojanischen Königs Priamus. Paris löste durch seine Affäre
mit Helena, der Frau des Königs von Sparta, den trojanischen Krieg aus.
I. Primo vere
37
Auch musikalisch werden Elemente aus den beiden vorhergehenden
Nummern übernommen: Es gibt drei Strophen, sowohl am Anfang wie
am Schluss jeder Strophe stehen Halteklänge, einstimmiger, rhythmisch
freier – Orff schreibt dafür: »più sciolto« –, gregorianisch klingender Gesang kommt in jeder Strophe vor (z. B. »purpuratum floret pratum«) und
glockenähnliche Klangfarben spielen eine wichtige Rolle. Wurden sie in
Nr. 3 durch die Triangel vertreten und in Nr. 4 durch das Glockenspiel,
wird das Glockenspiel hier noch durch die kräftigen Röhrenglocken und
die Zimbeln verstärkt. Die mittelalterlich-sakrale Klangwelt bleibt präsent,
obwohl der lebensfrohe, weltliche Inhalt dazu nicht passt. Die Frage bleibt
offen: Hat Orff diesen Kontrast bewusst erzeugt, vielleicht mit einem
Augenzwinkern, oder war er für ihn ganz unwichtig, weil es ihm nur ganz
allgemein um die Kreation einer mittelalterlichen Klangkulisse ging?
Tonart
Auch wenn für Orff die Harmonik insgesamt weniger wichtig war als der
Komponistengeneration vor ihm in der Spätromantik (vgl. zur vorhergehenden Nr. 4), heißt das nicht, dass er ihr völlig gleichgültig gegenüberstand. Die Tonart von Nr. 5 ist F-Dur, seit Jahrhunderten die Tonart für
fried- und freudvolle Naturschilderungen, zum Beispiel in allen Pastoralen, auch in Beethovens berühmter gleichnamiger 6. Sinfonie. Der Inhalt
von Nr. 5, freudiger Empfang des Frühlings, ruft in der großen Tradition
der Tonartencharakteristik in der europäischen Kunstmusik genau nach
dieser Tonart. Gerade dadurch, dass Orff in Nr. 5 so wenig harmonische
Bewegung komponiert, und dadurch, dass die gesamte Nummer quasi
einfarbig in F-Dur gesetzt ist, erhält die Wahl der Grundfarbe, um im
Bild zu bleiben, umso größeres Gewicht. Dass auch Orff selbst gerade
in diesem Fall der Tonart, die er auswählt, eine besondere Bedeutung
zumaß, ist einem Brief zu entnehmen, den er an seinen Freund Hofmann
schrieb, einen Monat, nachdem er mit der Komposition der Carmina
Burana begonnen hatte. Darin stellt er ihm die Stücke vor, die Teil seines
ersten Entwurfes sind.16 Er macht dort zu jedem der erwähnten Stücke
nur ganz wenige Anmerkungen, schreibt etwa »Volkslied und tanz«, aber
die Nr. 5 charakterisiert er ausdrücklich mit »F-Dur«. Offensichtlich hält
er diese Tonart für ein wesentliches Merkmal des Stückes.
Noch an einer anderen Stelle innerhalb des selben Briefes nennt er
übrigens eine Tonart: nämlich bei den beiden der Fortuna gewidmeten
38
Nummern 1 und 2; dort ist es d-Moll. Das ist die traditionelle Tonart
für Requiem-Vertonungen, auch Schuberts Streichquartett »Der Tod und
das Mädchen« steht in d-Moll. Wenn wir davon ausgehen, dass Orff sich
der Tradition, die mit Tonarten in seiner Musiktradition verbunden ist,
bewusst war, können wir daraus Rückschlüsse auf die Interpretation der
Nummern 1 und 2 ziehen: Orff hat beide Nummern sehr ernst verstanden,
er hat von den zwei Gesichtern Fortunas und des Schicksals die düstere
Seite für die beherrschende gehalten. Gleichzeitig hat er offensichtlich
ganz bewusst auf die Düsternis des Anfangs mit dem positiv lebensbejahenden F-Dur in Nr. 5 geantwortet. Die beiden in den Tonarten aufeinander
bezogenen Teile bildeten bereits in der Frühphase von Orffs Kompositionsprozess den Kern des Werkes.
Strophenform: Wiederholung und Steigerung
Auch in der Form teilt die Nr. 5 ein wesentliches Merkmal mit den ebenfalls gleich im ersten Monat von Orff in großer Begeisterung komponierten Nummern 1 und 2: Es sind Lieder mit drei Strophen. Dieses ist
eine Eigenschaft, die allerdings, und das ist sehr auffällig, viele Nummern
der Carmina Burana miteinander teilen; die Nummern 1 bis 5 sind ohne
Ausnahme dreistrophig, und es werden noch viele folgen. Ungewöhnlich
sind eher diejenigen Nummern, die nicht drei Strophen haben oder die
sogar überhaupt nicht als Strophenlied gebaut sind. Dass Strophenlieder
generell eine große Rolle spielen, liegt zweifelsohne an der Textvorlage:
Der Codex Buranus ist eine mittelalterliche Sammlung von in Strophen
verfassten Gedichten. Dass die musikalische Form der Textform folgt,
liegt nahe, wäre im Prinzip aber nicht zwingend gewesen, wie die Musikgeschichte zeigt. Und dass Orff die Textform ohne Zögern auch für die
Musik übernimmt, ist bereits ein Indiz dafür, wie zentral für sein Komponieren generell der Text ist.
Ohne Zusammenhang mit der Textvorlage ist dagegen der Umstand,
dass Orff bevorzugt gerade drei Strophen vertont. Zwar bestehen auch
die Vorlagen zu seinen Nummern 1 und 2 (»O Fortuna« und »Fortune
plango«) im Codex Buranus ebenfalls nur aus drei Strophen, doch die
Vorlagen zu den Nummern 3, 4 und 5 (»Veris leta facies«, »Omnia sol
temperat« und »Ecce gratum«) haben mehr Strophen. Aber auch daraus
wählt Orff wie an vielen anderen Stellen nur drei aus. Die Gründe dafür
wären noch aufzuklären.
I. Primo vere
39
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