Homo sapiens integralis - EDOC HU - Humboldt

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Humboldt-Universität zu Berlin
Homo sapiens integralis
Menschliche Manager in der Region 21
Transdisziplinäre Begriffe für eine nachhaltige Entwicklung
Habilitationsschrift
zur Erlangung der Lehrbefähigung im Fach Sozialökologie
Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät
von
Maik Hosang
In memoriam Rudolf Bahro
Humboldt-Universität zu Berlin
2
Homo sapiens integralis
Menschliche Manager in der Region 21
Transdisziplinäre Begriffe für eine nachhaltige Entwicklung
Habilitationsschrift
zur Erlangung der Lehrbefähigung im Fach Sozialökologie
Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät
von
Maik Hosang
Berlin, 18. Januar 1999
Gutachter:
1. Prof. Dr. Friedhelm Streiffeler (Berlin)
2. Prof. Dr. Karl-Friedrich Wessel (Berlin)
3. Prof. Dr. Rupert Riedl (Wien)
4. Prof. Dr. Vittorio Hösle (Kassel)
3
Inhalt
Wie kam es zu diesem Buch?.................................................................6
Einleitung ..............................................................................................13
I. Außen- und Innenperspektiven der Gegenwart .................................21
1. Die Geschichte der Differenzierung und die Zukunft der...............21
Integration..........................................................................................21
Die Bereiche des Menschen und der Gesellschaft ........................21
Der Riß im Geist der Zeit ...............................................................24
In die Menschen muß man investieren ..........................................30
Erste Brückenschläge ....................................................................33
Neue Begriffe für eine neue Welt...................................................35
Nachhaltige Entwicklung ................................................................39
2. Mensch und Geschichte ................................................................42
Ende der Geschichte oder der Zivilisation? ...................................42
Einbindung des Überflusses und Erneuerung von Innen...............45
Der Mensch als Schöpfer seiner selbst - Zwischenbemerkungen
und Anstöße...................................................................................50
3. Mitgeschöpf und Mitschöpfer Mensch - Risse und Integrationen ..53
Umwelt, Ökologie und ihre inneren Schatten.................................53
Das Subjekt im Schatten der Objektivität.......................................57
Kommunikation ohne Kommunion, Ethik ohne Ethos?..................63
4. Integration von Theorie und Praxis................................................68
Aurobindo und Bahro .....................................................................69
Forum Umwelt & Entwicklung ........................................................74
Sozialökologische Projekte, Communities und global Villages ......75
Club of Budapest ...........................................................................80
5. Menschliches Management ...........................................................82
Geist und Materie, Management und Philosophie .........................82
Transdisziplinäre Ansätze im Management ...................................89
II. Was ist der Mensch ..........................................................................95
1. Zwischen Oben und Unten, Außen und Innen ..............................95
2. Die naturwissenschaftliche Perspektive: Der Mensch in den ......103
Evolutionsschichten der Selbstorganisation ....................................103
Das Sein und der Aufbau der realen Welt ...................................103
Seinsschichten und Hierarchien...................................................104
Das Gesetz der Stärke und das Gesetz der Freiheit ...................106
Selbstorganisation, Selbstreferenz und Selbstsein......................107
Sternstunden der Evolution..........................................................109
Bedürfnisse, Affekte und höhere Gefühle ....................................111
Humanitas - Der Mensch als wissend-liebendes Selbst ..............113
Vom Homo sapiens sapiens zum Homo sapiens integralis .........117
4
Freie Menschen und ihre Lebenskunst ........................................119
Macht und Sinn ............................................................................124
3. Die Innenperspektiven des Menschen.........................................131
Moderne Begriffe zur Wiederaufnahme der Innenwelt ................131
Nicht prä- sondern transpersonale Integration.............................136
Erneut zum menschlichen Subjekt...............................................142
Der tiefe, offene Riß in der Sprache des Seins............................143
Mater-Idea und aufschwingende Integrationsschleifen -..............145
Mitgeschöpf und Mitschöpfer Mensch in objektiver Sicht ............145
Die Identität von holistischer Selbstreferenz und menschlicher ...150
Innerlichkeit..................................................................................150
III. Gesellschaftliche Selbstorganisation im Übergang ........................152
1. Wendezeit? .................................................................................152
2. Die Selbstorganisation, Evolution und Involution von ..................157
gesellschaftlichen Ganzheiten .........................................................157
3. Chaos und Selbstorganisation, gesellschaftliche ........................162
Ordnungsmuster und Wandel .........................................................162
4. Erkenntnisse für eine freiheitliche Wirtschafts- und.....................165
Sozialordnung..................................................................................165
5. Die Bereiche sozialer Selbstorganisation ....................................170
IV. Integrative Pfade zu einer nachhaltigen Entwicklung ....................177
1. Allgemeine Ontologie und konkrete Integrationen.......................177
2. Integration von Geist und Affekt: Neuer Bund und Recht............178
3. Riß und Integration von Geist und Sinnlichkeit:...........................183
Sozialökologie, lebendiger Reichtum und Integrated Art .................183
4. Affekt und Materie: Triebkraft und Wirtschaft ..............................189
5. Formen der Integration ................................................................190
Integrierte Wirtschaft....................................................................190
Integrierte Sozialität .....................................................................192
Integrale Subjektivität...................................................................193
Menschliche Manager in der Region 21.......................................194
Literaturverzeichnis .............................................................................198
Anhang................................................................................................207
LebensGut Pommritz.......................................................................207
Entwicklungszentrum einer ökologisch-sozialen Landkultur............207
Welt - Friedens - Erlebnis - Park .....................................................212
„Quellen des Lebens“ ......................................................................212
Manifest der INtegrated ART...........................................................219
5
"Die Geisteswissenschaften haben durch die immer stärkere Aufteilung in Einzelgebiete die Fähigkeit verloren, die Entwicklung und das Wirken menschlicher Gesellschaft in ihrer Ganzheitlichkeit zu begreifen...Ihnen fehlt auch der Dialog mit den Naturwissenschaften über das Ganze. Nur das gemeinsame Bemühen um die Wiederentdeckung der Zusammenhänge, um eine ganzheitliche Betrachtungsweise in allen
Bereichen der Wissenschaft kann uns jedoch den Zugang zu den Ordnungsgesetzen
erschließen, denen die Organisation menschlicher Gesellschaft entsprechen muß,
wenn sie zugleich lebensfähig und menschgerecht sein soll." Kurt Biedenkopf (Die
neue Sicht der Dinge)
"Wissenschaft oder zumindest Forschung werden unerwartete, neue Richtungen einschlagen, Wendungen, deren höchst fruchtbaren Untersuchungen die Orthodoxen nur
ungern den Namen Wissenschaft zubilligen. Erkenntnisse werden die Trennungswand
zwischen Seele und Materie schwächen. Es wird versucht werden, die exakte Wissenschaft auf psychologische und psychische Bereiche auszudehnen, aus der Erkenntnis
der Wahrheit heraus, daß diese unter eigenen Gesetzen stehen, die nicht physische
sind, die aber doch Gesetze sind, wenn sie auch von den irdischen Sinnen sich nicht
fassen lassen und unendlich formbar und subtil sind...Daß sich diese Ideen entfalten
und ihren Ausdruck finden, daß eine wahre, schöne, förderliche Umwelt entsteht, ist
von ausschlaggebender Wichtigkeit...Nicht nur durch Intensivierung seiner gegenwärtigen Lebensweise, sondern durch die Größe seines mentalen und psychischen Wesens, durch eine Erkenntnis, die seine höhere Natur und deren Kräfte hervorruft, kann
der Mensch sich erheben." Sri Aurobindo (Der Zyklus der menschlichen Entwicklung)
Wie kam es zu diesem Buch?
Nicht nur im Titel, auch im gesamten Text geht es vor allem um die
notwendige neue Integration von Mensch und Natur, von Individuum
und Kosmos, von Gesellschaft, Wirtschaft und Geist, von Subjektivem
und Objektivem, von Innen und Außen. Im Rahmen eines wissenschaftlichen Anspruchs ist es nicht angebracht, die Sprache und Darstellung
des Themas selbst in einem integralen, d.h. das Subjektive unmittelbar
einbeziehenden Ton zu gestalten. Doch im Vorwort, das auch traditionell der Würdigung menschlicher Unterstützung dient, sei Inneres und
Äußeres, Subjektives und Objektives verwoben zu einer kurzen Geschichte der Entstehung dieser Arbeit.
Ich war wohl 5 Jahre und stand mit Blick auf die oberlausitzer Berge in
der Tür zum Kinderzimmer,welches ich damals mit meinen beiden Brüdern bewohnte. Für einen kurzen Moment nur, dennoch unvergeßlich
6
ergriff mich da eine Ahnung, zu deren Verständnis ich dann, als es 12
Jahre später in Sehnsucht und Bewußtsein zu keimen begann, fast 20
Jahre Philosophie- und Theologiestudien brauchte - bis ich es, mehr
außerhalb als innerhalb dieser normalen Studien erkennend wiederfand.
Diese Ahnung war ein Hauch jenes allumfassend-alldurchdringenden
Einen, jener unbegreifbaren Gleichzeitigkeit von Sein, Bewußtsein und
Seligkeit, welche die unserem Normalbewußtsein angeborenen und antrainierten Grenzen in der bewußten Gegenwart dieses Alls übersteigt.
Alles in diesem Universum erschien als ein Teil eines für mich und zugleich erst durch meine Liebe und mein Bewußtsein existenten unendlichen Mysteriums. Alle Materie oder Natur war zugleich Schauspiel,
Kunstwerk, Lebensfreude und nichts von alledem war außerhalb meines allumfassenden Geistes und Glücksgefühls.
Die Erinnerung dieses Momentes verließ mich nie. Doch lange Zeiten
danach konnte ich nichts Wirkliches damit verbinden. Ich wuchs auf in
eine Welt, in der solch ein Erlebnis nur als Illusion erscheinen konnte:
Eine Welt der tiefen Trennungen, der scheinbar unüberbrückbaren
Klüfte zwischen Sein, Bewußtsein und Seligkeit. Sein war Materie und
die zu deren Fügbarmachung nötige Arbeit eine eher freudlose Anstrengung. Bewußtsein wurde eingeübt in den abstrakt-leblosen Begriffen einer lebensfern-freudlosen Schulwelt. Und Seligkeit war vorgesehen nur bei von Arbeit und Lernen getrennten fettlebigen Feiern. Die in
meinen Jugendjahren wegen ihrer Lebensferne für mich reizlosen Religionen von Christentum oder Kommunismus boten nicht mehr als einen
noch weiter abgespaltenen Aufguß all dieser Abtrennungen.
Als es darum ging, einen Beruf in dieser Welt zu wählen, fühlte ich dies
Ungenügen, die mich zu einem ihrer Teile zurechtzustutzen drohende
Leere all der angebotenen Wege und entschloß mich zur Philosophie.
Denn diese versprach als einzige zumindest im Namen, als "Liebe der
Weisheit", den Dingen auf den Grund zu gehen.
Immerhin konnte man in diesem letzten Jahrzehnt des in Ostdeutschland von kommunistischer Ideologie beherrschten Systems unter dem
7
Thema "Dialektischer Materialismus" geistige Fähigkeiten der dialektischen, d.h. Widersprüche fließend einenden Synthesen erlernen. Zwar
blieb dies beschränkt auf Gedanke oder Bewußtsein und war hier sogar
ein gewisser Ersatz für das errstarrte soziale Sein, aber es war zumindest ein Stück jenes Einen. In den heutigen Philosophielehrstühlen fehlt
meist auch diese letzte, wenigstens den abgetrennten Gedanken zum
Einen erhebende philosophische Ursprungsqualität und ich bedaure all
die in ähnlicher Suche hoffnungsvoll beginnenden Philosophiestudenten, die wegen dieser geist- und herzfernen Formen dieses Studium
aufgeben, oder, wenn sie äußerlich durchhalten, zumindest innerlich
resignieren und sich der vorherrschenden Scheingeistigkeit anpassen.
Konkreter Auslöser für meine systematische Suche nach den bisher
unverwirklichten Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen war das
unmittelbare Erleben der inzwischen versunkenen "realsozialistischen"
Ära. Die mir durch meinen Vater nahegebrachten Visionen des Sozialismus stimmten mit meiner eigenen Lebenssehnsucht überein, nicht
aber die Wirklichkeit. Keiner konnte gaubhaft begründen warum, daher
machte ich mich selbst auf die Suche. Weil, wie mir später Immanuel
Kant bestätigte, das Besondere nur verstehen kann, wer zuvor das Allgemeine begriffen hat, begab ich mich immer tiefer in das Abenteuer
der Philosophie. Als ich in deren modernen, offiziell gelehrten, leider
aber oft leeren Formen - nur Gerd Irrlitz, H.-C. Rauh und Karl-Friedrich
Wessel verdanke ich einige echte geistige Nahrung in dieser Zeit - wenig Ganzes fand, suchte ich in den Gefilden der Anthropologie und Psychologie nach den intuitiv als entscheidend geahnten Bedingungen des
Menschlichen. Dies half zwar weiter, aber der innere Anspruch, die Bestimmung des Menschen im Kosmos und meine eigene in der Gegenwart zu verstehen, blieb letztlich noch immer unbefriedigt.
Das mir gegenübertretende Feld der gegenwärtigen Menschheit hatte
sich inzwischen erweitert. Von einem längeren Aufenthalt im Lande der
Gorbatschowschen Perestroika kam ich zurück in das sich wendende
Ostdeutschland und erlebte, wie das anfangs großzügige Engagement
der Westdeutschen für ihre Schwestern und Brüder die gröbsten Naturzerstörungen und menschlichen Unfreiheiten beseitigte; doch auch, wie
aus dem übergestülpten System andere, subtilere ökologische, soziale
und geistige Probleme erwuchsen.
8
In der kurzen Blütezeit dieser Systemwende gab es jedoch einen Menschen, der mutiger und wissender als andere auf die Gefahren und
Chancen dieses gesellschaftlichen Neubeginns hinwies. Dieser
Mensch, Rudolf Bahro, war bereits in den 80-iger Jahren in Ost und
West berühmt geworden durch sein Buch „Die Alternative“. Er wirkte mit
beim ursprünglichen Aufbruch der Grünen und kam nun zurück nach
Ostberlin, um in der geschichtlich seltenen Situation echter menschlicher Offenheit an der Humboldt-Universität zu Berlin ein neues wissenschaftliches Paradigma, die Sozialökologie, aufzubauen. Sein Anspruch
der tiefenpsychologischen Begründung einer humanen und ökologischen Gesellschaft und das Projekt einer nicht nur thematisch sondern
auch menschlich verbundenen Wissenschaftlergruppe, traf den Nerv
meiner eigenen Intentionen; so stieß ich zu ihm und half, die Sache an
meiner Heimatuniversität zu institutionalisieren. Leider währte der im
Sog der Wende wehende geistig-innovative Freiraum nur kurz, der Aufbau eines wirklichen Institutes für Sozialökologie, als einer Natur-, Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften im Sinne menschlicher Zukunft integrierenden Disziplin, fiel den bald eingeführten traditionellen
Strukturen zum Opfer. Es kam nur zu einer minimale Arbeitsgruppe, die
dennoch manche, inzwischen allmählich Verbreitung findende Gedankenimpulse setzte. Doch an der Seite Rudolf Bahros konnte ich in kurzer Zeit sehr vieles von dem aufnehmen, was er in Jahrzehnten praktisch-geistigen Engagements für diese Welt gesammelt hatte. Zu nennen sind hier insbesondere die Theorie und Praxis der transpersonalen
menschlichen Evolution, die Einsicht in die Begrenztheit nur technischer
oder nur sozialer Praxis und die Bekanntschaft mit vielen engagierten
Wissenschaftlern und Praktikern, die für die Sozialökologie Vorlesungen, Kolloquien oder Workshops einbrachten.
Ein für mich wichtiger Schritt begann mit einer Vorlesung Kurt Biedenkopfs über "Eine Wirtschaftsordnung für die Erde" im Juli 1991. Im anschließenden Gespräch mit Bahro vereinbarten die beiden trotz aller
Unterschiede im selben Sinne engagierten Geister ein gemeinsam unterstütztes ökologisch-soziales Experiment. Nicht nur dessen praktischgeistige Vorbereitung, auch dessen stete Begleitung auf der Brücke von
Wissenschaft und Praxis wurde für mich zu der in jeder Hinsicht fordernden Aufgabe. Sie verursachte nicht nur eine theoretische Ausein-
9
andersetzung im Feld dieser zwei je auf ihre Weise hervorragenden
Denker - ein Denken im Spannungsfeld von theoretisch begründeter
Realpolitik (Biedenkopf) und philosophisch verankerter Grundsatzkritik
(Bahro) - sondern außerdem dessen unmittelbare praktische Reibung
beim Mitaufbau eines zukunftsorientierten menschlichen Experimentes.
Die noch unerforschten Schwachstellen dieses in menschlicher und
ökologischer Hinsicht bisher recht erfolgreichen Experimentes, insbesondere das Problem einer Integration von Sozialität, Individualität und
Ökologie mit moderner Wirtschaftlichkeit, ließen mich dann weiter suchen.
Geistige Ermunterungen ergaben sich aus einer fernen, doch in ihrem
wahrhaften philosophischen Grund seltenen Freundschaft mit dem
Denker Vittorio Hösle. Ähnlich wichtige geistige und menschliche Anstöße schenkte die in vielen Höhen und Tiefen bewährte Freundschaft
mit dem Denker Michael Wende.
Bei der Suche nach praktischen Lösungskonzepten traf ich auf Reinhardt Stefan Tomek, der als früh erfolgreicher Manager ins Nachdenken
über den Sinn nur wirtschaftlicher Erfolge kam und sich seit längerem
dem Versuch einer praktischen Integration von Wirtschaft, Ökologie,
Geist und Kunst widmet. Die Verwandtschaft unserer Ideen, zu denen
wir trotz völlig verschiedener Lebensläufe gekommen waren, führte zu
einer inspirierenden Freundschaft. Dazu kam der Unternehmensberater
und geistig suchende Andreas Mascha, mit dem ebenfalls schnell eine
tiefe Freundschaft entstand. Damit gewann das Spannungsfeld meiner
unmittelbaren geistigen Vorbilder und Mitwirker den bisher fehlenden
dritten Akzent. Neben dem Philosophen Bahro gab es den Politiker Biedenkopf, zu dem zwar kein direkter persönlicher, nur seltener brieflicher
Kontakt besteht, dessen theoretisches Werk mir jedoch entscheidende
Denkanstöße gab und dessen Wirkungsmacht im Hintergrund des praktischen Experimentes immer mitschwingt. Und dies ergänzend bewirkten die visionären Manager Tomek und Mascha ein weiteres Nachdenken und nicht wenige Kopfwehen zur geistigen Integration von auf den
ersten Blick kaum vereinbaren Theorien, Lebenshaltungen und Praxisformen.
Wichtige Einflüsse und Anschlüsse an die Diskussion und Praxis nachhaltiger Entwicklung ergaben sich durch die Mitwirkung im Rio-
10
Folgeprozeß, wie ich ihn im Forum Umwelt und Entwicklung deutscher
Nichtregierungsorganisationen, in dessen Arbeitsgruppen Lebensweise
und Entwicklungszentren für den Norden, zeitweilig recht intensiv erlebte.
Eine starke Faszination brachte mir der Kontakt mit dem Club of Budapest, jenes Ablegers des Club of Rome, dem es um eine weltweite geistig-kulturelle Integration und Evolution, um ein planetares Bewußtsein
und einen dies tragenden globalen Bund von Honoratioren und jungen
kreativen Menschen und deren Projekte geht. Dessen, vor allem von
Gründer Ervin Laszlo erarbeitete theoretische Grundlage - eine Verbündung von modernsten Naturwissenschaften und ältesten geistigen
Weisheiten, dies Ganze im Fokus kreativen und unmittelbar praktischen
Engagements für die Probleme der heutigen Menschheit - empfand ich
als zutiefst verwandt.
Die bisher genannten sind die theoretisch-sichtbaren Impulse, daneben
wirkten die unsichtbareren, dennoch kaum zu überschätzenden Inspirationen, die mir die nahen Gefährtinnen meines Lebens schenkten. Hier
zu nennen sind nach meiner Mutter, deren mir mitgegebenen Schatz
unbedingter Liebe ich erst im nachhinein entdeckte, vor allem meine
erste Frau Gabriele, die mir Selbstvertrauen und unsere geliebten Kinder Karl und Marie schenkte; Corina, deren intuitive Qualität und Stärke
enscheidendend für den Beginn des LebensGutes waren; Dunja, deren
Selbsterneuerungskraft ich bestaune; und meine geliebte Lebensgefährtin, Antonia, deren lebendiges und wissendes Wesen mich immer
wieder aufs neue erstaunt, inspiriert und mit Liebe zum Leben erfüllt.
Und dazu gehören all die in Herz und Geist nahestehenden Freunde
innerhalb und im Umfeld der Berliner Arbeitsgruppe Sozialökologie sowie des LebensGutes.
Für die für die lektorische Unterstützung bei der Fertigstellung dieses
Buches danke ich besonders der Journalistin Kathrin Schanze und dem
Verleger Rolf Hinder.
Unmittelbare Inspiration zur Niederschrift war der Tod Rudolf Bahros. In
den wenigen Wochen danach kulminierten in mir viele Gedanken, die in
den Jahren der Arbeit, Freundschaft und Gespräche mit diesem großen
Menschen angeregt wurden. Er verkörperte eine lebendige Synthese
11
der grundlegenden Widersprüche unserer Welt und prägte auch einen
entscheidenden Begriff für deren Lösung: „Homo integralis“. Dieses
neue Paradigma, das er nach seiner langen Suche deutlich wie bisher
nur wenige erkannte und zu verwirklichen begann, konnte er nicht mehr
differenziert erarbeiten. Daher rühren viele Mißverständnisse zu seiner
Person und zu seinem Wirken. Ich weiß, daß er die Hoffnung hegte, ich
trüge zur Fortsetzung und zur klärenden Ausarbeitung dieses neuen
Paradigmas bei.
12
Einleitung
Das Ziel dieses Buches ist es, Ansatzpunkte zur Lösung der vor der
Menschheit stehenden offenen Fragen ihrer Gegenwart und Zukunft
beizutragen. Der moderne Mensch steht an einem Punkt, da die in den
vergangenen Jahrhunderten zur Erleichterung der menschlichen Existenz ersonnenen und angehäuften materiell-technischen und sozialstrukturellen Errungenschaften bei einem bloßen "Weiter-wie-bisher"
ihre menschlichen Schöpfer zu ersticken drohen - wenn diesen keine
darauf reagierende und befreiende Weiterentwicklung ihrer soziokulturellen Selbstorganisations- oder Ordnungsmuster gelingt. Die äußeren
und inneren, die wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Strukturen, die
der Mensch im bisherigen Prozeß seiner geschichtlichen Herausarbeitung aus und in seiner Absicherung gegen die ihn bedrohenden Kräfte
der äußeren und inneren Natur hervorbrachte, genügen nicht mehr.
Jetzt, da durch die angeeigneten Naturkräfte und entwickelten Techniken immer weniger die Natur den Menschen als der Mensch die Natur
bedroht, bedarf es neuer Selbstorganisations- und Ordnungsmuster für
ein Leben, Wirtschaften und eine menschliche Weiterentwicklung in
Harmonie mit der großen Natur. Und dazu brauchen wie, wie u.a. Kurt
Biedenkopf freimütig betont, zuerst einmal eine "Neue Sicht der Dinge"1, neue Begriffe für ein neues Verständnis und eine erst daraus
mögliche neue Ordnung menschlicher Wirklichkeit.
Nicht nur die Wissenschaft sondern die gesamte menschheitliche Kultur
steht vor einem Paradigmenwechsel. Der Physiker und Psychologe
Peter Russel erhob diesen anstehenden Paradigmenwechsel in den
Rang eines Evolutionssprunges. Die Menschheit, die in den Bereich der
kritischen Masse von 10 hoch 10 Individuen gelangt - mit der Verbindung von 10 hoch 10 Atomen begann das organische Leben, mit 10
hoch 10 Nervenzellen das selbstreflexive Bewußtsein und damit Geschichte - steht vor dem Auftauchen einer neuen, durch Ausbildung eines erdumgreifenden Bewußtseins geprägten Ordnung. Die im Vergleich zum Bisherigen neue Qualität dieser Ordnung besteht in ihrer
1 Biedenkopf, K., Die neue Sicht der Dinge. Plädoyer für eine freiheitliche Wirtschaftsund Sozialordnung, München 1985.
13
Gebundenheit an die Noosphäre, an den weltweiten menschlichen
Geist. Es bildet sich ein weltweites Bewußtsein, das nur zugleich in
Form äußerer Strukturen - einer durch die moderne Technik möglichen
globalen Einigung und Verbindung von Individuen, Regionen und Nationen -, wie auch im menschlichen Innenraum - der Befreiung der
menschlichen Sinne und der Entwicklung des mentalen zu einem ganzheitlichen Bewußtsein - entstehen kann.2
Die Krise ist so zugleich als Chance zu sehen, nur aus solcher Sicht
können die notwendigen kreativen Neuentwicklungen auf geistiger, sozialer und wirtschaftlicher Ebene entstehen.
Entscheidend ist dabei vor allem die Aufhebung der unseren Geist und
unser Handeln lähmenden Spaltungen, eine neue Integration der im
Zeitgeist weitgehend getrennten Bereiche von Umwelt und Inwelt, Theorie und Praxis, Wirtschaft und Philosophie, Rationalität und Intuition,
Management und Kunst, Liebe und Arbeit etc. Die Differenzierung dieser Bereiche und Begriffe war einst notwendig, um die menschliche und
gesellschaftliche Evolution aus den engen, das menschliche Potential
beschränkenden Grenzen nur naturgegebener Umwelten und Stammesverbände befreiend herauszudifferenzieren. Deshalb geht es auch
um kein "Zurück" zu natürlichen oder vormodernen Einheiten und Zuständen. Aber es geht um eine Wiederverbindung auf neuer, bewußter,
differenzierter Ebene. Kaum ein Wissenschaftler kann dies in ähnlich
treffende Worte fassen wie der ahnungsvolle, neben der objektiven
Sicht auf die Dinge immer auch das sehende Subjekt einbeziehende
Dichter Hölderlin:
"Es gibt zwei Ideale unseres Daseins: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und
mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation
der Natur, ohne unser Zutun, gegenseitig zusammenstimmen, und einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe stattfinden würde bei
unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften,
durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben imstande sind."3
2
Russel, P., Die erwachende Erde. Unser nächster Evolutionssprung, München 1982.
Hölderlin, F., Fragment von Hyperion, in: Hölderlin Werke, Bd. 2, Berlin und Weimar
1989, S. 7.
3
14
Eine der grundlegenden Differenzierungen und Desintegrationen zu
Beginn der modernen Zivilisation war die von Physis, Macht und Geist.4
Hier, in dieser trotz aller komplexen modernen Regelsysteme nicht
überwindbaren Spaltung, wurzeln nicht nur die äußerlich sichtbaren
ökologischen Probleme, wie Regenwaldzerstörung, Bodenerosion, Artensterben etc., sondern ebenso die in der Öffentlichkeit eher verdrängten menschlichen Katastrophen, die trotz allem wachsenden
Wohlstand zunehmenden seelischen und körperlichen Krankheiten. Um
diese äußeren und inneren Selbstzerstörungen zu überwinden, bedarf
es neuer Verbindungen der getrennten Dimensionen.
Zum einen im ökologischen Bereich; hier insbesondere der Wiederverbindung von Erde und Geist. Wie der japanische Weise und Bauer Fukuoka in vielfacher Weise darstellt, muß deshalb die Entwicklung einer
zukunftsfähigen Gesellschaft unmittelbar mit der Entwicklung einer naturverträglichen Landnutzung einhergehen.5 Vor allem in diesem Bereich, der heute "Landwirtschaft" heißt, am direkten Zusammenspiel von
Erde und Geist, muß eine neue Epoche beginnen. Hier bewährt sich der
unmittelbare und existenzielle Kontakt von Mensch und Natur. Kreislaufwirtschaft oder Regionalentwicklung, als zukunftsorientierte Entwicklungstendenzen, können nur mit diesem Zusammenhang wirklich
werden. 6 Nicht zufällig gehören von den Wissenschaften unserer Zeit,
die angesichts der Probleme eigentlich alle der Suche und Begründung
zukunftsfähiger Formen dienen müßten, die Agrarwissenschaften zu
den engagiertesten. Eines der ersten, die Folgen des modernen Umgangs mit der Erde schreiend bewußt machenden Bücher, "Der stumme
Frühling" von Rachel Carson7, ging aus vom Erschrecken über die Zerstörung der Muttererde durch die unintegrierte Industrialisierung der
4
Siehe: Mumford, l.: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt am
Main 1981; und Thompson: W. I.: Der Fall in die Zeit. Mythologie, Sexualität und der
Ursprung der Kultur, Reinbek b. Hamburg 1987.
5 Siehe: Fukuoka, M.: Der große Weg hat kein Tor. Nahrung - Anbau - Leben, Darmstadt 1994; ders.: In Harmonie mit der Natur. Die Praxis des natürlichen Anbaus,
Darmstadt 1995.
6 Gut begründet wird dieser Zusammenhang im bisher vor allem in den USA verbreiteten "Bioregionalismus". Siehe: Gugenberger, E., R. Schweidlenka: Bioregionalismus.
Bewegung für das 21. Jahrhundert, Osnabrück 1996.
7 Carson, R., Der stumme Frühling, München 1963.
15
Landwirtschaft. Und noch immer ist der ungebrochene alljährliche Verlust von Millionen Hektar lebendigen Mutterbodens das deutlichste
Phänomen der Krise.
Einer Neuverbindung der getrennten Dimensionen bedarf es zum anderen im soziokulturellen Bereich. Seit Rückgang der traditionellen Religionen wurden die zuvor im Namen höherer Gewalten im Zaum gehaltenen Triebkräfte des Vitalwesens Mensch zwar freigesetzt, doch gelang der Mehrheit der Individuen bisher keine subjektive Neueinbindung
in einen selbstgesetzten, freien und höheren Sinn, so daß die freigesetzten Interessen weitgehend wurzel- und orientierungslos, daher
angstvoll und egozentrisch umherirren, die äußere Natur und die innere
Seele und damit die menschliche Zukunft gefährden.
Die über die sinnvollen Differenzierungen des Ganzen in Theorie und
Praxis hinausgehenden Trennungen und Erstarrungen sind aufzuheben
in einem bewußten, die ausdifferenzierte Komplexität moderner
menschlicher Welt nicht zerstörenden, doch neu integrierenden Ganzen. Dazu bedarf es einer ganzheitlichen Sichtweise. Ein Moment davon ist die Zusammenfügung der bisher getrennt gedachten Dinge in
einem systemischen, von größeren Zusammenhängen ausgehenden
Denken. Doch das weitgehend auf der materiell-physikaischen Ebene
angesiedelte Systemdenken genügt nicht, es geht um viel mehr als nur
eine interdisziplinäre Überbrückung der voneinander getrennten Naturwissenschaften. Es geht darüber hinaus um eine neue Synthese von
Natur und Geist in Theorie und Praxis, um eine Wiederverbindung von
Außen- und Innenwelt, von Objekt und Subjekt, von "Nicht-Ich" und
"Ich", von Materie und Bewußtsein. Deshalb wird hier das Herangehen
nicht als ganzheitlich, inter- oder multidisziplinär sondern als transdisziplinär bezeichnet.
Bei der bewußten Suche nach solchen transdisziplinären oder integralen Begriffen zeigten sich manche verblüffende Zusammenhänge, ja
sogar Identitäten zwischen bisher in unserem Bewußtsein völlig getrennten Gedankenwelten. Das größte Erstaunen erwuchs mir, als ich
bemerkte, daß der in der modernen Naturwissenschaft von der
Selbstorganisation entwickelte Begriff der Selbstreferenz letztlich genau
dasselbe bedeutet wie die aus uralter Mystik stammenden Begriffe der
16
Innenwelt, Geistigkeit oder Bewußtheit. Die so mögliche Gedankenbrücke könnte wesentliches zur notwendigen Verbindung von Naturund Geisteswissenschaft beitragen.
Zur Erfassung der so im umfassenden, transdisziplinären Sinn verstandenen Ganzheit gibt es verschiedene Wege. Zur unmittelbaren Wahrnehmung des Ganzen als "Einem" gibt es die Methoden der Meditation.
Zur über den Alltagsverstand hinausgehenden Erfassung konkreter
Dinge dienen die traditionellen Methoden der einzelnen Wissenschaften. Und zur differenzierten Betrachtung des Ganzen im Licht grundlegender menschlicher Lebensthemen entstand die Philosophie. Keine
dieser bisherigen Erkenntnisformen genügt, wenn es im Sinne menschlicher Zukunft um eine Betrachtung möglichst aller einzelnen und konkreten Bereiche als Teile des übergreifenden Ganzen geht. Hervorgerufen von den realen Erfordernissen wird sich, wie in den Anfängen von
Selbstorganisations- oder Chaostheorie bereits zu sehen, tendenziell
eine die bisherigen Einzelwissenschaften, Philosophie und ganz neue
Ansätze - wie z.B. die Komplexitätstheorie - einschließende Form der
Erkenntnis herausbilden.
Auch übergreifende Begriffe dafür sind erst im Entstehen. Die bisherigen Ansätze zur Erfassung des neuen Paradigmas umrissen es vor allem durch Benennung der Leerstellen des Alten. Diese Ansätze, so "Die
neue Sicht der Dinge" (Kurt Biedenkopf), "Sozialökologie" (Rudolf
Bahro), "Ökologisches Selbst" (Joanna Macy), "Kosmos, Eros, Logos"
(Ken Wilber) u.a. deuten jedoch alle in jene Richtung, welche Jean Gebser die "integrale" nannte.8
Gebser, dem es um die Bewahrung des "Humanum" vor den eindimensionalen Fortschrittsperspektiven des rational-dominierten Zeitalters
ging, kam nicht zur Ausarbeitung der menschlichen Vorausetzungen für
diese Rettung. Der in vieler Hinsicht an ihn anknüpfende Rudolf Bahro
benannte die "conditio humana" als den letzten zu erkennenden Grund
aller menschlichen Geschichte und Gesellschaft, konnte diese inneren
und äußeren Bedingungen des bisherigen und zukünftigen Menschseins jedoch nur fragmentarisch ausarbeiten.9 Diese Intentionen auf8
Gebser, J., Ursprung und Gegenwart, München 1973.
Bahro, R., Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über
die Grundlagen ökologischer Politik, Stuttgart/Wien 1989.
9
17
nehmend steht genau das - der Mensch, in seiner ihm bevorstehenden
Rolle als Mitschöpfer einer integralen Wirklichkeit - im Zentrum des folgenden Beitrages zur Entwicklung eines neuen Paradigmas. Als umgreifender Begriff steht dafür hier "Homo sapiens integralis".
Die Wirklichkeit selbst ist nicht linear, sondern in sich vielfältig vernetzt
und durchdrungen. Deshalb kann auch die Darstellung eines so umfänglichen Gegenstandes keine lineare sein. Der Faden einer geistigen
Rekonstruktion menschlicher Ganzheit zieht sich untergründig durch,
doch er erscheint im Text, der immer wieder neue Bereiche, Probleme
und Sichtweisen einbezieht, eher wie ein offener Kreis von Kreisen. Um
die Verbindung der einzelnen Kreise, d.h. den Gesamtzusammenhang
zu vergegenwärtigen, werden in Klammern Verweise dahin gegeben,
wo Gedanken, die an dieser Stelle wegen ihres anderen Kontextes nur
in begrifflicher Kürze verwendet werden, konkreter ausgeführt und begründet sind.
Um dem in sich vielschichtig komplexen Gegenstand gerecht zu werden
und dem Leser die zum Teil ungewohnten Gedankengänge nahezubringen, folgt die Darstellung einer Methode mehrfacher Annäherung.
Im Teil I wird die Vielschichtigkeit der sichtbaren Gegenwartsprobleme
und -möglichkeiten erfaßt, werden ihre inneren Zusammenhänge und
erste Ansätze einer neuen Wirklichkeit aufgezeigt. Teil II geht davon
aus und reflektiert sie im Licht allgemeiner Grundstrukturen der übergreifenden ontologisch-anthropologischen Wirklichkeit. Daraus lassen
sich dann in den Teilen III und IV einige konkrete Akzente der anstehenden integralen Welt begrifflich fassen und antizipieren. Zur Ergänzung sind im Anhang außerdem einige unmittelbar aus diesem Theorieansatz folgende, doch eher praktische Konzepte und Projekte aufgenommen.
Wichtig für den Leser ist, noch einmal darauf hinzuweisen, daß Sinn
und Zweck dieser Ausführungen in dem Versuch einer begrifflichen Annäherung an die bisher ungedachten Leerstellen einer in sich ganzheitlichen oder integralen Welt besteht. Dementsprechend stehen im Vordergrund nicht die in sich jeweils weiter konkretisierbaren einzelnen
Details - diese werden vorausgesetzt und soweit als sinnvoll in Form
von Literaturhinweisen begründet. Im Vordergrund dieser Ausführungen
18
stehen Methoden und Begriffe zur Integration der im bisherigen Bewußtsein getrennten oder sogar gegensätzlichen Dinge und Wirklichkeitsbereiche, wie Wirtschaft und Ethik, Trieb und Geist, Liebe und Gesellschaft, Inspiration und Rationalität, Leben und Arbeit, Umwelt und
Inwelt etc.
Ausgangspunkte dieser Synthesen bilden die aus verschiedensten Zusammenhängen kommenden Gedanken anderer, und um deren je eigene Orginalität möglichst lebendig einfließen zu lassen, lasse ich sie
soweit als möglich selbst mit Zitaten zu Wort kommen. Die dadurch
sichtbar werdende Tendenz, daß in allen bisher mehr oder weniger getrennten Bereichen übergreifende Gedanken vorhanden und im Wachsen sind, soll zugleich helfen, diesen Versuch hier offen aufzunehmen,
als Teil der Selbstfindung eines integralen Zeitalters.
Wo etwas auf den ersten Blick unverständlich scheint, bitte ich genauer
hinzusehen, ob die verwandte Denkweise oder Begrifflichkeit nicht nur
einfach ungewöhnlich und deshalb mit den gewohnten Denkmustern
nicht gleich zu erfassen sind. Dies kann auch und besonders geschulte
Wissenschaftler betreffen, denn: "Je wissenschaftlicher ein Mensch gebildet ist, je länger er die Schule besucht hat, um so größer sind die
Barrieren, die er auf dem Weg zum ganzheitlichen Denken überwinden
muß."10
Dementsprechend verwendet die Darstellung auch nur beschränkt die
im modernen wissenschaftlichen Diskurs übliche ausführlich-kritische
Diskussion anderer Gegenwartsstandpunkte. Die Kritik erfolgt implizite
in bezug auf jeden nur Teilaspekte einschließenden und die anderen,
gegenteiligen Aspekte ausschließenden Gedanken oder Theorieansatz.
Als Leitbild gilt der dem realen Ganzen gerecht werdende Anspruch auf
Vollständigkeit; gleichwohl kann dieser immer nur beschränkt erfüllt
werden. Ziel dieser Arbeit ist vor allem ein Erfassen und Integrieren der
wesentlichen, grundlegenden, entscheidenden Momente des Ganzen.
In diesem Sinne, um einen integrativen Überblick über das Ganze zu
ermöglichen, ist der Text insgesamt möglichst kurz gehalten.
10 Ulrich, H., G. J. B. Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln. Ein
Brevier für Führungskräfte, Bern/Stuttgart/Wien 1995, S. 13.
19
Es ist ein Beitrag zum kommenden, sich im nur oberflächlichmaterialistisch funktionierenden Gehäuse der Moderne als notwendige
Korrektur allmählich ankündigenden integralen Paradigma. Meine hier
ausgeführten Gedanken dazu bitte ich in bezug zu setzen zu anderen,
in den Grundzügen ähnlichen Vorahnungen des kommenden integralen
Zeitalters. Neben dem bereits genannten Rudolf Bahro sind dabei insbesondere die Werke des indisch-europäischen Denkers und Weisen
Aurobindo Ghose, der französisch-ägyptischen Forscherin Mirra Alfassa
und des Schweizer Vordenkers Jean Gebser zu empfehlen.
20
I. Außen- und Innenperspektiven der Gegenwart
1. Die Geschichte der Differenzierung und die Zukunft der
Integration
Die Bereiche des Menschen und der Gesellschaft
Der Mensch vereint in sich sehr verschiedene Seinsbereiche, sowohl
den mit der materiellen Natur verbundenen Körper, als auch die mit seinen Mitmenschen verbundene soziale Seele und auch den mit dem
Ganzen des Universums oder der Schöpfung verbundenen Geist. Diese
Feststellung verschiedener Seiten in sich selbst dürfte jedem menschlichen Individuum nach wenigen Selbstreflexionen gewiß sein. Sehr viel
interessanter, aber auch schwieriger ist es, zu begreifen, wie dieses
Zusammenspiel der Ebenen von Körper, Seele und Geist sich abspielt.
Und noch viel spannender und auch komplizierter wird es, wenn es darum geht, dieses Zusammenwirken nicht nur abstrakt sondern als Teil
einer konkreten geschichtlichen Wirklichkeit zu sehen. Wir leben in einer inzwischen menschheitlichen oder globalen Wirklichkeit, die in
scheinbar unüberschaubare Bereiche auseinanderfällt und der es gerade daran mangelt, sich als Eines oder Ganzes zu verstehen; deren
Nicht-Zusammenspiel natürlich-materieller, seelisch-sozialer und geistig-kultureller Teile sich selbst, und damit den sie tragenden Menschen, zu entmutigen und zu zerstören droht.
Das Wissen, daß nicht nur die Zerstörung unserer Umwelt, die wachsenden Ozonlöcher und die schwindenden Regenwälder im Katalog der
zukünftig von der Menschheit zu lösenden Aufgaben stehen, ist inzwischen weit verbreitet. Ebenso die Ahnung, daß die anderen Seiten dieses Zukunftskatalogs, d.h. die Fragen einer Neuverteilung von Arbeit
und Ressourcen oder einer Sinnfindung für die heranwachsende, sonst
in der Leere von Arbeits- und Naturlosigkeit resignierenden Generation,
nicht nur zufällig aufeinanderfolgende Serien des Abenteuers menschlicher Zukunft sind. Intuitiv ahnt man, daß dieses Buch unserer Gattung
ein Ganzes mit äußeren und inneren Zusammenhängen ist; doch fällt
es unseren Gedanken, die sich gewohnterweise immer in diesem oder
jenem Teilbereich menschlicher Wirklichkeit aufhalten, schwer, darin zu
21
lesen. Und auch die sich für unser aller Zukunft verantwortlich Engagierenden neigen dazu, dies
entweder für die hungernden Kinder oder für die bedrohten Wale oder
für
die berufslosen Jugendlichen oder für die weltverbindende Technik oder
für eine neue Ethik etc. zu tun.
Auch die öffentlichen, die wissenschaftlichen und die politischen Diskussionen, auf welchem Wege nur eines der drängenden Gegenwartsprobleme, die Umweltzerstörung, gelöst werden könnte, ist Ausdruck der Gewohnheit zur gedanklichen Trennung. Die einen setzen auf
energiesparende technische Innovationen, andere sehen das Erfordernis wirtschaftlicher oder gesellschaftlich-rechtlicher Regelmechanismen
wie Umweltsteuern oder Naturschutzgesetze, und dritte betonen die
Notwendigkeit einer Umweltbewußtseinsbildung oder geistigen Erneuerung.
Daß wir in der Lage sind, so vielfältige Fragen zu stellen, d.h. die eine
Wirklichkeit von so verschiedenen Seiten zu betrachten, sie in ihre einzelnen Bereiche zu zergliedern und in diesen Bereichen jeweils möglichst konkrete Lösungen zu erzielen, ist eine geschichtlich gesehen
junge Errungenschaft der Menschheit. Sie ermöglichte die ungeheure
Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft und auch die
rechtlich vor anmaßenden Übergriffen geschützte Freiheit des Individuums. Deshalb geht es nicht darum, diese errungene Kunst und die
Werkzeuge der Differenzierung zurückzunehmen, vielmehr darum, sie
zu ergänzen durch die im Eifer dieser Weltentdeckung und -eroberung
zurückgelassenen oder vergessenen Qualitäten der Verbindung zum
Ganzen.
Aus dieser den Reichtum der Moderne bewahrenden und durch verlorene Momente ergänzenden Haltung ergibt sich eine erste Sicht auf drei
unvereinte Widersprüche, deren Wesentlichkeit und mögliche Integrationen unten als entscheidend für eine neue zukunftsfähige Welt begründet und ausgeführt werden. Nicht nur die Begrenztheit eines entweder ökonomischen oder politischen oder geistigen Herangehens ist
aufzuheben sondern darüber hinaus die Einseitigkeit innerhalb dieser
Bereiche. So entstehen drei wesentliche theoretische und praktische
Aufgaben der Integration:
22
A - Die Integration der Vorteile ausdifferenzierter globaler Markwirtschaft
mit den Vorteilen regional konzentrierter Kreislaufwirtschaften zu einer
dualen nachhaltigen Gesamtwirtschaft;
B - Die Integration der Vorteile anonym-ausdifferenzierter, von persönlichen Machtaffektionen befreiter Rechtsverhältnisse mit den Vorteilen
unmittelbarer sozialer Gemeinschaftlichkeiten;
C - Die Integration der Vorteile freier, an keine traditionellen Religionsformen gebundener und kommunikativ gelebter Geistigkeit mit den
Vorteilen der traditionellen, die Verbindung der Individuen mit dem universellen Ganzen erleichternden Religionsgemeinschaften.
Es könnte sein, wie insbesondere Kurt Biedenkopf in seiner "Neuen
Sicht der Dinge" oder Rupert Riedl in seiner "Spaltung des Weltbildes"
betont (siehe I.1.4.), daß die Trennung der Dinge inzwischen nicht nur
irgendein, sondern das Grundproblem selbst ist und nur ganzheitliche,
d.h. Natur, Wirtschaft, Politik und Geist integrierende Lösungen weitere
Entwicklungen ermöglichen. Das heißt, es geht nicht um Naturschutz
oder Umwelttechnik oder Umweltsteuern oder Umweltgesetze oder
Kommunitarismus oder Bewußtseinsbildung, sondern vor allem um ein
Sowohl-als-auch dieser Prozesse.
Dieses "Sowohl-als-auch" jedoch steht in der Gefahr, nur ein verwirrendes Hin-und-Her und damit wenig wirklichen Fortschritt zu erzeugen,
solange der innere Zusammenhang nicht erkannt ist. Dieser Zusammenhang, die Frage, wie die genannten Ebenen von Natur, Wirtschaft,
Politik und Geist wirklich zusammenspielen, wird damit zur vielleicht wesentlichsten Frage; und die Gestaltung einer entsprechenden integralen, d.h. die Komplexität und notwendige Unterscheidungen nicht zerstörenden, vielmehr zum harmonischeren Ganzen zusammenführenden
Praxis wird zur vielleicht abenteuerlichsten Aufgabe menschlicher Zukunft. Eine Antwort darauf kann nicht aus den Teilbereichen selbst
kommen sondern nur aus einer neuen Wissenschaft und Praxis des
Ganzen.
Dieser Anspruch, das Ganze zu denken und dabei gar den Bezug des
Seins zum Wesen des Menschen zu vollbringen11, ist kein einfacher,
11 Heidegger, M., Was heisst Denken?, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen
1990, S. 123f.
23
und deshalb wagten sich erst wenige daran, dieses Ganzheitsproblem
überhaupt, und dann, auf der Grundlage veränderter Wirklichkeit und
neuer einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse, immer wieder neu und
weiter zu denken. Doch es gab und gibt diese Denker, und sie können
Entscheidendes beitragen zum Verständnis des heute Notwendigen.
Lösen jedoch können Sie die anstehenden Probleme kaum, denn: Auch
die Trennung von Theorie und Praxis, von Philosophie und Wirklichkeit,
ist ein Teil des Grundproblems. Wirkliche Antworten erwachsen nur aus
dem mit der Welt und ihren Aufgaben liebevoll verbundenen Engagement, wenn es dabei nicht in dieser Praxis versinkt, sondern den Kopf
frei behält für das nur geistig zu vollbringende Abenteuer des Universums, des Gesamtzusammenhangs, der Evolution, oder wie immer das
nicht in einem Wort einsperrbare lebendige Ganze gerade heißen mag.
Der Riß im Geist der Zeit
Den geistigen Zustand unserer Zeit prägt eine verblüffende Paradoxie:
Auf der einen Seite die sich mehrenden Prognosen naher Umweltkatastrophen und Globalisierungsfallen12, auf der anderen Seite die Euphorien der Aktienindexe und Urlaubsflüge. Mitten im Geist der Zeit klafft
ein gewaltiger Riß, der "Pessimismus" der einen Seite gleicht dem "Optimismus" der anderen, und metaphysisch gesehen, wo alle Gegensätze im Unendlichen zusammenfallen, bedeutet dies nicht mehr und nicht
weniger, als daß es den erkennenden und handelnden Subjekten am
Geist des Ganzen bzw. an der geistigen Kraft zur Integration des Ganzen mangelt. Ein Mangel am Sinn von Sein macht sich hier deutlich
bemerkbar.
Dieser wesentliche Mangel wurde von Vorfühlenden und -denkenden
bereits deutlich markiert. So sprach Nietzsche vom großen „Ohne-Sinn“,
und von diesem inspiriert erklärte der in seiner sprachgewaltigen Sorge
kaum verstandene Philosoph Martin Heidegger, daß die Frage nach
dem Sinn von Sein geradezu die entscheidende Frage aller menschli12 Siehe die alljährlichen Berichte des Worldwatch Institute, Zur Lage der Welt 1993,
1994 etc., Frankfurt/Main; und Martin, H. P., u.a., Die Globalisierungsfalle, Hamburg
1997.
24
chen Zukunft werden wird. Geht es doch, wie er in seinem posthum
veröffentlichten Vermächtniswerk "Vom Ereignis" ausführte, um das
Nahen oder das Ausbleiben einer von menschlichen Entscheidungen,
d.h. von der dazu notwendigen Sinnerkenntnis abhängigen neuen
Seinsqualität.
Ähnlich dachte lange vorher der Visionär Joachim von Fiore: Nach den
Zeitaltern des Vatergottes und des Gottessohnes müsse das des ausgeschütteten, d.h. in und zwischen vielen Menschen verwirklichten "heiligen Geistes" anbrechen, oder auch nichts mehr.13 Ähnlich sahen es
Fichte, Hegel, Schelling und Hölderlin. Und insbesondere Max Scheler
präzisierte Anfang unseres Jahrhunderts wesentliche Kategorien eines
zukünftigen „Göttlichen“ bzw. eines zukunftsfähigen Seins: Es existiere
nicht unabhängig vom Menschen; Ganzes oder Gott und Mensch brauchen einander, und die Qualitäten dieses menschlichen Mitschöpfertums, d.h. das nötige Wissen, der Wille, die Intuition und die Liebe erschließen sich dem Menschen nicht im abstrakten Geist, sondern erst
im sinnhaften Wirken, im eigenen lebendigen Einsatz für das Werden
der Göttlichkeit oder Ganzheit.14 Carl Amery nahm in unserer Zeit diese
Gedanken auf und mahnt in seiner "Botschaft des Jahrtausends": Angesichts der Verwüstung der Erde ist es Zeit für ein Ende alter ideologischer oder religiöser Grabenkämpfe, was die Menschheit einen sollte ist
der "Dritte Bund", entstanden aus dem "universalen Gefühl der äußersten Dringlichkeit der Rettung".15
Ähnlich, d.h. aus der Perspektive eines vom Menschen zu erkennenen
kosmischen und transpersonalen Existenzgrundes, begründete Hans
Jonas sein dem Menschen aufgegebenes „Prinzip Verantwortung“.16
Die Flucht in blinden wirtschaftlichen oder touristischen Egoismus bzw.
Lebensersatz oder in ebenso blind egoistische Resignation sind die am
weitesten verbreiteten, doch nicht die einzig möglichen Sicht- und
Handlungsweisen unserer Zeit. Da große Krisen immer auch große
Entwicklungs-chancen des sonst lange Zeit nur träge dahindämmern13
Fiore, J. de, Das Reich des heiligen Geistes, Bietigheim 1977.
Siehe Scheler, M., Späte Schriften, Bonn 1995.
15 Amery, C., Die Botschaft des Jahrtausends, München 1994, 176f.
16 Jonas, H., Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische
Zivilisation, Frankfurt/Main 1984.
14
25
den geistigen Geschehens sind, läßt sich die heutige Weltlage ebensogut auch als die größte jemals dagewesene Möglichkeit zur Verwirklichung einer neuen Qualität menschlichen Daseins begreifen: Nie zuvor
gab es die heutigen materiell-technischen Grundlagen, die allen Menschen ein erfüllendes und sättigendes Leben sichern können, und nie
zuvor gab es einen solchen Konsens über die Notwendigkeit gesellschaftlicher Weiter- und Neuentwicklungen auf allen Ebenen.
Die Epoche bloßer Gegenutopien ist genauso abgelaufen wie die Epoche geistlosen Positivismus des Bestehenden. Es wäre jetzt Gelegenheit für die große Integration, für die Synthese und Synergie von Wirtschaft und Kultur, von Mensch und Erde, von Trieb und Geist, von Rationalität und Emotionalität, von Natur und Kunst. Keine kleinere Idee
wird genügen. Aber auch die Idee an sich, die von der menschlichen
Praxis getrennte abstrakte Erkenntnis oder heilige Vernunft genügt
nicht. Für eine die Menschen und Gebiete ergreifende Formulierung
dieser großen Idee könnte man hoffen auf einen neuen Aufschwung der
heute meist nur für sich dahindämmernden Philosophen. Doch kann
genau dies auch das falsche Pferd sein; ist doch gerade die Trennung
von Denken und Tun eines der Grunddilemmas, und voraussehende
Geister prophezeiten deshalb das Ende der Philosophie und das Heraufdämmern einer völlig neuen, Theorie und Praxis, - oder Gedanke,
Gefühl und Geschehen, - oder Wissen, Liebe und Wille, oder Erkenntnis, Identifikation und Aktivität, - vereinenden Seinsweise.
Marx brachte dies einst auf den kurzen Satz: "Die Philosophen haben
die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern."17 Für Hölderlin "scheint...dies der Gang und die Bestimmung
des Menschen überhaupt zu sein,...wo Geist und Leben auf beiden
Seiten gleich ist,...wenn nämlich in der Äußerung jener höchste Punkt
der Bildung, die höchste Form im höchsten Leben vorhanden, und nicht
bloß an sich selbst, wie im Anfang der eigentlichen Äußerung, noch im
Streben wie im Fortgang derselben, wo die Äußerung das Leben aus
dem Geiste und aus dem Leben den Geist hervorruft, sondern wo sie
das ursprüngliche Leben in der höchsten Form gefunden hat, und ihren
Fund, das Unendliche im Unendlichen, erkennt, nach dieser letzten und
dritten Vollendung, die nicht bloß ursprüngliche Einfalt des Herzens und
17
Marx, K., Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1979, S.11.
26
Lebens, wo sich der Mensch unbefangen als in einer beschränkten Unendlichkeit fühlt, auch nicht bloß errungene Einfalt des Geistes, wo
eben jene Empfindung, zur reinen formalen Stimmung geläutert, die
ganze Unendlichkeit des Lebens aufnimmt (und Ideal ist), sondern die
aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist, nicht Glück, nicht
Ideal, sondern gelungenes Werk und Schöpfung ist"18.
Sowohl Marx als auch Hölderlin wurden inspiriert vom praktischen Geist
und der geistigen Praxis Fichtes, der mit aufrüttelnden Worten menschliche Selbsterkenntnis als notwendige Bedingung für menschliche Praxis forderte: "Der Mensch muß wissen, wozu er bestimmt ist, sonst vermag er nirgends zu wirken", und "alles menschliche Denken und Lehren...auf nichts anderes abzwecken kann, als auf die Beantwortung...ganz besonders der letzten höchsten Frage: Welches ist die Bestimmung des Menschen überhaupt, und durch welche Mittel kann er
sie am sichersten erreichen?"19 Deshalb sann er bereits vor 200 Jahren
sehr konkret und mit einer aus integraler Sicht verblüffend treffenden
Intuition von Geschichte - die er als sich selbstorganisierende Evolution
von Innen- und Außenwelt verstand - darüber, welche entscheidenden
Momente das bisher noch im Menschen herrschende Tierreich zu einer
vernünftigen menschlichen Zukunft umwandeln könnten. Er erkannte,
daß die von ihm vorausgesehenen Endprobleme des materialistischen
Zeitalters eine notwendige Zwischenetappe der menschheitlichen Entwicklung darstellen. Nachdem der Mensch aus einer Epoche naturhaftunschuldiger Beschränktheiten eine Epoche blinder, allein im Glauben
und im Gehorsam wirkender Autoritäten, Lehr- und Lebenssysteme
durchlief, bedarf es einer Epoche der Befreiung von allen äußeren Autoritäten. Deren antiautoritärer Protest erzeugt den Anschein völliger Ungebundenheit, und daraus folgt eine absolute Gleichgültigkeit gegen alle
Wahrheit. Doch die überbordenden Folgen dieser scheinbaren Ungebundenheit, die Reduzierung aller menschlichen Antriebe und Werte auf
puren Eigennutz, die geistige Gleichgültigkeit und menschliche Leere
erwecken neue Erkenntnis, neue Liebe zur Wahrheit. Aber die Kenntnis
allein reicht nicht, es bedarf dazu noch der Kunst der Verwirklichung
18 Hölderlin, F., Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, in: Hölderlin, F.,
Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, Berlin 1995, S.410.
19 Fichte, J. G., Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Gesamtausgabe, Bd. I/3, Bad Cannstadt 1966, S. 27.
27
und des Handelns. Deshalb nennt er die Zukunft, nach der Zwischenepoche der Vernunftwissenschaft, die Epoche der Vernunftkunst.20
Dieser denkwürdige Begriff einer "Vernunftkunst" soll uns im folgenden
begleiten, und zwar in dem Sinne, daß die anstehenden Lösungen auf
keinem der bisher getrennten Wege von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Psychologie, Religion oder Kunst zu erwarten sind sondern nur
dort, wo diese in neuer Qualität zusammenfließen.
Und hier, fast unbemerkt von der noch den alten Mustern folgenden
Öffentlichkeit, gibt es neben alten Intuitionen auch neue Anfänge. Um
diese Anfänge wirklich als Beginn einer neuen Integration ergreifen und
vollbringen zu können, braucht es konkretere Begriffe und integrierende
Ideen der uns bevorstehenden Epoche, die nicht wenige sogar als ein
neues Weltalter sehen.
Weder die bisherigen Denkinhalte noch die der Realität scheinbar beziehungslos gegenüberstehenden Denkformen genügen, denn sie sind
beide Momente einer gespaltenen Welt, die entweder Geistiges dem
Materiellen unterordnet oder nur einfach das Gegenteil, z.B. die Unterwerfung wirtschaftlicher Ordnungsformen unter abstrakte Normen verlangt.
Erforderlich ist eine im Transzendenten gründende Wiederaneignung
des eigenaktiven Geistigen im Menschlichen, wie sie in der Gegenwart
vor allem der Philosoph Vittorio Hösle begründet und fordert: "Indem wir
erkennen, daß die Subjektivität unhintergehbar ist, erheben wir uns über
alles Empirische; wir sehen ein, daß dieses Empirische, also die Natur,
in der Subjektivität seinen Grund hat - aber nicht in der unseren, die aus
der Natur hervorgeht, sondern in einer absoluten, idealen Subjektivität.
Diese ist das Wesen der Natur, und eben deswegen kann, ja muß die
Natur sich zur organischen, ja geistigen Welt läutern."21
Dieser geläuterte Geist ist dabei sowohl ein wissender als auch ein
fühlender und sich einsetzender Geist. In diesem Sinne geht es um eine
"neue Ethik" oder "Mythologie der Vernunft", wie sie in der frühen Vision
des Bundes von Hölderlin, Schelling und Hegel angedacht wurde: "Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbil20
Fichte, J.G., Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: Fichtes Werke, Vierter
Band, Leipzig 1906, S. 404f.
21 Hösle, V., Philosophie der ökologischen Krise, München 1994, S. 72.
28
dungskraft und der Kunst, dies ists, was wir bedürfen!...Die erste Idee
ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze
Welt - aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkliche
Schöpfung aus Nichts - Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muß eine Welt für ein moralisches
Wesen beschaffen sein? Ich möchte unsrer langsam an Experimenten
mühsam schreitenden - Physik, einmal wieder Flügel geben. So - wenn
die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir
endlich die Physik im Großen bekommen, die ich von späteren Zeitaltern erwarte."22
Dieser Impuls und deren Idee, die Begründung und zugleich Mitinspirierung einer Wiederbelebung des Geistigen, nicht im Abstrakten, sondern
in konkreter Beziehung zur heutigen Situation des Menschen, ist ein
wesentlicher, die folgenden Ausführungen leitender Grundgedanke. Die
hier von Hölderlin, Schelling und Hegel philosophisch-intuitiv geteilten
Ahnungen erweisen sich dabei erstaunlich treffend, denn tatsächlich
bereiten heute insbesondere die Erkenntnisse der neuesten Physik den
Weg, um über das klassische Weltbild der getrennten Dinge und Erscheinungen hinauszugehen: Zu einem darunter oder dahinter wirkenden Gesamtzusammenhang, der physikalisch als Nullpunktfeld und
philosophisch als Geist begreifbar ist und der so das letztendliche Eins
von Materie und Geist erweist, und dessen menschliches Selbstbewußtsein die inspirative Grundlage zur Erneuerung von Mensch und
Erde bildet. (siehe II.)
Nicht nur die den menschlichen Handlungsraum beschränkenden Trennungen von Materie und Geist, sondern auch die abgeleiteten, in der
gesellschaftlichen Struktur wirkenden Gegensätze zwischen Progressiven und Konservativen, zwischen Links und Rechts etc. sind überholt.
Die anstehende Evolution, das zukünftige Abenteuer des neuen, noch
unentdeckten menschlichen Landes, ist weniger im Außen, im Kampf
gegen die Natur oder gegen die eigenen ideologischen Schatten, sondern mehr denn je im Innen verortet. Hier bilden sich entsprechende
neue, widersprüchliche Bewegungsformen, deren Fokus das Menschli-
22
Hegel, G.W.F., Mythologie der Vernunft, Frankfurt/Main 1986, S.11ff.
29
che ist. Beispielhaft dafür ist ein Gedanke aus dem Kontext zukunftsorientierter Regionalentwicklung:
In die Menschen muß man investieren
"In die Menschen muß man investieren.....Diese Re-Inthronisierung des
Menschen als zentrale Produktivkraft der Post-Moderne hat zur Zeit
landesweit Konjunktur. Die ‘Humanressource Mensch’ wird zur Zentralaufhängung eines neuen Krisenmanagements in Industrie, Politik und
Verwaltung...Die Regionen sind die Kommunen des 20. und 21. Jahrhunderts. Der heutige Bürger ist ein ‘regionaler Bürger’: Sein vorrangiger Lebensort ist die Region. Ihr Umbau zum zukünftigen neuen Human-Raum wird die Zentralaufgabe der Regionen sein."23
Dieser aus den Problemen der gegenwärtigen Praxis erwachsende Impuls stimmt überein mit den aus der fortgeschrittensten Theorie erwachsenden Erkenntnissen. In naturwissenschaftlicher Evolutions-,
Selbstorganisations- und Systemtheorie sind geschichtliche Wendepunkte als Bifurkationspunkte begreifbar. Ein infolge innerer und äußerer Veränderungen instabil gewordenes und so im Fortbestand bedrohtes System steht plötzlich vor verschiedenen möglichen Varianten seiner weiteren Entwicklung. Dieser Punkt aber ist entscheidend und fundamental, denn welche Variante hier in Kraft tritt, entscheidet über die
gesamte weitere Entwicklung. In den vormenschlichen Evolutionen
bleibt dies Geschehen naturhaft, d.h. unabhängig vom menschlichen
Geist. Doch im geschichtlichen Bereich ist der Mensch nicht nur Teil
des Systems, sondern sein Geist ist unmittelbar mitentscheidend. Und
angesichts der errungenen Globalität von Mensch und Erde geht es
nicht mehr nur um eine der vielen geschichtlichen Problemlösungen,
deren so oder so Lösung oder Nichtlösung im weiteren Blick marginal
ist, nicht nur um den möglichen Übergang zu einer neuen geschichtlichen Qualität, sondern möglicherweise um die Zukunft der Gattung
Mensch überhaupt. Diese Erkenntnis bewegte Hans Jonas zu seinem
"Prinzip Verantwortung", und Amery versucht aufzurütteln zu dieser be23
Herrenknecht, A., In die Menschen muß man investieren, in: Pro Regio 18-19/1996.
30
deutungsvollen inneren Wahl: "Wie wahrscheinlich ist dies alles? Sind
die Menschen imstande, über diese hohe Meßlatte, durch dieses enge
Nadelöhr zu kommen? Ich weiß es natürlich nicht. Das Gericht im Geiste des Dritten Bundes wird in nichts anderem bestehen als im Erreichen oder Nicht-Erreichen, im Durchkommen oder im NichtDurchkommen. Es ist dieses Erreichen bzw. Durchkommen, das zeigen
wird, ob sich die Evolution mit uns etwas Lebensunfähiges geleistet hat
oder nicht."24
Wie diese im vom Menschen selbst abhängige Bifurkation oder Zukunft
genauer, als eingewoben im ganzheitlichen Selbstorganisationsprozeß
von Gesellschaft, zu verstehen ist, wird weiter unten ausgeführt (III.).
Hier ist noch einmal wichtig, mit den einprägenden Worten anderer, die
Betonung: Daß unsere Zukunft weniger denn je, weder im Kleinen noch
im Großen, unabhängig vom menschlichen Vollzug geschehen kann.
Sie ist dem Menschen selbst aufgegeben. Dieser uns aufgegebene geschichtliche Umschlagpunkt eines Zusammenfallens von menschlicher
und geschichtlicher Entwicklung wurde besonders deutlich erfaßt von
Max Scheler und Teilhard de Chardin, die dafür sehr verwandte Titel
fanden. Chardin schrieb über das "Phänomen Mensch im Kosmos": "Im
Bewußtsein eines jeden von uns nimmt die Evolution sich selbst wahr,
indem sie sich widerspiegelt. Ich stelle mir vor, daß diese einfache Ansicht unseren Nachkommen so natürlich und vertraut werden muß wie
die Wahrnehmung der dritten Raumdimension einem kleinen Kind. Eine
neue Klarheit von unerschöpflich ordnender Kraft strömt von ihr auf die
Welt - und ihre Strahlen gehen von uns selber aus...Aus dem hier eingenommenen Standpunkt folgt keineswegs, daß der endgültige Erfolg
der Menschwerdung notwendig, schicksalhaft, gesichert sei...auf Grund
seiner Natur kommen im Universum (und ganz besonders beim Menschen) die großen Komplexe (das heißt immer unwahrscheinlichere,
wenn auch miteinander zusammenhängende Zustände) nur durch zwei
untereinander verbundene Methoden zustande: 1. tastende Benützung
günstiger Fälle und 2. (in einer zweiten Phase) bewußte Erfindung. Das
bedeutet aber, daß die Energie der kosmischen Involution auf Grund
ihres Wesens, mag sie noch so unbeirrbar und gebieterisch eingreifen,
zwei Unsicherheitsfaktoren ausgesetzt ist, die mit dem doppelten Spiel
24
Amery, C., Die Botschaft des Jahrtausends, a.a.O., S. 177.
31
zusammenhängen: nach unten - der Glücksfälle, nach oben - der Freiheiten...Niemals wird der Mensch auch nur mit einem Schritt einen Weg
einschlagen, von dem er denkt, daß er versperrt ist. Gerade dies aber
ist das Übel, an dem wir leiden."25
Max Scheler schrieb bereits 1928 über "Die Stellung des Menschen im
Kosmos": "Eine Voraussetzung...ist es, daß wir eine möglichst gemeinsame Idee uns erwürben von der Struktur des Weltalters, in das wir eingetreten sind...Denn die Größenordnung, in der jener tiefgehende Wandel der Dinge und des Menschen liegt, an dessen Beginn wir stehen,
dürfte nicht leicht überschätzt werden."26
25
Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1988; Seiten 226 ff.
Scheler, M.: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, In: ders.: Späte Schriften,
Bonn 1995, S. 147.
26
32
Erste Brückenschläge
Der Mensch ist sowohl natürliches- als auch geschichtliches Wesen, der
erforderliche Begriff dieses Zeitalters kann sich deshalb nur im Zusammendenken der naturgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Dimensionen ergeben. Natur- und geisteswissenschaftliche Theorien sind
zwei Sichtweisen der Wirklichkeit, die letztlich eine ist. Dementsprechend muß eine Brücke zwischen beiden theoretischen Paradigmen
möglich sein. Sehr deutlich markieren dies die beiden Zitate im Prolog.
Sowohl der weise Inder Sri Aurobindo, als auch der mitteleuropäische
Staats- und Rechtswissenschaftler und Politiker Kurt Biedenkopf erkennen in der Trennung beider Sicht- und Handlungsweisen eines der entscheidenden Probleme menschlicher Gegenwart und Zukunft.
Ähnlich begreift der Biologe Rupert Riedl diese moderne Spaltung des
Weltbildes von Natur- und Geisteswissenschaft als Problem, und bei
Nichtaufhebung im und durch den Menschen selbst als mögliches Verhängnis unserer Zeit: "Das Janusgesicht der kausalen Weltdeutung ist
uns damit vorgegeben, indem wir meinen, diese Welt entweder materialistisch auf ihre ersten Ursachen oder aber idealistisch auf ihre letzten
Zwecke zurückführen zu müssen. Denn soweit wir die Geschichte unserer Welterklärungen zurückverfolgen können, hat diese Spaltung unsere
Kultur begleitet. Sie entspricht dem Dilemma, mit jenen einfachen
Werkzeugen der Kompliziertheit einer Welt, wie sie uns unserer arbeitsteiligen, technischen Zivilisation unterlaufen ist, nicht mehr zu genügen.
Eine Spaltung in zwei Kulturen ist die Folge geworden. Eine materialistisch-szientistische Subkultur der Naturwissenschaft verändert die Welt
und wird zum Schrecken, weil sie diese Welt nur halb versteht. Eine
idealistisch-hermeneutische Subkultur der Geisteswissenschaft hat ihren Methodenbegriff in der Philosophie verwirrt und vermag das Unheil,
das sie sieht, nicht zu steuern. Und aufgrund fehlender Einsicht verfechten nun Ideologien jene einander ausschließenden halben Wahrheiten, so unsere Vernunft einer ganzen bedürfte, um den Problemen
unserer Zivilisation Herr zu werden.
Eine Selbst-Transzendenz ist vorzunehmen. Worin wir zwar nicht die
Kräfte unseres Verstandes, wohl aber die unserer erblichen Anschauungsformen übersteigen können. Und wir werden dies müssen; weil sie
33
zwar für die Problemlösung in der Welt eines Raubaffen noch für das
Überleben sorgten, weil sie uns aber gegenüber den Problemen unserer Tage so ratlos machen, wie in die Teufelskreise vermeintlicher Zugzwänge eskalieren. Diese Selbst-Transzendenz wird zur Überlebensfrage unserer Art werden, wenn auch nur als ein weiterer Schritt der Evolution."27
Eine solche ganzheitliche, d.h. insbesondere die Kluft von Natur- und
Geisteswissenschaften, aber auch von Theorie und Praxis überwindende Weltsicht soll im folgenden mitentwickelt werden. Wesentlich für das
Verständnis der ausgeführten einzelnen Momente dieser Synthese ist
ein Selbstverständnis der theoretischen Instrumente, d.h. der benutzten
Begriffe und Kategorien. Denn die vorwiegend naturwissenschaftlich
geprägten Begriffe der modernen Wissenschaft werden aufgenommen,
doch sie allein genügen dem ganzheitlichen Anspruch nicht und werden
daher ergänzt durch wesentliche Kategorien aus der Geschichte des
traditionell ganzheitlichen, d.h. vor allem philosophischen Denkens.
Ein wissenschaftlicher Begriff dient der möglichst klaren Fassung bestimmter Momente der Wirklichkeit, die der Mensch meist zum lebenspraktischen, nur gelegentlich auch zum kontemplativen, d.h. besinnenden Zweck, erkennbar, begreifbar, für sich handhabbar macht. Kein Begriff kann die Ganzheit und den Grund der Wirklichkeit, in der in jedem
Moment immer alle ihre Seiten, Aspekte, Bewegungen, Gegensätze im
Unendlichen zusammenfallen, umfassen. Um den Menschen und seine
Situation zu begreifen, braucht es beides, die möglichst klare Erkenntnis
der einzelnen Momente und zugleich die Umfassung des Ganzen. Deshalb wechseln im Folgenden die beiden Formen ihrer Darstellung einander ab, ist die analytische Beschreibung der menschlichen Natur eingebettet in kurze Umrisse der wesentlichen, unserem Begriffsvermögen
meist nur als Einheit von Gegensätzen zugänglichen Kategorien des
Seins. Während sich die analytische Erkenntnis in erster Linie auf die
Ergebnisse der genannten modernen Naturwissenschaften stützt, entstammen die Seinskategorien vor allem der Entwicklungsgeschichte des
philosophischen Gedankens.
27
Riedl, R., Die Spaltung des Weltbildes, Berlin/Hamburg 1985, S.5f.
34
Auch der abstraktere philosophische Begriff dient wie der konkretere
letztlich der menschlichen Wirklichkeit. Wie Rousseau sah, war der erste und ist jeder neue, das menschliche Weltverständnis erweiternde
Begriff letztlich ein Akt der Liebe, und in diesem Grund wurzelt auch der
ursprüngliche Anspruch und der Name der "Philo-Sophia". Wo dieser
Erkenntnisgrund fehlt, können aus anderen Interessen heraus zwar
vorhandene Gedanken oder Worte zu komplizierten Gebäuden errichtet
werden, doch bleiben sie Selbstzweck, ohne Bezug zum lebendigen
Ursprung und gehen deshalb früher oder später wieder zugrunde. Nur
was in der Wahrhaftigkeit der Liebe zum Sein, im Sinne einer BeWahrung und Wahr-Werdung bisher verborgener Möglichkeiten des
Seins wahrgenommen wird, wird Wahrheit und geht so ein in den
Schatz menschlichen Weltverständnisses. Oder wie es von Max Scheler ähnlich ausgesprochen wurde: "Der letzte Erkenntniswert der Metaphysik ist also nicht gleich dem der positiven Wissenschaft an dem Maße ihrer Beschreibbarkeit zu messen, sondern in letzter Linie nur an
dem Reichtum und der Fülle, in der die Person des Metaphysikers mit
der Welt solidarisch verbunden ist."28
Neue Begriffe für eine neue Welt
Wir stehen hier, am Anfang dieser Arbeit, vor dem Problem der Begriffe
zur Kennzeichnung einer Welt, die sich eben erst aus der bisherigen
herauszubilden beginnt. Die verwendeten oder neu gebildeten Begriffe
sind Entwürfe, über ihre Relevanz entscheidet erst eine mögliche praktische Bewährung. Der Begriff der "Menschlichen Manager" im Titel verweist in erster Annäherung auf das Problem, daß menschliche Zukunft
mehr denn je einen praktischen und verantwortlichen Einsatz, die Kultivierung der Gestaltungs- und Schöpfungspotenz möglichst vieler Individuen verlangt. Nicht mehr nur Konzerne sind im besten Sinne des
Wortes zu managen sondern immer weitere Wirklichkeitsbereiche, Orte,
Gemeinschaften, Regionen etc. sind aus der bisherigen unbewußt naturwüchsigen Borniertheit zu befreien, bewußt, verantwortlich und ganzheitlich zu gestalten. Dies jedoch bedarf einer neuen Qualität von "Management", die sich eben erst in dessen fortgeschrittensten Tendenzen
28
Scheler, M.: Gesammelte Werke 8, S.88
35
herauszubilden beginnt. Wir nennen diese Qualität hier "Menschlich",
weil, wie unten gezeigt, es ganz spezifische menschliche Potenzen Liebe, Wissen und Selbst - gibt, die einstmals in naturhaft-instinktiver
Weise den Qualitätssprung aus dem Tierreich ermöglichten, und nun in
sich selbst vervollkommnender Potenz die entscheidende Grundlage
menschlicher Zukunft werden können. Diese eher weichen, sensiblen
Qualitäten bilden die Ergänzung zu den bisher dominierenden eher
harten, nur die wirtschaftlich-materiellen Dimensionen berücksichtigenden Formen des Managements.
Ein wichtiges, sich nur scheinbar ausschließendes Begriffspaar zum
erforderlichen neuen menschlichen und menschheitlichen Selbstverständnis ist das des Menschen als "Mitgeschöpf und Mitschöpfer". Es
hebt zwei wesentliche, mehr denn je in ihrer Prägnanz und Dialektik zu
entwickelnde Grundqualitäten, die bisher nur unbewußt im Menschen
wirken, hervor: Der Mensch ist zum einen ein Geschöpf wie alle anderen, hervorgegangen und lebendig aus der großen Natur, und jede Hybris, sich im Dünkel seiner Besonderheit über die anderen Geschöpfe,
über Menschen, Wale oder Bäume zu stellen, zerstört nicht nur seine
Lebensgrundlagen, sondern verletzt seine immer gegebene innere Verbindung mit all diesen Wesen.
Zum anderen aber ist er offenbar nicht nur fähig sondern auch berufen
zur Mitschöpfung. Seine nur ihm gegebenen Begabungen kreativer Gestaltung, ob von Werkzeugen, Kunstwerken, Gärten oder seiner selbst,
erleichtern nicht nur im kleinen sein Leben, sondern bewirken auch im
großen Verzweigungen und Entwicklungen, die das Ganze bereichern,
die natürliche Evolution in weiterer äußerer Vielfalt fortsetzen und im
Selbstinnewerden das Ganze zugleich in sich zurückführen.
Wie hier kurz angedeutet ist und in den folgenden Ausführungen deutlicher werden soll, steht die Trinität der Begriffe "Mitgeschöpf", "Mitschöpfer" und "Mensch" nicht zufällig sondern als Ausdruck dreier
grundlegender Dimensionen, Ebenen, Welthaltungen und Qualitäten,
deren Differenzierung und Integration wesentlich ist für eine integrale
Welt. Bisher wird in fast allen den Menschen berührenden Wissenschaften noch immer wieder eine scheinbar unvereinbare Diskussion
geführt. Die eine Seite begründet, daß der Mensch nur ein Seiendes
wie alle anderen und der Gipfel der Erkenntnis die Einsicht und daraus
folgende Duldung dieses Teilseins ist. Die andere Seite fühlt, daß Men-
36
schen infolge einer ihnen gegebenen inneren Stimme, die auch Vernunft, Ethos etc. zu nennen ist, das ihnen in der Welt Gegebene immer
wieder hinsichtlich der Verwirklichung ihrer Möglichkeiten zu hinterfragen und dementsprechend zu verändern haben. Im folgenden soll
sichtbar werden, daß genau die Balance beider, des Mitgeschöpf- und
des Mitschöpferseins, den Menschen ausmacht; daß jede Reduktion
auf eine dieser Grundqualitäten den Menschen entmenschlicht und umgekehrt eine bewußte Aneignung und lebendige Verwirklichung dieses
Widerspruchs einer der entscheidenden Grundzüge eines integralen
Zeitalters ist.
Bisher wirken diese Grundqualitäten weitgehend unbewußt spontan.
Zwar ist insgesamt eine menschheitliche Evolution zu verzeichnen,
doch fast genausogroß waren die aus der unbewußten Verwirrung dieser Gründe fehlschlagenden Gegentendenzen. Die aus der Mitgeschöpflichkeit erwachsende Qualität des Erduldens und Erleidens verhindert in ihrer unbewußt-unintegrierten Form notwendige Inspirationen
und Initiativen im Sinne des Ganzen. Und ebenso verheerend wüstet
die Mitschöpferkraft, wenn sie sich unbewußt-unintegriert in Kreuzzügen
oder Atombomben verausgabt. Demgegenüber dürfte ein bewußtintegriertes Wirken dieser grundlegenden menschlichen Seinspotenzen
nicht nur ein Überleben des Menschen auf der Erde, sondern tatsächlich dessen Verwandlung in eine Art großen, naturnahen und doch
menschlich bewohnbaren Garten bewirken.
Dazu bedarf es vor allem eines erneuerten Selbstverständnisses des
Menschen, zu sich selbst, zum anderen Menschen wie zum Ganzen
oder Kosmos. Dies ist eine ewige, den Menschen immer wieder fordernde Aufgabe, und doch zugleich besonders drängend in unserer besonderen Zeit. Wie Max Scheler dies in wenigen Worten erfaßte: "Wenn
es eine philosophische Aufgabe gibt, deren Lösung unser Zeitalter mit
einzigartiger Dringlichkeit fordert, so ist es die einer philosophischen
Anthropologie. Ich meine eine Grundwissenschaft vom Wesen und vom
Wesensaufbau des Menschen; von seinem Verhältnis zu den Reichen
der Natur (Anorganisches, Pflanze, Tier) wie zum Grunde aller Dinge;
von seinem metaphysischen Wesensursprung wie seinem physischen,
psychischen und geistigen Anfang in der Welt; von den Kräften und
Mächten, die ihn bewegen und die er bewegt; von den Grundrichtungen
seiner biologischen, psychischen, geistesgeschichtlichen und sozialen
37
Entwicklung; sowohl ihrer essentiellen Möglichkeiten als ihrer Wirklichkeiten."29
Dieser Aufgabe ist vor allem der Teil II gewidmet.
Der Begriff "integral" dient zur Kennzeichnung eines wesentlichen Charakteristikums der menschlichen Zukunft. Die Leistungen der Zivilisation
entsprangen u.a. ihren ausgeprägten Qualitäten zur Differenzierung:
Das Auseinandertreten von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur oder
Geist, darin jeweils die Herausbildung besonderer Sphären wie Politik
und Privatheit, Produktion, Handel und Konsum, Natur-, Sozial- und
Geisteswissenschaften, Musik, Bild oder Theater etc., ermöglichte die
Enstehung und Stabilisierung zuvor unmöglicher komplexer Selbstorganisationen. Darin besteht ihre Größe, und darin wurzelt auch das heutige Grundproblem: Sie ist in der Lage, auf Tausende detaillierte Einzelprobleme innerhalb ihrer Gesamtstruktur zu reagieren; jedoch unfähig
zur Erfassung oder gar Anwort auf tiefer wurzelnde und umfassende
Widersprüche.
Die in der bisherigen Geschichte hervorgebrachte Komplexität insgesamt zurückzunehmen, ist ebenso unmöglich wie sinnlos. D.h., es geht
vielmehr um eine Ergänzung durch ganzheitsfähige Qualitäten, solcher,
wie die Integration von Erde, Macht und Geist, die es bereits gab, die
sie aber um ihrer selbst Willen desintegrieren mußte, wie solcher, die es
noch nie gab. In diesem Sinne muß "Das Ganze...vor dem Verlust bewahrt und zu einer neuen Qualität geführt werden."30
Für diese neue Qualität beginnen sich bereits Begriffe herauszubilden.
Die zunehmenden "Systemtheorien" deuten die Richtung an, verbleiben
aber in einem eindimensionalen Weltverständnis (konkreter siehe II.1.).
Ähnlich tendieren die Begriffe "Ganzheitlichkeit" oder "Holismus" eher
zu einem nur äußerlich Ganzen.
Weiter, da neben der rationalen Synthese irrational-energetische Dimensionen erschließend, weist der Begriff der "Synergie", besonders
nach der Definition von R. S. Tomek. Er begreift Synergie als das Zusammenwirken von mehr als zwei rationalen und irrationalen Faktoren
in einer Zeiteinheit. Die besondere Qualität positiver Synergie-Systeme
29
Scheler, M., Mensch und Geschichte, in: Philosophische Weltanschauung, Bern
1954, S. 64.
30 Biedenkopf, K.: Die neue Sicht der Dinge, München 1995, S.200.
38
besteht darin, daß alle daran beteiligten Momente bereichernde, daseinsverstärkende Impulse erfahren und der Gesamtgewinn größer ist
als die lineare Addition der einzelnen Faktoren.31
Im Sinne der unten dargelegten Dreidimensionalität der Wirklichkeit ist
noch tiefer und umfassender der Begriff der "Integration". Er ist in gewisser Weise das Ergebnis einer positiven Synergie, verweist aber zusätzlich auf die besondere Qualität von "Innerlichkeit". Deshalb erwog
und bevorzugte diesen Begriff einer der ahnungsvollsten Vordenker unserer Zeit, Jean Gebser. In seinem Vermächtniswerk "Urspung und Gegenwart" zeichnete er wesentliche Qualitäten einer "integralen" Wirklichkeit.
Der abstraktere Begriff eines "Zeitalters der Integration" ist thematisch
konkretisiert zur integralen "Region 21". Damit entsteht zum einen der
Bezug zur gegenwärtigen, die Begriffe "nachhaltiger Regionalentwicklung" oder "Agenda 21" hervorhebenden unmittelbaren gesellschaftlichen Diskussion. Diese Begriffe betonen die Notwendigkeit gesellschaftlicher Organisationsformen, die als optimale Größenordnungen
innerhalb globaler Perspektiven zur wirklichen Integration ökologischer,
sozialer und wirtschaftlicher Prozesse in der Lage sind.
Damit verbunden bedeutet "Region 21" hier zum anderen einen eher
abstrakten menschheitsgeschichtlichen Topos. Das sich als Antwort auf
die gegenwärtigen Probleme herausbildende neue Zeitalter wird, wie
alle evolutionären Entwicklungen, nicht mit einem Schlag auf der gesamten Erde entstehen, sondern von vielen Versuchen und Anfängen
an verschiedensten Orten werden sich allmählich die besten, schönsten
und integrativsten herausschälen. Diese "Regionen des 21. Jahrhunderts" sind das Thema.
Nachhaltige Entwicklung
Unabhängig vom relativ autonom ablaufenden geistigen Erkenntnisprozeß drängt die Wirklichkeit selbst zur Wiedererringung der verdrängten
Dimensionen. Die Tatsache, daß trotz wachsender Umweltindustrie die
31 Tomek, R.S., Erfolg durch Synergie. Das Management der Zukunft, Ravensburg
1993.
39
Umweltzerstörung fortschreitet, zwingt zur Suche nach anderen, weitergehenden Lösungsmöglichkeiten. So erscheinen im progressivsten Feld
der Gegenwartsdiskussion Begriffe, die wichtige Momente der notwendigen Integrationen aufzeichnen. Die Begriffe "Nachhaltigkeit", "nachhaltige Entwicklung" und "Agenda 21" repräsentieren, im Vergleich zur
reinen "Umweltdiskussion", multidimensionale Wirklichkeitsbereiche.
Insbesondere der Begriff "Sustainable Development", deutsch als
"nachhaltige Entwicklung" begriffen, weist potentiell in eine neue Wirklichkeit, die im bisherigen, modern-rationalistischen Begriffsverständnis
noch kaum sichtbar wird. Der Begriff trat erstmals 1987 im Bericht der
Brundtland-Kommission ins Licht der Öffentlichkeit und wurde hier definiert als "ein Prozeß ständigen Wandels, dessen Ziel darin besteht, die
Ausbeutung der Ressourcen, den Investitionsfluß, die Ausweitung der
technischen Entwicklung und die institutionellen Veränderungen mit
künftigen und gegenwärtigen Bedürfnissen in Einklang zu bringen."32
In diesem ersten Anlauf bleibt der Begriff zwar noch diffus, und auch
der Brundtland-Bericht insgesamt blieb, trotz deutlicher bedenklicher
und bremsender Tendenzen, noch im Rahmen des Paradigmas vom
notwendig expotentiellen Wirtschaftswachstum33; doch es entstand damit der deutliche Impuls zu einer über dieses überholte Paradigma hinausweisenden theoretischen und praktischen Bewegung.
Ähnlich dem praktischen Prozeß, in dem nach der Konferenz von Rio
die bisher eher getrennten Bewegungen für Umwelt und für Entwicklung
zunehmend zueinanderzufinden beginnen, verkörpert dieser Begriff im
Keim die widersprüchliche Einheit zweier, im gesellschaftlichen Bewußtsein bisher eher gegeneinander denn miteinander wirkender Seinstendenzen: der Erhaltung des Bestehenden einerseits und der Evolution
oder Entwicklung andererseits.
Im Feld dieser praxiszugewandt-interdisziplinären Diskussion erheben
sich, ausgehend von der Unfruchtbarkeit der bisherigen, disziplinär aneinander vorbeidenkenden Umweltdiskussionen, Stimmen für eine wirklich ganzheitliche Theorie und Praxis. In einer aktuellen Studie hat Ulrich Jüdes sehr deutlich die Ohnmacht der bisher überwiegenden ein32 Hauff, V. (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft. Bericht der Weltkommission für
Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, S. 10.
33 Siehe die konkrete Diskussion dazu bei Kreibich, R. (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung. Leitbild für die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft, Weinheim/Basel 1996.
40
seitig theoretischen und theoretisch einseitigen Ansätze charakterisiert:
"Die bisherige Diskussion des Sustainable Development-Leitbildes im
wissenschaftlichen und im politischen Bereich kann wie folgt beurteilt
werden: Während in internationalen Vereinbarungen, in den Programmen von UN, Weltbank und OECD und auch in den von der Bundesregierung eingesetzten Fachgremien der Gedanke des SD aufgegriffen,
weiter ausgearbeitet und hinsichtlich planerischer und politscher Umsetzungsmöglichkeiten fortentwickelt worden ist, erscheint die fachwissenschaftliche Diskussion gespalten.
Bedingt durch die traditionelle Separierung der wissenschaftlichen Disziplinen gibt es mehrere, z.T. entgegengesetzte Ansätze... Eine gemeinsame inter- oder transdisziplinäre Forschung zum Thema SD findet
bislang kaum statt."34
Das von ihm geforderte und vorgeschlagene ganzheitliche, bei ihm
transdisziplinär genannte Verständnis von Sustainable Development
beinhaltet nicht nur neben den üblichen Aspekten von Wirtschaft und
Sozialem den Aspekt der Kultur, sondern gibt diesem, zusammen mit
dem Aspekt Ökologie, sogar eine im Vergleich zu Wirtschaft und Sozialem dominante Position. Ohne Kultur an sich in ihrer inneren Konstitution näher zu definieren, gelangt er zu diesem Standpunkt aus der
praktisch vergleichenden Betrachtung der bestehenden Völker: Die Situation und Problematik von Ökonomie und Sozialem ist in Abhängigkeit
von den kulturellen Traditionen eine sehr verschiedene.
Erst die sich ausbreitende Vorherrschaft der modernen westlichen Welt
und Kultur erzeugte das falsche Bild, daß Gesellschaften überall und
immer vor allem durch ihre Wirtschaft begründet und bewegt werden.
Daß dem nicht so ist, daß im Gegenteil auch die moderne westliche
Welt erst durch eine ganz bestimmte geistig-kulturelle Situation möglich
wurde, zeigte bereits zu Anfang des Jahrhunderts sehr deutlich Max
Weber mit seinem Werk über den „Geist des Kapitalismus und die protestantische Ethik“.35
34 Jüdes, U., Das Paradigma "Sustainable Development", Studie des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Bonn 1996, S. 20.
35 Weber, M., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München
1965.
41
2. Mensch und Geschichte
Ende der Geschichte oder der Zivilisation?
Die These "vom Ende der Geschichte"36 sorgte vor einiger Zeit für Aufregung. Dies weniger wegen ihrer intellektuellen Begründung als wegen
ihrer Kongruenz zu millionenfachen individuellen Psychen, die sich, trotz
wirtschaftlicher Prosperität, angstvoll gestreßt, innerlich unglücklich,
sinnlos, "am Ende" fühlen. Sichtbarster Ausdruck dafür sind die trotz
aller medizinwissenschaftlichen und -technischen Raffinessen zunehmenden Krebs-, Herz/Kreislauf- und anderen Todkrankheiten. Weniger
sichtbar sind die dahinterstehenden Depressionen und Verzweiflungen,
wie sie bereits Freud in seinem "Unbehagen in der Kultur" offenlegte;
wobei er nur die spezielle Kultur der Zivilisation mit der Kultur an sich
verwechselte. Noch weniger sichtbar ist die dies letztlich verursachende
Sinnleere, diese innere Stimme einer in sich ausweglosen Welt. Weder
Flucht in Drogen, noch die in Sekten mit ihren Sinn-Surrogaten, noch
Rückgriffe auf einstige religiöse oder andere Sinnsysteme, auch nicht
postmoderne Hoffnungen auf kommunikative oder multimediale Entwicklungen können dem abhelfen. Alle diese eindimensionalen Kurzschlüsse erreichen nicht den inneren Grund des Problems einer in sich,
im menschlichen Inneren, d.h. im Rahmen ihrer bisher dominierenden
Selbstorganisationsformen perspektivlosen Wirklichkeit. (zur Identität
von menschlicher Innenwelt und gesellschaftlicher Selbstorganisation
siehe II.2.9.)
Insofern, betrachtet man sie aus der Innenperspektive der modernen
Zivilisation, stimmt die These vom "Ende der Geschichte". Wie deren
Vertreter Francis Fukuyama ausführt, ist ihr dominantes Streben nach
materieller Befriedigung und Sicherheit in den Industrieländern weitgehend erfüllt und in der es vollziehenden liberalen Demokratie gibt es
keine darüberhinausgehenden Werte. Selbst er bemerkt schließlich,
daß dies doch nicht alles des mit dem Menschen Gemeinten gewesen
sein kann. Aber, da er als Denker dieses Systems im Rahmen ihrer
Selbstreferenz verbleibt und die conditio humana auf das Streben nach
36
Fukuyama, F., Das Ende der Geschichte, München 1992.
42
Sattheit, Gleichheit und Anerkennung reduziert, findet er dafür keine
Erklärung.
Aus einer anderen, über die Selbstreferenz (siehe II.2.) oder Ideologie
der modernen Zivilisation hinausgehenden Sicht des Menschen bedeutet dieses Ende ihrer Geschichte nicht nur nicht das Ende gesellschaftlicher Evolution sondern im Gegenteil die erst durch das Ende der
bisherigen Geschichte entstehende Chance einer anderen Geschichte,
eines erweiterten Einsprunges in die Möglichkeiten des menschlichen
Seins.
Darauf deutet manches, nicht nur in der Geschichte des Geistes, sondern auch in der realen Problematik und in den realen Möglichkeiten der
Gegenwart.
Was folgt aus der Problematik der Gegenwart?
Eine an ihr Ende gelangende Zivilisation ist kein neues Phänomen. Es
ist geradezu ein Kennzeichen des Zeitalters der Zivilisationen, daß die
einzelnen ihrer Gebilde geschichtlich gesehen nur kurzlebig sind. Wie
Tönnies, Spengler, Mumford37 und andere, über den Rand ihrer geschichtlichen Zeit blickende Historiker zeigen, gingen alle sich noch so
groß aufschwingenden Zivilisationen, von Babylon und Ägypten bis
Rom oder das absolutistische Europa, letztlich immer wieder am selben
zugrunde: Ihre erstmals menschliche Massen integrierenden Gebilde
organisierten sich selbst insbesondere durch den dafür natürlich geeigneten Macht- oder Dominanztrieb (siehe II.2.9.). Nur dieser konnte kraft
seiner eindimensionalen Sozialpsychologie die zuvor vereinzelten und
eigenständigen Stämme und Völker gefühllos erobern und im Rahmen
pyramidaler Strukturen integrieren. Und genau dieselbe für andere Wesen, ob der Umwelt oder menschlicher Inwelt, unsensible Psychologie,
die alles vor allem im Affekt grenzenloser Machterweiterung bzw. der
entsprechenden Angst des Machtverlustes interpretiert, verursachte
regelmäßig die Aushöhlung der das Ganze anfänglich tragenden und
inspirierenden natürlichen und menschlichen Grundlagen.
37
Toynbee, A., Menschheit und Mutter Erde. Die Geschichte der großen Zivilisationen,
Düsseldorf 1988; Spengler, O., Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1993; Mumford, L., Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt/Main 1987.
43
Nach dem darauf folgenden Zusammenbruch einer Zivilisation begannen bisher immer wieder neue, ähnlich Anläufe. Gustav Landauer und
Martin Buber sahen bereits zu Anfang dieses Jahrhunderts, daß ein
menschheitsgeschichtlicher Punkt erreicht ist, wo dies nicht mehr geht.
Ein neuer zivilisatorischer Anlauf bedarf immer eines gesunden, d.h. mit
noch unverbrauchter natürlicher Ganzheitsenergie und Inspiration begabten Volkes, welches sich nach dem Zusammenbruch der alten Kultur von deren Errungenschaften und Annehmlichkeiten zu einem ähnlichen Weg verführen läßt. Bisher war dies immer gegeben; wo immer
der Anfang lag, nach Sumer kamen die Ägypter, die griechische Kultur
ging nach ihrer Erlahmung an die Römer, deren Fortschritte nach ihrer
geistig-seelischen Ausblutung gingen an die Germanen. Jetzt ist erstmals ein weltgeschichtlicher Punkt erreicht, wo keine solchen ursprungshaft ganzheitlichen Völkerschaften mit entsprechenden, noch
natürlich lebendigen Voraussetzungen mehr gegeben sind.
Dieses Nichtmehrvorhandensein natürlich-ganzheitlicher Menschenstruktur bedeutet eine völlig neue menschheitsgeschichtliche Situation.
Buber beschreibt dies mit visionärer Ahnung: "Wenn in früheren Epochen der Geschichte der Tod über die Kultur eines Volkes oder einer
Völkergruppe kam, erschien er in der Gestalt ausgeruhter Völker, die in
die Zersetzung einbrachen, und die wandernde Wolke entlud sich erst
in zerschmetterndem Blitz, dann in befruchtendem Gewitterregen.
Heute aber ist eine Anähnlichung der Völker in Zivilisation und Dekadenz so weit gediehen, daß solche Hoffnung uns nicht mehr zusteht. Es
muß, wenn dieses Ende nicht das der Erdenmenschheit sein, wenn sich
zu diesem Untergang ein Aufgang gesellen soll, ein Urneues geschehen, eine neue Art der Erneuerung. Die Rettung kann in dieser entscheidenden Weltstunde nirgendwo anders mehr herkommen als aus
uns selber, aus unserem innersten Entschluß und unserer innersten
Verwandlung."38
Damit wendet sich das negative Problem in seine positiven Notwendigkeiten. Und es zeigt sich das für unser gewohntes Trennungsbewußtsein auf den ersten Blick verblüffende Phänomen, daß die vom
38 Buber, M.: Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidelberg 1985, S. 262ff.
44
menschlichen Ursprung her gegebenen (siehe II.2.7.), doch mangels
entsprechender Notwendigkeiten bisher weitgehend unentfalteten und
kollektiv-unbewußten, nur in Träumen, Kunstwerken oder Visionen auftauchenden eigentlich menschlichen Potenzen erstmals als reale Möglichkeiten und Notwendigkeiten erscheinen.
Einbindung des Überflusses und Erneuerung von Innen
Im Vorgriff, ohne die sich erst im Gesamtblick der anderen Zusammenhänge klärenden Begründungen, seien die wichtigsten positiven Wirklichkeiten, inklusive ihnen inhärenter Notwendigkeiten und entsprechender Möglichkeiten kurz genannt.
Die besonderen Strukturen der Moderne instrumentalisierten alle
menschlichen Wesenskräfte für die Erzeugung materieller Güter und
führten zu einer scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit über Energien,
Ressourcen und Gebrauchsgüter. Aus dieser bisher blinden Wirtschaftsdynamik erwächst die drohende Selbstvernichtung durch zerstörte Lebensgrundlagen und somit die Notwendigkeit einer Integration
der Wirtschaft mit anderen, menschlich zu setzenden Zwecken. Dabei
geht es nicht darum, das ausdifferenziert-komplexe, insgesamt solidarische und relativ vermachtungsresistente Subsystem freier Marktwirtschaft durch Unterordnung unter moralische Normen zu destruieren,
sondern durch erkenntnisgeleitete Implikation bisher unintegrierter ökologischer und humaner Regeln, Zwecke und Werte zu vervollkommnen
(siehe IV.).
Auf der Rückseite des Spiegels ergibt sich dadurch vermutlich erstmals
die materielle Möglichkeit einer Gesellschaft, der die Entwicklung der
menschlichen Potenzen aller Menschen Selbstzeck ist. Der große alte
Grieche Aristoteles sprach es noch aus als Ahnung: Wenn einst roboterähnliche Gebilde die Großteile materieller Arbeit übernehmen, für die
zu seiner Zeit noch Menschenmassen als Sklaven gebraucht wurden,
könnten alle Menschen sich mehr der Muse, d.h. der Aneignung und
Entfaltung von Schöpferkraft, widmen. Marx, historisch schon nahe an
diesem für ihn voraussehbaren Zeitpunkt, machte diesen Zusammen-
45
hang zum Zentrum seiner Philosophie. Entgegen dem Unverständnis
vieler, ihn nur teilweise oder nur ideologisch Verstehender, beschränkte
sich seine geistige Leistung jedoch nie auf den letztlich banalen Zusammenhang, daß eine allen Menschen als Selbstzweck dienende gesellschaftliche Ordnung erst auf einer entfalteteren materiellenergetischen Grundlage (siehe die entsprechenden ontologischen Begründungen dieses Gedankens in II.2.) entstehen kann. Seine Genialität
bestand vielmehr darin, notwendige ambivalente Zwischenstationen für
den menschheitsgeschichtlich anstehenden Wandel geistig vorzubereiten und praktisch anzustoßen; den Wandel von einer gesellschaftlichen
Organisation, die infolge beschränkter materiell-energetischer Bedingungen bisher nur Eliten menschlich-allseitigen Entfaltungsraum bot, zu
einer Assoziation, die auf der Grundlage weitgehender materiellenergetischer Verfügbarkeit allen Individuen einen Rahmen freier
menschlicher Entfaltung bietet. Ebenso wie ihm der "Atheismus" nur
eine alles Wesentliche leugnende Übergangsform des sich befreienden
menschlichen Geistes war, so war für ihn auch der sogenannte "Kommunismus" eine, mit allen Widersprüchen eines Übergangs ambivalent
behaftete und alle echten Unterschiede freier Individuen leugnende gesellschaftliche Übergangsstufe: "Der Kommunismus ist die Position als
Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation
und Wiedergewinnung,...aber der Kommunismus ist nicht als solcher
das Ziel der menschlichen Entwicklung - die Gestalt der menschlichen
Gesellschaft."39 An den wenigen Stellen, da Marx Visionen wagte, skizzierte er diese "menschliche Gesellschaft" als eine freie Assoziation
freier Individuen, die auf der Grundlage universell entfalteter Produktivkräfte Freiraum gewinnen für die Entfaltung ihrer eigentlichen menschlichen Wesenskräfte.
Noch näher am historischen, durch die moderne Computerrevolution
ausgelösten Wendepunkt der bisherigen Verständnisse von Arbeit und
Entfaltung, bemerkte der Philosoph und Psychologe Herbert Marcuse:
„Von den Erfordernissen der Herrschaft befreit, führt die quantitative
Abnahme der Arbeitszeit und Arbeitsenergie zu einer qualitativen
39 Marx, K., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Marx/Engels/Werke, Ergänzungsband. Erster Teil, S. 546.
46
Wandlung im menschlichen Dasein: die Freizeit und nicht die Arbeitszeit
bestimmt seinen Gehalt. Der wachsende Bereich der Freiheit wird wirklich zu einem Bereich des Spiels - des freien Spiels der individuellen
Fähigkeiten. So befreit, werden diese Möglichkeiten neue Formen der
Realisierung und Weltentdeckung hervorbringen.“40
Nachdem das industrielle Zeitalter die materielle Produktivität ernorm
erhöhte, führt das Informationszeitalter zu mehr freier Zeit, und damit,
wie der japanische Visionär Yoneji Masuda sieht, bringt sie den Menschen nicht nur die Freiheit, mehr denn je selbst über ihr Leben zu entscheiden, sondern damit geradezu einen Wendepunkt in der menschlichen Evolution: „Die Zeit als Grundwert unserer wirtschaftlichen Aktivitäten zu nehmen, zielt auf eine höhere Ebene des menschlichen Lebens als die materiellen Werte. Die Zeit steht im Zusammenhang mit
der Befriedigung menschlicher und geistiger Bedürfnisse, die materiellen Werte hingegen mit der Befriedigung physiologischer und materieller
Bedürfnisse.“41
Damit charakterisierten die Genannten als Tendenz der historischen
Entwicklung wesentlich dasselbe, was Martin Buber aus der anderen
Sicht der Zivilisationsprobleme als Notwendigkeit einer Erneuerung der
Gesellschaft durch innersten Entschluß und innerste Verwandlung beschreibt. Konkret begriffen werden kann die Verwirklichung dieser Ahnungen erst auf der Grundlage subjektiven und ontologischen Wissens
(siehe II.2.). Zur Verstärkung ihrer Bedeutung hier aber zuerst noch
ähnliche Gedankengänge anderer.
Der Spiegel der Wirklichkeit ist aus der Möglichkeit noch einmal ins
Licht der Notwendigkeit zu drehen: Die menschliche SelbstTranszendenz, die Entfaltung der eigentlich-menschlichen Qualitäten
nicht nur einiger, sondern wenigstens einer kritschen Masse von Individuen ist nicht nur erstmals möglich sondern menschheitlich notwendig;
es ist die einzige Chance, um die trotz aller wissenschaftlichen Begrenztheitsprognosen in massenhaft angepaßten Psychen blind weiter-
40 Marcuse, H., Triebstruktur und Gesellschaft, Schriften, Band 5, Frankfurt/Main 1979;
zitiert nach: Rifkin, J., Das Ende der Arbeit, Frankfurt/Main 1997, S. 165.
41 Masuda, Y., The Information Society as Post-Industrial Society, Bethesda 1981;
zitiert nach: Rifkin, J., Das Ende der Arbeit, Frankfurt/Main 1997, S. 166.
47
wirkende, so ihrem eigenen Ende entgegenhetzende Zivilisation einzuholen und eine Erneuerung von Innen zu vollbringen.
Diese von Martin Buber prägnant charakterisierte Notwendigkeit trifft
sich mit einer aus völlig anderen Zusammenhängen und dem tieferem
Blick des Zusammenfallens von Außen und Innen geschlußfolgerten
Intuition Max Schelers über den tieferen Gang der geschichtlichen Entwicklung. Er begriff die gesamte Evolution der Natur wie der anschließenden Menschheitsgeschichte als Tendenz zunehmender Eins- und
Selbstwerdung, wobei der äußeren Einswerdung der Menschheit eine
innere Harmonisierung von Trieb und Geist der Individuen entspricht.
Als deren, vom inneren Prozeß her gesehen, wichtigste Epochen erkennt er 1. die Kultivierung von Verwandtschaft (geistige Durchdringung
der Triebe der Arterhaltung), 2. die Verbindung der Abstammungsgruppen in politischer Gesellschaft (Durchdringung der Machttriebe), 3. Ausgleich der politischen Machtverhältnisse durch das ökonomische Zeitalter (Durchdringung der wirtschaftlichen Triebe). Letzteres führt zur
"Herrschaft über die Natur" und bildet zugleich die Grundlage für ein
"Zeitalter der Solidarität", welches mit der Durchdringung der eigenen
Seele und des eigenen Lebens entsteht. Die Durchdringung des Lebens
durch den Geist "führt zu einem kritischen Punkt, an dem der Umschlag
der Geschichte in eine solche Geschichte erfolgt, in der der Geist nicht
nur zielgebend, sondern auch primär wirksam ist...Am selben Punkt
aber muß auch die Weltgeschichte beginnen. Denn die Leitung durch
den Geist ist erst möglich durch die Kooperation aller Völker und Kulturen"42.
Diese Tiefensichten Schelers sind zuhöchst interessant und einleitend
für die unten folgenden Ausführungen zur Identität und Integration von
Außen und Innen. Hier dienten sie einer Klärung der Gegenwart und
ihrer Notwendigkeiten und verstärkten die mit Buber und Marx angerissenen Bestimmungen einer inneren Erneuerung und Entwicklung des
Menschen als Selbstzweck. Wie lange dieser äußerliche und innerliche
Übergang braucht und ob er gelingt, ist heute, da der größte Teil der
Menschheit geistig gesehen noch in politischen oder ökonomischen
Epochen denkt, fühlt und lebt, und wenigstens eine Generation für ei42 Scheler, M., Der Mensch als Meister der Geschichte?, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, Bonn 1990, S.130ff.
48
nen massenhaft nur in der Kindheit zu verankernden ganzheitlichen
Umschwung notwendig scheint, nicht vorauszusehen. Vermutlich bedarf
es wenigstens einer kritischen Masse, die frei und verantwortlich für die
Mitwesen wirkt und diesen günstigere Bedingungen für ihre psychische
Integration oder Befreiung schafft. Dabei mitentscheidend ist die Psychologie der Vorangehenden, und zwar insofern, als diese das seelische Defizit der anderen nicht als Gurus in der Sonne des eigenen Ego
ausbeuten, sondern eher miteinander in der Stille wirken als notwendiger "Neuer Bund" (siehe IV.2.).
Bisherige geschichtliche Aufbrüche begrenzten sich nicht nur durch die
fehlenden materiellen Voraussetzungen für eine allgemeine menschliche Emanzipation, sondern auch durch einen Mangel an Wissen über
die eigentlich anstehenden Prozesse. Die Vorbilder menschlicher
Selbsttranszendenz, die Funken von Wissen, Liebe und Freiheit, die
maßgebende Individuen wie Jesus, Buddha, Sokrates etc.43 bisher jeweils als lebendige Anfänge menschlicher Bewegungen inspirierten,
konnten von den ihnen Folgenden bisher nie lebendiggehalten werden.
Mangels gleichwertiger Erkenntnis- und Seinsqualität verkamen diese
lebendigen Anfänge so immer wieder in Ideologien zur Rechtfertigung
und Stabilisierung beschränkterer Zwecke. Wenn jetzt die materiellen
Voraussetzungen erstmals einer faktisch unbegrenzten Anzahl von Individuen die Chance einer Konzentration auf den menschlichen Selbstwerdungsprozeß bieten, so ist dies nur eine hinreichende Bedingung.
Ergänzend dazu bedarf es der notwendigen Bedingung einer besonderen Qualität von menschlicher Selbsterkenntnis zur Vermeidung der
bisher immer wieder eingeschlagenen Sackgassen, zur Korrektur der
aus der innermenschlichen Affektstruktur unvermeidbar immer wieder
verzerrenden Selbstbeschränkungen. Ein Schwerpunkt der folgenden
Ausführungen liegt deshalb auf der erhellenden Erkenntnis der besonderen menschlichen Qualität. Von den verschiedenen Blickwinkeln der
biologischen und philosophischen Anthropologie, der Systemtheorie
und der Mystik ergeben sich interessante identische Hinweise. Sie werden im II. Teil konkret verfolgt. Hier wird vorerst auf sie aufmerksam
gemacht durch Hinweise anderer:
43
Siehe Jaspers, K., Die maßgebenden Menschen, München 1988.
49
Der Mensch als Schöpfer seiner selbst - Zwischenbemerkungen und
Anstöße
Sokrates, der große Philosoph und erste "Kommunikationstheoretiker",
rang im Dialog mit seinen Gesprächspartnern auf den Straßen Athens
immer wieder um deren Selbsterkenntnis, daß sie nicht nur zu Alltagsgeschäften und -sorgen sondern übergreifend zu Gutem, Wahrem und
Schönem fähige Wesen sind. Plato umschrieb in seinem Höhlengleichnis, wie der übliche Verstand und das Wissen der Menschen lediglich
Schattenbilder, nur undeutliche und teilseitige Erkenntnisse der wirklichen Wahrheit sind. Die mittelalterlichen Geister gingen von dieser Beschränktheit der sinnlichen Erkenntnisse aus und stritten, ob die tiefere
Wahrheit auf dem Weg des Glaubens oder der Vernunft zu finden sei.
Für Spinoza war die verzerrende Sichtweise der vielen tierhaften Affekte
im Menschen naturgegeben, als Weg darüber hinaus erkannte er die
"amor intellectualis dei", die intellektuelle Liebe zu Gott, die für ihn
gleichbedeutend mit dem Geist des Ganzen war.
Es war Johann Gottlieb Fichte, der dann vor 200 Jahren mit allen ihm
zur Verfügung stehenden Begriffen vor allem darum rang, den Menschen begreiflich zu machen, daß alles, die weitere Evolution der Außen- wie der Innenwelt - von ihm "Nicht-Ich" und "Ich" genannt - vor allem von der Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung des Menschen abhängt: Der Mensch muß wissen, wozu er bestimmt ist, sonst versteht er
nirgends zu wirken.44
In der prägnanten Weise einer unmittelbar auf die Erde rückbezogenen
Bestimmung des Menschen wurde diese notwendige Qualität ähnlich
von Friedrich Nietzsche bestimmt:
"Hundertfältig verflog und vergriff sich bisher so Geist wie Tugend. Ach,
in unserm Leibe wohnt jetzt noch all dieser Wahn und Fehlgriff: Leib
und Wille ist er da geworden.
Hundertfältig versuchte und verirrte sich bisher so Geist wie Tugend! Ja,
ein Versuch war der Mensch. Ach, viel Unwissen und Irrtum ist an uns
Leib geworden!...
44
Fichte, J., G., Die Bestimmung des Menschen, Stuttgart 1981.
50
Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er sich;
dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die
Seele fröhlich.“45
Aus der übergreifenden Sicht seiner ganzheitlichen Evolutionstheorie
und historisch näher am vorauszusehenden möglichen Wendepunkt,
hieß es ähnlich auch in den bereits oben zitierten, wegen ihrer integralen Qualität nicht oft genug zu erinnernden Worten Teilhard de Chardins: „Aus dem hier eingenommenen Standpunkt folgt keineswegs, daß
der endgültige Erfolg der Menschwerdung notwendig, schicksalhaft, gesichert sei...Auf Grund seiner Natur kommen im Universum (und ganz
besonders beim Menschen) die großen Komplexe (das heißt immer
unwahrscheinlichere, wenn auch miteinander zusammenhängende Zustände) nur durch zwei untereinander verbundene Methoden zustande:
1. tastende Benützung günstiger Fälle und 2. (in einer zweiten Phase)
bewußte Erfindung. Das bedeutet aber, daß die Energie der kosmischen Involution auf Grund ihres Wesens, mag sie noch so unbeirrbar
und gebieterisch eingreifen, zwei Unsicherheitsfaktoren ausgesetzt ist,
die mit dem doppelten Spiel zusammenhängen; nach unten - der
Glücksfälle, nach oben - der Freiheiten...Niemals wird der Mensch auch
nur mit einem Schritt einen Weg einschlagen, von dem er denkt, daß er
versperrt ist. Gerade dies ist aber das Übel, an dem wir leiden.“ 46
Aus moderner Sicht und aus scheinbar völlig anderen Denktraditionen
berühren auch Kurt Biedenkopf und Karl Homann, die weiter unten mit
ihren bedeutsamen Gedanken zu einer klärenden Ordnung der gesellschaftlich-menschlichen Dinge zu Wort kommen, dieses Problem. Bei
beiden geht es zum einen um die Klärung der gesellschaftliches Denken und Handeln verwirrenden Begriffe, d.h. um Erkenntnis und Einsicht
als notwendige Bedingungen; aber dies zum anderen nicht als Selbstzweck, sondern mit dem Ziel der Verwirklichung einer Gesellschaft, die
allen Individuen ein Höchstmaß an menschlicher Freiheit ermöglicht
(siehe III.4.).
45
46
Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra, Ditzingen 1985, S.70
Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, München 1988, S. 226ff.
51
Dieser scheinbar kleine Punkt innerer Erkenntnis und darauf begründeter Entscheidung und Handlung ist das entscheidende Tor, welches
zu menschlicher Freiheit führt. Diese Freiheit selbst ist jedoch nicht allein rationales Wissen sondern dessen lebendige Ausbildung und Integration in den menschlichen Subjekten; die weitere Evolution des Menschen zu einer für die weitere Existenz der Menschheit und vermutlich
auch für die Evolution des Seins entscheidenden Grundqualität. Ein
möglicher Begriff dafür ist der von "Selbst-Transzendenz", ein anderer
der von "Integration", von "eigentlicher Menschwerdung" oder von "Freiheit". In dieser Sicht ist die ganze bisherige Geschichte erst die allmähliche Herausarbeitung des Menschen, äußerlich aus der Vorgeschichte,
innerlich aus seinem eigenen Tierreich. Menschliche Mitschöpfer, in
ihnen wache Qualitäten von Liebe, Wissen und Selbstsein (siehe II.2.7.)
gaben immer wieder Entwicklungsimpulse und sorgten so für immer
neue Momente der geschichtlichen Evolution, doch waren sie bisher
den anderen Wirkungsmächten nach außen hin immer wieder unterlegen. Diese, dem inneren Tierreich mit seinen Instinkten und Affekten
von Schutz, Herde, Angst, Dominanz, Konkurrenz etc. entstammenden
Wirkungsmächte waren in der Mehrzahl der Individuen und so in der
gesellschaftlichen Psyche insgesamt vorherrschend.
Der Faden konkreterer Ausführung dieser hier angerissenen menschlichen Selbstentwicklung und damit verbundener geschichtlicher Psychodynamik wird weiter unten (II.) wieder aufgenommen. Im folgenden wird
erst der zu Anfang benannte Riß im Geist der Zeit deutlicher gekennzeichnet, von verschiedenen Perspektiven her beleuchtet, um in deren
Zusammenführung weitere Akzente eines integrierten Seins zu entwikkeln.
52
3. Mitgeschöpf und Mitschöpfer Mensch - Risse und Integrationen
Umwelt, Ökologie und ihre inneren Schatten
Der gegenwärtige Zustand der Menschheit wurde oben, in seiner Ambivalenz von existenzieller Bedrohung und gleichzeitig einzigartiger Chance, als klaffender Riß dargestellt, der quer durch die Herzen und Hirne
verläuft. Dieser im tiefsten geistigen Feld verortete Riß zeigt sich zugleich in den verschiedensten Bereichen der Gegenwart. Um ihn zu
verdeutlichen und zugleich um erste Ansatzpunkte über die Strukturen
der notwendigen Integration zu gewinnen, werden im folgenden die Risse der drei fundamentalen Wirklichkeitsbereiche aufgezeigt. Die grundlegende Ordnung der gesellschaftlichen Gesamtheit, ihre drei fundamentalen Ebenen von wirtschaftlicher (materiell-energetischer), sozialer
(organisch-affektiver) und geistiger (geistig-kultureller) Selbstorganisation wird dabei, unter Verweis auf spätere ontologische Begründung (siehe II.2.), vorausgesetzt.
Am offensichtlichsten Problem der Gegenwart, der Umweltzerstörung,
wird bei genauerer Betrachtung ein grundlegender, sich bisher weitgehend ungelöst verbergender Riß im Geist der Zeit deutlich. Er drückt
sich aus in Form zweier scheinbar unvereinbarer Psychologien des
menschlichen Umgangs mit der Natur. Es gibt nicht eine sondern zwei
dominierende Reaktionsweisen, den sogenannte Umweltschutz und
den Naturschutz (oder "Ökologie"), mit zwei gegensätzlichen Implikationen. Deren Bestimmung als "Reaktionsweisen" charakterisiert ihre Qualität bzw. eher Nicht-Qualität als nur teilbewußt, nicht im Bewußtsein des
Ganzen erfolgende Aktionsweisen.
Die eine Reaktionsweise, hier kurz als "Umweltschutz" benannt, agiert
vom Standpunkt der gegenwärtigen modernen Zivilisation. Die Wahrnehmung, daß die grenzenlose Nutzung und Vernutzung natürlicher
Ressourcen die Voraussetzungen dieser Produktions- und Lebensweise
zerstört, ist angesichts wachsender Ozonlöcher, schwindender Regenwälder und massenhafter chronischer Erkrankungen nicht mehr verdrängbar. Dies führt zum innerhalb des Gesamtsystems logischen Versuch, durch einen wachsenden Aufwand an Regelmechanismen und
„Umweltbildungsarbeit“ die als "Umwelt" symbolisierte Natur soweit zu
53
erhalten bzw. wiederherzustellen, daß die Dauerhaftigkeit der bestehenden Systeme gesichert ist. Die systementsprechende Wissenschaft
liefert nicht nur entsprechende physikalische und biologische Erkenntnisse, sondern begründet auch in sich konsistent, warum einzig und
allein solcherart Regelmechanismen einen erfolgreichen Umweltschutz
verbürgen.47 Die Tatsache, daß trotz ständig zunehmender "Umwelttechniken" und "Umweltwissenschaften" die Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen nicht ab- sondern insgesamt zunimmt, verursacht
kaum Irritationen innerhalb des sich ideologisch selbstlegitimierenden
zivilisatorischen Systems.
Die andere Reaktionsweise, hier kurz als "Naturschutz" benannt, agiert
vom Standpunkt einer alles übergreifenden, den Menschen nur als eines ihrer Geschöpfe duldenden Natur. Im Vergleich zum ersten Standpunkt gibt es hier ein tieferes Mitgefühl mit den natürlichen Geschöpfen,
die nicht nur als Material für die gesellschaftliche Reproduktion und
Entwicklung sondern darüberhinaus in ihrem Eigensein und Eigenwert
gesehen werden. Doch wegen ihrer vereinseitigenden Tendenz, die zivilisatorische Entwicklung insgesamt infragezustellen, verfügt diese Reaktionsweise nicht über entsprechend ausgefeilte theoretische Legitimationen, dafür aber über einen stärkeren moralischen Impetus.
Die Problematik dieser Haltung besteht nicht nur darin, daß sie dem
Mitgeschöpf Mensch mit all seinen naturhaft-instinktiven Beschränktheiten nicht das gleiche Mitgefühl zollt wie den anderen Naturwesen,
sondern daß sie zugleich die Mitschöpferrolle des Menschen und damit
die einzige Potenz zur Neuintegration theoretisch nihiliert und damit
praktisch entmutigt.48
Weder die eine Reaktion, der es vor allem um die Selbsterhaltung des
zivilisatorischen Systems geht, noch die andere Reaktion, deren weitgehend ausweglose Verurteilung dieses Systems eher Depression denn
menschliche Besinnung bewirkt, sind dem Problem angemessen. Sie
geben keine Antwort darauf, weder wie eine naturerhaltende und
47 siehe insbesondere Luhmann, N., Ökologische Kommunikation. Kann die moderne
Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986.
48 Eine gute Übersicht auch über diese ehtischen Positionen findet sich bei Pfordten,
D. v. d., Ökologische Ethik, München 1994.
54
menschlich entfaltete Welt aussehen, noch wie sie gestaltet werden
kann.
Die Intentionen von Umwelt- wie von Naturschutz beschreiben nicht nur
angestrebte Umgangsweisen mit der Umwelt oder Natur, sie drücken
zugleich Verhältnisse und Haltungen des Menschen zur Natur aus. Beide vermeiden jedoch, diese hintergründigen Annahmen und Selbstbezüge ins Licht der Betrachtung zu stellen. Damit sind sie Teil einer gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Wirklichkeit, die den Blick des
Menschen auf sich selbst weitgehend verdrängt, die das Menschliche
nur als naturwissenschaftliches oder medizinisches, nicht als seelisches
oder geistiges Faktum anerkennt. Ohne eine Bewußtwerdung und Integration der hinter den nach außen gerichteten Intentionen wirkenden,
egozentrisch-anthropozentrischen oder antihumanen Innenwelten wird
keine umfassend-verantwortliche ethische Theorie und Praxis möglich.
An einem solchen integrativen Ansatz arbeitet die noch junge Theorieund Praxisbewegung der Tiefenökologie.49 Ein anderer, ähnlicher Zugang geht aus vom amerikanischen Vordenker eines integralen Zeitalters, Ken Wilber. In seinem großen Syntheseversuch "Eros, Kosmos,
Logos" zeigt er, inwiefern beide Haltungen, "Ego" und "Öko", nur zwei
sich gegenseitig bedingende, daher so gut miteinander ringende Seiten
derselben eindimensionalen, subjekt- und geistlosen Wirklichkeitssicht
der Moderne sind. Beide reduzieren die Welt auf die Eindimensionalität
eines rational-erfaßbaren Systems, in dem keine wirkliche Integration
und Entwicklung möglich ist.50
Wilbers Blickerweiterung über den Rand der modernen Selbstbeschränkung hinaus öffnet den Blick für eine wichtige, von ihm als "Involution" oder "Reflux" bezeichnete, hier kurz als "geistig" (siehe II.2.) benannte Dimension, deren Wahrnehmung/Wahrgebung eine entscheidende Bedingung für menschliche Zukunft sein könnte. Dabei ist wesentlich, diese geistige Dimension nicht nur als bedeutsam anzuerkennen, sondern darüberhinaus die Integration mit ihrem bisherigen Antipoden, von ihm "Evolution" oder "Efflux" genannt, hier als "materiell"
begriffen (siehe II.2.), theoretisch wie praktisch zu vollbringen.
49
Gottwald, F.-Th., A. Klepsch, Tiefenökologie. Wie wir in Zukunft leben wollen, München 1995.
50 Wilber, K., Eros, Kosmos, Logos, Frankfurt/Main 1996, S. 512ff.
55
Diese Integrationsleistung schließt eine entscheidende Lücke. Sie genügt nur insofern nicht, als auch bei Wilber die von ihm theoretisch gedachten Dimensionen von Seele, Geist und damit Subjektivität im rational-objektivistisch verfaßten Werk ungemäß erfaßt und damit unwirksam bleiben. Eine integrale Theorie müßte die von ihr bezweckte Realität zugleich verkörpern, d.h., wie oben mit Hölderlin umrissen, neben
der rationalen Beschreibung die lebendige, also auch kommunikative
Beziehung und geistige Vision enthaltende Wirklichkeit zugleich in sich
ausdrücken. Dafür finden sich Ansätze bei allen großen, letztlich immer
auf einen integralen Selbstbezug des Seins hinwirkenden philosophischen Vordenkern, besonders deutlich z.B. bei Plato, Plotin, Fichte,
Max Scheler, Martin Heidegger und Jean Gebser.
Um die für eine integrale Wirklichkeit bedeutsamen Erkenntnisleistungen Wilbers zu bewahren, werden sie hier in eine subjekthaltige Begrifflichkeit überführt. Wie einleitend ausgeführt, dienen dafür die Begriffe
"Mitgeschöpf" und "Mitschöpfer". Mitgeschöpf drückt so im folgenden
die bei Wilber "efflux" genannte Qualität aus, jenen Aspekt, demzufolge
die Vielfalt alles Seienden oder in der universellen Evolution Entstandenen gleichwertig ist, daß der Mensch genau wie Tier oder Pflanze Produkt der Schöpfung ist und so keinen Anspruch auf deren Benutzung,
Einschränkung oder gar Ausrottung für eigene Zwecke hat.
Mitschöpfer bezeichnet die bei Wilber "reflux" genannte hierarchische
Qualität alles Seins, den Aspekt, wonach die Geschöpfe infolge ihrer
Stellung im Evolutionsprozeß in sehr verschiedenem Maße zur Wahrnehmung, Repräsentation und aus dieser Potenz heraus auch zur Mitgestaltung des Kosmos befähigt und so auch verantwortlich sind.
Menschliche Subjektivität hat so zwei Dimensionen. Die erste, im folgenden klein - "subjektiv" - geschriebene, umreißt den Aspekt der
Selbstvergegenwärtigung, der Wahrnehmung und Wahrgebung der Mitgeschöpflichkeit. Wilber weist darauf hin, daß die entsprechende emotionale Qualität als "Mitgefühl" bezeichnet wird. Die andere, im folgenden groß - SUBJEKTIV - geschriebene Dimension umreißt den Aspekt
der Selbstverwirklichung, der Wahrnehmung und Wahrgebung von Mitschöpfung. Wilber charakterisiert diese Qualität als "Weisheit".
Die im Vergleich zum dargestellten Problem des Verhältnisses von
Mensch und Kosmos ungenügende Präsenz von Subjektivität bei Wilber
ist kein Zufall. Auch seine Theorie spiegelt damit eine gesellschaftliche
56
Epoche wider, die die seelisch-subjektiven Potenzen des Menschen
weitgehend ausblendet und damit unwirksam hält.
Um diese Qualitäten zu erneuern und zu integrieren, ist es entscheidend, sie zu erkennen. Deshalb im folgenden ein tieferer Einblick in deren Begriffe.
Das Subjekt im Schatten der Objektivität
Bei der vorausgehenden Darstellung von Umwelt- und Naturschutz
zeigte sich, daß die auf die äußere Natur oder Umwelt gerichteten gesellschaftlichen Theorien und Praktiken nur scheinbar rein objektive,
d.h. allein von der den Menschen umgebenden Wirklichkeit bestimmte
Formen sind. Bei näherer Betrachtung wurde sichtbar, daß auf ein und
dasselbe Problem bedrohter Natur mit fast gegensätzlichen Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen reagiert wird. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß neben dem äußeren Faktum vor allem innere, von den
biologischen und sozialen Strukturen des Gedanken- und Handlungsträgers Mensch bestimmte Bedingungen die Sicht der Dinge bestimmen.
Diese Bedingtheit aller Erkenntnis durch die Strukturen des erkennenden Subjektes wurde gut ausgearbeitet von der Evolutionären Erkenntnistheorie und vom sogenannten Konstruktivismus.51 Die Untrennbarkeit
des Objektes vom Subjekt betrifft jedoch nicht nur die Erkenntnis, sondern ebenso die Handlung. Dies wurde bereits zu Beginn des Jahrhunderts von mutig Vordenkenden, im Rahmen der bis dahin als Hort rein
objektiver Naturwissenschaft geltenden Physik, offengelegt, hatte aber
bisher keine ernsthaften Konsequenzen für die nach wie vor rein "objektiv", d.h. im Schatten der verdrängten subjektiven Dimensionen agierenden modernen Wissenschaft.
Wie stark diese unter anderem im Machtgefüge der etablierten Wissenschaften spielende Verdrängung der subjektiven Dimensionen ist, zeigt
sich an deren bisweilen tödlich wirkender Projektion auf grenzverletzende Subjekte. Ihrer inneren Inspiration folgende und damit die geltenden
51 Zur Evolutionären Erkenntnistheorie siehe Vollmer, G., Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1975; zum Konstruktivismus siehe Maturana, H., Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden 1982.
57
Paradigmen infragestellende große Entdecker wie Semmelweiß (Entdeckung des Kindbettfiebers) oder Wilhelm Reich (Wiederentdecker der
universellen Energie), erfuhren die bedrohliche affektive Härte der nur
scheinbar subjektlosen Wissenschaft.52
Aus dem Gesagten leitet sich die bei näherer Bewußtmachung erstaunliche Konsequenz ab, daß wir Menschen im wachsenden Maß und mit
oft eindringlicher Insistierung auf Richtigkeit fühlen, denken und handeln, doch von den letzten Grundlagen all dieses Tuns kaum etwas wissen. Diese unklar-unbewußte Haltung bezüglich der tieferen Voraussetzungen nicht nur unseres Weltbildes, sondern unseres täglichpraktischen Handelns, Denkens und wissenschaftlichen Forschens
deutet auf die Schwierigkeit, ein deutliches Bild von diesen Grundzusammenhängen unseres Seins zu erlangen. Der Streit zwischen "Materialisten", die die Grundlagen alles Geschehens in stofflichenergetischen Zusammenhängen sehen, und "Idealisten", die geistige
Wirklichkeiten am Grund alles Geschehens vermuten, spiegelt dieses
Problem auf einer allgemeinen Ebene wider. Hierfür bietet die Ontologie
einsichtige Vermittlungsvorschläge (siehe II.2.). Sie gibt jedoch damit
keine endgültige Antwort auf die sich erst im menschlichen Bereich zuspitzenden Fragen nach der Rolle, Freiheit und Verantwortung des
Menschen im Angesicht des Ganzen.
Um hier neue Antworten zu gewinnen, verfolgen wir das Nachdenken
des Menschen über sich selbst zurück bis zu jenem Punkt, wo mit der
französischen Revolution die praktische und mit der klassischen deutschen Philosophie die theoretische Begründung der modernen Welt in
relativ kurzen Abschnitten gipfelten. Der Philosoph Immanuel Kant verfaßte seine "Kritik der reinen Vernunft". Er benannte darin die entscheidenden Fragen alles Nachdenkens mit: "Was kann ich wissen? Was
darf ich hoffen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch?", und erkannte,
daß die Antwort auf die ersten drei von der Beantwortung der letzten
abhängt. Zugleich führte er die bisherige, vor ihm bei Descartes und
Spinoza zugespitzte Diskussion um die Beziehung des Menschen zum
52
Zu den transzendierenden Entdeckungen der Physik siehe gut bei Dürr, H.-P.
(Hrsg.), Physik und Transzendenz, München 1990; zur apologetischen Struktur moderner Wissenschaft siehe sehr gut bei Wilson, A., Die neue Inquisition, Frankfurt/Main
1992.
58
Grund aller Dinge zusammen mit der Feststellung, der Mensch sei ein
Wesen zweier Welten, einer naturgesetzlichen und einer intelligiblen.
Die erste dachte er nach dem Vorbild der klassischen Physik und sah in
ihr ein unaufhebbares Wirken von Ursache und Notwendigkeit. Demgegenüber sah er die zweite Welt als zwar unleugbar vorhanden, jedoch
ihre Wirklichkeit sei nicht in der gleichen Deutlichkeit zu erkennen und
zu beweisen wie die erste. Das Phänomen von Freiheit gehöre zu dieser zweiten Welt, und nur deren für ihn unbegreifbare Folge sei in der
ersten Welt zu konstatieren: Der Mensch steht nicht nur im endlosen
Strom von Ursache und Wirkung, sondern kann selbst Beginn einer
neuen Wirkungskette sein.
Diese philosophische Reaktion auf eine zunehmend von der Newtonschen Physik geprägte mechanisch-materialistische Weltsicht rettete
zwar der Freiheit einen eigenen Raum, vollendete jedoch zugleich den
Riß zwischen den Welten, verbannte die freie menschliche Subjektivität
und deren Geisteswissenschaft in die, im Vergleich zu den "objektiven"
Naturtatsachen, nicht gleichwertig wissenschaftlich handhabbaren Nebenräume.
Auch für Kants große Vordenker Descartes oder Spinoza gab es diese
Trennung der Welten, bei ihnen jedoch immer auf der vorausgesetzten
Grundlage einer unauflösbaren, göttlich gedachten Einheit.
Von Kants Rettung des Gedankens der Freiheit inspiriert und in diesem
gestärkt durch das Erlebnis der praktischen Befreiungsvollzüge der
französischen Revolution wurde Johann Gottlieb Fichte. Ihm gelang eine große, in dieser Qualität gedanklicher Begründung seither uneingeholte Integration. Er verband den Gedanken der menschlichen Freiheit
mit dem Gedanken einer letzten Wirklichkeit: "Die Grundlage des Universums ist nicht Ungeist, Widergeist, dessen Verbindung mit dem Geiste sich nie begreifen ließe, sondern selbst Geist. Kein Tod, keine leblose Materie, sondern überall Leben, Geist, Intelligenz."53
Nicht nur Freiheit und Notwendigkeit sind für ihn damit im Grunde des
Seins identisch, sondern auch Mensch und Universum. Das menschliche Individuum ist ein Moment dieses übergreifenden Universums, Gei53 Fichte, J.G., Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801, in: Fichtes Werke, Vierter Band, Felix Meiner Leipzig, o.J., S. 35.
59
stes, Lebens. Es wirkt und handelt in dessen Strom, und vor allem seine
Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbsterkenntnis als Moment des Ganzen entscheidet, ob dieses Handeln ein nur empirisches, beschränktes,
leidvolles oder ein im Lichte des Ganzes angeschautes und gedachtes
freies ist. Das Problem des Menschen besteht so vor allem im Akt der
Erkenntnis und Verwirklichung dieses seines absoluten, immer nur
durch die Beschränktheit des eigenen Erkenntnisvermögens behinderten Seinsgrundes. "Mit absoluter Freiheit ergreift sich der Gedanke oder
das Wissen. Die setzt voraus ein von sich selbst sich Losreißen des
Gedankens, um dann sich wieder zu fassen (objektivieren) zu können,
eine Leerheit der absoluten Freiheit, um für sich selbst zu sein...In diesem Akte nun geht das Wissen sich selbst auf: die Freiheit, wodurch sie
das Sein beschreibt: das Sein, das da beschrieben wird. In diesem Akte
ist beides für sich, und ohne ihn wäre keins von beiden, sondern es wäre eitel Blindheit und Tod. Hierdurch wird die Freiheit eigentlich zur Freiheit...Sie ist die absolute Reflexion: ihr Wesen ist Akt (was unendlich
wichtig ist)."54
Mit den Mühen einer zur Fassung dieser Zusammenhänge wenig geeigneten Sprache gelang Fichte damit ein integraler Begriff von Mensch
und Welt. Er nannte sein Integral "Ich" und meinte damit nicht die egozentrisch-beschränkte Person sondern das Zusammenfallen der universellen Werdensströmung des Universums mit dem daraus hervorgegangenen und sich als dessen Mitvollzieher erkennenden, erst damit
das Universum vollendenden menschlichen Subjekt. Ob oder inwieweit
dieses Fichtsche "Ich" Wurzeln im ähnlich, wenn nicht identisch gemeinten "Ich-bin" des Jesus hat, wäre einer eigenen Untersuchung wert.
Beiden "Ich" gemeinsam ist auf jeden Fall der durch menschliche
Selbstbewußtwerdung als Sohn des Göttlichen bzw. als Subjekt des
Universums vollzogene und jeweils folgenreiche Befreiungsakt. Beiden
"Ich" gemeinsam ist auch ihre Singularität, weder im religiösen Raum
vor und nach Jesus, noch im philosophischen Raum vor und nach
Fichte gab es ähnlich starke Befreiungsimpulse.
Diese von Fichte mit den Worten des westlichen Gedankens versuchte
absolute Selbsterkenntnis des Menschen hat auch - nicht zufällig - er-
54
Ebenda, S. 34.
60
staunliche Parallelen mit den tiefsten Erkenntnisströmen des sich vor
allem mystisch ausdrückenden Ostens.
Die hinduistische Theologie kennt drei Ausdrücke Gottes: Brahma bezeichnet den Zustand ungeteilter Einheit von Schöpfer und Schöpfung;
Ishwar ist der Schöpfer und damit ist die Einheit gespalten, die Welt
vom Schöpfer getrennt; und Bhagwan, bezeichnet den Menschen, der
über die ihm erscheinende Dualität hinausgehend die Einheit von
Schöpfer, Schöpfung und sich selbst wiedererkennt.55
Der Begründer des für moderne Menschen und ihre Begriffe leichter
zugänglichen Zen-Buddhismus, Bodhidharma, spricht vom selben
Grundzusammenhang: "Alles, was in den drei Welten erscheint, geht
auf den Geist zurück...Der Geist ist andauernd gegenwärtig. Du siehst
ihn nur nicht...Dieser Geist ist subtil und schwer zu sehen. Er ist nicht
mit unserem sinnengebundenen Bewußtsein identisch...Nur ein Wissender kennt seinen
Geist, diesen Geist namens Dharma-Natur, diesen Geist der Freiheit"56.
Fichtes integraler Impuls ging ein in fast alle folgenden bedeutenden
Theorien und Praktiken. Alle großen Philosophien seitdem, ob Hegel
und Schelling, Marx, Nietzsche oder Scheler, nahmen von ihm wesentliche Impulse und führten Linien daraus fort, ohne jedoch seine integrale
Ganzheit beibehalten zu können.
Die moderne Sprache ist noch immer arm an Begriffen, um diesen Zusammenhang zu fassen. Dennoch drängen die Erkenntnisse der unvoreingenommen suchenden, über die Grenzen klassisch-physikalischen
Denkens hinausgehenden Wissenschaften zur Neufassung dieses den
Menschen als Mitschöpfer einschließenden Gesamtzusammenhanges,
der in diesem Sinne auch als "geistig" zu begreifen ist. Der einzelne
Mensch erkennt sich darin wieder als Teil und Mitgestalter des ihn umgreifenden, in sich schöpferischen Universums. Dessen Leben, Werden
und Intelligenz ist nicht auf mechanisch-materialistische UrsacheWirkungs-Gefüge zu reduzieren, wie sie im durch empirische Sinnesorgane beschränkten Gesichtskreis des Menschen erscheinen. Die Erkenntnisse deuten auf ein universelles, auf subatomarer Ebene alle Erscheinungen verbindendes Feld (Nullpunktfeld), in das der Mensch
55
56
Siehe dazu Rajneesh, B.S., Intelligenz des Herzens, Berlin 1979, S. 31f.
Bodhidharmas Lehre des Zen, München 1990, S. 29ff.
61
nicht nur eingewoben ist, mit dem er auf subtile Art und Weise auch
kommunizieren und wirken kann (siehe mehr dazu unter II.3.).
Für den notwendigen Wandel offene Wissenschaftler und ihre Erkenntnisse, wie die Theorie der Selbstorganisation oder auch die evolutionäre
Erkenntnistheorie, weisen zunehmend darauf hin, daß alle Erkenntnis,
und damit auch alle Praxis, bedingt ist durch den "Status des Ich oder
des Kognitionssubjektes". Demzufolge muß "die Wissenschaft der Zirkularität zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt Rechnung tragen, will sie die Welt und die menschliche Erfahrung angemessen begreifen".57
Wichtig zum Begriff von Subjektivität ist der in neuer Zeit von Dieter
Henrich ausgeführte Hinweis, daß die entsprechende, von Fichte als
"Ich" bezeichnete Qualität nicht das Ergebnis einer bloßen Erkenntnis
oder Reflexion ist. Ein Akt der Reflexion kann etwas widerspiegeln und
damit bewußter wirksam machen, nicht jedoch eine zuvor nicht vorhandene Subjektqualität konstituieren.58 An Henrich anknüpfend zeigte
Manfred Frank, daß sich an diesem scheinbar winzigen Problempunkt
entscheidet, ob sich Philosophie und damit menschliches Selbstbewußtsein in Naturalismus oder Linguistik auflöst, ob wir "die Grundprobleme unseres Daseins ablösen vom Bezug auf ein selbstbewußtes
Wesen, für welches allein sie doch Wert und Gewicht, aber auch Bedrohlichkeit und Entmutigung erlangen können".59
Bereits Fichte betonte, daß die besondere menschliche Subjektqualität
oder Freiheit nicht erst nachträglich zur Natur des Menschen gedacht
werden kann, sondern ihm ursächlich, als Moment seiner sittlichen d.h. modern als "moralisch" begriffenen - Natur angelegt sein muß. Und
diese Potenz faßt er nicht abstrakt, vielmehr bindet er sie - nicht zufälligerweise, sondern wie unten (II.2.) gezeigt in tiefer Ahnung eines ontologisch-anthropologischen Grundes - , an die emotional-geistige Qualität
von Liebe. Das besondere menschliche Vermögen zur Freiheit entsteht
ihm "erst aus der sittlichen Natur des Menschen". Dieses "Wohlgefallen
57
Varela, F., E. Thompson, E. Rosch, Der mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung,
Bern/München/Wien 1991, S. 12ff.
58 Henrich, D., Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt/Main 1967.
59 Frank, M., Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Stuttgart 1991, S. 161.
62
am Rechten und Guten...Erzeugt werden im eigentlichen Sinne des
Worts kann es nun wohl nicht; denn der Mensch vermag nicht aus
nichts etwas zu machen. Es muß, wenn unser Vorschlag irgend ausführbar sein soll, dieses Wohlgefallen ursprünglich vorhanden sein und
schlechthin in allen Menschen ohne Ausnahme vorhanden sein und
ihnen angeboren werden. So verhält es sich denn auch wirklich. Das
Kind ohne Ausnahme will recht und gut sein, keineswegs will es so wie
ein junges Tier bloß wohl sein. Die Liebe ist der Grundbestandteil des
Menschen, diese ist da, so wie der Mensch da ist".60
Dieselbe Frage, ob die Eigenqualität menschlicher Subjektivität nur eine
sekundäre, aus reflexiven, sozialen oder intersubjektiven Akten folgende Qualität oder ein fundamentales Faktum menschlichen Seins ist,
stellt sich im gegenwärtigen, vor allem um die Begriffe Kommunikation
und/oder Ethik kreisenden Diskurs der Moderne.
Kommunikation ohne Kommunion, Ethik ohne Ethos?
Die oben dargestellten Gedanken zur Zirkularität von Subjekt und Objekt haben Folgen nicht nur für den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ebenso für das praktische menschliche Handeln und für
dessen Theorien und Konzepte.
In kritischer Abhebung zu einer nur instrumentell oder zweckrational
gedachten Gesellschafts- und Handlungstheorie entwickelte insbesondere Jürgen Habermas eine Theorie des kommunikativen Handelns.
Sein großes Vorhaben ist es, gegenüber einer nur systemisch-objektiv
gedachten Theorie die Bedingtheit gesellschaftlicher Wirklichkeit im
zwischenmenschlichen Bereich bewußt zu machen. Dabei gelingt es
ihm zu zeigen, daß selbst die Enwicklung hochkomplexer, funktional
ausdifferenzierter Gesellschaften letztlich im kommunikativen Potential
wurzelt. Die historische Verselbständigung der komplexen gesellschaftlichen Subsysteme Wirtschaft und Staat wurde erst möglich im Zuge
einer Rationalisierung der Lebenswelt, wobei sukzessive die darin an60
Fichte, J.G., Reden an die deutsche Nation, Stuttgart 1943, S. 164.
63
gelegten Rationalitätspotentiale freigesetzt wurden. Diese für eine effektive gesellschaftliche Reproduktion ausdifferenzierten Subsysteme
organisieren sich selbst durch eigene, vom einbindenden, aber auch
einschränkenden menschlichen Potential abgekoppelte Steuermedien,
durch Geld und Macht. Daraus erwächst die Zwiespältigkeit der bisherigen gesellschaftlichen Evolution. Die Befreiung der Individuen von natürlichen Bedrohungen und traditionellen Zwängen findet ihr negatives
Pendant in der zunehmenden Monetarisierung und Klientierung der Lebenswelt. Für die notwendige neue Balance zwischen System- und Lebenswelten bedarf es nach Habermas der "sozialintegrativen Macht der
Solidariät".61
Interessanterweise bringt ihn sein die objektive Systemsicht transzendierender Ansatz unter anderem zur Erkenntnis einer Dreigliederung
dieser kommunikativen Realität. Ein kommunikativer Akt, der seiner höheren menschlichen Bedeutung gerecht wird, integriert einen instrumentell-bezeichnenden (propositionalen), einen affektiv-regulativen (illokutionären) und einen authentisch-ästhetischen Bestandteil.62
Eine weitere Entwicklung im Rahmen der so komplex-differenzierenden
Theorie von Habermas scheitert an dessen Ablehnung jeglichen subjektphilosophischen Denkens. Statt auch hier eine Integration zu wagen,
verurteilt Habermas diesen großen Strom geistesgeschichtlicher Entwicklung. Dies führt letztendes zu offenen, im Rahmen seiner Theorie
ausgeblendeten Grundproblemen. Zum einen verweist bereits das der
Kommunikationstheorie bedeutsame Wort Intersubjektivität auf zugrundeliegende singuläre Subjektivität, ohne diese Qualität an sich zu erläutern.63 Zum anderen folgt daraus, das Paradigma Kommunikation
ohne wirkliche, nur im inter-SUBJEKTIVEN oder geistigen Akt (siehe
II.2.) mögliche Kommunion denken und erklären zu müssen. Der Versuch, die Möglichkeit von Kommunikation aus einem zwar dreifachen,
doch letztlich jeweils instrumentellen Lernprozeß zu erklären, nimmt den
Anspruch einer Transzendierung des nur instrumentellen Handelns zurück und verbleibt in diesem.
61
Habermas, J., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main 1988, S.422
Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, Erster Band, Frankfurt/Main
1988. S. 34ff.
63 Siehe dazu auch Henrich, D., Konzepte, Frankfurt/Main 1987, S. 11ff.
62
64
Das Paradigma Kommunikation erwies sich, letztlich wegen seiner
Nichtintegration des SUBJEKTES, für die Erfassung und Lösung der
Gegenwartsprobleme als zu schwach.
Deshalb bildet sich zunehmend ein neuer philosophischer Zeitgeist unter dem Stichwort "Ethik". Diese verweist zwar vom Wortursprung her
auf ein "Ethos", ein dem individuellen Handeln im Sinne des Ganzen
zugrundeliegendes Handlungsprinzip, doch bleibt die moderne Theorie
auch hier, ähnlich wie beim Kommunikationsansatz, weitgehend an der
pragmatischen Oberfläche. Die Frage "Was soll ich tun?" wird losgelöst
von der Grundfrage "Was ist der Mensch?". Der transdisziplinär denkende Johannes Heinrichs gibt in seiner "Ökologik" eine treffende Beschreibung dieses Zustandes moderner Ethik: "Es setzt die Naturentfremdung des Menschen voraus und ‘perenniert’, verewigt sie - statt sie
nach Kräften abzuschaffen. Eine einseitige Ethik des individuellen Sollens sucht die Krise zu verwalten, die es eigentlich zu überwinden gilt.
Deshalb haben autoritäre Systeme gern ausgedehnte Morallehren: Sie
stützen sich auf die Schuldgefühle und die Weisungsbedürftigkeit ihrer
Angehörigen. Ähnlich brauchen Industriebetriebe und Gemeinwesen,
die im Grunde nichts an der Naturentfremdung des Menschen zu ändern gedenken, heute ‘ökologische Ethik’ als Theorie des Krisenmanagements, doch keine von den Gründen her denkende Tiefenökologie. In
dieser würde das Denken in freierer und entfalteterer Weise zu Hilfe
genommen, nicht damit es sich den anderen Erkenntniskräften (Wahrnehmung, Gefühl, Intuition) substituiert und diese rationalistisch beherrscht, sondern um diese zu sich selbst zu befreien. Diese Art des
Denkens stellt selbst schon den Beginn neuen meditativen Einschwingens in die Naturzusammenhänge dar."64
Interessant ist dieser Hinweis auf die Methode: ein Denken, welches
zugleich "ein Einschwingen in die Naturzusammenhänge ist". Auch
Fichte begriff sein, von ihm "intellektuelle Anschauung" genanntes,
höchstes Erkenntnis- und Seinsprinzip, welches allein zur Vergegenwärtigung und Verwirklichung von Freiheit im stets mannigfaltig entgegenwirkenden Sein befähigt, als Zusammenwirken von Denken und Anschauen: "Der Form nach ist die Synthesis eine merkwürdige und in
ihren bald aufzuweisenden Folgen sogar wichtige Vermischung von An64
Heinrichs, J., Ökologik, Frankfurt/Main 1997, S. 37.
65
schauen und Denken. Würde nämlich in jedem Punkte die Freiheit der
Richtung, das Sichselbstergreifen und Fortführen der Linie (denn dies
ist das Innere dieser Anschauung) gedacht, so käme es zu gar keiner
Linie. Das Sichvergessen in der Anschauung (das moderne Wort dafür
ist Meditation, M.H.) ist daher notwendig anzunehmen, um die Konkretion der Linie erklären zu können: - aber ebenso auch das Sichselbstergreifen in ihr durch Denken und Herausgehen aus ihr, um ihr die Richtung zu geben, ohne welche sie abermals nicht Linie wäre. Beides ist
daher schlechthin vereinigt, es ist ein anschauendes Denken, ein denkendes Anschauen."65
Fichte - und damit eventuell auch Heinrichs - plädiert hier, in seiner von
Späteren nicht weiterverfolgten Sprache, und doch deutlich, für eine
Integration der beiden Seins- und Erkenntnismodi, die oben mit Wilber
als efflux und reflux bzw. in menschenbezogen-subjektivierter Sprache
als Mitgeschöpf und Mitschöpfer begriffen wurden. Anschauen, Einschwingen, Meditieren, efflux und Mitgeschöpf Mensch stehen für die
Sicht der Dinge, die den Menschen in die Mannigfaltigkeit der Dinge
oder Geschöpfe einreiht und ihm eine Vergegenwärtigung seiner Verbundenheit und eine Rücksicht für all diese Geschöpfe, ein Mitgefühl
abverlangt. Auf der anderen Seite stehen Denken, Weisheit, reflux, Mitschöpfersein für die Sicht der Dinge, die den Menschen zum SUBJEKT
seiner selbst und des Universums erhebt. Beide Sichtweisen sind jedoch nicht für sich, sondern erst integriert mit der anderen wirklich und
wirksam: Gedanke ohne Meditation, Weisheit ohne Mitgefühl, Mitschöpfung ohne Mitgeschöpfe etc. zerstört sich selbst ebenso wie Meditation ohne Gedanken, Mitgefühl ohne Weisheit, Mitgeschöpfsein ohne Mitschöpfungsverantwortung.
Weil den meisten Ansätzen einer ökologischen Ethik diese grundlegende Sicht fehlt, bleiben sie an der Oberfläche eines bloß moralisierenden
Sollens, verirren sich entweder in die eine oder in die andere einseitige
Sicht der Dinge. Wie zu Eingang dieses Kapitels ausgeführt, betrachten
sie entweder unter dem Stichwort "Umweltehtik" die umgebende Natur
nur als geschickter als bisher auszubeutende Ressource für das mas65 Fichte, J. G., Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801, Fichtes Werke, Vierter
Band, Felix Meiner Leipzig o.J., S. 128.
66
senhafte Ego des Menschen oder unter dem Stichwort "ökologische
oder Bioethik" den Menschen nur als mißglücktes, gerade durch seinen
Geist gefährliches Untier, das von Mutter Natur zurechtzuweisen ist.
Ohne eine auf das Ganze zielende und dabei die natürliche Einordnung
und die besondere Verantwortung des Menschen integrierende Grundlagentheorie gelingt auch der Ethik keine neue Praxis, keine neue Integration von Mensch und Natur.
Ansätze integraler Wirklichkeit entstehen da, wo beide Sichtweisen in
transzendenter Sicht zusammenkommen. Dann bietet der Begriff der
Ethik, der traditionell den praktischen Bezug des Menschen zum Weltganzen reflektiert, durchaus Raum für engagiertes Weiterdenken. Im
deutschsprachigen Bereich gibt es einen vielversprechenden Ansatz
dafür bei Vittorio Hösle, der versucht, auf dem Pfad der Ethik über die
empirisch-eindimensionale Rationalität der Modernen hinauszugehen
und die von ihm als "absolute, ideale Subjektivität" bezeichnete Dimension neu zu integrieren.66
Mit diesem Rückbezug des ethisch-denkenden und handelnden Menschen auf eine "absolute, ideale Subjektivität" schließt sich auf philosophischer Begiffsebene der oben mit der Dialektik von Subjekt und Objekt, Mitgeschöpf und Mitschöpfer Mensch angedachte Erkenntniskreis.
66 Hösle, V., Philosophie der ökologischen Krise, München 1994, S. 69ff.. Siehe auch
ders., Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München 1994.
67
4. Integration von Theorie und Praxis
Überblick
Bedeutsam wird jetzt die Frage nach der Integration von Erkenntnis und
Praxis. Dazu gehört die Suche danach, ob und wo es in der gegenwärtigen Realität bereits Ansätze einer integralen, die überholten Risse
transzendierenden Praxis gibt und inwieweit dabei, neben der Integration objektiver Ebenen, auch die menschliche Subjektiviät erfaßt und
entwickelt wird.
Wie Theorien bzw., wenn als Anleitung sozialen Handelns dienend,
Ideologien, so haben auch davon geleitete Praxen in bisheriger Geschichte meist das Problem einer beschränkten Sicht. Sie gehen von
diesem oder jenem zu lösenden Fakt aus und entwickeln daraus ein
aufs Ganze zielendes Welt- und Idealbild, welches an dieser, der fließenden Komplexität des Ganzen nicht gerecht werdenden Enge früher
oder später zugrunde geht. Für eine integrale Theorie und Praxis genügt nicht der Anspruch auf Lösung dieser oder jener Teilprobleme, wesentlich ist vielmehr die vom menschlichen Subjekt lebendig zu vollziehende Verkörperung des Ganzen, einschließlich der sich permanent
wandelnden inneren Widersprüche, Bewegungen und Veränderungen.
Die folgende Darstellung einiger, in sich jeweils mit dem Anspruch einer
integrativen Lösung gegenwärtiger Weltprobleme auftretenden praxisorientierten Ansätze betrachtet dieselben deshalb nicht nur im eigenen
Integrationsanspruch, sondern immer auch hinsichtlich neuer blinder
Flecken.
Es beginnt mit den zwei integralen Konzepten Aurobindos und Rudolf
Bahros, denen es neben der Theorie vor allem um die subjektiven Voraussetzungen entsprechender Praxis geht. Darauf folgen einige unmittelbar-praktische Integrationstendenzen der Gegenwart, die, obwohl sie
mehr oder weniger intuitiv ein Schwergewicht auf die integrale Vernetzung menschlicher Subjekte legen, die Qualität der Subjektivität selbst
oft noch unzureichend integrieren.
Weitere und bei näherem Blick erstaunliche, infolge ihrer konkreten
Verantwortung für komplexe gesellschaftliche Prozesse auch die subjektive Qualität mehr oder weniger bewußt integrierende Ansätze finden
68
sich im zukunftsorientierten Management. Dem ist deshalb ein besonderer Abschnitt gewidmet.
Aurobindo und Bahro
Noch bevor in Europa Jean Gebser für die menschheitliche Zukunft den
Begriff des integralen Bewußtseins prägte und umfangreiche Gedanken
dazu zusammentrug, erarbeitete in Indien der europäisch geschulte
Philosoph Aurobindo Ghose genau diese Begriffe für die künftige Entwicklung. Vermutlich waren seine Werke sogar eine entscheidende geistige Quelle für Gebser. Beide weisen darauf hin, daß die in der Moderne vorherrschende mentale Denk- und Handlungsweise für die Lösung
der anstehenden Probleme nicht genügt, daß es einer integralen Geistes- und Gesellschaftsverfassung bedarf. Während Gebser zwar deutlich über den Rationalismus der Moderne hinauswies, jedoch in deren
objektivistisch-subjektloser Tradition befangen blieb, gelang Aurobindo
bereits der bedeutsame Schritt zu einer das menschliche Subjekt und
dessen ganzheitliche Praxis zusammendenkenden Integration. In der
Tradition des die Innenwelt betonenden östlichen Denkens erreicht er
nicht Gebsers Komplexität der Antizipation integraler Strukturen67, aber
eine im westlichen Denken bisher nicht eingeholte Deutlichkeit der wesentlichen Bedingungen einer subjektverankerten, nur von einer neuen
Qualität menschlicher Subjektivität zu vollbringenden Integration.
Er benennt die inneres und äußeres Tun verbindende Innenwelt "integralen Yoga"68 und die entprechende Außenwelt "subjektives Zeitalter".
"Erstes wesentliches Anzeichen einer solchen Entwicklung wird das
Wachstum einer subjektiven Idee des Lebens, einer Idee der Seele, des
inneren Wesens sein, ihrer Kräfte und Auswirkungen. Daß sich diese
Ideen entfalten und ihren Ausdruck finden, daß eine wahre, schöne und
förderliche Umwelt entsteht, ist von ausschlaggebender Wichtigkeit.
Das alles sind Zeichen, Vorläufer eines subjektiven Zeitalters im Denken und sozialen Streben der Menschheit. Solche Ideen werden sich
67
Diese in ihrer Umfänglichkeit darzustellen ist hier nicht der Raum. Siehe Gebser, J.,
Ursprung und Gegenwart, München 1973.
68 Sri Aurobindo, Die Synthese des Yoga, Gladenbach 1972.
69
wahrscheinlich zuerst in Philosophie, psychologischem Denken, in
Kunst, Dichtung, Malerei, Bildhauerei und Musik, in den wesentlichsten
ethischen Idealen ausdrücken, in der Ausdehnung subjektiver Grundgedanken auf soziale, vielleicht sogar, wenn dies auch gewisse Gefahren in sich schließt, auf politische und wirtschaftliche Fragen, also auf
die harte, widerspenstige, nur einer zweckhaften Behandlung zugängliche Materie. Wissenschaft oder zumindest die Forschung werden unerwartete, neue Richtungen einschlagen, Wendungen, deren höchst
fruchtbaren Untersuchungen die Orthodoxen nur ungern den Namen
Wissenschaft zubilligen. Erkenntnisse werden die Trennungswand zwischen Seele und Materie schwächen."69 Aber es genügt nicht, "daß gewisse dieser Wendung des menschlichen Lebens günstige Ideen sich
des allgemeinen Mentalen der Menschheit bemächtigen, daß sie die
üblichen Antriebe des Denkens, der Kunst und Ethik, der politischen
Ideale und der sozialen Bemühungen durchdringen oder daß sie selbst
in das innerste Denken und Fühlen einströmen...Dies alles wäre sicherlich ein großer Schritt vorwärts - wenn man die heutigen Menschheitsideale in Betracht zieht, überhaupt ein Riesenschritt. Es wäre der notwendige Anfang...Für sich allein genommen aber würde es vielleicht nur
einen zum Teil fruchtbaren oder einen zwar erfolgreichen, jedoch nur
teilweise oder zeitweilig erfolgreichen Versuch darstellen, etwas von
dem offenbarten Spirit in das Leben und seine Ordnungen zu bringen.
Anderes hat die Menschheit in dieser Richtung bisher niemals versucht.
Niemals hat sie auch nur dieses wenige gründlich auszuarbeiten gesucht, es sei denn in den Grenzen einer religiösen Ordnung oder einer
bestimmten Gemeinschaft. Aber selbst in diesen Fällen tat sie dies mit
so ernsten Mängeln und Beschränkungen, daß das Experiment bedeutungslos blieb und keinen Einfluß auf das menschliche Leben ausübte.
Wenn wir nicht über das nur Festhalten am Ideal und über seine allgemeinen Einflüsse auf das menschliche Leben hinauswachsen, wird die
Menschheit in Zukunft nicht mehr als dieses wenige erreichen. Aber
mehr tut not...Allgemein genügt es der Menschheit, sich mit der Sehnsucht nach einem Ideal zufriedenzugeben und sich dessen Einfluß nur
teilweise zu unterstellen. Das Ideal soll das ganze Leben nicht umformen, sondern darf es nur mehr oder weniger färben. Oft wird es über69
Sri Aurobindo, Zyklus der menschlichen Entwicklung, Planegg 1983, S. 270f.
70
haupt nur als eine Decke, als eine Ausrede benutzt für Dinge, die seinem wahren Geist genau entgegengesetzt sind. Institutionen werden
geschaffen, von denen man nur allzu leichthin annimmt, daß sie den
Geist der Ideale verkörpern. Die Tatsache, daß ein Ideal vorhanden ist
und daß die Menschen unter seinen Institutionen leben, wird als ausreichend angesehen. Ein Ideal zu besitzen, dient geradezu als Entschuldigung dafür, daß man nicht ihm entsprechend lebt...Wir müssen den
pragmatischen Grundsatz, daß Wahrheit das ist, was wir schaffen, dahin erweitern und vertiefen, daß sie das ist, was wir in uns selbst
schaffen, mit anderen Worten, was wir werden."70
Sowohl Jean Gebsers wie auch Aurobindo Ghoses Gedanken aufnehmend, entwickelte Rudolf Bahro den vielleicht bisher umfassendsten
Ansatz integraler Theorie und Praxis. Die herauszubildende, Natur- und
Geisteswissenschaften ebenso wie Subjekt und Objekt integrierende
Wissenschaft begriff er als "Sozialökologie", deren zentrale Begriffe
"conditio humana" und "homo integralis" fokussieren auf die Subjektivität der notwendigen neuen Ordnung.
Seine "Logik der Rettung" gründet sich in letzter Instanz auf eine Erneuerung bzw. eine neue Evolutionsstufe der menschlichen Wesenskräfte, welche, auf der Grundlage der materiellen Voraussetzungen und
der Krise der Moderne, erstmals für eine größere Zahl menschlicher
Individuen möglich werden könnte. Hinter der Faktizität und scheinbaren
Unreformierbarkeit der verselbständigten institutionellen Strukturen
sieht er eine bestimmte, von Subalternität und psychischer Unreife geprägte Geistesstruktur. "Halten wir uns also bewußt, daß alle Mächte,
mit denen wir in dem einen wie in dem anderen Konzept rechnen, Bewußtseinsmächte sind. Institutionen sind objektivierte Bewußtseinsmächte, geronnene Teilaspekte unserer kulturellen Existenz...Die These, die Institutionen müßten sich ändern, die Menschen nicht, folgt erstens der stillschweigend-pessimistischen Voraussetzung, sie würden
dazu ohnehin nicht in der Lage sein, sie seien nun einmal so, wie sie
sind. Zweitens meint diese These das Programm einer Revolution von
oben...Wie schon mehrmals zugestanden: Wir werden nicht ohne dieses Moment auskommen. Herrscht es aber vor, d.h. kommen wir nicht
70
Ebenda, S. 284f.
71
über einen Öko-Bismarck hinaus, bleibt es nur eine weitere Strukturanpassung innerhalb des exterministischen europäischen Projekts."71
"Wir werden nur über eine andere Subjektivität zu einer anderen, nämlich nichtexterministischen Objektivität kommen. Das ist auch der Weg,
den die mit dem neuen Zeitalter verbundenen Forscher gegangen sind:
Ihre Konzepte haben sich geändert, weil sie selbst sich geändert haben
oder schon eine Sensibilität in die Wissenschaft mitbrachten, mit der sie
dort aus der Rolle fallen mußten. De facto knüpfen wie wieder dort an,
wo Meister Eckhart den Kontakt zu allem Wissen suchte, indem er den
Logos in der eigenen leib-seelischen Bewußtseinstiefe fand und sich
selbst als das eine Ende einer Weltenachse erkannte, deren anderer
Pol sogar über den großen Gott des Mittelalters noch hinausging."72
Um die menschliche Subjektivität aus der ohnmächtigen Verhaftung an
die Megamaschine zu ihrer eigentlichen, übergreifend mitfühlenden und
verantwortungsfähigen Kompetenz zu befreien, bedarf es einer neuen,
freien Verbindung zwischen Individuum und universellem Ursprung.
"Gottesvorstellungen sind niemals mehr als Hilfsmittel gewesen, um in
uns selber Haltungen hervorzubringen und zu stabilisieren, die dem Zusammenhang zwischen Ich und (Menschen-)Welt, Welt und Natur gemäß sind. Alles deutet darauf hin, daß die letzte Quelle religiöser (im
Unterschied zu kirchlicher) Autorität stets eine beglückende innerpsychische Begegnung mit dem vor- wie überpersönlichen Existenzgrund
gewesen ist, von dem wir uns in unserer Besonderheit, Individualität
abheben...Wenn der menschliche Geist als höchstes Evolutionsprodukt
nun selbstbewußt und reflexiv den Kontakt zu dieser Steuerungsseite
des Universums aufnimmt, ist er an sich von vornherein in seinem Element, so sehr er sich ‘gegenüber’ positioniert. In ihm ist der Gestalt-,
Informations-, Organisations-, Struktur-Aspekt des Kosmos, die diesem
eingeschriebene Gesetzmäßigkeit und Ordnungsfunktion nicht mehr nur
gegeben, sondern auch bewußt."73
Diese neue, die Integration von Innen und Außen, Individuum und Kosmos in sich verkörpernde Geistesqualität ist dabei mehr als nur intellektuelles, sich aus ihrer anthropologischen Grundstruktur her immer
71
Bahro, R., Logik der Rettung. Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik,
Berlin 1990, S. 86.
72 Ebenda, S. 435.
73 Ebenda, S.92.
72
wieder "gegenüber" dem Objekt positionierende Erkenntnis. Unvermeidlich ist ein ebenbürtiges, sich tendentiell mit allen Wesen integrierendes
Gefühl, dessen Quelle Bahro, wie alle großen Geister, in der Liebe
sieht. Er zitiert Lewis Mumford: "Liebe hat wie der Verstand nur langsam
an Wirkung in der organischen Welt gewonnen; da sie erst spät in dem
Drama auftrat, das der Mensch selbst geschrieben hatte und inszenierte, erfüllt sie erst einen kleinen Teil seines Denkens, Lernens und Tuns.
Doch in der kommenden Verwandlung des Menschen wird die Liebe
das zentrale Element der Integration sein, Liebe als erotisches Begehren und als Zeugungskraft, Liebe als Leidenschaft und ästhetisches
Genießen im Betrachten des Schönen und in seiner Neuschöpfung,
Liebe als Kameradschaft und nachbarliche Hilfe, Liebe als elterliche
Fürsorge und als Opfermut und schließlich Liebe mit ihrer wunderbaren
Gabe, das geliebte Objekt über alles zu stellen, es zu verherrlichen und
zu verklären. Ohne Steigerung unserer Liebesfähigkeit in all ihren Möglichkeiten können wir kaum hoffen, die Erde und alle Geschöpfe, die sie
bewohnen, vor den gefühllosen Mächten des Hasses, der Gewalt und
der Zerstörung zu bewahren, die sie jetzt bedrohen. Und wer wagt von
Liebe zu sprechen ohne eine Philosophie, die den Menschen in ihren
Mittelpunkt stellt?"74
Eine solche, bereits in sich selbst integrale Subjektivität wird in der Lage
sein, die angesichts ihrer Energien und Techniken bedrohliche Spaltung
der Moderne zu überwinden. "Wohin mit dem überschüssigen und offenen Bewußtsein, dem Keim auch der neuen Institutionen? Dorthin, wo
jetzt der Spalt ist! Dorthin, wo der Mensch sich mittels seiner eigenen
Kultur selbst auseinandergerissen hat! Dorthin, wo sich Logos und Bios
getrennt haben, wo der Logos davongezogen ist, um die Position zu
wechseln: vom Organ des Bios zum Agenten der Großen Maschine,
und wo die Wiedervereinigung stattfinden muß.
Genau dort, wo der Spalt aufgerissen ist, liegt die verlorene Ganzheit
des Menschen, liegt die Mitte, von der aus er seine soziale Welt und
seine naturbezogene Praxis maßvoll zusammenhalten könnte."75
74
Mumford, L., Hoffnung oder Barberei. Die Verwandlungen des Menschen, Frankfurt/Main 1981, S. 213f.
75 Bahro, R., Logik der Rettung, a.a.O., S. 241.
73
Forum Umwelt & Entwicklung
Das sichtbarste Phänomen der gegenwärtigen menschheitlichen Entwicklungskrise ist die Zerstörung der sogenannten Umwelt. Die Fakten
über den dezimierten Regenwald, unfruchtbar werdende Böden, aussterbende Arten, Ozonlöcher etc. brauchen hier nicht näher genannt zu
werden, sie sind bekannt. Obwohl das Umweltproblem in den letzten
drei Jahrzehnten zunehmend ins Bewußtsein trat und wachsende Umweltindustrien entstanden, ist der Zerstörungsprozeß ungebrochen. Die
wachsende Umweltindustrie führte zwar zu saubereren Gewässern und
besserer Luft in einigen Zivilisationszentren, doch wirkte sie auf der anderen Seite eher noch problemverstärkend, denn sie erzeugt die Illusion, daß damit alles wieder in Ordnung käme.
Die diesbezüglich enttäuschten Hoffnungen des Umweltgipfels von Rio
1992 und der Nachfolgekonferenz 1997 machten deutlich, daß dem
nicht so ist. Daraus läßt sich zum einen schlußfolgern, daß die bisherigen, auf maximale Naturverwertung gerichteten Strukturen und daran
gebundenen Interessen nach wie vor dominieren. Doch zum anderen
entsteht aus dieser Enttäuschung Raum für eine vielleicht wesentlich
entscheidendere Folgerung: daß der Versuch einer Lösung der Probleme mit den Mitteln, die sie verursachen, zu kurz gedacht ist. Aus dieser
weiteren Sicht begann mit der globalen Zusammenkunft von Rio und
seinen Folgeprozessen eine noch leise, doch menschheitlich neue, weil
erstmals praktische, bisher nur in philosophischen Vorgriffen und Visionen vorhergesehene Tendenz: das Zusammenwirken von Menschen
aller Staaten, Organisationen und Schichten nicht nur an einer gemeinsamen globalen Aufgabe, sondern darüber hinaus in einer den menschlichen Überlebensselbstzweck übersteigenden Verantwortung für das
Überleben auch der anderen Geschöpfe dieser Erde.
Daß diese hier leise begonnene Tendenz mehr ist als eine historische
Eintagsfliege, zeigt sich in den in diesem Prozeß entstandenen und
seitdem allmählich wachsenden Foren Umwelt und Entwicklung. Die
Idee von der Notwendigkeit einer solchen Verbindung ist nicht neu, und
sie trat bereits in verschiedenen Ansätzen in die Welt. Doch weder den
seit Beginn des Jahrhunderts angestrebten Völkerbünden bis hin zur
heutigen UNO, noch den vor zwei Jahrzehnten entstandenen "Grünen
74
Parteien" gelang eine wirkliche Integration, die lebendigen Anfänge
verloren sich weitgehend im Getriebe institutioneller Organisation.
Jetzt, nach dem Zusammenbruch des Scheingegensatzes von Kapitalismus und Sozialismus, dessen ideologischer Riß viele positive Anfänge der letzten Jahrzehnte absorbierte, scheint sich Neues abzuzeichnen: eine Verbündung, nicht nur über staatliche Partikularinteressen,
sondern auch über politisch-ideologische Grenzen, und sogar über die
sich bisher ausschließenden Seinsmodi von Tradition und Revolution,
von Bewahrung und Entwicklung hinweg. Gelingt dem Forum Umwelt &
Entwicklung eine Bewahrung, Konstituierung und Lebendigerhaltung
dieser Integration von Naturbewahrung und globaler Entwicklung,
könnten daraus entscheidende Ansätze einer integralen Menschheit
erwachsen.76
Was dem Forum, das prinzipiell offen, jedoch bisher vor allem ein Organ der organisierten Umwelt- und Entwicklungsverbände ist, zum Ganzen fehlt, sind unmittelbar gelebte Praxen, die Betonung der Subjektivität und deren Verankerung im überpersönlichen Existenzgrund. Es gibt
andere Ansätze, die Schwerpunkte gerade darauf legen.
Sozialökologische Projekte, Communities und global Villages
Es sind mehrere Risse der Moderne, insbesondere der zwischen
Mensch und Natur, der zwischen Leben und Arbeit und der zwischen
Individuen und Gemeinwesen, die den Hintergrund einer weltweit wachsenden, speziell auf deren Integration gerichteten Tendenz bilden.77
Die Namen der entsprechenden Projekte sind vielfältig. Ob Ökodörfer,
Sozialökologische Modellprojekte, Communities oder global Villages. Ihr
Kristallisationsschwerpunkt ist fast immer die Wiederbelebung und
Neuintragration der in der Moderne weitgehend desintegrierten sozialen, seelischen oder intersubjektiven Ebene (siehe III.5.).
76 Näheres zum Forum siehe in den Rundbriefen des Forums Umwelt & Entwicklung,
herausgegeben von der Projektstelle in Bonn, Am Michaelshof 8-10.
77 Eine gute Übersicht über die europäische Gemeinschaftsbewegung bietet: Eurotopia. Leben in Gemeinschaft. Das europäische Projekte-Verzeichnis 97/98, Niedertaufkirchen 1997.
75
Wie alle Erneuerungsbewegungen unterliegen sie dabei der Gefahr,
das Kind mit dem Bade auszuschütten, d.h. in Ersehnung einer neuen
Gemeinschaftlichkeit und in Reaktion gegen die dieser unterdrückende
Moderne in vormoderne Abhängigkeitsverhältnisse bzw. intersubjektive
Verhaftungen zu geraten. Bereits der Begriff "Gemeinschaft" suggeriert
entsprechende Gefahren, weshalb bereits Marx den "Gemeinschaft"
und "Freiheit" integrierenden Begriff von "Assoziation" dagegenstellte.78
Um die Gefahren bloßer Gegenkulturen, die früher oder später an ihrer
Beschränkung zugrunde gehen, zu vermeiden, ist es wesentlich, auch
in sozial-integrativen Neuansätzen bewußt auf Integration zu achten.
Wie fein und diffizil diese Probleme sind, sei am Beispiel von Dieter
Duhms "Zehn Punkten für Gemeinschaften der Zukunft" erläutert.79
Sehr gut und prägnant betont er entscheidende Momente einer erneuerten sozialen Kultur: 1. Gemeinschaften sind notwendig, 2. Das kommunitäre Ich, 3. Individuation, 4. Transparenz, 5. Wahrheit, 6. Gewaltlosigkeit, 7. Freie Liebe, 8. Biotop und Mitgeschöpfe, 9. Autarkie und 10.
Globale Kulturbildung. Diese Prinzipien sind zweifellos lebensnotwendige Bedingungen für Gemeinschaften der Zukunft. Sie betonen die notwendigen Gegenbewegungen zur selbstzerstörerisch gewordenen Kultur der Moderne, die insbesondere an diesen Krankheiten leidet:
1. Es gibt keine den Einzelnen menschlich integrierende Sozialitäten,
2. Daher Isolation der Lebenskräfte der einzelnen,
3. Daher Anpassung statt Selbstsein,
4. Daher Angst statt Vertrauen,
5. Daher Lüge statt Wahrhaftigkeit,
6. Daher Gewalt statt Solidarität,
7. Daher eingesperrte statt freie Liebe,
8. Daher keine Kommunikationsfähigkeit mit anderen Wesen,
9. Daher Ausbeutung anderer statt Leben aus eigener Kraft,
10. Daher geiziges Umklammern des Erbeuteten statt globales Teilen.
78 Marx, K., Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx/Engels/Werke,
Bd. 42, Berlin 1983.
79 Duhm, D., Zehn Punkte für Gemeinschaften der Zukunft, in: ZEGG-Magazin,
21/1995, Belzig 1995.
76
Aber in dieser Hervorhebung der notwendigen Gegenbewegungen liegt
ein Problem und eine Gefahr: Das Problem und die Gefahr der erneuten Isolation auf dem Gegenpol. Wie bereits Marx in seinen "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" formulierte, geht es zwar um
Rückkehr zum Verlorenen, aber um "eine innerhalb des gesamten
Reichtums der bisherigen Geschichte gewordene Rückkehr des Menschen zu sich, als eines natürlichen, d.h. menschlichen Menschen".80
Deshalb will ich an drei zentralen Punkten den positiven Gehalt der modernen Geschichte, gewissermaßen als Gegensatz zu Duhms Gegensatz, einbringen und daraus Beispiele der notwendigen Integration gewinnen.
Der menschliche Geist: "Spirit", wie er in den 10 Punkten als Spiritualität
oft vorkommt, meint insbesondere die aus der wiedergefundenen Allverbundenheit erwachsende Kraft und Weisheit. Diese ist notwendig zu
erneuern, als Ergänzung zum patriarchal vereinseitigten "Geist", der
sich gerade in der Absonderung von Natur, Körper und Psyche entwikkelte. Aber: dieser die Besonderheit des Menschen, seine einzigartige
Fähigkeit zum selbsterzeugten Selbstbewußtsein betonende Geist, darf
nicht mit dem Bade der zweifellos falschen Überhebung ausgeschüttet
werden. Der Mensch ist einerseits nur eines von vielen Kindern des
Universums, des Göttlichen, des Tao oder wie immer es heißen mag; in
diesem Sinne ist er ein gleichberechtigtes Geschwister von Steinen,
Pflanzen und Tieren, nur ein Mitgeschöpf wie diese. Aber er ist zum
anderen Mitschöpfer, begabt mit einer ihn aus Steinen, Pflanzen und
Tieren heraushebenden Fähigkeit: er ist mitgestaltender Teil des Göttlichen. Erst im menschlichen Geist kommt das Ganze zu sich. Es erfährt
und vollendet sich selbst erst im Prozeß des aktiven Einsatzes des
Menschen für die Verwirklichung der Gottheit, für die Bewußtwerdung
und Schönwerdung aller einzelnen Wesen als besonderer Erscheinungen des Ganzen.
Zum Verständnis ein Beispiel: Der Urwald mag urwüchsig lebendig sein,
doch ist er auch voller Grausamkeit, faszinierend, aber nicht "schön".
Der entnaturalisierte, auf dem Tod anderer Arten beruhende Acker ist
nur das gezähmte Gegenbild. Erst der vom Menschen gestaltete Gar80
Marx, K., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Marx/Engels/Werke, Ergänzungsband. Erster Teil, Berlin 1981, S. 467ff.
77
ten, der nicht den Tod, sondern das weise und geschickte Zusammenspiel ursprünglicher und durch Züchtung sogar neu hervorgezauberter
Arten darstellt, gibt uns das Gefühl der "Schönheit" oder "Göttlichkeit".
Diese Faszination des "Garten Eden" als aus der Zukunft wehende Erinnerung scheint sich erst jetzt, nach Durchlauf der Hybris, der Mensch
könnte den Acker beliebig bauen, in den Ideen und Praktiken der Permakulturen oder Waldgärten zu verwirklichen. Nicht als "Natur ohne
Geist" oder "Geist gegen Natur", sondern als Verbündung beider: Permakultur betont ebensosehr die Erhaltung natürlicher Wirkungen wie die
Notwendigkeit menschlichen Planens und Eingreifens.81
Menschlicher Geist ist so mehr als Spirit. Er ist nicht der aus der Einzigartigkeit fehlgeborene Dünkel der Ausbeutung anderer Wesen, sondern
die sich aus dem Zusammenspiel der Fähigkeiten von Wissen, Liebe
und Willen (siehe II.2.7.) ergebende einzigartige Verantwortung für die
Bewußtwerdung, Verbündung und Verschönung aller Wesen und so
des ganzen Seins. Dünkt der Mensch sich als Herr statt als Hüter des
Seins, so zeigt dies nur seine geistige Unreife. Dann ist der menschliche
Geist erst im pubertären Erwachen, muß sich noch unsicher und angstvoll abgrenzen von den anderen Wesen bzw. läßt sich benutzen vom
noch nicht integrierten tierischen Machttrieb. Der zu sich selbst gefunden habende menschliche Geist, wie er in den kulturellen Höhen von
Taoismus, Tantra, Buddhismus und auch des Christentums zu finden
ist, weiß sich als besonders verantwortlich und wirkt dennoch in souveräner Verbundenheit, mit der Natur um sich wie mit dem eigenen Körper.
Mit dem Besonderen des Geistes verbunden ist das Besondere der
Freundschaft, d.h. die besondere Qualität der besonderen Liebe zwischen zwei Menschen: Dieter Duhms "Kommunitäres Ich", "Individuation", "Freie Liebe" und "Partnerschaft" sind wesentlich und wichtig. Doch
sie ersetzen nicht die Bedeutung, die die "Freundschaft" hat für eine
zukünftige Welt.
81
Mollison, B., D. Holmgren, Permakultur. Leben und Arbeiten im Einklang mit der
Natur, Reinbek b. Hamburg 1985. Zur Integration von Natur und Geist in gestalteter
Landschaft vgl. auch: Böhme, G., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt/Main 1994
78
Martin Buber, der vermutliche Inspirator der großen Erneuerungs- und
Gemeinschaftsbewegung der Kibbuzzim und auch der Vater der modernen Kommunikationstheorie, umriß die besondere Qualität der Begegnung von "Ich" und "Du": Erst im Spiegel des mir Gleichen und doch
Anderen Wesens kann ich die wirkliche Besonderheit meines eigenen
Selbst erkennen und erringen. Und erst im "Zwischen" von Ich und Du,
in der aus der Liebe zum Anderen Gleichen geborenen Liebe zu allen
anderen Wesen, ereignet sich das dem Menschen mögliche Göttliche.82
Ähnlich formulierte es Hölderlin im "Hyperion":
"Die Liebe gebar Jahrtausende voll lebendiger Völker; die Freundschaft
wird sie wiedergebären. Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein. Von Pflanzenglück begannen die Menschen und
wuchsen auf, und wuchsen, bis sie reiften; von nun an gärten sie unaufhörlich fort, von innen und außen, bis jetzt das Menschengeschlecht,
unendlich aufgelöst, wie ein Chaos daliegt, daß alle, die noch fühlen
und sehen, Schwindel ergreift; aber die Schönheit flüchtet aus dem Leben der Menschen sich hinauf in den Geist; Ideal wird, was Natur
war...Die Liebe gebar die Welt, die Freundschaft wird sie wiedergebären."83
Eine Gemeinschaft, ein neuer menschlicher Bund hat ohne diese besondere Qualität der Freundschaft keine wirkliche, keine aus der Erfahrung des Universums oder Göttlichen im "Zwischen" von Ich und Du
inspirierte Lebenskraft.
Besonderheiten: Aus der besonderen Qualität der Freundschaft folgt
eine Relativierung des an sich wichtigen und richtigen Prinzips der
Transparenz. So wie ein Gemeinschaftsbund, um als besondere Einheit
zu bestehen, sich (neben der notwendigen Offenheit) von der Gesamtgesellschaft abgrenzen muß, so auch die besondere Einheit innerhalb der Gemeinschaft. Das Besondere ist notwendig auch etwas Besondertes, und nur was - im Rahmen des Ganzen - ein Spiel von Varianten in sich selbst zuläßt, bleibt lebensfähig.
82
Buber, M., Ich und Du, Heidelberg 1983.
Hölderlin, F., Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: Hölderlins Werke, Zweiter Band, Berlin/Weimar 1989, S. 100f.
83
79
Hieraus ergibt sich auch ein gesundes Maß von Weltoffenheit - Transparenz - und Besondertheit - Geheimnis -, welches freie Gemeinschaften, Assoziationen, oder andere, eine Erneuerung des Ganzen
inspirierende Bündnisse auszeichnet: So wie einerseits Geheimbünde
für sich selbst erquickend sein mögen, für die Entwicklung des Ganzen
aber letztlich eher wirkungslos bleiben, so haben andererseits sich nur
als Teile des Üblichen verstehende Gemeinschaften - politische Parteien, Verbrauchergemeinschaften, Wohngemeinschaften etc. - keine besondere Erneuerungskraft.
Deutlich zeigt sich diese Dialektik der Gegensätze bei der letzten großen Kulturerneuerung vor 2000 Jahren. Weder sich geheimbündlerisch
und/oder selbstversorgerisch von der bestehenden Wirklichkeit distanzierende Gemeinschaften wie z.B. die Essener, noch auf bloße Machtverschiebung innerhalb des Üblichen drängende Bewegungen wie die
des Barabas bewirkten etwas über das Alte oder dessen Gegensatz
Hinausgehendes. Wirkliche, d.h. menschliche Erneuerung gelang nur
der Jesusbewegung, die diese beiden Pole - lebendige Gemeinschaften
mit vielfältig erneuertem Lebensstil und zugleich relative Offenheit für
alle und alles - integrierte.84
Club of Budapest
Ein in integrativer Hinsicht sehr weitgehendes Forum bildet sich seit
1992 im Club of Budapest. Entstanden als ein Ableger des vor allem auf
die naturwissenschaftlich-ökonomisch faßbaren Probleme der modernen Welt reagierenden Club of Rome, geht es hier um die Verbindung
und Beförderung neuer Wege des individuellen, sozialen, kulturellen
und geschäftlichen Lebens. Integrativ ist nicht nur der Zusammenfluß
verschiedenster kreativer Ideen, Initiativen und Köpfe - von globalen
Dörfern und innovativ-ökologischen Unternehmen bis hin zu Michael
Gorbatschow und dem Dalai Lama. Dem Club geht es außerdem um
die Begründung und Bildung eines planetaren Bewußtseins, einer globalen geistigen Struktur, welche vielleicht menschheitlich erstmals nicht
84 Siehe diese Mitte gut ausgeführt bei Theißen, G., Soziologie der Jesusbewegung,
München 1977.
80
auf irrational-esoterischen, sondern vor allem auf modernsten, Naturund Geisteswissenschaften integrierenden Erkenntnissen beruht.
Sowohl im Rahmen des globalen Netzwerkes kreativer Persönlichkeiten
und Projekte, als auch durch die wissenschaftliche Begründung eines
universell-wechselwirkenden, den Prozeß der universellen Ko-Evolution
bewirkenden Nullpunkt-Feldes (siehe II.3.5.) erfolgt eine starke Aufwertung, Aktivierung und Integration von menschlicher Subjektivität.
Allerdings bisher vor allem implizite, d.h. die notwendige Bewußtseinsverstärkung menschlichen Mitschöpferseins wird vorausgesetzt, jedoch
nicht als primär betont:
" With a lagging consciousness we fail to perceive some emerging and
possibly critical features of our changing environment. To update and
upgrade our consciousness is in our earnest and immediate interest.
The sciences, the arts and the spiritual domains of experience are many
ways people and societies map their environment. The insights and vision emerging at the leading edge of these diverse fields could inform
our intellect, inspire our emotions, evolve our values and shape our vision. They could enrich and upgrade our consciousness. Yet the leading
edge sciences, the innovative arts and the renewed practices of the spiritual domain evolve in relative isolation from our social, economic and
ecological systems. This separation is intrinsically unreasonable and
has become potentially hazardous. It makes for a failure to exploit precious inputs; for a waste of unique creative resources.
We should do our best, therefore, to articulate and communicate the
emerging world concept of the sciences, to focus and make socially relevant the intuitive insights of the arts and the spiritual spheres. This s a
challange we face individually as well as collectively. To help us meet
this challange ist the purpose of this Report and the basic mission of the
Club of Budapest."85
85 Der Begründer des Club of Budapest, Prof. Ervin Laszlo, veröffentlichte jetzt den
ersten global orientierten Bericht: Laszlo, E., 3rd Millenium: The Challenge and The
Vision. The Club of Budapest Report on Creative Paths of Human Evolution, Gloucestershire 1997. Zitiert nach: The Club of Budapest Viewsletter, Vol. 2, No. 4,
July/August 1997.
In Deutsch: „Mit einem zurückgebliebenen Bewußtsein können wir einige sich herausbildende und möglicherweise kritische Merkmale unser sich verändernden Umwelt
nicht wahrnehmen. Es ist unser aufrichtiges und unmittelbares Interesse, unser Bewußtsein zu aktualisieren und zu erhöhen. Die Wissenschaften, die Künste und die
spirituellen Erfahrungsbereiche bieten viele Wege für Mensch und Gesellschaft, ihre
81
Die bisher dargestellten Ansätze integraler Praxen zielten jeweils bewußt auf die Einholung bedeutsamer Risse. Mehr oder weniger mangelte es ihnen an der entscheidenden der anstehenden Integrationen:
der von menschlichem Subjekt und komplexem Objekt. Hierfür finden
sich andere, wiederum mehr oder weniger das Ganze erfassende, doch
vor allem diesen wichtigen Brückenschlag angehende Ansätze in der
noch jungen Theorie und Praxis des visionären Managements.
5. Menschliches Management
Geist und Materie, Management und Philosophie
Die oben benannten Widersprüche von Umwelt und Ökologie, Umwelt
und Mitwelt, Rationalität und Irrationalität, Subjekt und Objekt haben
eine unmittelbar praktische Bedeutung, sieht man sie als zu integrierende Qualitäten einer zukunftsfähigen Welt. Wie in der Dialektik von Objekt und Subjekt angedeutet, vollzieht sich jede geschichtliche Epoche
durch besondere Qualitäten besonderer menschlicher Subjekte. So ist
zu fragen, welche Subjekte die entscheidenden Akteure der nächsten
Zukunft sind und durch welche Qualitäten sie sich auszeichnen. Diese
Frage ist das Grundthema der gesamten Ausführung, sie soll jedoch im
Umwelt neuzu vestehen. Die Einsichten und Visionen, die an der vorderen Front dieser
verschiedenen Felder auftauchen, informieren unseren Intellekt, inspirieren unsere
Gefühle, entwickeln unsere Werte und formen unsere Vision. Sie bereichern und erhöhen unser Bewußtsein. Doch die neuen Wissenschaften, die innovativen Künste und
die erneuerten Praktiken des spirituellen Bereichs entwickeln sich in relativer Isolation
von unseren sozialen, ökonomischen und ökologischen Systemen. Diese Seperation
ist völlig unverständlich und potentiell gefährlich. Sie führt zur falschen Ausbeutung
bisheriger Investitionen und fördert die Verschwendung einzigartiger kreativer Ressourcen.
Wir sollten deshalb unser bestes tun, das neue Weltbild der Wissenschaften zu artikulieren und zu verbreiten, die intuitiven Einsichten der Künste und der spirituellen Sphären zu fokussieren und sozial anzuwenden. Dies ist ein individuell und kollektiv spürbarer Wandel. Die Aufgabe des Club of Budapest ist es, die Begegnung mit diesem
Wandel zu unterstützen“.
82
folgenden eine erste Antwort erfahren, um auf dieser Grundlage dann
näheres Licht auf die konkreten Qualitäten werfen zu können.
Geht es im abstrakten objektiven Blick um eine Aufhebung der Trennung von Geist und Materie, so deutet das in Hinsicht der konkreten
Subjekte auf eine Integration der diese Abstrakta bisher am prägnantesten präsentierenden Subjektformen von Philosophie/Religion und Management.
Die moderne Gesellschaft prägte zahlreiche Subsysteme wie Politik,
Medien, Bildung etc. aus. Deren funktionale Spezialisierung auf je einen
der gesellschaftlichen Bereiche ermöglicht im Zusammenspiel die Reproduktion der Komplexität des Ganzen.86 Die Herausbildung dieser
Subsysteme vollzog sich dabei nur scheinbar blind oder geistlos, bei
näherem Blick zeigt sich, daß sogar das System der Marktwirtschaft
impulsgebenden geistigen Vorentscheidungen über die bestmögliche
Form allgemeiner Solidarität und Freiheit unterliegt.87
Trotzdem haben die bisherigen Formen dieser funktionalen Differenzierung das Problem einer fehlenden Übersicht und Verantwortung über
das Ganze. Weder die in ihren Teilperspektiven fungierenden Subsysteme, noch die politischen Regierungen als eigentlich zur Gesamtkoordination ausgebildete Organe sind zur Steuerung der Gesamtstrukturen in der Lage. Dies hat zum einen vermutlich strukturelle Gründe. Dezentrale bzw. regionale Selbstorganisationsformen sind bisher ungenügend ausgeprägt, dadurch sind die Zentralregierungen mit Regelbedarf
überlastet und nicht zur strategischen Gesamtentwicklung in der Lage
(siehe konkreter III. und IV.). Zum anderen hat es vermutlich geistigkulturelle Gründe. Zentrale wie auch regionale Organe brauchen entsprechende subjektive Qualitäten, d.h. ausgebildete und bewährte Akteure, die zur Bewältigung von Ganzheiten in der Lage sind. Weder die
kulturelle Tradition noch die bestehenden, auf Teilgebiete und Teilperspektiven ausgerichteten Strukturen bieten bisher Voraussetzungen für
deren Ausbildung und Praxis.
86 Detaillierter dazu siehe bei Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984.
87 Sehr gut verdeutlicht ist dies bei Homann, K., F. Blome-Dress, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992.
83
Doch gibt es einen Bereich, dessen praktische Verantwortlichkeit für
immer komplexere und zunehmend ganzheitliche Subsysteme wachsende Kompetenzen für die Erhaltung und Entwicklung des Ganzen
erfordert. Es ist das sogenannte Management. Nicht zufällig entwickeln
sich in dessen Reihen Ansätze ganzheitlicher Sicht- und Selbstorgansationsweisen. Beispielgebend hierfür ist die St. Gallener Schule. Hans
Ulrich und Gilbert J.B. Probst schreiben: "Mißerfolge bei der Lösung
schwieriger Probleme sind heute vorprogrammiert dadurch, daß wir eine
Problemlösungsmethodik anwenden, die zwar in der Vergangenheit
lange Zeit erfolgreich war, den heutigen Problemsituationen aber nicht
mehr angemessen ist...Die Notwendigkeit einer neuen Denkweise beruht also darauf, daß die Probleme, die sich dem handelnden Menschen von heute stellen, von einer neuen Dimension und Qualität sind,
d.h. eine Charakteristik aufweisen, die sie grundsätzlich von früheren
unterscheidet...Daß uns die Anwendung einer neuen Denkweise erfahrungsgemäß Mühe bereitet, ist nicht darauf zurückzuführen, daß sie
besonders hohe Anforderungen an unsere Intelligenz stellen würde,
sondern darauf, daß sie unseren eingeprägten Denkvorstellungen widerspricht. Sie ist ungewohnt, weil das zergliedernde und isolierende
Denken das Produkt einer mehrere Jahrhunderte andauernden wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklung ist und uns
deshalb als natürliche und einzig logische Denkform erscheint."88
Damit entsteht eine hoffnungsvolle Tendenz im Bereich des Management, dessen notwendige Qualitäten zur ganzheitlichen Führung ganzheitlicher Prozesse die Autoren weitblickend nicht nur für wirtschaftliche
sondern alle gesellschaftlichen Bereiche einfordern. Die zitierte Offenheit für komplexe Weltsichten verdeutlicht jedoch ein weiteres, von den
gegenwärtigen Wirklichkeiten und auch Wissenschaften weitgehend
ausgeblendetes Problem: die Trennung von Materie und Geist, von
Natur- und Geisteswissenschaft. Der allein von naturwissenschaftlichen
Grundlagen ausgehende Versuch, die Komplexität der Wirklichkeit
durch komplexes Systemdenken einzuholen, bleibt ungenügend. Die
gesellschaftliche Wirklichkeit ist ein Ensemble von zugleich materiellen,
sozialen und geistigen Wirkungen (siehe dazu konkreter II.2. und IV.)
88 Ulrich, H., G.J.B. Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln. Ein
Brevier für Führungskräfte, Bern 1995, S. 12f.
84
und verlangt, neben der komplexen Betrachtung der einzelnen dieser
Ebenen, eine integrierende Betrachtung des Ganzen.
Die Spaltung von Materie und Geist, von Natur- und Geisteswissenschaften ist eine so selbstverständliche Voraussetzung der Gegenwart,
daß sie kaum bewußt wird. Obwohl die typischen Vertreter der modernen Wissenschaft, wahrhaftige Physiker wie bereits zu Anfang des
Jahrhunderts Albert Einstein, Wernder Heisenberg oder jüngst besonders Hans-Peter Dürr, bemerkten und einklagten, daß die Wirklichkeit
einer solchen Trennung widerspricht89, gibt es kaum ernsthafte Versuche, diese Kluft zu überbrücken.
Von den theoretischen ebenso wie den praktischen, weitgehend in Teilbereichen befangenen Disziplinen hilft deshalb hier einzig und allein die
Philosophie mit ihrem klassischen, trotz aller Disziplinierung nie verlorenen Sinn für ein liebevolles Verstehen und Denken des menschlichen
Seins als Ganzem.
Ähnlich wie eine vom praktischen Leben relativ getrennte Religion entstand reine Philosophie als Ausdruck eines Geistes, der für seine Entfaltung und Bewahrung Distanz und Schutz vor der noch sehr naturwüchsig beschränkten Menschenwelt brauchte. Dennoch war und ist
Philosophie in ihren Höhepunkten stets eine aus der Intuition des Ganzen inspirierte menschliche Antwort auf reale Erfordernisse der Zeit.
Das sogenannte Management entstand, als die zuerst im wirtschaftlichen Bereich komplexer werdende Gesellschaft Kompetenzen zur entsprechenden, bewahrenden und entwickelnden Selbstorganisation bedurfte.
Jetzt, zu einem historischen Zeitpunkt, an dem die menschlich-geistige
Entfaltung und die Organisation entsprechender materieller Voraussetzungen einander notwendig ergänzende Bedingungen werden, ist eine
Integration der entsprechenden Kompetenzen nicht nur möglich sondern erforderlich. Das von voraussehenden Geistern wie Marx oder
Nietzsche erahnte Ende der Philosophie bedeutet somit ihre Aufhebung
in einer mehr denn je weltzugewandten Form geistiger Praxis.
89 Dürr, H.-P., Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts
über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren, München 1990.
85
Zum Verständnis hilft hier ein zuhöchst interessanter geschichtlichphilosophischer Rückblick: Vor eineinhalb Jahrhunderten, zur Zeit des
sich ausdifferenzierenden Marktwirtschaftssystems, bedurfte es zur Bewahrung der menschlichen Seinsqualität einer Verbündung von Philosophie und Proletariat. Vor allem Marx sah dies und brachte es in den
prägnanten Satz: "Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so
findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen."90
Dieser Gedanke beruhte auf dem Zusammenspiel tiefer philosophischer
Dispute mit praktischer historischer Wirklichkeit. Der philosophische
Disput, wie er sich, ausgelöst durch den praktischen Emanzipationssprung der französischen Revolution, insbesondere im Diskurs von
Fichte über Hegel und Feuerbach bis Marx ausdrückte, betraf wesentlich die Erkenntnis und Begründung der Rolle des menschlichen Subjekts in seiner Beziehung zur Weltgeschichte.
Die praktische Wirklichkeit war der Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft, der Schritt von einer primär "politisch" zu
einer primär "wirtschaftlich" geprägten Entwicklung.
Max Scheler begriff später, mit dem Blick für eine alle diese Epochen
übergreifende Tendenz zur Integration der zuvor äußerlich getrennten
Erscheinungen deren tieferen weltgeschichtlichen Sinn: Die feudale
oder politische, äußerlich von organisierten Herrschaftssystemen mit
Terrain- und Machtkämpfen geprägte Epoche verwirklichte in diesen
Formen tendenziell die Integration der zuvor berührungslos getrennten
Völkerschaften. Nachdem nun die Völker sich in diesem Annäherungsprozeß als gleiche erkennen konnten, bedurfte es einer Aufhebung der
die feudale Gesellschaft prägenden Standesunterschiede; denn diese
verhinderten in ihrer Betonung der Differenzen ein übergreifendes Verständnis der Menschen als Menschen. Durch ihren wirtschaftlichen Erfolg und den damit zunehmenden materiellen Einfluß emanzipierten
sich Teile des dritten Standes und es geschah eine erste Aufhebung
der feudalen Differenzierung. Das sich im wirtschaftlichen Erfolg und
damit wachsenden gesellschaftlichen Einfluß ausprägende Selbstbewußtsein des dritten Standes betraf jedoch nur einen geringen Teil dieses Standes; für die Mehrzahl menschlicher Individuen brachte die
90 Marx, K., Zur Kritik der Hegelschen Rechsphilosophie. Einleitung, in:
Marx/Engels/Werke, Bd. 1, Berlin 1983, S. 391.
86
Umwälzung der sie traditional unterdrückenden Strukturen nicht nur keinen Zuwachs an Selbstbestätigung, sondern sie fielen ins Elend frühkapitalistischer Verhältnisse.91
Die große praktisch geistige Leistung von Marx und seinen Gefährten
bestand darin, diesen von Verelendung und Entmenschlichung bedrohten Schichten ein menschliches Selbstbewußtsein zu erhalten bzw.
zu geben. Ihr sich als falsch erweisender Überschwang, die am meisten
unterdrückten Individuen zum bevorzugten Träger der nächsten geschichtlichen Epoche zu erklären, ergab sich vermutlich aus der
menschlichen, psychologisch wie philosophisch verständlichen Schwäche, von einem Extrem ins andere zu fallen und den Weg der Mitte erst
einmal zu verfehlen.
Die bisweilen skurrilen, statt des Adels oder Bürgertums nun das Proletariat zur Herrschaftskaste stilisierenden praktischen Folgen des
Marxschen Gedankens haben eine Ursache auch im von ihm ungenügend ausgearbeiteten philosophischen Begriff des menschlichen Subjekts. Die Gegenüberstellung der Dimensionen von Materie und Geist,
wie sie sich im Satz der gegenseitigen Ergänzung von Philosophie und
Proletariat findet, vernachlässigt die letztlich entscheidende Qualität
ihres Zusammenspiels in der sozial-seelischen Dimension, d.h. im Menschen. Eine entsprechende Intuition lag dem gesamten Marxschen
Denken zugrunde, wurde aber, im Vergleich zur detaillierten Analyse
des Kapitals oder der Rolle des Proletariats, nicht ausgeführt.92
Marx’ tiefere, von kaum einem seiner Epigonen aufgenommene Sehnsucht ging weit über die von ihm nur als notwendige Übergangsetappe
begriffene "kommunistische Gesellschaft" hinaus. Seine Philosophie
ahnte das fernere "Ziel der menschlichen Entwicklung - die Gestalt der
menschlichen Gesellschaft."93 Daß dies keine humanistische Jugendschwärmerei sondern tiefere Einsicht war, zeigen die sich durch das
gesamte Marxsche Werk hindurchziehenden Variationen dieses Ge91
Siehe die Darstellungen dieser menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse bei Marx, K., Das Kapital, Erster Band, Berlin 1982.
92 Eine gute Diskussion zum positiven Gehalt der Marxschen Theorie siehe bei: Immler, H., W. Schmied-Kowarzik, Natur und Marxistische Werttheorie, Kassel 1986; siehe
dazu auch Hosang, M., Der Mensch in den Evolutionsschichten der Selbstorganisation.
Zur Rehabilitierung von Marx, Diss. A, Berlin 1990.
93 Marx, K., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Marx/Engels Werke, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1981, S.546.
87
dankens. Besonders interessant sind seine kurzen Bemerkungen vom
erst später zu erwartenden "Ende der Vorgeschichte der Menschheit
und dem Beginn der eigentlichen Menschheitsgeschichte". Interessant
deshalb, weil geäußert in der "Einleitung zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie".94 Hierin wird das tiefere, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Hegel ausgetragene Ringen um einen Begriff des
Zusammenspiels von Sinnlichkeit und Geist im Prozeß der menschlichen Entwicklung deutlich. Während noch Fichte, in der Euphorie der
Französischen Revolution, den Gehalt des Geschichtsprozesses in der
Dialektik von Ich (Subjekt, Geist) und Nicht-Ich (Materie, Objekt) erkannte, sah der die Restauration erlebende Hegel einen letzten Sinn
des Weltprozesses nur im sich selbst erkennenden reinen Geist. Marx,
der mit Hilfe Feuerbachs die lebendige Sehnsucht der Sinnlichkeit wiederfand, erkannte den an der menschlich-geistigen Durchdringung der
Sinnlichkeit, Gewohnheit oder Materie zu messenden Selbstwerdungsprozeß des Menschen als höchsten Gehalt.
So findet sich am Grunde der Marxschen Philosophie jener Gedanke,
der am deutlichsten von Johann Gottlieb Fichte begründet und ausgeführt wurde: Die Selbstwerdung des menschlichen Subjektes, des universellen "Ich", die sich jedoch nicht im Abstrakten sondern nur in lebendiger Auseinandersetzung mit der objektiven Realität, dem "NichtIch", vollzieht. Dieses "Ich" ist dabei kein nur vereinzeltes Ego, sondern
als Teilhabe an der universellen, auch als göttlich begreifbaren Schöpferkraft oder Subjektivität zu verstehen.
Um das Gewicht, die Richtigkeit oder Wahrheit dieses Gedankens zu
verstärken, sei an dieser Stelle noch ein Bezug zur vermutlich bedeutsamsten östlichen Philosophie, zum Zen, gestattet. Aus völlig anderen
Wurzeln und Historien enthält er doch wesentlich dieselbe Botschaft:
Der Mensch auf seinem Lebensweg bewältigt verschiedene Hürden und
Stufen, und in diesem Prozeß entdeckt er zunehmend sich selbst; doch
sich selbst nicht als einzelnes und von den Dingen beschränktes Ego
sondern als Teil des universellen Selbst oder Ich. Und aus dieser
Selbsterkenntnis erwächst das Mitgefühl, die helfende Liebe und Mitschöpfungskraft für alle anderen Wesen dieser Welt. "Wer einmal sei94 Marx, K., Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx/Engels
Werke, Bd. 13, Berlin 1985, S. 11ff.
88
nen eigenen lebendigen, wunderbaren, wachen Geist gesehen hat, hat
das gleiche Bewußtsein wie alle Buddhas."95
Transdisziplinäre Ansätze im Management
Wie das Management in der Philosophie seine geistige, so findet die
Philosophie im Management ihre materielle Verwirklichung.
Diese Parodie auf den oben zitierten, historisch überholten Marxschen
Satz von Philosophie und Proletariat ist in konkreteren Ausführungen
aus seiner abstrakten Verkürztheit zu befreien. Genausowenig wie das
Proletariat an sich, d.h. alle dieser Klasse oder Schicht zugehörigen Individuen, Vertreter der menschlichen Emanzipation oder geschichtlichen Evolution waren, genausowenig ist es das Management an sich.
Doch genauso wie die damalige Funktion im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß einige Vertreter der Klasse zur Entwicklung eines
menschlichen Selbstbewußtseins und praktischer Kompetenzen zur
Beförderung entsprechender Bedingungen begünstigte, genauso ist zu
erwarten, daß insbesondere Vertreter des Managements, infolge ihrer
besonderen Rolle im zunehmend immer ganzheitlichere Führungsqualitäten erfordernden Reproduktionsprozeß, bevorzugt Chancen zur
Entfaltung der menschlichen Kompetenzen für die Gestaltung einer integralen Wirklichkeit entwickeln.
Wichtig ist es, festzuhalten, daß die genannte Integration von Management und Philosophie keine rein willkürliche Idee, keine nur theoretische
Spekulation ist, sondern die Tendenzen der gesellschaftlichen Praxis
selbst zunehmend dahin drängen. Deshalb finden sich hervorragende
Beispiele ganzheitlicher, teilweise sogar materielle und geistige Ebenen
integrierender Ansätze in der vordenkenden Managementliteratur:
"Auf der Suche nach neuen Denkansätzen", und aus der Erkenntnis,
daß zur Bewältigung der steigenden gesellschaftlichen Komplexität
ganzheitliches Denken erforderlich wird, entwickelte Knut Bleicher sein
"Konzept Integriertes Management". Es bezieht neben den traditionellen
95
Bodhidharmas Lehre des Zen. Frühe chinesische Zen-Texte, München 1990, S. 47.
89
harten Gestaltungsfaktoren (Unternehmensverfassung, formale Rahmenordnung für Zielfindung und Interessenausgleich) die "weichen"
einer "Unternehmenskultur" (kognitive und affektive Dimensionen) als
für das Ganze mitentscheidend ein. Er plädiert für eine ganzheitliche,
neben den ökonomischen auch die ökologischen und sozialen Belange
einbeziehende Verantwortungspolitik.
Zuhöchst interessant ist die grundlegende Dreigliederung in normatives,
strategisches und operatives Management (siehe unter II. die drei ontologischen Schichten und unter III. die Gedanken zur gesellschaftlichen
Dreigliederung); wobei er deutlich macht, daß die grundlegenden Entscheidungen über Erfolg oder Mißerfolg eines Unternehmens auf der
höchsten, der normativen Ebene fallen. Dazu bedarf es einer "Management-Philosophie" als Integrator aller Ebenen und Teilbereiche.96
Auf dem Sankt Gallener Konzept des systemischen und integrierten
Management aufbauend und diese mit anthropologischen Erkenntnissen verbindend, entwickelte der innovative Unternehmensberater Andreas Mascha sein Konzept des holistischen Marketing-Managements.
Es zeichnet sich aus durch eine als "holistisch" bezeichnete Option für
wirkliche, d.h. alle relevanten Ebenen von Wirtschaft, Sozialität und
Geist einbeziehende Ganzheitlichkeit. Diese begründet auch die Zielbestimmung des Marketings und Managements: In ganzheitlicher Sicht
geht es nie allein um höchstmöglichen Absatz oder Gewinn, dieser wäre
immer nur kurzfristig, sondern optimalerweise zugleich um die anderen
Dimensionen, mit dem letztendlichen Fokus einer menschlichen Gesellschaft. Ziel ist es dabei, "weniger moralische Imperative herzuleiten, als
vielmehr die ökonomische Sinnhaftigkeit eines Sozio-MarketingManagements zu fundieren", dessen Hauptfokus nicht allein unternehmenspolitischer sondern auch gesellschaftspolitischer und sinnhafter
Natur ist.97
Die Ebene von Geist oder Sinn sieht er zukünftig verstärkt ins Licht
auch der wirtschaftlichen Aufmerksamkeit rücken. Sie wird zunehmend
bedeutsam, sowohl unter dem Blickwinkel eines ökologisch und
menschlich verantwortbaren Marketings als auch hinsichtlich der inter96
Bleicher, K., Das Konzept Integriertes Managment, Frankfurt/Main, New York 1991.
Mascha, A., Holistisches Marketing - eine zukunftsfähige Managementstrategie,
Manuskript, Landau 1997, S. 2.
97
90
nen Selbstorganisation der Unternehmen, die die wachsende gesellschaftliche und wirtschaftliche Komplexität und die anstehenden
Wandlungsprozesse nur durch entsprechend offene, fließende und am
Ganzen orientierte Formen erfolgreich bewältigen können. In dieser
Hinsicht vielversprechend ist das von Mascha angedachte flowManagement. Es knüpt an die Chaos- und Komplexitätstheorie und an die
flow-Theorie des transdisziplinär denkenden Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi welcher auf der Grundlage moderner Wissenschaft ein
Konzept der Verbindung von Individuum und Universum im evolutionären Prozeß entwickelte.98 Ziel ist eine für Unternehmen und Initiativen
aller Art wirksame Methodik, um durch Selbstwahrnehmung des Unternehmers und Unternehmens im übergreifenden, komplexen und chaotischen Prozeß eine höhere Integration von wirtschaftlichen, sozialen und
geistigen Erfolgskriterien zu bewirken.99
Die Unternehmenswissenschaftler Ulrich und Probst widmen in ihrer
"Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln" der geistigen Ebene - als sinngebend - Raum und weisen auf das Zusammenspiel materieller und geistiger Ebenen für die nicht einfach vom abstrakten Management sondern von bewußt handelnden Menschen zu vollziehende
Mitgestaltung ganzheitlich verantwortbarer Ordnungsmuster hin. "Ökologische und soziale Systeme sind also notwendigerweise nicht-triviale,
komplexe Systeme. Nur wenn wir diesen Tatbestand anerkennen, können wir lernen, gedanklich und faktisch vernünftig mit ihnen umzugehen. Das bedeutet in erster Linie, daß wir es aufgeben, genaue Prognosen über den Zustand solcher Systeme in einem zukünftigen Zeitpunkt
X machen zu wollen, und daß wir die Illusion aufgeben, ein solches System vollständig unter Kontrolle halten zu können..."
Auf der Grundlage einer der Komplexität und Ganzheitlichkeit der Wirklichkeit gerecht werdenden inneren Einstellung und Handlungsorientierung "können wir auch hoffen, die Umwelt bewältigen zu können. Das
heißt aber nicht, daß wir sie beherrschen, aber doch, daß wir Verständnis erreichen und eventuell Einfluß nehmen oder Vorsorge treffen können. Ordnung bewältigt Komplexität. Es ist daher eine wesentliche Auf98
Csikszentmihalyi, M., Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Eine Psychologie
für das dritte Jahrtausend, Stuttgart 1995.
99 Mascha, A., flowManagement, unveröffentlichte Manuskripte.
91
gabe in sozialen Systemen, gestaltend Ordnung zu schaffen und lenkend Ordnung aufrecht zu erhalten. Dies geschieht einerseits auf der
materiellen Ebene durch das Entwerfen, Evaluieren und Implementieren
von Organisationsmitteln wir Organigrammen, Stellenbeschreibungen,
Vorschriften usw.. Ordnung ist jedoch komplementär auch auf der symbolischen oder geistig-sinnhaften Ebene gestaltend und lenkend zu
schaffen und ‘unter Kontrolle’ zu halten."100
Ähnlich denkt der Management-Vordenker Gerd Gerken. Für ihn ist
auch die Epoche der Strategie im bisherigen, beherrschbar gedachten
Sinne vorbei. "Die Märkte sind evolutionär und chaotisch geworden.
Deshalb versagt die Rationalität der strategischen Planung." Statt Dynamik, Kampf und Konfrontation geht es in Zukunft um Evolution, Dynamik des geplanten Zufalls und evolutionäre Planung. Während die
klassische Betriebswirtschaftslehre die Steuerung von Energie beschreibt, geht es mehr denn je darüber hinaus um die Erweckung von
Energie. Und wenn zukünftig alle bisherigen Strategien versagen, sind
ganzheitlich gebildete Manager gefragt, als Rückgrat, als "Elite" unserer
Zukunft. Diese "Helden des Chaos" sind in der Lage, Offenheit, Instabilität, Spontaneität, Tempo, Komplexität und Paradoxa zu managen. Sie
spiegeln in sich die universelle, nicht lineare, sondern am Rande des
Chaos webende Ordnung und Energie wider, das Tao. Dieses, d.h. die
Kraft des universellen Werdens nutzen kann nur, wer in sich entsprechende mentale Formen bereitstellt. Wer sich befähigt hat zur geistigen
Selbstformung, wer die Evolution in geistiger Weise in sich sehen, führen, mitgestalten kann.101
Ähnlich sehen Gay Hendrick und Kate Ludemann die Integration von
Management und Geist oder Mystik als das entscheidende Prinzip zukünftiger Entwicklung. Sie glauben, das bereits heute die beste, d.h. im
Zusammenfall von Predigt und Praxis lebendige Mystik nicht in Kirchen
oder Holzhäusern sondern in der Geschäftswelt zu finden ist und be100
Ulrich, H., G.J.B. Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln. Ein
Brevier für Führungskräfte, Bern/Stuttgart/Wien 1995, S. 62ff.
101 Gerken, G., Manager...Die Helden des Chaos. Wenn alle Strategien versagen.
Düsseldorf/Wien/New York/Moskua, 1992, S. 20ff. Oder auch ders., Der neue Manager, München 1995.
92
schreiben die Qualität und Prinzipien dieser besonderen Menschen, die
führende Kräfte in den Unternehmen des 21. Jahrhunderts sein werden.102
Einen anderen, nicht weniger notwendigen Akzent der zukunftsfähigen
Organisationskunst entwickelt R. S. Tomek. In Anlehnung an die Philosophie Epikurs betont er, daß die einseitig materielle Gewinn-, Besitzund Statusorientierung nicht nur die Erde zerstört, sondern auch keineswegs die bestmögliche Wertsteigerung, die er in umfassender und
solidarischer Lebensfreude erkennt, bewirkt. Um die linear-rationale
Denk-, Lebens- und Wirtschaftsweise durch Berücksichtigung der sinnlich-emotionalen Energien, Freuden und Werte zu überwinden, entwirft
er ein „Synergiemanagement“ und begründet eine wahrhaft integrale,
die Prinzipien von Ökonomie, Ökologie, Geist und Kunst integrierende
Theorie und Praxis, die Integrated Art (siehe auch IV.3.).103
Im Sinne dieser Synthese von Management und lebendigem Geist gelang der amerikanischen Unternehmensberaterin Laurie Beth Jones ein
erstaunlicher Brückenschlag: Sie suchte und fand die gemeinsamen
Prinzipien von zukunftsoffenem Management und des an uralte Weisheiten anschließenden und damit einst eine ganze Welt erneuernden
Jesus Christus. Als drei entscheidende Stärken eines von Visionen geleiteten Führungsstils erkennt sie:
* Die Stärke der Selbstführung und Persönlichkeitsentwicklung
* Die Stärke der Handlung
* Die Stärke der Beziehungen.
Verblüffend verwandt den unten (II.2.) aus der Sicht einer Ontologie und
Anthropologie erkannten drei grundlegenden Potenzen des Menschen wir nennen sie dort Liebe (Beziehung), Wissen (Handlung) und Selbst
(Selbstführung) -, beschreibt sie die durchschlagende Wirkung, wenn
102
Hendricks, G., K. Ludeman, The Corporate Mystik. A Guidebook für Visionaries
with the Feet on the ground, New York 1996.
103 Tomek, R. S., Erfolg durch Synergie. Das Management der Zukunft, Frankfurt/Main
1993.
93
Menschen oder Manager eine optimale Kombination dieser drei Stärken
entwickeln.104
Im direkten Zusammenwirken eines Managers und Philosophen entstand "Zukunft im Kopf. Wege zum visionären Unternehmertum". Anhand zahlreicher plastischer Beispiele begründen sie den folgenden
Gedanken: "Jede Epoche drückt sich in einem Prototyp aus, in dem sie
sich wiedererkennt. Im Zeitalter der Renaissance war dies der Künstler,
im Zeitalter der Aufklärung der Philosoph, im Zeitalter der industriellen
Revolution der Techniker. Der Prototyp aber der Epoche, an deren
Schwelle wir heute stehen, wird der Unternehmer sein.
Sind die Unternehmer bereit, diese Führungsrolle zu übernehmen?
Nur wenn sie bereit sind, Visionen zu entwickeln. Denn Visionen sind
die Keimzellen des Fortschritts. Ohne sie gibt es morgen keine Gegenwart."105
Auch dieser Begriff des Unternehmers geht weit über die bisherige, einseitig wirtschaftlich und rational gedachte Qualität des modernen Managers hinaus. Ähnlich wie in den zuvor aufgeführten Ansätzen wird auf
die bedeutende Rolle eigenaktiver, die Risse moderner Praxis durch
ganzheitliche Kompetenzen transzendierender Subjekte verwiesen.
Doch diese Transzendenz kann nur gelingen, wenn die äußere Kompetenz integriert wird mit einer neuen innerlichen Qualität. Um ein konkretes Verständnis dieser, im besten Sinne des Wortes „menschlich“ zu
nennenden Kompetenzen geht es im folgenden.
104
Jones, L. B., Jesus Christus Manager. Biblische Weisheiten für ein visionäres Management, Wien 1996.
105 Magyar, K.M., P. Prange, Zukunft im Kopf. Wege zum visionären Unternehmen,
Freiburg 1993, S. 289ff.
94
II. Was ist der Mensch
1. Zwischen Oben und Unten, Außen und Innen
Was ist der Mensch? Diese ewige Frage hob Kant als die neben allen
anderen letztenendes entscheidende Frage aller Philosophie und Wissenschaft heraus.106 Zugleich aber nahm er ihr, durch seine strikte
Trennung von Empirie und Ethik, von Physik und Metaphysik, von Sinneserfahrungen und den unserer Erfahrung enthobenen letzten Dingen,
die eigentliche Schärfe und Bedeutung. Damit machte er den Weg frei
für eine von seelischen, geistigen oder ethischen Problemen losgelöste
Wissenschaft.
Diese Kantsche Trennung war nicht der Anfang des Trennungsprozesses, jedoch ihr begründetes Siegel. Den deutlichen Anfang setzte Descartes. Das Hauptproblem großer Denker war bis dahin die Begründung der letztlichen Einheit des Seins. Noch der große Systematiker
des Mittelalters, Thomas von Aquin, bemühte sich vor allem um den
Beweis, daß die inneren und die äußeren Erkenntnisweisen, daß Glauben und Vernunft zwei gleichberechtigte Wege zum Selben sind. Descartes hingegen "entdeckte" den unüberbrückbaren Unterschied, der
die beiden Reiche von ausgedehnter und geistiger Substanz, von Materie und Geist trennte, die für ihn jedoch noch in Gott verbunden waren.
Und wie der realgeschichtliche Prozeß die Kraft von Religion und Kirche
zur Bewahrung dieser übergreifenden Einheit schwächte, so verbannte
Kant schließlich mit der Macht des Begriffes die Einheit oder Gott in den
Bereich des nicht wirklich faßbaren Übersinnlichen.
Diese praktische und theoretische Trennung ist nicht zu verurteilen, sie
ist selbst ein Moment in der Logik der Geschichte, denn erst ihr Vollzug
ermöglichte die Emanzipation des Menschen von den ihn bisher geistigbannenden, übergreifend-übermächtigen Entitäten, auf die er die eigenen Mitschöpferqualitäten projizierte. Vom bloßen Geschöpf der Götter
befreite er sich zum Selbstschöpfer. Teil davon und Folge war der
enorme Aufschwung der diese Trennung und Emanzipation voraussetzenden Wissenschaften und Techniken.
106
Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1971.
95
Nicht die Trennung und Emanzipation an sich ist das Problem sondern,
wie jede Revolution oder Reaktion, der nach jahrtausendelanger Unterordnung und Nichtentfaltung der menschlichen Sehnsucht unvermeidbare Fall in das andere Extrem. Der Mensch wurde nicht einfach ein
freies, in der Zwiesprache mit dem Universum mitschöpfendes Wesen,
sondern emanzipierte sich von allem ihn Umgreifenden; mit der Folge
einer vorher nicht möglichen seelisch-geistigen Verödung und Sinnleere. Die äußere Folge dieses von jeglicher übergreifender Einbindung
oder Sinnbestimmung abstrahierenden technisch-instrumentellen oder
zweckrationalen Handelns wird heute als Zerstörung von der "Gottheit
lebendigem Kleid" (Goethe), der Natur oder Umwelt allenthalben sichtbar.
Diese strikte Trennung ist das Phänomen der Moderne, betrifft ihren
Alltag, ihre Wirtschaft, ihre Wissenschaft, ihre Philosophie, ihre Religion
und wirkt am stärksten im unmittelbaren Bereich aller Gesellschaft, im
ganz persönlichen Bereich der lebendigen Menschen. Hier ist es wahrnehmbar als dumpfe Leere, als Fehlen lebendiger Energie und Inspiration. Da die zur Gesellschaft gehörigen und ihrer Stabilität in welcher
Form auch immer dienenden Subsysteme von Wissenschaft, Philosophie oder Religion Teil dieses Risses sind, bleibt er offiziell verborgen.
Nur die tieferen, weniger vom Gegebenen abhängigen als dem Ewigen
verpflichteten Organe sensibler Künstler drücken es um so prägnanter
aus. Da die Wahrnehmung dieses Risses entscheidend ist, kommen
einige der deutlichsten und eindringlichsten Stimmen darüber hier zu
Wort:
Franz Werfel benennt und erhellt diesen Riß in seinem Werk "Innen und
Außen": "Der Mensch (verliert) sein Gewicht als kosmisches Wesen.
Das ist der geistige Sinn, der geheime Zweck der Metropolen. Sie sind
Fluchtstätten, Schlupfwinkel, in denen man sich vor der tieferen Lebenswirklichkeit komfortabel verkriechen kann. Hier, in Maschinenhallen, in Büros, Kinos und Cafés, überwindet der Mensch das niederdonnernde Gefühl, was er auf seiner ätherumbrausten Sternenfahrt in
Wahrheit ist und nicht ist...Wenn Geistigkeit der enthusiastische
Schreck vor dem alltäglichen Lebenswunder ist, so verjagt sie die Geistigkeit. Selbstverständlich sind Tag und Nacht, man sieht die Welt vor
Menschen nicht, der Raum wird zum Lokal, die Zeit zur Arbeitsstunde,
96
die man bezahlt erhält, oder zur Vergnügungsstunde, die man bezahlen
muß. Von der Selbstverständlichkeit, in der das Urerstaunen (das
Thaumazein des Aristoteles) erlischt, werden die starken Seelenkräfte
eingeschläfert, bis sie zu einem lauen Zynismus verdämmern...
Hinter dem narkotischen Nebel des Getriebes hockt die strafende Todesangst...Sie ist mehr noch die Angst vor dem Nichts...Das Leben will
sich gegen das Nichts versichern...
Die Welt...ist eine Sanatoriumswelt geworden. Allenthalben wimmelt es
von Mystikern der Hygiene, von Yogis der Kosmetik, von Propheten der
Verjüngung und von Fakiren des Stoffwechsels. Letztere triumphieren
mit ihrem Evangelium des Darms selbst über die Affendrüsen der Verjünger...
Da die ewige Verbundenheit fehlt, ist die zeitliche Bindung zerrissen.
Liebes- und beziehungstaub keucht ein Ich am anderen vorbei.
Die einzige Antwort auf diese Situation ist alt: Wenn alle Wege verstellt
sind, so bleibt nur der Weg nach oben. Menschliches Leben kann es
ohne transzendentale Verbundenheit nicht geben."107
D.H.Lawrence beschreibt es ähnlich in seinem Essay über das Leben:
"Was ist denn das wahre Leben?...Das ist die große Frage. Und die
Antworten sind alte Antworten. Aber jede Generation muß die Antwort
auf ihre Weise fassen. Was mir ein gutes Lebensgefühl verschafft, ist
das Empfinden, daß ich lebendig bin, selbst wenn ich krank bin, lebendig bis in die Tiefen meiner Seele und Kontakt habe, daß ich irgendwo
mit dem lebendigen Leben des Kosmos Kontakt habe. Irgendwie zieht
mein Leben Kraft aus den Tiefen des Universums, aus den tiefen interstellaren Räumen, aus der großen ‘Welt’. Aus der großen Welt beziehe
ich meine Stärke und meine Sicherheit. Man könnte auch "Gott" sagen,
doch das Wort ‘Gott’ ist diskreditiert. Aber es gibt sehr wohl eine Flamme oder ein Ewiges Leben, das sich immerfort durch den Kosmos
schlingt und das uns erneuert, wenn wir einmal in Kontakt zu ihm kommen.
Wenn die Menschen den Kontakt zu dieser ewigen Lebensflamme verlieren und rein privat werden, Wesen an sich, statt in der Lebensflamme
brennende Wesen, dann beginnt der Kampf zwischen Mann und Frau.
107
Werfel, F., Zwischen Oben und Unten, München/Wien 1975, S. 60-62
97
Man kann ihn genausowenig verhindern, wie man den Einbruch der
Nacht oder den Regen verhindern kann...
Dann bleibt dem (Menschen) nichts anderes übrig, als sich wieder dem
Leben zuzuwenden; sich wieder am Leben zu orientieren, das unsichtbar im Kosmos fließt und ewig fließen wird, alle Lebewesen erhaltend
und erneuernd.
Wie kann man erneuert, neu geboren werden, belebt werden?...Kein
Trick mit den Drüsen oder Sekreten, mit Naturkost oder Drogen wird
helfen. Auch keine Offenbarung oder Botschaft. Es kommt nicht darauf
an, etwas zu wissen, sondern darauf, etwas zu tun. Es kommt darauf
an, wieder zum lebendigen Zentrum des Kosmos Kontakt aufzunehmen."108
Für Hölderlin war es das vielfach umkreiste Grundthema seines "Hyperion": "O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große
verloren; so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein
Komet aus fremden Himmeln.
Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sage es auch. Nur
muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich erstikken, wenn sie nicht gerade zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser
kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit
Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem
Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf,
so stoß er’s mit Verachtung weg und lerne pflügen!...
Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der
Staat. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen.
Aber was hilft die Mauer um den Garten, wenn der Boden dürre liegt?
Da hilft der Regen vom Himmel allein.
O Regen vom Himmel! O Begeisterung! Du wirst den Frühling der Völker uns wiederbringen.
Wie unvermögend ist doch der gutwilligste Fleiß der Menschen gegen
die Allmacht der ungeteilten Begeisterung.
108
Lawrence, D.H., Das Wahre, in: Überlegungen zum Tod eines Stachelschweins,
Leipzig 1992, S. 196f.
98
Sie weilt nicht auf der Oberfläche, faßt nicht da und dort uns an, braucht
keiner Zeit und keines Mittels; Gebot und Zwang und Überredung
braucht sie nicht; auf allen Seiten, in allen Tiefen und Höhen ergreift sie
im Augenblick uns, und wandelt, ehe sie da ist für uns, ehe wir fragen,
wie uns geschiehet, durch und durch in ihre Schönheit, ihre Seligkeit
uns um."109
Für die wesentlichen Philosophien aller Zeiten war die entscheidende
Frage gerade die nach dem Zusammenspiel von Natur und "Gott", Materie und Geist etc. im Menschen. Dies, die Sichtbarwerdung des Wahren, Guten und Schönen im alltäglichen Denken und Treiben, bewegte
Sokrates, den Inspirator gedanklich gefaßter Philosophie und seine
großen Nachfolger, ob Plato, Aristoteles oder Plotin. Auch Spinozas
"Ethik", als eine der erneuernden Konzeptionen der Neuzeit, kreist um
das Zusammenspiel von natürlichen Affekten und freien, aus wissender
Liebe zum Ganzen oder Göttlichen schöpfenden Inspirationen im Menschen.
Die Weiterdenkenden dieses Jahrhunderts - insbesondere Scheler,
Heidegger, Gebser, Aurobindo und Bahro -, die früh die nunmehr offensichtlichen Probleme prognostizierten, richteten ihre Aufmerksamkeit
vor allem darauf, den Riß aufzuheben. Max Scheler begriff es als "die
höchste Aufgabe der Geschichte, die an sich blinde Trieb- und Interessenkausalität mit den Forderungen des Geistes zur Deckung zu bringen". Das Geistige kann die Triebstrukturen des Lebendigen nicht außer Kraft setzen, sie "bilden die Materie aller geistigen Ordnung". Aber
möglich ist eine Harmonisierung der Natur, des Lebens, der Triebwelt.
Und dies ist der letztlich wesentliche Inhalt der menschlichen Geschichte. Diese ist dabei kein kontinuierlicher Prozeß, vielmehr ein Ringen, "die partielle, fragmentarische, überall realfaktorisch gehemmte
und unterbrochene zeitliche Darstellung eines inneren zeitlosen Prozesses im Weltengrund - ein immer unterbrochenes Gespräch Gottes mit
dem Menschen"110.
109
Hölderlin, F., Hyperion, in: Hölderlins Werke, Zweiter Band, Berlin/Weimar 1989, S.
66f.
110 Scheler, M., Philosophie und Geschichte, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Bonn
1990, S. 157ff.
99
Nicht zufällig haben die Hauptwerke zweier der einflußreichsten Denker
und Werke der jüngeren Zeit fast identische Titel: Max Schelers Herangehen in "Die Stellung des Menschen im Kosmos" ist innerlich und äußerlich verwandt der von Teilhard de Chardin in seinem "Der Mensch im
Kosmos". Der "Kosmos", dessen Begriff das Zusammenspiel der einzelnen Dinge und zugleich deren Einheit in einer übergreifenden, "göttlich", "metaphysisch" etc. zu nennenden Ordnung faßt, findet sein Pendant im ebenfalls beide Dimensionen fassenden "Menschen". Der
Mensch als "Mikrokosmos" des "Makrokosmos" meint dasselbe. Wichtig
hervorzuheben bei beiden Werken Schelers und Chardins ist, daß dieses Zusammenspiel kein nur allgemein prognostiziertes, sondern sich in
der Darstellung selbst konkret und umfassend spiegelndes ist. Beide
verbinden die detaillierte Kenntnis und Darstellung der naturwissenschaftlich faßbaren Seiten des Menschen mit der Vergegenwärtigung
und Darstellung der metaphysischen Fragestellungen. Sehr deutlich
wird dies im einführend bereits genannten Gedanken Schelers: "Wenn
es eine philosophische Aufgabe gibt, deren Lösung unser Zeitalter mit
einzigartiger Dringlichkeit fordert, so ist es die einer philosophischen
Anthropologie. Ich meine eine Grundwissenschaft vom Wesen und vom
Wesensaufbau des Menschen; von seinem Verhältnis zu den Reichen
der Natur (Anorganisches, Pflanze, Tier) wie zum Grund aller Dinge;
von seinem metaphysischen Wesensursprung wie seinem physischen,
psychischen und geistigen Anfang in der Welt; von den Kräften und
Mächten, die ihn bewegen und die er bewegt; von den Grundrichtungen
und -gesetzen seiner biologischen, psychischen, geistesgeschichtlichen
und sozialen Entwicklung, sowohl ihrer essentiellen Möglichkeiten als
ihrer Wirklichkeiten."111
Diese Fragestellung steht im Zentrum der folgenden Ausführungen.
Gemäß den bisherigen Ausführungen geht es dabei sowohl um die naturwissenschaftliche Erkenntnis als auch um die geisteswissenschaftliche, metaphysische Wahrnehmung und Vergegenwärtigung. Im Mittelpunkt aber steht letztlich ein neues, modernes Verständnis des Zusammenwirkens, der Integration beider Dimensionen im Menschen und
111
Scheler, M.: Mensch und Geschichte, in: ders.: Späte Schriften, Bonn 1995, S. 120.
100
durch den Menschen, denn jede einseitige Betrachtung verfehlt und
verhindert die Entfaltung seiner Möglichkeiten:
"Der Mensch hat sich in seinem uns bekannten Werdegang bis heute
als ein Wesen von ungeheurer Plastizität erwiesen. Darum ist jede philosophische Gesinnung die größte Gefahr, die Idee des Menschen zu
eng zu fassen, sie unversehens nur aus einer naturhaften oder gar nur
historischen Gestalt herzuleiten oder sie in eine solche enge Idee hineinzusehen. Die Idee des ‘animal rationale’ im klassischen Sinne war
viel zu eng; der ‘homo faber’ der Positivisten, der ‘dionysische Mensch’
Nietzsches, der Mensch als ‘Krankheit des Lebens’ in den neuen panromantischen Lehren, der ‘Übermensch’, der ‘homo sapiens’ des Linne,
der ‘l´homme machine’ Lamettries, der nur ‘Macht’-, nur ‘Libido’-, nur
‘Wirtschafts’mensch von Machiavelli, Freud und Marx, der gefallene
gottgeschaffene Adam - alle diese Vorstellungen sind viel zu eng, als
daß die den ganzen Menschen fassen dürfen. Es sind das ferner alles
gleichsam Ideen von Dingen. Der Mensch aber ist kein Ding - er ist eine
Richtung der Bewegung des Universums selbst, ja seines Grundes. Der
Mensch ist ‘Mikrokosmos und geisterfülltes Lebewesen’ - ich hoffe, diese Ideen sind nicht bereits zu enge Maschen für die Fülle seiner Möglichkeiten und Gestaltungen. Also Raum für den Menschen und seine
wesensunendliche Bewegung, und keine Fixierung an ein ‘Beispiel’, an
eine sei es naturhistorische oder welthistorische Gestalt!
Jenes Goethesche tiefe Wissen: ‘Ist nicht der Kern der Natur Menschen
im Herzen?’, jenes Drinnensein in der ‘natura naturans’ selbst, jenes
innere dynamische Mitoperieren mit dem großen umfassenden Werdeprozeß, aus dem jedes Naturgebilde hervorquillt, es ist etwas ganz anderes als mathematische Naturwissenschaft! Ein solches Wissen von
inner her ist einer großen Kultur fähig auch für einzelne Gebilde der
Natur, nicht nur als allgemeine dionysische Teilhabe am kosmovitalen
Sein. Dieses Wissen veredelt und beglückt den Menschen, während die
Naturwissenschaft ihn klüger und mächtiger macht, Natur zu ordnen
und zu beherrschen."112
112
Scheler, M., Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs, in: Späte Schriften, ebenda,
S. 151 u. 163.
101
Naturwissenschaft auf der einen und innerliches Wissen auf der anderen Seite liefern bisher zwei in verschiedenen Perspektiven betrachtete
Bilder ein und desselben Wesens Mensch. Meist geht die Naturwissenschaft, im Dienst dieser oder jener affektiven Lebensbedürfnisse, nach
außen und ergibt Bilder und Rezepte besserer Verwendung und Beherrschung der äußeren und inneren Natur. Aus der Verzweiflung über
die Sinnleere eines ausschließlich verwertenden und so nur beschränkt
verstehenden Herangehens entsteht dann - wie historisch bisher vor
allem in den östlichen Geistestraditionen - eine Abkehr vom Außen und
eine Versenkung in metaphysische Innerlichkeit. Beide Sichtweisen bewirken abgegrenzt voneinander die Spaltung und alle deren Folgen. Da
sie letztlich dasselbe Objekt/Subjekt Mensch meinen, dürften sie sich
nicht nur nicht ausschließen, können und müssen sie sich vielmehr ergänzen zu einem integralen Bild und Selbstbewußtsein von Mensch und
Erde.
Erst ihre Integration ergibt die zur wirklichen Selbsterkenntnis und damit
zur menschlichen Selbstwerdung notwendige Mitte. Es geht, wie führende Vertreter der Kognitionswissenschaft betonen, um einen „Brükkenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung“, wozu ein Dialog der beiden Traditionen von westlicher Erkenntnistheorie und östlicher Meditationspsychologie notwendig ist. Dadurch können die Wissenschaften des Geistes ihren Horizont erweitern
und die im menschlichen Geist „angelegten Möglichkeiten der Transformation erschließen“.113
Dementsprechend widmet sich Abschnitt II.2. der modernen Naturwissenschaft vom Menschen und spürt darin die Hinweise auf seine besondere, über naturwissenschftliches Denken hinausgehende Qualität
auf. Abschnitt II.3. widmet sich einer Differenzierung der inneren Sichtweisen und versucht die Integration beider, die Begründung eines wissenschaftlich und intuitiv verständlichen Bildes vom Menschen, seinen
Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten im Angesicht des Kosmos.
113
Varela, F., E. Thompson, E. Rosch, Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung,
Bern/München/Wien 1992, S. 9ff.
102
2. Die naturwissenschaftliche Perspektive: Der Mensch in den
Evolutionsschichten der Selbstorganisation
Das Sein und der Aufbau der realen Welt
Was ist "Sein" überhaupt?
Dies heißt u.a. zu fragen, warum ist überhaupt etwas?
Es heißt auch zu fragen, wie ist es möglich, daß etwas, das in sich
selbst aus verschiedenen Teilen besteht, als Ganzes es selbst bleibt,
also über längere Zeit als dasselbe Eine in wechselnden Räumen, Zeiten und anderen Bedingungen sich bewegt.
Und es heißt zu fragen, was dieses "Sein" subjektiv, für das jeweilige
Seiende bedeutet.
Die erste Frage fragt nach einem über das einzelne Dasein hinausgehenden allgemeinen Seinsgrund und Sinn. Dieser ist nur intuitiv zu entscheiden, und es hängt offenbar von der Wahrnehmung und der Lebensentscheidung des Individuums ab, ob sich ihm das Ganze als zufälliges Geschehen, als naturgesetzliche Evolution oder als göttliches
Spiel darstellt.
Die dritte Frage bedarf ähnlich der ersteren einer inneren Haltung, ob
ich mich für ein gleichsam tierhaftes Dahinleben im Alltag und Dunkel
meiner Triebe und Bedürftigkeiten oder für einen Versuch des Mitschöpfertums in Verantwortung und Liebe für mich und anderes entscheide bzw. nicht entscheide. Es sind sogenannte metaphysische Fragen und Entscheidungen, die über die mit unseren Sinnen beobachtbaren Phänomene hinausgehen und für die wir besondere übersinnliche
Wahrnehmungen entwickeln können oder auch nicht. Dazu bedarf es
meist besonderer Übungen, die je nach Tradition als Gebet, Kontemplation oder Meditation erscheinen, deren Gehalt aber derselbe ist: Es
sind Wege und Formen für die Vergegenwärtigung und Vollbringung
des Bezugs des Menschen zum Wesen des Seins als Ganzem.
Auf die zweite Frage gibt es konkretere Antworten, die uns helfen können, relativ unabhängig von den Antworten auf die anderen Fragen
Grundlagen menschlichen Handelns und Hinweise für seine Stellung im
Ganzen zu erkennen.
103
Wie oben begründet, ergeben sich die besten Antworten dabei im Zusammendenken der menschheitsgeschichtlichen Weisheit mit den konkreten Wissenschaften der Gegenwart.
Seinsschichten und Hierarchien
Es gibt von den Wissenschaften erfaßte und mehr oder weniger konkret
begriffene Erscheinungen wie Quarks, Atome, Moleküle, Planeten, Zellen, Organe, Lebewesen, Horden, Gesellschaften etc. Diese Gebilde
sind auch unseren Sinneswahrnehmungen mehr oder weniger zugänglich. Zu erkennen, daß alle diese Gebilde nicht beziehungslos nebeneinander existieren, sondern in- und übereinander geordnet und verschachtelt sind, bedarf eines hinter die Oberfläche der Erscheinungen
dringenden Gedankens. Und noch mehr Gedankenarbeit ist erforderlich, wenn man verstehen will, wie dieses Zusammenspiel funktioniert.
Wichtige Grundlagen für eine solche Synthese finden sich bei Nicolai
Hartmann in seinem Versuch einer neuen Ontologie, die wesentliche
Kategorien eines konkret-differenzierenden und doch zugleich ganzheitlichen Verständnises der menschlichen Wirklichkeit bereitstellt. Er integrierte die seinerzeit, d.h. bis zur Mitte unseres Jahrhunderts, verfügbaren Ergebnisse aller Wissenschaftsgebiete, um jenseits der traditionellen philosophischen Einseitigkeiten von Materialismus und Idealismus
einen "Neuen Begriff der Realität" zu finden und damit ein sich im Ganzen verankert wissendes Selbstbewußtsein des Menschen und seiner
Möglichkeiten zu begründen. Hartmanns Wirklichkeitsbegriffe bieten die
Voraussetzungen, um die besonderen menschlichen Möglichkeiten
nicht nur intuitiv zu ahnen, sondern auf der Grundlage einer mit den
konkreten Wissenschaften harmonierenden Ontologie, d.h. einer Lehre
vom Sein, auch denkend zu begründen. Da ein solches ganzheitliches
Selbstverständnis für die menschliche Zukunft entscheidend ist, seien
die wichtigsten Erkenntnisse Hartmanns hier kurz erfaßt.
Ähnlich wie vor und nach ihm entscheidende Denker - von Aristoteles,
über Spinoza, Fourier bis hin zu Rupert Riedl oder Ken Wilber - sah er,
daß die Vielfalt der Wirklichkeit kein bloßes Nebeneinander unendlicher
einzelner Dinge oder Erscheinungen ist. Sie sind vielfältig miteinander
104
vernetzt, ineinander geordnet, und dies nicht nur auf horizontaler Ebene
sondern ebenso in vertikaler Hinsicht. Atome sind Teile von Molekülen,
diese von Zellen, diese von Lebewesen, diese von Gruppen etc. Und
damit der Mensch verstehen kann, was er selber in dieser Vielfalt ist,
braucht er das Wissen vom inneren, unseren Sinnen verborgenen Sein
der Dinge und darüber, welche grundlegenden Zusammenhänge die
Dinge durchziehen.
Hartmann erkannte und beschrieb die horizontale und vertikale Vielfalt
nicht nur als Vielfalt sondern auch als von fundamentalen Wirkungszusammenhängen durchzogen.
Die Vielfalt des Seins ist aus verschiedenen, sich im jeweiligen Aufbau
stark voneinander unterscheidenden Schichten aufgebaut. Er hob dabei
vier fundamentale Schichten, die er auch als Seinsstufen bezeichnete,
heraus: Materielles, Lebendiges, Seelisches und Geistiges. Diese bestehen nicht nebeneinander sondern in- und aufeinander, sie bilden
einen hintergründigen Überbauungs- und Überformungszusammenhang
nicht aufeinander reduzierbarer Seinsschichten. Wichtig dabei ist, diese
nur gedanklich heraushebbaren Stufen zu unterscheiden von den einzelnen Seinsgebilden. Diese sind nicht Gebilde einer Schicht, sondern
enthalten, je nach Höhe ihrer selbst, auch alle niederen Schichten in
sich.
Diese fundamentalen Weltbegriffe werden im Wissen der Gegenwart
konkreter verständlich als evolutiv entstandene und unendlich vernetzte
Relationsgefüge von selbstorganisierenden Systemen verschiedener
Komplexitätsniveaus. Die in vielen Wissenschaftszweigen aufkommende Idee der Selbstorganisation ermöglicht erstmals eine Schließung der
bisherigen Lücke zwischen dem Denken des Ganzen und dem Verständnis konkreter Zusammenhänge. Eine Liaison der Selbstorganisationswissenschaft mit den Kategorien Hartmanns führt zu einem Begriff
des Menschen, der seine besonderen Möglichkeiten als weltimmanente
und doch erst durch individuell-menschliche Einsätze verwirklichbare
Möglichkeit klärt.
105
Das Gesetz der Stärke und das Gesetz der Freiheit
Hartmann zeigte, daß die Wirklichkeit weder allein von unten, von einer
mehr oder weniger substantiellen Materie, noch allein von oben, von
einem völlig losgelöst die Welt schaffenden und gestaltenden Prinzip
oder Geist her erklärbar ist. Vielmehr gilt es, die Determination realer
Gebilde sowohl durch Zwänge von unten als auch durch Wirkungen
höherer, freierer Wirklichkeiten zusammenzudenken. Dazu hob er aus
der vielgestaltig-konkreten Realität fundamentale Seinsschichten heraus, die sich durch je eigene Prinzipien oder Gesetze ihres Seins voneinander unterscheiden. Deren ontologischer Erklärungswert besteht im
Verständnis ihres Zusammenwirkens, das er als Überbauung oder
Überformung der weniger komplexen, "niederen", durch komplexere
und damit freiere, "höhere" Seinsweisen sah. Die "niederen" Schichten
sind Voraussetzungen "höherer" Strukturen, die sich erst auf deren
Grundlage als komplexere Systeme organisieren und erhalten können.
Die komplexere, energetisch differenziertere und so "weichere" Realität
kann ihre jeweilige Grundlage nicht verlasssen, sie kann sich nicht verselbständigen, ihre vorausgesetzten Existenzbedingungen nicht vernachlässigen. Sie kann und muß aber deren Wirkungen für sich, durch
selbstorganisiert-selektive Nutzung relevanter Effekte, effizieren. Die
niedere Struktur bildet somit die Grundlage, sie ist von der höheren
nicht außer Kraft zu setzen, ohne daß letztere sich damit selbst auflöste. Dieses unaussetzbare Getragensein der höheren Schichten von
den niederen ist ein Grundgesetz der Wirklichkeit, das Grundgesetz der
Dependenz oder das "Gesetz der Stärke".
Es wird ergänzt durch das "Gesetz der Freiheit". Die Abhängigkeit der
höheren Seinsschicht beeinträchtigt nicht ihre Autonomie. Die niedere
ist für sie nur der Boden, auf dem sie ihren Spielraum für eigene Gestaltungen, Formen und Gehalte eröffnet. Sie gestaltet durch eigene
Qualitäten und nach eigenen Gesetzen eine besondere, nicht auf die
niederen Wirkungen reduzierbare Wirklichkeit. So ist das biotische Leben zwar getragen vom Physikochemischen, aber sein Artenreichtum
und das "Wunder der Lebendigkeit" stammen nicht daher. Ebenso ist
das Seelisch-Geistige gegenüber dem Leben ein Novum. "Dieses Novum, das mit jeder Schicht neu einsetzt, ist nichts anderes als die Selbständigkeit oder ‘Freiheit’ der höheren Kategorien über den niederen.
106
Es ist eine Freiheit, welche die Abhängigkeit auf ihr natürliches Maß
einschränkt“114.
Selbstorganisation, Selbstreferenz und Selbstsein
Das Eigentliche, das Erstaunliche und das zu Verstehende ist, mit Aristoteles gesprochen, nicht das, wovon etwas abhängt sondern das ist
"das Seiende, insofern es ist, - ...das, was an ihm von ihm selbst her
besteht".115 Hier ergibt sich das Problem des Durch-sich-selbst-Seins
der Wirklichkeit, welches modern Selbstorganisation heißt.
Um die in dieser Abstraktheit schwer vorstellbaren Zusammenhänge zu
verdeutlichen, illustrieren wir sie im folgenden durch konkrete Beispiele;
Planetensystem, Katze und Liebesbeziehung sollen dabei die drei fundamentalen Seinsebenen repräsentieren.
Etwas, ein Besonderes - wie z.B. ein Planetensystem, eine Katze oder
eine Liebesbeziehung - existiert nur, indem es sich unterscheidet von
anderem Bestehenden, sich abgrenzt von der Umgebung und sich als
dies besondere und abgegrenzte Etwas selbst erhält; d.h. indem es sich
beständig als dasselbe, besondere, abgegrenzte Etwas neu erzeugt.
Dabei müssen die internen Prozesse und Wirkungen - zwischen den
Elementarteilchen des Planeten, zwischen den Organen der Katze oder
zwischen den Gefährten der Liebe - so aufeinander abgestimmt sein,
sich selbst so koordinieren, daß eine relative Stabilität der Wechselwirkungen besteht und so das besondere Etwas sich nicht auflöst.116
Eine Neubildung, die infolge zufälliger, eigen- oder außenbedingter
Fluktuationen in einem System entsteht, stört, bevor sie sich für die
Fortexistenz des Ganzen als sinnvoll erweisen kann, zuerst einmal die
bestehende Harmonie der Wirkungen. Sie erzeugt ein momentanes
Ungleichgewicht, das erst später - sofern es nicht von der stärkeren
114
Hartmann, N., Das Problem des geistigen Seins, Berlin 1962, S. 17 ff. Siehe auch
seine Spätschrift: Hartmann, N., Neue Wege der Ontologie, 1947.
115 Aristoteles, Metaphysik, 1003a.
116 Dieses eingepegelte interne Gleichgewicht der Systemerhaltung ist zu unterscheiden von den notwendig instabilen Phasen der Entstehung diese Systeme. Entstehen
können neue Dinge nur fern vom Gleichgewicht des vorher Bestehenden. Vgl. dazu
Prigogine, I., Vom Sein zum Werden, München 1987.
107
Harmonie zerstört wird oder seinerseits das Ganze zerstört - integriert
und als Moment eines neuen, komplexeren Zustandes eingepegelt werden kann. Das entscheidende Problem jeder Mutation oder Veränderung ist so nicht in erster Linie der mögliche Nutzen für die Reproduktion des Ausgangssystems, sondern der besondere Integrator oder "Attraktor", der das neue, das jetzt komplexere System als komplexeres
erhält; der dessen Bestehenbleiben organisiert, indem er die Wechselwirkung der einzelnen Komponenten unter Einbeziehung der neuen
Momente neu integriert, neu aufeinander ab- oder einstimmt. Maßgebend für die Existenz jedes selbstorganisierenden Seienden oder Systems ist so die Art und Weise seiner Integration, seiner inneren Abstimmung oder, in der Sprache der Wissenschaft, seiner Selbstreferenz.
Jedes selbstorganisierende Gebilde ist referentiell geschlossen. Kein
äußeres Ereignis, nur es selbst kann durch seine besondere referentielle Integration die Zugehörigkeit und die Zustände seiner Komponenten bestimmen; nur es selbst kann die internen und externen Gegebenheiten in seinem Sinn, entsprechend seiner momentanen Gesamtsituation, selbsterhaltend miteinander harmonisieren.117 Ein einmal eingespieltes Planetensystem koordiniert als Ganzes die Bewegungen der
einzelnen Körper, ein Katzenorganismus lebt nur beim Aufeinanderabgestimmtsein aller inneren und äußeren Organe, und eine Liebe zweier
Menschen stimmt deren Gefühle und Gedanken in einer übergreifenden
Melodie.
Selbstreferenz ist das eigentliche Problem jedes selbstorganisierenden
Systems, jedes durch-sich-seienden Gebildes - und damit auch das
entscheidende Problem jeder Veränderung oder Evolution. Ein komplexeres System kann entstehen nur durch integrativere Referenzmodi,
durch Modi, die in der Lage sind, stets den Zustand des Ganzen als
Gesamtheit der komplexeren Funktionen im Moment präsent zu halten.
117
Diese referentielle Geschlossenheit ist zu unterscheiden von der zuvor ausgeführten Umweltoffenheit, der Durchlässigkeit der selbsterzeugten Grenzen für systemunterhalten-de Syntropie. Der gegebene kurze Abriß der Theorie der Selbstorganisation
ist mein Fazit vieler konkreterer Darstellungen, insbesondere bei: Prigogine, I., Natur,
Wissenschaft und neue Rationalität, in: Kröber, G., H.J. Sandkühler (Hrsg.), Die Dialektik und die Wissenschaften, Köln 1986; und die verschiedenen Aufsätze in: Krohn,
W., Küppers, G. (Hrsg.), Selbstorganisation - Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig 1990.
108
Da steigende interne Komplexität auch differenzierterer Negentropien
bedarf und dazu die Außenwelt differenzierter filtert bzw. beeinflußt,
geht sie außerdem einher mit zunehmender Umweltrepräsentanz. Die
universelle Evolution ist so zugleich Inversion: je komplexer das Gebilde, desto integrierter referiert es sich und seine Außenwelt im Moment.
So ereignet sich eine sich potenzierende Verinnerlichung der Wirklichkeit: "ein Weg, der zu einer gesteigerten Ur-Sprünglichkeit des Seins
von Seiendem führt. ‘Von-selbst-Sein’ metamorphosiert sich in Richtung
‘Selbstsein’"118. Die intuitive Ahnung "eines Zu-sich-selbst-Kommens
des Seins im menschlichen Subjekt" begreift sich im Spiegel des
Selbstorganisationswissens als im Sinn der Evolution liegende Realität.
Sternstunden der Evolution
Die Evolution schöpft neue Gebilde im Normalfall durch mehr oder weniger starke Modifikationen bisheriger Formen. Gelegentlich ergibt sich
aus dem Zusammenspiel bisher getrennter Momente eine neue Emergenz, eine besondere, nicht einfach aus den Ausgangsmomenten erklärbare Qualität. Dies illustriert sich sehr gut am Beispiel der Evolution
der Urvögel, trifft aber vermutlich ebenso für alle evolutiven Sprünge, so
auch für die Entstehung des Menschen, zu. Die hierfür notwendige
Gleichzeitigkeit von Tausenden von Mutationen und Selektionen ist allein von unten, durch Versuch und Irrtum der Natur, nicht erklärbar. Hier
wirkte offenbar ein vom Universum - ob von uns Idee, Tao, Gott, Urgrund oder wie auch immer genannt - einströmendes übergreifendes
Evolutionsprinzip.119 Relativ selten aber geschah und geschieht dabei
folgendes:
Die neugebildete und zuerst auf alte Weise integrierte Funktion birgt
selbst ein besonderes, ein noch integraleres Potential für Selbstreferenzen. Zuerst zufällig entstanden, wird sie zum Ausgangspunkt einer völlig
118
Blankenburg, W., Zur Subjektivität des Subjekts aus psychopathologischer Sicht,
in: Nagl-Dozekal, K.v. (Hrsg.), Tod des Subjekts, Oldenburg 1987, S. 167.
119 Zum Einfluß der nicht von "unten", sondern von "oben" wirkenden Momente der
Evolution siehe die naturwissenschaftliche Begründung bei: Lewin, R., Die Komplexitätstheorie. Wissenschaft nach der Chaosforschung, Hamburg 1993, S. 124ff.
109
neuen Seinsschicht, einer unendlich komplexeren Qualität von Selbstorganisation. Durch ihr besonderes Potential ist die neue Funktion in
der Lage, unendlich weitere, der vorhergehenden Seinsweise unmögliche interne Strukturen und Außenweltwirkungen zu integrieren. Die vorherige entscheidende Referenzform sinkt dabei - im Maß der Entfaltung
des neuen Potentials - zum untergeordneten, nur noch als Grundlage
relevanten, durch das höhere Sein überformten Funktionsmoment. Solche fundamentalen Evolutionssprünge, in denen neue Seinsschichten
entstanden, scheinen sich in der dem Menschen zugänglichen Realität
mindestens dreimal ereignet zu haben, bzw. noch zu ereignen, da der
letztere, die Verwirklichung freien Menschseins durch Befreiung aus
dem Tierreich, bisher noch nicht gelungen ist:
A - Die Entstehung des physikalischen Universums; darin dann der
Quarkstrukturen, Atome, Sonnensysteme und Erdatmosphären, in denen sich schließlich präbiotische Ursuppe bildete. All diese Gebilde referieren, integrieren, organisieren sich durch elementare Wechselwirkungen, wobei anfangs die Kern-, dann die gravitativen und im chemischen Bereich die elektromagnetischen Wirkungen dominieren.120
B - Die Entstehung des "Urgens", der in der Ursuppe gebildeten Hyperzyklen von RNS und Enzymen; wodurch dann DNS-kernhaltige Zellen,
sich homöostatisch und später affektiv-triebhaft verhaltende Organismen und Arten und schließlich instinktiv organisierte Tiergruppen möglich wurden. Bioenzyme oder Hormone und Gene, bzw. die beiden zugrunde liegenden wenigen Peptide, referieren in ihren Konzentrationen
und Wechselwirkungen die Zustände aller beteiligten Organe dieser
Lebensformen.121
C - Die Entstehung des Menschen als Individuum und Gemeinschaft;
seiner Soziokulturen, ob ursprüngliche Gemeinschaften, Hochkulturen
oder moderne Gesellschaften - sie sind wirklich, lebendig, solange die
Interaktionen der Individuen bzw. Teilgruppen untereinander und mit
120
Konkreter zu diesen Evolutionen siehe: Jantsch, E., Die Selbstorganisation des
Universums, Wien 1979; und Mayr, E. (Hrsg.), Evolution, Heidelberg 1985.
121 Zur konkreten Evolution und Selbstorganisation dieser Seinsschicht siehe Eigen,
M., Das Urgen, Halle 1987; und Ermisch, A., Gehirne und Gefühle, Leipzig 1985.
110
ihrer Umwelt beseelt sind von einem Geist. Eine Kulturgemeinschaft
integriert, referiert oder stimmt sich je besonders in ihrem "Geist der
Zeit". Dieser ist kein übernatürliches Wesen, sein Geheimnis sind besondere, die Individuen miteinander und zugleich mit dem Ganzen verbindende Potenzen.
Bedürfnisse, Affekte und höhere Gefühle
Der Mensch als jüngste und daher vermutlich mit den höchsten Möglichkeiten begabte Schöpfung des Universums integriert alle diese drei
Seinsebenen. Deren erste ist die energetisch-materielle Grundlage, und
der Mensch braucht, um sich nicht entropisch aufzulösen, sondern höherwertige Energie zur Unterhaltung aller seiner Lebensvorgänge zu
haben, die beständige Zufuhr von Negentropie. Die subjektive Seite
dieser Notwendigkeit wird hier und im folgenden erfaßt als "materielle
Bedürfnisse". Daß menschliches Sein sich nicht auf dieser Ebene, in
der Aufnahme und Verarbeitung von materieller Energie und der Befriedigung materieller Bedürfnisse, erschöpft, ist leicht verständlich. Schwerer, weil beide Wirklichkeiten sich in subjektiv ähnlichen Prozessen von
nervaler und hormoneller Selbstreferenz organisieren, fällt die Vergegenwärtigung des Unterschiedes der beiden höheren Ebenen.
Baruch Spinoza, der als einer der ersten Philosophen der Neuzeit die
Selbsterkenntnis der inneren Natur des Menschen als entscheidendes
Problem des menschlichen Daseins erkannte, sah auch die Wesensverschiedenheit zweier Arten von Leidenschaften: Die einen, wie Ehrgeiz oder Haß, erzeugen nur inadäquate Ideen der Dinge und sind ihrer
Natur nach Leiden; wir erliegen ihnen, sie affizieren uns. Durch die anderen dagegen sind wir eigentlich tätig, es sind Seelenstärke und Edelmut, die ein vernunftgemäßes und sich vervollkommnendes eigenes
Sein und ein ebensolches der Anderen ermöglichen. Sie beruhen auf
wahren Ideen unseres Selbst und der Dinge, ihnen entspringt die "intellektuelle Liebe zu Gott" als Teil "der beständigen und ewigen Liebe
zu Gott oder der Liebe Gottes zu den Menschen", damit entsteht Glückseligkeit oder Freiheit. Ähnlich bestimmte in unserem Jahrhundert Lew
111
Wygotski "höhere Gefühle", als eine im Vergleich zu elementaren Leidenschaften "grundsätzlich neue Stufe des Seins", durch ihre "Intentionalität...in ihrer sinnvollen, verständlichen Verbindung mit ihrem Objekt".122
Der deutliche Unterschied beider Ebenen wird begreiflich, wenn wie
oben die Formen ihrer jeweiligen Selbstreferenz vergegenwärtigt werden.
Die einen - Angst, Macht etc. - sind organisch-affektiv selbstorganisiert,
die anderen - insbesondere Liebe, Wissen und Selbst - sind Momente
der geistig-kulturellen Selbstorganisation.
Die Affekte dienen der Aufrechterhaltung des organismischen Lebens;
sie filtern dementsprechend die gesamte Realität in unmittelbarem und
engem Bezug zu diesem Leben. Darüber hinaus sind sie blind. Carl
Amery nennt sie unser tierisches Erbe, welches 98,8 % des menschlichen Verhaltenspotentials ausmacht. Als wesentlich für eine mögliche
Zukunft begreift er die dem Menschen gegebenen 1,2 Prozent freien
Anlagen.123 Diese "freien Anlagen" bergen das Geheimnis, welches den
Menschen zum Menschen machte. In ihnen verbirgt sich die Potenz, die
in weitgehend unbewußter Wirkung einst die ersten Menschengruppen
aus der affektiven Enge von Tierhorden herausführte. Und es ist zu
vermuten, daß die bewußte Vergegenwärtigung dieser in der menschlichen Natur schlummernden, bisher weitgehend unbewußt-spontan wirkenden Anlagen ein entscheidendes Ereignis ist, um Mensch und
Menschheit zukünftig zum wirklichen, d.h. selbstbewußten Wesen zu
entwickeln. Nur so könnten die durch hochentwickelte Technologie potenzierten Engstirnigkeiten des "geistigen Tierreichs" (Hegel) moderner
Zivilisation einen Ausweg aus der sonst fast unvermeidlichen Selbstzerstörung finden. Deshalb ist ein möglichst konkretes wissenschaftliches
Verständnis und darauf aufbauendes gesellschaftliches Ausbilden der
besonderen, den Menschen in seiner inneren Natur vom inneren Tierreich abhebenden Qualitäten eine er wichtigsten Aufgaben zukünftigen
Menschseins.
122
Spinoza, Ethik, III. und V.; und Wygotski, L.S., Spinoza und seine Lehre von den
Gefühlen im Lichte der heutigen Psychoneurologie, in: ders., Ausgewählte Schriften,
Bd. 1, Berlin 1985, S. 363ff.
123 Amery, C., Die Botschaft des Jahrtausends, München 1994, S. 31ff.
112
Humanitas - Der Mensch als wissend-liebendes Selbst
Wie und wodurch erhob und erhebt sich der Mensch aus seinem inneren Tierreich? Indem mit ihm eine völlig neue Referenzpotenz für ein im
Vergleich zum Vorherigen unendlich komplexeres Seiendes zur Welt
kam. Indem ihm Organe oder Anlagen wuchsen für selbstorganisierende, durch-sich-seiende Wirklichkeiten, die intern und extern unendlich
integrativer als Bisheriges sind. Unsere im folgenden dargestellten Untersuchungen deuten auf drei Humanitas - auf drei Wurzeln des
Menschseins, deren Keime bereits beim höheren Tier auffindbar sind,
die sich jedoch erst während der Anthropogenese evolutiv erweiterten
und zugleich eine einander potenzierende Integration, Fulguratio,
Emergenz erfuhren:
Wissen:
Ein Planet steht mit anderen Himmelskörpern in gravitativer Wechselwirkung, darüber hinaus jedoch hat er keine Bezüge, geschweige denn
Empfindungen für differenziertere Realitäten. Ein Tier, wie z.B. die Katze, bemerkt die Außenwelt im Rahmen ihrer Lebensfunktionen, ob als
Lebensfeind, als Nahrung oder als Paarungspartner; sie ist nicht empfindungs- oder wahrnehmungsfähig für die Lebewesen an sich, für deren komplexe Selbstorganisation. Der Mensch aber kann über affektgeleitete Abbilder, die ihn wie die Tiere nur auf eigenzentrierte Verzerrungen anderer Dinge und Lebewesen beschränken, diese auch als
solche, d.h. in deren komplexer Organisation wahrnehmen. Keime dieser Befähigung bildeten sich im Tierreich mit den sensiblen Trieben für
Neugier und Spielverhalten. Daneben bildeten sich bei in komplexen
und rasch wandelnden Umwelten lebenden Arten wie Ratten oder
Gemsen, und insbesondere bei greifkletternden - vor jedem Griff ihre
konkrete Situation erfassen müssenden - Affen besondere Ein-SichtsFähigkeiten. Bei der Menschwerdung verstärkten sich diese Anlagen:
längeres Jung- bedeutet auch längeres Neugierigsein, und das komplexere Großhirn spiegelt differenziertere Umweltgebilde. Letzteres geschieht nach wie vor im Modus der Ein-Sicht oder Intelligenz, die auch
mittels Sprachsymbolen alle Dinge nur räumlich vor-stellen und sie be-
113
stenfalls be-greifen kann.124 Höheres oder verstehendes Wissen, Vernunft und Geistigkeit entstehen erst, wenn diese Intelligenz sich mit Liebe paart.
Liebe:
Ein Planet ist den anderen nur gravitativ verbunden. Die Katze verbindet
sich mit reizenden Partnern, doch das wechselseitige Interesse ist beschränkt auf den Vollzug der ererbten Triebe. Menschen können sich
darüberhinaus liebend - das Andere als besonderes Seiendes wahrnehmend, achtend und fördernd - aufeinander und auf alles Seiende
beziehen. Diese außerordentliche Fähigkeit entstand in jenen "Sternstunden der Evolution", in denen mit der Nachwuchsfürsorge der Säugetiere erstmals Freundlichkeit in die Welt kam. Hier bildete sich jener
sensible Trieb, der im Unterschied zu allen anderen Trieben nicht andere Wesen für meine Befriedigungen benutzt, sondern der mich für das
Dasein Anderer bewegt. Hier wurzelt alles höhere Gefühl, das im Unterschied zu elementaren Affekten nicht meine Lüste oder Unlüste unsensibel auf andere überträgt, sondern mich in deren Stimmung einstimmt
und mich so sie verstehend macht.
Diese im Vergleich zur vorhergehenden Evolution neuartige Fähigkeit
entstand zuerst in der Mutter-Kind-Beziehung und war so nur den mütterlichen Organismen zu eigen. Seine besondere, auch für andere Lebensbereiche sinnvolle Qualität wurde dann im Prozeß der Anthropogenese ausgelesen und erweitert. Zuerst noch in der organisch-genetischaffektiven Schicht: In Richtung homo sapiens geschah eine Aufweichung der Geschlechtergrenzen, damit wurden auch männliche Wesen
der Gattung, zumindest potentiell, liebesfähig.125
Vladimir Solovev begriff den tieferen Sinn dieses im Verhältnis zu allen
anderen qualitativ besonderen Gefühls: "Der Sinn und die Würde der
Liebe als eines Gefühls bestehen darin, daß sie uns veranlaßt, wirklich,
mit unserem ganzen Wesen einem anderen jene unbedingte, zentrale
Bedeutung zuzuerkennen, die wir kraft des Egoismus nur in uns selbst
empfinden. Die Liebe ist nicht als eines unserer Gefühle wichtig, sondern sie ist es dadurch, daß sie unser ganzes Lebensinteresse aus un124
Siehe dazu Lorenz, K., Dir Rückseite des Spiegels, München 1979.
Siehe dazu Eibl-Eibesfeldt, I.v., Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1984, S. 340ff.
125
114
serem in ein anderes Sein verlegt, daß das Zentrum unseres persönlichen Lebens selbst verlagert wird."126
Das beim Menschen natürlich angelegte höhere Gefühl kann sich kulturell entfalten, nicht nur Kinder, sondern Freunde, Gemeinschaften, Tiere, Bäume und potentiell alles Seiende werden so liebend wahrgenommen, in ihrem besonderen Dasein erkannt, bewahrt und befördert. Da
Liebe an sich und insbesondere die universell-entfaltete vor allem eine
Möglichkeit ist, bedarf ihre Verwirklichung noch eines besonderen
Selbst-Bewußt-Seins.
Selbst:
Ein Planet ist an sich nur die Gesamtheit der physikalischen Wirkungen
seiner Elemente, er ist allen strukturell ähnlichen Einwirkungen offen
und wirkt ebenso nach außen. Das Tier grenzt sich ab, ist so für-sich als
Gesamtheit der referentiell zugehörigen Organe und Instinkte und wirkt
auch auf die Außenwelt im Kreis dieser Affekte. Bereits ein Schimpanse
erkennt sich im Spiegel als besonderes Wesen. Doch beim Menschen
wird daraus ein "Ich" oder Selbst-Bewußt-Sein, die ihn treibenden Instinkte und höheren Gefühle integrieren sich zu einem eigenen "Willen".
Mittels sprachsymbolischer Kommunikationen und Reflexionen sublimiert sich der angeborene Ich-Keim zum psychischen Zentrum, das
tendenziell alle Lebensfunktionen und deren Energien im Lichte der jeweiligen Außenweltsituation verbindet. Dabei entsteht, je nach externen
und internen Entwicklungsbedingungen, ein auf Ich-Ego beschränktes
oder ein als Welt-Selbst auch Alles-Andere in sich integrierendes Bewußt-Seins-Organ.
Wissen, Liebe und Selbst - objektiv gedacht sind sie auch das Wahre,
das Gute und das Schöne - sind drei Humanitas, drei Quellen des
Menschseins. Dabei mag das Gefühl der Liebe das entscheidende,
einstmals und immer wieder Menschwerdung ermöglichende Zentrum
sein. Liebe ist, wie Erich Fromm betonte, etwas völlig Neues, Einzigartiges; die einzige Form von Nähe, die das Andere nicht für sich benutzt,
sondern in seiner Unabhängigkeit beläßt, die so "die Entwicklung nicht
126
Solovev, V., Der Sinn der Liebe, Hamburg 1985, S. 23.
115
behindert, keine Reibungsflächen schafft und keine Energie verschwendet".127
Die anderen beiden Humanitas erhalten erst durch das höhere Gefühl
eine ihre affektive Beschränktheit transzendierende Qualität. Deshalb
berufen sich alle entscheidenden geschichtlichen Befreiungsimpulse, ob
die in Europa ursprünglich von Jesus oder anderswo von anderen, oft
unbekannten oder bekannten maßgebenden Menschen wie Laotse,
Buddha oder Mohammed initiierten, immer auch wesentlich auf dieses
höchste der Gefühle.
Dennoch sind es die drei Wurzeln des Menschseins. Erst durch das Zusammentreten, einander Durchdringen und Erheben aller drei Qualitäten - Wissen, Liebe und Selbst - geschieht jene evolutionäre Fulguratio128 bzw. die Emergenz einer völlig neuen Selbstreferenz und damit
Seinsschicht, der entwicklungsgeschichtliche Qualitätssprung vom Tier
zum Menschen.
Die eigentlich menschliche Qualität, sein mitgeschöpfliches Mitschöpfertum, geschieht so nur durch integratives Zusammenschwingen aller
drei inneren Quellen des Menschlichen. Wirken nur Teile dieser Quellen, wie bisher oft Erkenntnis und Wille nicht mit Liebe, sondern einer
anderen, beschränkteren Emotion motiviert sind, so werden bereits seiende Schöpfungen variiert oder verformt. So entstand in der Geschichte
z.B. die Natur und Mensch ausbeutende Landwirtschaft als zweckbestimmte Art des früher geschöpften Gartenbaus, das Christentum ist
eine hinterbliebene Art des von der Jesusbewegung geschöpften Befreiungsimpulses, oder die Atombombe entstand erst aus den Entdekkungen der Genien moderner Physik.
127
Fromm, E., Humanistische Planung, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. IX, Stuttgart
1981, S. 35.
128 Konrad Lorenz erkannte, daß evolutionäre Sprünge des Lebendigen immer durch
das Zusammentreten, die Integration bisher getrennter Fähigkeiten geschehen und
nannte diese steigernde Integration Fulgratio. Siehe Lorenz, K., Die Rückseite des
Spiegels, München 1979.
116
Vom Homo sapiens sapiens zum Homo sapiens integralis
Die Menschwerdung, als die Herausbildung einer fundamental neuen,
im Vergleich zum Bios unendlich mehr integrativen Seinsschicht, ereignet sich vermutlich in drei ineinander übergehenden Etappen. Deren
erste vollzieht sich primär noch in der organisch-affektiven Schicht. Im
Übergang vom homo erectus zum homo sapiens zum homo sapiens
sapiens werden die die bisherige Selbstorganisation der Tierhorde dominierenden Affekte oder Triebe allmählich weicher, formbarer und zugleich, im Maß der parallelen Entstehung der Humanitas, durch diese
höheren Potenzen und deren kulturell-vermittelnde Symbole und Artefakte neu, in komplexeren, horden- und stammesgesellschaftlichen Systemen integriert.129
Die zweite Etappe der Menschwerdung, in der wir noch immer stecken,
ereignete und ereignet sich nicht mehr nur naturhaft-unbewußt, sondern
hin und wieder gelang und gelingt ein Stück bewußte Menschwerdung,
ein Stück kreativ-freie Durchdringung und Integration der affektivbeschränkten Daseinsweise durch die höhere Selbstreferenz. Die Befreiung von der Jagdhorde durch Erfindung von Gartenbausiedlungen
war dabei ein wichtiger Schritt, ebenso die Befreiung von affektivpatriarchalen Stammesstrukturen durch die Kreation geistig-freier Individualität. Bisher gelang es jedoch nicht, die höhere Seinsweise entscheidend zur Geltung zu bringen. Die in lichten Momenten von freien
Menschen geschöpften Ansätze wurden wieder eingeholt von in ihrer
Masse dominierenden affektiven, insbesondere aus dem Horden- und
aus dem Dominanz- oder Machttrieb erwachsenden Beschränkungen
(siehe II.2.10.). Alle, in ihrer Intention durchaus auf Befreiung ausgehenden Bewegungen, sei es die griechische oder die christliche oder
die moderne Bewegung, versanken immer wieder in den Engen der aus
dem unintegrierten Unbewußten durchschlagenden Affekte.
Befreiung, Freiheit wurde deshalb nicht zufällig von tiefen Denkern - wie
Spinoza, Fichte oder Hegel - und von entsprechenden, aus der Tiefe
des inneren Menschseins schöpfenden Bewegungen wie der englischen, amerikanischen, französischen oder jüngsten russischen und
129
Zur biolologischen Abfolge der Menschwerdung vgl. auch: Herrmann, J., Die
Menschwerdung, Berlin 1985.
117
ostdeutschen Revolution zum höchsten der Ziele erhoben. Nur wurde in
westlichen Traditionen - bis auf Ausnahmen wie Fichte - Freiheit bisher
immer wieder vor allem im Außen, weniger zuerst und vor allem im
menschlichen Innenraum, bzw. in der im Innen gründenden Integration
mit dem Außen gesehen. Die Vernunft des homo sapiens sapiens bezweckte die richtige Richtung, doch ihr fehlte der Rückbezug auf sich,
die Besinnung, die Integration in sich selbst.
Den heute in der emotional-unterdrückten und deshalb mehr denn je
affektbeherrschten Innen- und Außenwelt der Moderne befangenen
Menschen scheint diese Etappe die höchste denkbare, und jede Beschreibung menschlicherer Möglichkeiten wird als Zumutung und moralische Überforderung empfunden; ähnlich der Raupe, die den aus derselben Substanz schlüpfenden Schmetterling kaum als ihre eigene andere, gar nicht so ferne Möglichkeit begreifen kann. Vermutlich hätten
die Menschen der frühen, affektiv und mythisch selbstreferierten
Stammesverbände ebenso verwundert, erschrocken und ablehnend
reagiert, hätte man ihnen das Bild des modernen, selbstbewußten ,
doch gemeinschafts- und ursprungsverlassenen Individualisten abgefordert.
Weitere menschliche Möglichkeiten beispielhaft vorlebende Menschen von Hathor und Athene bis Buddha oder Jesus - wurden und werden
deshalb als unerreichbare Göttinnen und Götter in jenseitige Sphären
projiziert.130 Ebenso werden die entsprechenden, in jedem menschlichen Wesen schlummernden Humanpotenzen diese "Götter" projiziert,
oder, wie in der Moderne, zwar in rechtlichen Formen rationalisiert, doch
im eigenen Inneren verdrängt. Die Integration des Menschen in sich, zu
sich selbst ist jedoch notwendig zur Befreiung von der Umwelt- wie der
Inweltzerstörung.
Der weitere Sprung vom homo sapiens sapiens zum homo sapiens integralis, also in eine neue, vorher kaum sichtbare und daher unbegreifbare Dimension menschlicher Geschichte ist erst dann zu vermuten,
wenn eine relevante Menge menschlicher Individuen das Naturwesen
Mensch in sich durch sich selbst zu einer neuen Qualität gestaltet. Die130
Siehe dazu: Weiler, G., Der enteignete Mythos, Frenkfurt/Main 1991; oder: Whitemont, E.C., Die Rückkehr der Göttin, München 1989.
118
se Entwicklung aber wird nicht wie die bisherige unbewußt-spontan geschehen. Wie Solovev bemerkte: "Nur eines muß man sich gut im Gedächtnis behalten: Wenn die Wirklichkeit des vernünftigen Bewußtseins
im Menschen erschienen ist, aber nicht durch den Menschen, so muß
die Realisierung der Liebe, als die höchste Stufe zum eigentlichen Leben der Menschheit selbst, nicht nur in ihm sondern auch durch ihn erfolgen."131
Dies „durch ihn“ ist etwas völlig anderes als die bisherigen, durch vermachtete Ideologien und Scheinmoral verirrten Bildungs- und Erziehungskrämpfe zu „besseren“, d.h. gut funktionierenden Menschen. Es
ist wesentlich, davon abzukommen und die menschliche Möglichkeit
und Notwendigkeit deutlich und frei, als bestmögliches Leben und lebendige Sehnsucht in sich selbst zu erkennen.
Freie Menschen und ihre Lebenskunst
Die bisherigen historischen Befreiungsversuche des Menschen erreichten nur beschränkte Wirkungen, der wesentliche Grund dafür liegt
in der ungenügenden Entwicklung bzw. Erkenntnis des Zusammenspiels der drei fundamentalen Seinsebenen. Zum einen gab es auf der
materiell-energetischen Ebene bisher nie die heute vorhandenen Voraussetzungen, die, bei entsprechend gelungener soziokultureller Organisation derselben, allen menschlichen Individuen Lebensgrundlagen,
Zeit und Raum für die Entfaltung ihrer Wesenskräfte bieten.
Zum anderen gelang bisher kaum eine gesellschaftlich bewußte Differenzierung und Integration der beiden höheren Ebenen organischaffektiver und geistig-kultureller Selbstorganisation. Dies führte dazu,
daß alle menschlichen Aufbrüche, die sich infolge der unstillbaren inneren Sehnsucht des Menschen nach sich selbst ereigneten, immer wieder in die Beschränkungen einer undurchschauten Einmischung affektiver Energien gerieten.
Dies betraf insbesondere auch die Bereiche der Kultur, die in ihrem
Selbstverständnis eigentlich der Entwicklung der menschlichen Poten131
Solovev, V., Der Sinn der Liebe, Hamburg 1985, S. 25; Siehe dazu auch: Grünhagen, L.v., Die Emergenz der umweltverträglichen Persönlichkeit, BTU Cottbus, 1995.
119
zen dienen sollten. Diese geistigen oder bildenden Bereiche, von den
Schulen bis hin zu philosophischen Zirkeln und Religionen, deren letzter
Sinn nichts anderes als die Beförderung freier menschlicher Entwicklung als Selbstzweck sein kann, verloren diesen Sinn immer wieder und
verkamen zu, offenen oder subtilen Rechtfertigungsideologien. Im Interesse dieser oder jener Machtaffekte (siehe II.2.10.) legitimierten sie eine
Unterordnung der höchsten menschlichen Werte unter staatliche, kirchliche, kapitalistische, sozialistische etc. Machtsysteme.132
Aus der Vergangenheit dieser vermachteten Systeme erwuchs immer
wieder auch der Zweifel, die Skepsis gegen humanistische Ideen und
damit gegen die eigene innermenschliche Sehnsucht überhaupt. Dies
ist nicht weniger bedrohlich, denn, wie Teilhard de Chardin erkannte:
Niemals wird der Mensch einen Weg einschlagen, von dem er denkt,
daß er versperrt ist.
Die eigentlich menschlichen Potenzen können, wie oben beschrieben,
nicht von außen induziert werden, sondern nur durch freie innere Entscheidungen der Individuen, durch das eigenaktive Zusammenkommen
von Wissen, Liebe und Selbst, geschehen. Aurobindo erkannte, daß
Mensch und Gesellschaft in dieses ihnen innewohnende Humanum nur
hineinwachsen können: „Es ist nicht eine äußere Idee oder Regel, die
ihnen von außen auferlegt werden muß. Deshalb wird das Gesetz des
Wachstums der inneren Freiheit im spirituellen Zeitalter der Menschheit
als das entscheidende angesehen werden...Darum können wir auch in
einem noch nicht erneuerten Staat feststellen, daß jenes Wachstum
und Tun das gesündeste, wahrste und lebendigste ist, das in größtmöglicher Freiheit geschieht, und daß jedes Übermaß an Zwang entweder
dem Gesetz allmählicher Atrophie folgt oder als Ausbruch einer Tyrannei anzusehen ist, die sich nur durch größte Unordnung wieder verändern oder heilen läßt. Durch die Erkenntnis des eigenen menschlichen
Selbst, oft auch schon durch ernstes Streben nach ihr, befreit sich der
Mensch, wie frühen Religionen und frühem Wissen bekannt war, von
dem äußeren Gesetz und tritt in die Ordnung der Freiheit ein.“133
132
Die unbewußte Vermachtung der Bildungsstrukturen beschreibt z.B. Alice Miller;
u.a. in: Miller, A., Am Anfang war Erziehung, Frankfurt/Main 1983.
133 Sri Aurobindo, Zyklus der menschlichen Entwicklung, Planegg 1983, S. 280f.
120
Aus völlig anderer Sicht sprach bereits Fichte von der Chance eines
Reichs der Freiheit, welches allein das Prinzip menschlicher Zukunft
sein könne. Als entscheidend dafür erkannte er die Selbsterkenntnis der
menschlichen Möglichkeit, daraus erwächst eine „Befreiung des Ich“.
Diese zu verwirklichen bedarf es einer „Kultur der Sinnlichkeit“ und neben dem Wissen auch der kunstvollen Gestaltung einer entsprechenden sozialen Praxis (dazu siehe III. und IV.).
Menschliche Freiheit oder Entwicklung ist nur positiv zu denken. Die in
sich beschränkten Formen, die bisher die eigenen tierhaften Affekte in
gesellschaftliche Strukturen zwangen, können nur in freieren, d.h. auch
diese affektiv-sinnlichen Anlagen lebendig integrierenden Formen aufgehoben werden. Die „Bezähmung der Sinnlichkeit“ (Fichte) war die
affektive Organisationsform der Zivilisation. Wie Fichte oder Aurobindo
beschreibt auch Wilhelm Reich, welch komplizierter und daher kunstvoller Prozeß die Befreiung von den Unterdrückungen, Verdrängungen,
Neurosen ist. Er zeigt, wie zuerst die bisher unter der Decke gehaltenen
Affekte um so stärker, mit all ihrer verbogenen Wucht zum neuen, in
seiner Blindheit jedoch eher zerstörenden Leben drängen; und wie erst
dann die eigentlich menschlichen Qualitäten der Liebe, des Mitgefühls,
des kreativen Gestaltens neu entdeckt werden.134
Ein freier oder auch „souveräner“135 Mensch kann und wird, wie die äußere Natur, auch sein inneres Tierreich weder blind-affektiv leben noch
furchtsam unterdrücken. Es geht ihm um die „Ganzheit des menschlichen Wesens“, die Integration von Geist und Trieb, die der große Theoretiker der höchsten menschlichen Qualität, der Liebe, Vladimir Solovev,
so beschrieb: "An erster Stelle erscheint in unserer Wirklichkeit das,
was in Wahrheit an der letzten stehen müßte - die tierische, physiologische Verbindung. Sie wird als Grundlage der ganzen Sache angesehen,
während sie nur die äußere Vollendung sein sollte...Hier wird das Mittelmaß des Alltags als Gipfel des Lebens angesehen, und das, was im
zeitlichen Prozeß als freier, sinnerfüllter Ausdruck der ewigen Einheit
dienen sollte, wird zum unfreiwilligen Strombett eines sinnlosen, materi134
Reich, W., Charakteranalyse, Köln 1971; ders., Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1986; siehe auch Rogers, C., Die Kraft des Guten, Frankfurt/Main
1985.
135 Siehe die dasselbe begründende Idee eines „souveränen Menschen“ bei Böhme,
G., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Frankfurt/Main 1994.
121
ellen Lebens. Und schließlich bleibt dann als seltene und ausschließliche Erscheinung für wenige Erwählte die reine, geistige Liebe übrig, der
aller wirkliche Inhalt schon im voraus durch die anderen, niederen Verbindungen weggenommen ist, so daß sie sich mit einer träumerischen
und unfruchtbaren Empfindsamkeit, ohne jede reale Aufgabe und ohne
Ziel im Leben, begnügen muß...Die ausschließlich geistige Liebe ist offenbar eine ebensolche Anomalie wie die ausschließlich physische Liebe und der ausschließlich für das Alltagsleben geschlossene Bund. Die
absolute Norm ist die Wiederherstellung der Ganzheit des menschlichen Wesens."136
Diese, Sinnlichkeit und Geist integrierende Ganzheit des menschlichen
Wesens ist die vielleicht entscheidende innere Aufgabe zukunftsfähiger
Entwicklung. Denn hier verwirklicht sich in der menschlichen Substanz
selbst der ungeheure Brückenschlag, der unten (II.3.6.) als Neuintegration von Materie und Geist begriffen wird. Eine geistige Affektivität, sinnvolle Sinnlichkeit bzw. lebendiger Geist bedeutet die Aufhebung der ungeheuren Last und negativen Selbstbeschränkung, die den Menschen
der zivilisatorischen Systeme bedrückte. Die Verdammnis der ungezähmten inneren Naturkräfte durch scheinbar rein geistige Ideale kann
aufgehoben werden in einer gegenseitigen Durchdringung. Diese ErLösung der inneren Blockaden, Spannungen, Neurosen und Projektionen kann den Menschen von all den Ersatzbefriedigungen und all dem
Ersatzkonsum befreien, die wesentliche Ursache der modernen Umweltkrise sind. Eine sinnige Sinnlichkeit findet ihr Wohlgefühl, ihre Entwicklung und ihren Reichtum nur in weitgehender Harmonie mit den
anderen Wesen dieser Welt (siehe die strukturellen Implikationen eines
solchen „lebendigen Reichtums“ unter IV.).137
Hier, in der Entdeckung des ganzen inneren Selbst und in der neu zu
entdeckenden Kunst der inneren Selbstgestaltung, ruhen die vielleicht
aufregendsten Abenteuer menschlicher Zukunft. Dabei entscheidend ist
die Erkenntnis, Befreiung und Entwicklung der eigentlich menschlichen
Qualitäten. Denn: Erst durch Selbst und Wissen vollbringt Liebe Gutes.
136
Solovev, V., Der Sinn der Liebe, Hamburg 1985, S. 44f.
Siehe dazu Macy, J., Die Wiederentdeckung der sinnlichen Erde. Wege zum ökologischen Selbst, Zürich/München 1994.
137
122
Erst durch Liebe und Selbst wird Wissen wahr. Erst durch Liebe und
Wissen ist Selbst schön.
Wenn eine befruchtende Vereinigung aller drei gelingt, befreit sich
Mensch von allen Beschränkungen und wird so frei, alles zu werden
und zu sein. Hier ergibt sich auch der rationale Grund der bisher vor
allem in östlicher Mystik gepflegten Lehre vom "Nichts" oder "Nirvana".
Es umschreibt jenen besonderen menschlichen Zustand der Freiheit,
d.h. nicht der Unterdrückung, sondern der universellen Integration auch
noch der eigenen affektiven Leidensfaktoren. Die Intuition: Nicht aus
den unseren äußeren Sinnen zugänglichen Dingen der Welt, nicht aus
den leidhaften Affekten, sondern aus nichts als aus sich ist und wird der
Mensch wirklich Mensch. Aus "Nichts" als aus einem wissend-liebenden
Selbstssein ergibt sich die Schöpferkraft des Menschen, wird er vom
Mitgeschöpf zum Mitschöpfer, zum Gestalter des eigenen Lebenskunstwerkes . Wie Hegel, Hölderlin und Schelling in ihrem frühen Fragment eines integralen Bewußtseins, einer "Mythologie der Vernunft" sahen:
"Mit dem freien, selbstbewußten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt aus dem Nichts hervor - die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung
aus Nichts...Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit,
das Wort im höheren platonischen Sinn genommen.
Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie
alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte
in der Schönheit verschwistert sind."138
Ebenso wie der Geist oder Sinn sich nur in der lebendigen Sinnlichkeit
des Menschen verwirklichen kann, so ist auch diese neue Schönheit
und ihre Subjektivitätsform, die Kunst, nicht als abstrakte, sondern nur
als auf neue Weise lebensverbundene verwirklichbar. Der Philosoph
Michel Foucoult beschreibt dies: „Vor allem fällt mir auf, daß die Kunst
in unserer Gesellschaft etwas geworden ist, was nur die Gegenstände,
nicht aber die Individuen und das Leben betrifft. Daß Kunst etwas besonderes ist, was allein von Spezialisten, nämlich den Künstlern. gemacht wird. Doch warum sollte nicht jeder einzelne aus seinem Leben
138
Hegel, G.W.F., Mythologie der Vernunft, Frankfurt/M. 1986, S. 11.
123
ein Kunstwerk machen können? Warum soll diese Lampe oder dieses
Haus ein Kunstgegenstand sein und mein Leben nicht?“139
Menschen, die in der bisherigen Geschichte diese selbstbefreiende und
selbstverschönende Qualität zur Blüte brachten, wurden wie von selbst
Vorbilder anderer. Karl Jaspers beschrieb ihre Wirkung als die von
"maßgebenden Menschen".140 Für Jean Gebser ist diese Wirklichkeit
"der lautere Einbruch des Jenseitigen ins Diesseitige, die Präsenz des
Jenseits im Diesseits, des Todes im Leben, des Transzendenten im
Immanenten, des Göttlichen im Menschen"141. Damit schlägt auch er
die wichtige Brücke zwischen Außen- und Innenwelt, deutet auf deren
letztliches Zusammenfallen, Identischsein. Bisher näherten wir uns dem
Thema des zukunftsfähigen Menschen in einer der westlichen Wissenschaft üblichen Form von rationaler Beschreibung. Einige wesentliche
Momente und entscheidende Qualitäten des Problems sind so jedoch
nicht erfaßbar. Bevor später der Versuch einer zusammenführenden,
integralen oder ganzheitlichen Darstellung versucht wird, wird das Thema im folgenden aus der eher ungewohnten inneren Sicht betrachtet.
Als weitere Hinführung und Einfühlung in die vielschichtige Innenwelt
des menschlichen Seins folgt zuerst eine noch konkretere Vergegenwärtigung des Problems der beiden entscheidenden Ebenen unserer
Innenwelt. Denn "alle Unbequemlichkeit, Enttäuschung, Unbefriedigtheit, Mühseligkeit, Melancholie, aller Pessimismus der menschlichen
Mentalität ist die Folge davon, daß der Mensch tatsächlich das Rätsel
und die Schwierigkeiten seiner doppelten Natur nicht zu lösen vermag"142.
Macht und Sinn
Aus der vorhergehenden, naturwissenschaftlich-anthropologischen Betrachtungsweise des Menschen ergeben sich interessante Verständ139
Foucault, M., Von der Freundschaft, Berlin o.J., S. 80.
Jaspers, K., Die maßgebenden Menschen, München 1964.
141 Gebser, J., Ursprung und Gegenwart, München 1988, 670 ff.
142 Sri Aurobindo, Der Zyklus der menschlichen Entwicklung, Planegg 1983, S. 258.
140
124
nismöglichkeiten auch für die in der Gegenwart meist ausgeblendeten
oder ins unbegreifbare Transzendente verlagerten Dimensionen von
Geist oder Sinn. Der Begriff "Sinn" erfaßt dabei ein besonderes Moment, eine besondere Bedeutung für jede menschliche Existenz - ihren
Bezug zur universellen Evolution, zum universellen Geist. Ein konkretes, d.h. die menschliche Innenwelt einbeziehendes Verständnis dieses
Bezuges ist wesentlich für alle weitere menschliche Entwicklung.
Aus der Sicht moderner Selbstorganisationstheorie charakterisiert der
Physiker Erich Jantsch diesen Bezug wie folgt: "Wir stehen am Beginn
einer großen Synthese. Nicht die Entsprechung statischer Strukturen ist
ihr Inhalt sondern der Zusammenhang von SelbstorganisationsDynamik - von Geist - auf vielen Ebenen. Es wird möglich, Evolution als
komplexes aber ganzheitliches dynamisches Phänomen einer universalen Entfaltung von Ordnung zu sehen, die sich in vielen Aspekten
manifestiert, als Materie und Energie, Information und Komplexität, Bewußtsein und Selbstreflexion...Hier löst sich der letzte Dualismus auf:
Verstehen ist nicht mehr statisches Wissen sondern selbst ein evolutionärer Prozeß, in dem Subjektivität und Objektivität einander komplementär sind.
Im menschlichen Bereich aber bedeutet eine solche neue Synthese
Hoffnung anstelle von Furcht, das Ende der Entfremdung des Menschen von einer Welt, deren immer schnellerer Wandel zur kafkaesken
Bedrohung geworden ist und dabei doch nur den Menschen selbst zum
Motor hatte. Die neue Synthese gibt dem menschlichen Leben einen
tiefen Sinn. Sinn entsteht aus der Erkenntnis der Verbundenheit. Fragen wir jemanden nach dem Sinn seiner Ambitionen, seines Hetzens
und Raffens, so heißt es oft, nicht für sich selbst sondern für die Kinder
tue man das alles. Dies ist ein Akt der Selbsttranszendenz. Ein weitergehender Drang nach Sinn visiert Generationsfolgen, Völker , Kulturen,
die Evolution der gesamten Menschheit, ja vielleicht sogar des ganzen
Universums an. Das Bedürfnis nach Sinn erweist sich als mächtiger
autokatalytischer Faktor in der Evolution des menschlichen Bewußtseins - und damit in der Evolution der Menschheit und des Universums.
Diese Verbundenheit unserer eigenen Lebensprozesse mit der Dynamik
des allumfassenden Universums war bisher nur mystischem Erleben
125
zugänglich. In der neuen Synthese wird sie Teil der Wissenschaft, die
sich dadurch selbst dem Leben näher verbindet."143
Diese wissenschaftliche Sicht vom Sinn begibt sich bis zur Bedeutung
menschlicher Subjektivität, läßt deren entscheidende innere Dimension
aber noch ausgeblendet. Dies ist, auf der Grundlage der oben dargestellten anthropologischen Erkenntnisse, zu ergänzen. Das Bedürfnis
nach Sinn ist zuinnerst identisch mit dem Humanum - dem Bewußtsein
und Willen des entscheidenden menschlichen Gefühls der Liebe. Dieses entscheidende, nicht nur für das eigene Ego sondern für Anderes
aktivierende Gefühl ist, wie alle in der menschlichen Struktur verankerten Anlagen, nicht nur eine Möglichkeit, sondern zugleich reales Bedürfnis, wesentliches Interesse, lebendige Sehnsucht. Liebe wirkt so in
der Spanne ihrer aus der persönlichen Lebensgeschichte resultierenden
Erfüllungssehnsucht einerseits und der universellen Verbundenheit und
Evolution andererseits. Und diese innermenschlich-universelle Liebesspannung wird sich selbst bewußt als Sehnsucht nach Sinn. Diese
innere Intention ist um so stärker, je mehr überegozentrischen Bezug
das individuelle Liebesgefühl in sich integriert.
Das verstehende Wissen und wollende Bewußtsein dieser objektiven
und subjektiven, äußeren und innerlichen Sinnebene ist ein vermutlich
entscheidendes Moment der individuellen und kollektiven menschlichen
Entwicklung. Deren entwicklungsfördernde Qualität stößt jedoch bisher
immer wieder an Grenzen, die weniger im Außen-, als vor allem im Innenraum zu lösen bzw. zu integrieren sind: die Dialektik von Sinn und
Macht.
Es war vermutlich Max Scheler, der wie oben gezeigt erstmals erkannte
und betonte, daß die geistigen Qualitäten - anthropologisch gesehen aus den Fähigkeiten von Liebe und Wissen bestehen und daß diese
besondere anthropologische Potenz zur freien Selbstorganisation der
den Menschen bisher stark einschränkenden Triebwelt befähigt. Damit
baute er eine wichtige Erkenntnisbrücke zwischen zwei im wirklichen
143
Jantsch, E., Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München/Wien 1992, S. 411ff.
126
Menschen schon immer zusammenspielenden, doch in der Theorie bisher getrennten Welten auf.
Die Differenz der zwei im Menschen wirkenden, wegen ihrer Gebundenheit an innerpsychische, neurohormonell-emotionale Prozesse unbewußt ähnlich empfundenen, doch in ihrer Dimension fundamental
unterschiedenen Ebenen von Affektivität und Geist wurde u.a. auch von
Spinoza und Wygotski (siehe II.2.6.) festgestellt. Auch Wygotski berief
sich dabei u.a. auf Max Scheler. Doch Scheler unterschied nicht nur
zwischen Trieb und Geist, sondern versuchte eine über diese Differenz
hinausgehende Integration. Er wendet sich sowohl gegen vereinseitigende Bestimmungen des Menschen als nur triebbestimmtes oder nur
geistiges Wesen, als auch gegen Feindschaftserklärungen des Geistes
gegen das Leben, wie sie z.B. Ludwig Klages vortrug. Für Scheler sind
Geist und Leben aufeinander hingeordnet, und sie durchdringen sich
gegenseitig in der Selbstverwirklichung des Menschen.144
Eines der diffizilsten, aber auch für die menschliche Perspektive entscheidenden Probleme ist die Dialektik von Liebe/Geist/Sinn einerseits
und Dominanzaffekt/Macht andererseits. Wie in neuerer Zeit insbesondere Foucoult bemerkte und darstellte, wird keines der gesellschaftlichen Probleme gelöst werden, wenn nicht eine Integration der in der
bisherigen Geschichte immer wieder ausbrechenden und viele humane
Ansätze verschlingenden Machtaffekte im Menschen gelingt. Er half, zu
"begreifen, daß die Macht nicht im Staatsapparat lokalisiert ist und daß
nichts in einer Gesellschaft verändert sein wird, wenn die Machtmechanismen, die außerhalb der Staatsapparate, unter ihnen, daneben, auf
einem sehr viel niedrigeren, alltäglicheren Niveau funktionieren, nicht
verändert werden."145
Da er keine theoretische Möglichkeit eines Begriffes und der Integration
von Liebe wußte, erkannte er das Machtproblem zwar als entscheidendes, hinter fast allen oberflächlichen gesellschaftlichen Problemen verborgenes Feld, mußte jedoch hinsichtlich möglicher Lösungen passen,
und so sah er auch für die Zukunft keine andere Möglichkeit. Die Geschichte ist in dieser Sicht eine vor allem "kriegerische", und sie bleibt
144
145
Scheler, M., Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 1991.
Foucault, M., Mikrophysik der Macht, Berlin 1976, S. 95.
127
immer "Machtverhältnis, nicht Sinnverhältnis", höhere Gefühle und moralische Normen sind dann nur kulturelle Täuschungen, Verschleierungen der alltäglichen Kampfsituationen.146
Ein anderes, unseren inneren menschlichen Ahnungen besser entsprechendes Bild ergibt sich auf der Grundlage unserer oben dargestellten
Anthropologie und Ontologie.
Hieraus wird ersichtlich, was in der "Biologie des menschlichen Verhaltens" von Irenäus Eibl-Eibesfeldt147 so konkretisiert wird: Machtstreben
beruht auf einem im Menschen vom Tierreich überkommenen Instinkt,
der verhaltenswissenschaftlich als Dominanz/Subdominanztrieb begreifbar ist. Dieser hat die selbstorganisierende Funktion, eine Gruppe
von tierischen Organismen so zu strukturieren, daß ein relativ geordnetes und so im Überlebenskampf für die Herde erfolgreiches Agieren
möglich ist. Wie alle Funktionen dieser Ebene geschieht dies zwar
durch die neurohormonellen Strukturen der einzelnen Organismen, jedoch ohne deren subjektiv-aktive Mitwirkung, d.h. es vollzieht sich als
Affekt oder Re-Aktion. Äußerlich gesehen stabilisert sich diese Funktion
in einer Hierarchie der Herde, in der zwar immer wieder in Konkurrenzkämpfen erprobten, doch zeitlich verinnerlichten Gewohnheit einer
Rangordnung; diese bestimmt herdenintern, wer in welchen Situationen
welche Wirkung auslösen kann. Innerlich selbstorganisiert sich dies
durch ein komplex, über erhobene oder gesenkte Blicke, Schulterhaltungen, Gesten etc. interagierendes System von "Selbstgefühl", welches in der Konzentration von bestimmten Hormonen seine physiologische Grundlage hat.
Interessant und wichtig ist, daß das entscheidende Hormon dabei das
männliche Sexualhormon Testoteron ist; ein biologischer Grund, warum
auch männliche Organismen der Gattung homo sapiens viel stärker zu
Machtkämpfen neigen als weibliche. Für eine menschliche Welt noch
wichtig zu
wissen
ist
insbesondere,
daß
dieser
Dominanz/Subdominanztrieb von Natur aus "keine triebbehindernden Endsituationen kennt"148, daher geschieht es bisher immer wieder, daß den in
146
Ders., Diapositive der Macht, Berlin 1978, S. 26f.
Eibl-Eibesfeldt, I. v., Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1984.
148 Ebenda, S.407.
147
128
irgendeiner Form an die Macht kommenden Männern dieser Trieb
durchgeht und sie mit allen nur denkbaren offenen oder subtilen Mitteln
um die Erhaltung und möglichst Ausweitung ihres Machtgefühls kämpfen. Wichtig zu wissen ist außerdem, daß keineswegs allein die im
Machtringen Überlegenen in diesem Trieb gefangen sind, sondern
ebenso die Subdominanten affektiv dazu neigen, sich blind-ergebend in
ihre Situation zu schicken. In dem Märchen von des Kaisers neuen
Kleidern oder in Heinrich Manns Roman "Der Untertan" ist diese tierhafte, erst im menschlichen Bewußtsein auflösbare Struktur, die Neigung zum blinden Untertanen, bildhaft dargestellt. Eibl-Eibesfeldt begreift es: "Eine Rangordnung kann nur zustande kommen, wenn es neben Rangstreben auch eine Bereitschaft zu Unterordnung und Gefolgsgehorsam gibt. Beides ist beim Menschen stark ausgeprägt."149 Um die
Wirkungsstärke dieses Affektes auch beim Menschen zu verstehen, ist
es wichtig zu wissen, daß Machtaffektivität der komplexeste Trieb innerhalb des Tierreiches ist. Er hat so die Potenz, alle anderen Affekte
und Triebe - wie Nahrung, Sexualität, Schutz, Herdentrieb etc. - funktional zu überformen.
Aus dieser affektiv-psychischen Potentialität der Macht, die keine endogen-triebbefriedigende Endsituation kennt, erwuchs in der bisherigen
Geschichte immer wieder das größte Problem jeder Kultur. Alle über
das Tierreich hinausgehenden gesellschaftlichen Anfänge entstanden
durch mehr oder weniger bewußte Wirkungen der höheren, eigentlich
menschlichen Qualitäten. Liebe, Wissen und Selbst, in ihrer Integration
als subjektiver Geist, vollbrachten viele Anläufe einer freien menschlichen Kultur - von den ersten, noch im Namen einer "Göttin" kreierten
Städten des Neolithikums150, über die Blütezeiten der Griechen oder
Christen, bis hin zu modernen Reformationen oder Erneuerungen.
Doch es gelang bisher nicht, die Selbstorganisation dieser höheren,
eigentlich menschlichen Ebene längere Zeit zu stabilisieren. Die von
echten menschlichen Subjekten kreierten neuen Strukturen wurden immer wieder von weniger entwickelten, d.h. von affektiv beschränkten
149
Ebenda, S. 403.
Siehe Thompson, W. I., Der Fall in die Zeit. Mythologie, Sexualität und der Ursprung der Kultur, Reinbek bei Hamburg 1987; oder: Gimbutas, M., Die Sprache der
Göttin, Frankfurt/Main 1995.
150
129
Reaktionen durchkreuzt, durchdrungen und früher oder später zerstört.
Und, wie Lewis Mumford in seinem "Mythos der Maschine" zeigt, war
der entscheidende Zerstörer immer wieder der derselbe Machttrieb.151
Aus der Erkenntnis der blinden Fatalität und Stärke dieser affektiven
Abläufe schloß Foucault, daß alles gesellschaftliche Leben letztlich von
Machtspielen durchdrungen, bewegt und beschränkt wird; daß alle neu
entstehenden Formen immer wieder nur neue Bewegungsarten dessen
sind. Dieses fatale Bild löst sich, wenn, wie oben ausgeführt, erkannt ist,
daß im Menschen durchaus noch andere, "höhere", d.h. funktional
komplexere Potenzen gesellschaftlicher Selbstorganisation angelegt
sind.
Zum einen wird dann deutlich, daß gegen jegliche Machtstruktur weniger Konkurrenzkampf, sondern einzig das höhere Phänomen "Liebe
und Wissen", Sinn oder "Geist" hilft. Zum anderen gilt aber auch: Diese
Aufhebung von Machtverhältnissen geschieht nicht von allein, d.h.
menschliche Gesellschaft streift nicht infolge irgendeines technischen
oder strukturellen Erfordernisses ihre tierhaften Probleme der Ausnutzung der Einen durch die Anderen ab. Gesellschaft ruht auf diesen tierhaften Voraussetzungen, gesellschaftliche Selbstorganisation nutzt
dementsprechend diese Affekte zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnung,
und es bedürfte der immer wieder aufs neue zu vollziehenden Vergegenwärtigung der eigentlichen menschlichen Potenzen, um Rückfälle
und Erstarrungen zu vermeiden. Dies setzt eine Kultur voraus, deren
Bildungs- und darüber hinaus gesamtes Selbstorganisationssystem
nicht primär auf technische Befähigungen sondern vor allem und immer
wieder auf die innere Selbsterkenntnis und auf die SUBJEKT-werdung
der menschlichen Individuen orientiert.
Viktor Frankl nennt diese Qualität "Wille zum Sinn". Auch er beschreibt,
daß Menschen, Strukturen und Gesellschaften, die diesen Willen zum
Sinn verlieren, immer wieder auf die Ebene von Vermachtung und entsprechender Erstarrung, Selbstzerstörung zurückfallen.152
151
Mumford, L., Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt/Main
1981.
152 Frankl, V., Der Wille zum Sinn, München 1994.
130
Auch die gegenwärtigen, vor allem aus unbewältigter Machtaffektivität
erwachsenden Umweltprobleme der Menschheit erweisen sich so zugleich und primär als Inwelt- oder Sinnprobleme. Eine nachhaltige oder
zukunftsfähige Entwicklung kann sich deshalb erst im Zuge einer neuen
Integration dieser Dimensionen ereignen.
3. Die Innenperspektiven des Menschen
Moderne Begriffe zur Wiederaufnahme der Innenwelt
Die naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen der besonderen Potenzen des Menschen ermöglichen ein klärendes Verständnis ihrer
Grundlagen und Funktionsweisen. Aber sie erklären nur beschränkt den
Vorgang ihrer Herausbildung - die Perspektive allein von unten, von einer nur materiell-zufälligen Mutation und Auslese, genügt nicht zum
Verständnis ihrer Komplexität und ihrer evolutionären Unwahrscheinlichkeit.153 Sie genügen auch nicht zum Verständnis der inneren Eigengesetzlichkeit dieser Qualitäten. Dazu bedarf es einer Betrachtung auf
der Ebene dieser Seinsqualitäten.
Die Innenwelten, die inneren Perspektiven des menschlichen Seins sind
dem westlichen, vor allem nach außen gerichteten Denken noch weitgehend unbekannt. Dieses "noch" ergibt sich deshalb, weil die von Mitteleuropa ausgehende Zivilisation im Vergleich zu den viel früher entstandenen und bereits verblühten östlichen Zivilisationen vermutlich
einfach noch zu jung ist, es ihr an der zur tiefen Selbstreflexion notwendigen inneren Reife fehlt. So gelangten bisher nur wenige, aus mehr
zufälligen oder persönlichen Gründen mit tieferer Sehnsucht zur Selbsterkenntnis begabte westliche Menschen in die dem östlichen Denken
lang vertrauten Reiche innerer Weisheit.154
153
Siehe dazu: Lewin, R., Die Komplexitätstheorie, Hamburg 1993, S. 51ff.
Bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts konstatierte Richard Bucke ein im Vergleich zur bisherigen westlichen Geschichte gehäuftes Auftreten innerer Weisheit. Siehe: Bucke, R., Kosmisches Bewußtsein. Zur Evolution des menschlichen Geistes,
Frankfurt/ Leipzig 1993.
154
131
Vermutlich geschah dies in den früheren Zivilisationen und Kulturen
anfangs ähnlich zufällig. Erst als das äußere Dasein dieser Gesellschaften durch die verselbständigten, machtdominierten Strukturen existenziell erschüttert wurde, erwachte in einer größeren Zahl das Bedürfnis innerer Transzendenz und Befreiung. Da es diesen Gesellschaften
jedoch an rationalem Wissen und an Instrumentarien zur bewußten
Selbstorganisation komplexer sozialer Systeme mangelte, war bisher
keine Integration, d.h. keine aus befreiter Innenwelt erfolgende Erneuerung der veralterten, d.h. in sich erstarrten Gesellschaften möglich.
So steht die Menschenwelt heute vielleicht erstmals vor der wirklichen
Chance einer bewußten Erneuerung. Die moderne Zivilisation steckt
zwar wie alle bisherigen in der durch verselbständigte Macht- und Bürokratiestrukturen enstandenen Krise erschöpfter äußerer und innerer
Ressourcen, verfügt jedoch zumindest potentiell über das Wissen und
die Instrumentarien einer bewußten Erneuerung und Reorganisation.
Doch sind und bleiben diese Instrumentarien an sich abhängig von ihrer
subjektiv-menschlichen Verfügung; wie, wann und wofür sie verwendet
werden, hängt ab von der inneren, psychischen bzw. seelisch-geistigen
Verfaßtheit. Deshalb steht im Mittelpunkt dieser Ausführungen nicht das
instrumentelle Ordnungswissen; dieses wird, im Sinne einer Integration
weiter unten (siehe III. und IV.) nur momentan aufgenommen. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen die im westlichen Denken
bisher weitgehend unerkannten Innenräume des Menschlichen.
Es gibt, wie oben begründet, in unserem Begriffssystem kaum treffende
Worte und noch weniger allgemeinverständliche Wendungen dafür. Die
detailliertesten Erfahrungen, Erkenntnisse und Darstellungen der
menschlichen Innenwelt entstammen vor allem den anderen, östlichen
Kulturkreisen und -zeiten. Deren Sprache ist nicht nur eine eigene und
braucht erst ein längeres Einfühlen, sondern die östlichen Innenwelten
sind, wegen der äußeren Ausweglosigkeit ihrer Gesellschaften, meist
von einer resignativen Abkehr von der Außenwelt geprägt. Um beide
Erschwernisse hier zu vermeiden, wird im folgenden weitgehend auf die
Orginalworte der wenigen westlichen Denker zurückgegriffen, denen es
gelang, im Sinne eines positiven Engagements für die gesamte Welt die
Sprachen und Welten zu verbinden.
132
Karlfried Graf Dürckheim, als einer der aus westlicher Tradition stammend sich dem Innenraum zuwendet, beschreibt die Situation der Moderne wie folgt:
"Sie alle wissen, daß der westliche Geist vor allem gekennzeichnet ist
durch die Vorherrschaft der Ratio und ihrer Auswertung in wissenschaftlicher Erkenntnis und technischer Meisterung unseres Lebens. Ich
brauche nicht die wunderbaren Errungenschaften hervorzuheben, die
diesem Geist für alle Bezirke unseres Lebens zu verdanken sind. Aber
die Erkenntnis, in welchem Ausmaß diese Entwicklung zugleich eine
Gefährdung der Ganzheit der menschlichen Person ist, ist erst relativ
jungen Datums.
Mehr als man es ahnt, steht heute vor allem der differenzierte Mensch
des Westens im Zeichen eines inneren Leidens, das den Glanz des
äußeren Lebens weitgehend verdunkelt. Die Ganzheit des Menschen
wurde der Ausbildung jener Gaben geopfert, die uns befähigen, unser
äußeres Leben zu meistern und die Welt technisch zu beherrschen.
Das Ergebnis ist eine Riesenorganisation, die ursprünglich dazu dienen
sollte, die Freiheit des Menschen, seinen Wohlstand und seine Sicherheit zu gewährleisten. Nun aber hat sie gleich einem Monstrum begonnen, sich nach eigenen Gesetzen zu bewegen, dem Menschen seine
innere Freiheit zu rauben und ihn, wenn er überleben will, zu zwingen,
sich dem Gegebenen anzupassen.
Anpassung ist zum Schlagwort geworden, ja zum Schlüsselwort für jede
Form wirklichkeitsgemäßen Verhaltens. Die mit ihr der inneren Wahrheit
und echtem Schöpfertum drohende Gefahr liegt auf der Hand. Wirtschaftliche Unternehmen hängen heute weniger vom Genius eines führenden Kopfes als von der Marktlage ab...Der Manager ist oft die Verkörperung aller weltbemeisternden Kräfte bei völligem Mangel eines
Sinnes für inneres Reifen und seelische Tiefe. Er ist der Mensch, der
alles hat, kann und weiß, aber noch nicht er selber ist.
Der westliche Mensch leidet seit langem unter einer Form des Lebens,
deren Hektik in jener Krankheit mündet, die wir "Streß" nennen. Die
wahre Ursache dieser Krankheit ist nicht eine Summe der äußeren Bedingungen, sondern das Fehlen des Kontaktes mit dem eigenen inneren
Wesen. Das ist auch der Grund so vieler Leiden, für die keine äußeren
Ursachen zu erkennen sind.
133
Ich gebe ein Beispiel: Ein bekannter Fabrikbesitzer klagt mir seine tiefe
Angst, sein Schuldgefühl und seine innere Einsamkeit. Und dies inmitten äußerer Sicherheit, Rechtschaffenheit und äußerer Geborgenheit.
Ich frage ihn: "Haben Sie irgendeine Devise, die für ihr Leben bestimmend ist?" "O ja", antwortet er, "und ich habe sie auch überall in meiner
Fabrik angeschlagen: 'Leistung ist alles!' Und als ich ihn frage: "Haben
Sie denn niemals beachtet, daß es auch so etwas wie eine innere Entwicklung des Menschen gibt?" antwortet er, etwas unsicher geworden:
"Meinen Sie etwa so etwas wie Religion? Nein, glauben Sie mir, damit
kann man keine Maschinen bauen!"
Dieser Mann, der alles besaß, was die Welt einem geben kann, hatte
sich um seine Seele betrogen. So mußte er auch mehr als andere unter
den drei Nöten des menschlichen Lebens leiden: der Angst vor Vernichtung, dem Zweifel am Sinn des Lebens und der Trostlosigkeit der
Einsamkeit, all dies inmitten äußerer Gesichertheit, sinnvoller Arbeit und
gesunder Gemeinschaft. Allein das Einswerden des Menschen mit seinem innersten Wesen könnte ihm das Gefühl unverletzlicher Sicherheit
selbst mitten in tödlicher Gefahr, das Bewußtsein eines tieferen Sinnes
auch inmitten weltlicher Geborgenheit und das Bewußtsein tieferer Geborgenheit selbst in weltlicher Einsamkeit geben."155
Für unsere Suche nach modernen Begriffen der inneren Dimensionen
bedeutsame Differenzierungen finden sich bei Erika Albrecht. Sie unterzog den vielleicht bedeutendsten Mystiker - Mystiker hier verstanden als
Erkennender der Einheit von Außen- und menschlicher Innenwelt - der
abendländischen Tradition, Meister Eckhart, einer wissenschaftlichanalytischen Exegese. Dabei erkennt sie sieben deutlich unterscheidbare "Bewußtseinsstufen", bzw. in der Sprache Eckharts "sieben Grade
des schauenden Lebens", deren letzter innerer Zweck zunehmende
Freiheit und zugleich zunehmende Mitschöpferkraft des menschlichen
Individuums ist. Für das Verstehen der von ihr als "seelische" oder
"göttliche", von uns hier als "geistige" bezeichneten Grade wichtig ist
ihre Integration mit dem oben ausgeführten Menschenbild naturwissenschaftlicher Anthropologie. Die dort als affektive Ebene begriffenen
Strukturen des Menschen werden von den differenzierten Graden der
155
K. G. Dürckheim, Von der Erfahrung der Transzendenz, Freiburg 1993, S. 88f.
134
geistigen Ebene nicht beseitigt sondern aufgehoben. "Verstand und Begehr werden nicht abgelehnt oder unterdrückt, verdrängt. Sie werden
als Knospenzustand für Ewigkeitskräfte erfahren...Es geht auch nicht
um die Hergabe von äußerem Besitz oder um eine Weltflucht. Es geht
um die Einbringung der selbstbezogenen Kräfte, der Selbstsucht in den
Willen Gottes, ihr Umbiegen in schöpferische Lebenskräfte."156
Das heißt mit unseren Worten: Die affektive Ebene, d.h. sexuelle, soziale, Dominanzaffekte und andere in ihrer tierhaften Beschränktheit nur
selbstsüchtig wirkende Triebkräfte bilden die energetische Grundlage
für die Selbstorganisation der höheren menschlichen Kräfte.
Die höchste, traditionell als "Gott" bezeichnete, Ebene wird charakterisiert als "eine Urlebensbewegung, die sich im Innern der Seele vollzieht.
Das Urleben des göttlichen Alls wird auf sie übertragen, die Seele
kommt diesem Urleben mit ihrem Ewigkeitstrieb entgegen, empfängt es
und gibt es an die Außenregungen weiter. Empfangend wird sie Mitschöpferin am ewigen Schöpfungswerk...Gleichgroß im Empfang wie in
der Verantwortung dafür...Das Mitschöpfen kann man noch konketer
fassen. In ihm gehen inneres und äußeres Werk ineinander über. Das
innere Werk setzt sich im äußeren fort und das äußere wird vom inneren gespeist. Dieses innere Werk des Mitschöpfens ist seiner ewigkeitlichen Beschaffenheit entsprechend nur eine Verhaltensweise...
Das Bewußtsein, einen solchen Innenbezirk in sich zu haben, ist der
heutigen Zeit weitgehend verloren gegangen. Die Seele wird zumeist
nur auf ihre Außenregungen hin abgetastet. Dieser innere Bereich kann
nur zur tieferen Betrachtung empfohlen werden". Erika Albrecht setzt
dafür "drei Marksteine":
1. Es gibt einen religiösen Urtrieb im Menschen.
2. Es gibt ein Überschreiten der natürlichen Lebensbasis in verschiedenen Gradstufen, das sich in passiver Vitalität der Überwelt aussetzt und
darbringt.
3. Es gibt eine innerweltlich-göttliche Liebesströmung, die den selbstentlassenen Darbringer erwartet, in sich einbezieht und zu ihrem Mitwirker macht.157
156
Albrecht, E., Meister Eckharts sieben Grade des schauenden Lebens, Aachen
1987, S. 28.
157 Ebenda, S. 35ff.
135
Nicht prä- sondern transpersonale Integration
Das in der primär auf die äußere Entwicklung konzentrierten Moderne
verlorene bzw. noch nie differenziert entwickelte Bewußtsein der Innenräume, der erst darin wahrnehmbaren Verantwortungen und Mitschöpferkräfte des Menschen, ist neu zu entdecken und zu integrieren. Diese
Neuentdeckung und Integration ist notwendig, sowohl im Interesse des
inneren Gleichgewichtes, der individuellen Befreiung von lähmenden
Ängsten und Einsamkeiten, wie auch im Interesse des äußeren Gleichgewichtes zwischen Mensch und Natur. Dazu braucht es ein möglichst
konkretes Verständnis der Inhalte und Formen, der aufeinander aufbauenden Grade geistiger Selbstentwicklung. Das Problem besteht
darin, daß die westliche Moderne bisher keine wissenschaftliche Tradition zur Erforschung, Darstellung und Lehre dieser für die Zukunft entscheidenden Dimensionen von Mensch und Gesellschaft hervorgebracht hat. Die Psychologie als Wissenschaft des Verhaltens und der
psychischen Probleme betrachtet den Menschen zwar nicht mehr nur
als materiell-organisches, allein naturwissenschaftlich, medizinisch oder
soziologisch analysierbares Phänomen, doch hat sie bisher erst wenige
Ansätze ganzheitlicher Sichtweisen gezeitigt. Deshalb ist gegenwärtig
eine starke Zunahme in diesen Mangelzustand einströmender Ersatzpsychologien und -philosophien zu verzeichnen. Deren esoterisch geprägte Erklärungsmuster füllen zwar den leeren seelisch-geistigen
Raum, verfallen jedoch, wegen mangelnder Verbindung mit den Kriterien wissenschaftlichen Denkens, oft nur in vormoderne Erklärungsmuster und tragen so eher zur Verwirrung denn zur notwendigen Befreiung
des menschlichen Geistes bei.
Herauszuheben ist deshalb die bisher vor allem in den USA wirkende
transpersonale Psychologie, die seit kurzem auch in Deutschland eine
eigene Zeitschriften pflegt.158 Einer ihrer wichtigsten Vordenker ist Ken
Wilber. Durch eine Integration westlichen und östlichen Denkens ent158
Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, herausgegeben seit 1995 von
Joachim Galuska und Edith Zundel, Petersberg; und Transpersonale Perspektiven,
herausgegeben von der Deutschen Transpersonalen Gesellschaft, Berlin.
136
wickelte er ein differenziertes begriffliches Instrumentarium, welches
"entwicklungsbezogen, strukturell, hierarchisch und systemorientiert ist
und östliche und westliche Schulen gleichermaßen berücksichtigt".159
Er erkennt, daß parallel zur äußeren Entwicklung der gesellschaftlichen
Systeme eine Evolution der inneren Bewußtseinsformen stattfindet.
Dies entspricht den oben dargestellten modernen Erkenntnissen der
Ontologie und der Entwicklung selbstorganisierender Systeme. Denn es
zeigte sich, daß alle aus sich selbst existierenden Dinge oder Systeme
letztlich geprägt sind von der Qualität ihrer inneren Selbstreferenz. Alle
zum System gehörigen Strukturen und Funktionen werden durch innere,
von unseren nach außen gehenden Sinnen nicht wahrnehmbare
Schwingungen miteinander abgestimmt und integriert; diese durchaus
als "inneres Sein" verstehbare Wirklichkeit ist das eigentliche Geheimnis alles Aus-sich-selbst-seienden-Seins.
Aus dem Zusammendenken verschiedenster Schulen und Theorien
geistiger Entwicklung, ob der Individuen oder der Menschheit, filterte
Wilber allgemeine Basisstrukturen dieser Entwicklung heraus. In Anlehnung an Jean Gebser charakterisiert er die bisherigen Evolutionsstufen
als archaisch, magisch, mythisch und mental. Während Gebser die
weitere Evolution im allgemeinen Begriff des integralen Bewußtseins
dachte, versucht Wilber, dafür differenziertere Stufen zu beschreiben,
die er psychisch, subtil, kausal und nicht-dual nennt. Für deren differenzierte Darstellung ist hier nicht der Ort. Hervorzuheben sind aber drei,
für die Theorie und Praxis des homo sapiens integralis bedeutsame
Hinweise Wilbers.160
Zum einen die Erkenntnis, daß die das mentale Ego transzendierenden
Stufen der Integration in gewisser Weise zugleich eine Rückkehr, eine
tendenzielle Wiederaufnahme der bei der Entwicklung zum rationalen
Ego oder zur instrumentellen Vernunft abgespaltenen Dimensionen bedeuten.
159
Wilber, K., Das Spektrum der Entwicklung, in: ders. u.a., Psychologie der Befreiung. Perspektiven einer neuen Entwicklungspsychologie, Bern/MünchenWien 1988, S.
77.
160 Siehe ebenda, und ders., Wege zum Selbst, München 1984; ders., Eros, Kosmos,
Logos, Frankfurt/Main 1996.
137
In Anlehnung an Wilber und an die oben dargestellte fundamentalontologische Dreischichtung ergibt sich dabei ein fast verblüffend einfaches
Bild. Die hier der Einfachheit halber als vertikale Linie dargestellte Evolution sei dazu als auf der Mitte umkehrende und auf höherer Ebene in
sich zurückgehende Spirale vorgestellt:
1. Ursprüngliche affektive Einheit: von Körper und Natur, innerer Psyche
und Herdenpsyche, instinktiv-organischem und universellem "Geist";
2. Archaische Ebene:
Differenzierung, Spaltung, Ablösung des eigenen Körpers von der großen Natur;
3. Magische Ebene: Differenzerung, Spaltung, Ablösung der eigenen
affektiven Psyche von der Gruppenpsyche;
4. Mythische Ebene: Differenzierung, Spaltung, Ablösung des eigenen
Geistes vom universellen Geist;
5. Mentale (egoisch-rationale) Ebene: Zustand völliger Abspaltung, Lösung des entleert-menschlichen Ganzen vom es tragenen Weltgrund;
6. Psychische Ebene: Bewußte Wiederentdeckung und Integration des
eigenen Körpers und der Natur (Stufe der Umwelttechnik);
7. Subtile Ebene: Bewußte Wiederentdeckung und Integration der eigenen und der gesellschaftlichen Affekte (Stufe der Umweltethik);
8. Kausale Ebene: Bewußte Wiederentdeckung und Integration des individuellen und des universellen Sinns oder Geistes (Stufe des ökologischen Selbst);
9. Nichtduale Ebene: Bewußte Wiederentdeckung und Integration der
universellen Einheit (Mitgeschöpfliche Mitschöpfung, freie Subjektivität).
Die erste Hälfte vollzieht sich als Abkehr vom Urgrund, Ausdifferenzierung, Evolution, die zweite als Rückkehr, Integration, Involution.
138
Im Unterschied zu Wilber, der die Stufen der Evolution und Involution
eher kreisförmig, spiegelbildlich denkt, ergibt sich hier das Bild einer
kreis- und spiralförmig in sich zurückgebogenen Linie, einer sich an
Kopf und Schwanz berührenden „Schlange“ der Evolution.
Von der Konzeption Ken Wilbers ist zweitens betonenswert die Erkenntnis, daß die moderne mentale Bewußtseinsebene, auf der heute
die durchschnittliche Menschheit angelangt ist, nicht abstrakt als Abkehr
vom Ursprung zu verurteilen sondern als ambivalente, doch notwendige
Entwicklungsstufe zu verstehen ist. Die Abspaltung von der Körpernatur, der sozialen Seele und dem inneren Geist, die völlige Entleerung
und innere Nichtung des Menschen, scheint eine unvermeidliche Bedingung seiner Befreiung von allen seine Mitschöpferkraft behindernden
Beschränkungen. Moderne Wissenschaft und Technik, Sozialtheorie
und Psychologie, Philosophie und Kunst sind, so sehr sie aus dieser
Entleerung erwuchsen, nicht nur Mittel möglicher Selbstzerstörung,
sondern ebenso Mittel und Voraussetzungen einer sich auf freier und
differenzierterer Ebene ereignenden menschlichen Neuschöpfung, zu
einem in irdischer Natur, in planetarem Bund und mit kosmischem Bewußtsein mitgeschöpflichen und mitschöpfenden Wesen.
Aus dem zweiten ergibt sich der dritte wichtige Hinweis Wilbers, daß es
für die weitere Entwicklung der Menschheit bedeutsam ist, die vorrationalen oder präpersonalen von den transrationalen oder transpersonalen
Formen zu unterscheiden. Aus der inneren Leere erwächst die Sehnsucht nach Wiedererfüllung in Körper, Seele und Geist, und im unbewußten Sehnen nach neuer Ganzheit wird dabei oft nach alten, archaischen, magischen oder mythischen Strukturen gegriffen. Mit solcher
Flucht in neue Scheinwelten, Abhängigkeiten und Beschränktheiten ist
nichts gewonnen; statt kosmischem Bewußtsein, planetarem Bund und
bewahrter Erde entstünden nur neue äußere Kriege und innere Resignationen. Genau diese Gefahr einer Verwechslung von Integration und
Regression meinte auch Nietzsche mit seinem visionären Hinweis auf
die unbedingte Notwendigkeit klaren Wissens für den neuen Bund zur
Bewahrung der Erde. Die Natur, also neben der äußeren irdischen auch
die eigene innere Natur -Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Emotionalität -, ist
nach der Epoche ihrer Bezähmung und Unterdrückung wieder zum Le-
139
ben zu erwecken; jedoch nicht in ihrer ursprünglichen Blindheit, sondern
in freien, d.h. mit Wissen durchdrungenen Formen:
"Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend!
Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem Sinn der Erde!
Also bitte und beschwöre ich euch.
Laßt sie nicht davonfliegen vom Irdischen und mit den Flügeln gegen
ewige Wände schlagen! Ach, es gab immer so viel verflogene Tugend!
Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück - ja, zurück zu
Leib und Leben: daß sie der Erde ihren Sinn gebe, einen MenschenSinn!
Hundertfältig verflog und vergriff sich bisher so Geist wie Tugend. Ach,
in unserm Leibe wohnt jetzt noch all dieser Wahn und Fehlgriff: Leib
und Wille ist er da geworden.
Hundertfältig versuchte und verirrte sich bisher so Geist wie Tugend. Ja,
ein Versuch war der Mensch. Ach, viel Unwissen und Irrtum ist an uns
Leib geworden!
Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden - auch ihr Wahnsinn bricht an
uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein...
Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er sich;
dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die
Seele fröhlich."161
Neben diesem rationalen Verständnis der intuitiven Sprache Nietzsches
ergibt sich auch eine interessante Parallele zum großen Vordenker und
Inspirator der menschlichen Selbstentwicklung Johann Gottlieb Fichte.
Wie Wilber mit präpersonal, personal und transpersonal, so hob auch er
drei grundlegende Epochen der im dialektischen Zusammenspiel mit
der Gestaltung der Außenwelt geschehenden menschlichen Selbstentwicklung hervor: Die naturhaft-instinktive, undifferenzierte und unbewußte Verbundenheit von Mensch und Kosmos. Zwischen diesen sah
er jeweils Übergangszeitalter. Er charakterisierte diese Epochen in der
Sprache seiner Zeit wie folgt:
"1. Die Epoche der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinkt: der Stand der Unschuld des Menschengeschlechtes. 2. Die Epoche, da der Vernunftinstinkt in eine äußerlich zwingende Autorität ver161
Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra, Stuttgart 1985, S. 69f.
140
wandelt ist: das Zeitalter positiver Lehr- und Lebenssysteme, die nirgends zurückgehen bis auf die letzten Gründe, und deswegen nicht zu
überzeugen vermögen, dagegen aber zu zwingen begehren, und blinden Glauben und unbedingten Gehorsam fordern: der Stand der anhebenden Sünde. 3. Die Epoche der Befreiung, unmittelbar von der gebietenden Autorität, mittelbar von der Botmäßigkeit des Vernunftinstinktes und der Vernunft überhaupt in jeglicher Gestalt: das Zeitalter
der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit. 4. Die Epoche der Vernunftwissenschaft: das Zeitalter, wo die
Wahrheit als das Höchste anerkannt und am höchsten geliebt wird: der
Stand der anhebenden Rechtfertigung. 5. Die Epoche der Vernunftkunst: das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet:
der Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung."162
Fichtes Sprachgebrauch entspricht nur beschränkt dem heutigen, doch
dessen Inhalt ist aktuell: wir sprechen von bewußter gesellschaftlicher
Selbstorganisation statt vom "Selbstabdruck der Vernunft", von Gerechtigkeit und Selbstwerdung statt von "Rechtfertigung", von Ganzheitlichkeit statt von "Heiligung". Und in seiner noch ursprünglicher ganzheitlichen Sprache wohnen wichtige, in integrativer Sicht weitwirkende Hinweise. Als notwendig sah er eine neue, ganzheitliche Wissenschaft, die
jedoch nicht allein theoretisch sein dürfe, sondern, indem sie ihren Sinn
in der Gestaltung einer freien menschlichen Praxis erkennt, eher der
lebendigen Kunst als der heutigen Wissenschaft gleicht. Eine solche,
über nur private Lebenskunst hinausgehende integrale Seinskunst, d.h.
eine Integration der bisher getrennten Prinzipien von Ökologie, Ökono162
Im Sinne der oben beschriebenen Frage von Rückkehr interessant ist auch die
Fortsetzung:
"Der gesamte Weg aber, den zufolge dieser Aufzählung die Menschheit hienieden
macht, ist nichts anderes, als ein Zurückgehen zu dem Punkte, auf welchem sie gleich
anfangs stand, und beabsichtigt nichts, als die Rückkehr zu seinem Ursprunge. Nur
soll die Menschheit diesen Weg auf ihren eigenen Füßen gehen; mit eigener Kraft soll
sie sich wieder zu dem machen, was sie ohne alles ihr Zutun gewesen: und darum
mußte sie aufhören, es zu sein. Könnte sie nicht selber sich machen zu sich selber, so
wäre sie eben kein lebendiges Leben; und es wäre sodann überhaupt kein Leben wirklich geworden; sondern alles in totem, unbeweglichen und starren Sein verharret".
Fichte, J.G., Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: Fichtes Werke, Vierter Band,
Leipzig o.J., S. 405f.
141
mie, Sozialität, Wissenschaft und Kunst, könnte tatsächlich der beste
und eventuell einzige Weg zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Menschenwelt sein. Erste Ansätze dafür gibt es (siehe IV.3. und im Anhang).
Die sich herausbildende transpersonale Psychologie ist ein bedeutsamer Schritt in dieser Richtung. Im Vergleich zu Fichtes, aus der Intuition
des Ganzen schöpfender Ahnung ist sie differenzierter bei der Erkenntnis der inneren Räume und Stufen; aber dies wiederum auf Kosten einer Integration des Ganzen. Sie ist zum einen ungenügend integrativ im
Verhältnis von Innen- und Außenwelt, von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Und sie ist zum anderen ungenügend subjektiv. Obwohl Wilber in seinem bisher einzigartigen Überblick der geistigen Entwicklungsstufen des Menschen die Notwendigkeit einer Transzendenz
des Nur-Rationalen darstellt, verbleibt seine eigene Darstellung weitgehend im Bereich bloßer Rationalität. Darin entsteht kaum Raum für die
Selbstfindung der menschlichen Subjektivität, die insbesondere Fichte
als das entscheidende Moment aller weiteren Menschheitsentwicklung
begriff (siehe I.3.2.).
Erneut zum menschlichen Subjekt
Die genannten Stärken und offenen Mängel der innerhalb ihres Feldes
bedeutsamen transpersonalen Theorien werden im folgenden kurz konfrontiert mit einigen Aussagen, die aus der Tiefe der Ahnung einer integralen Wirklichkeit noch einmal die entscheidende Bedeutung der
menschlichen Subjektivität betonen. So gelang es Meister Eckhart, in
einem Satz die wesentlichen Dimensionen zu integrieren: "Wenn ich
Gott nicht zwinge, daß er alles tut, was ich will, dann gebricht es mir
entweder an Sehnsucht oder an Demut." Ein Gedanke höchster Integration von menschlicher Subjektivität und ihren, wiederum integralen
Grundlagen, der kurz aufzurollen ist.
Selbstbewußt in geradezu Fichtescher Manier betont Eckhart die geradezu universelle Potenz der Subjektivität des menschlichen Selbst. Jedoch erwächst diese Qualität nicht aus dem isolierten Ego, sondern nur
142
aus dem Bezug des menschlichen "Ich" zu "Gott" oder dem überpersönlichen Existenzgrund; und auch dies nur im integrativen Prozeß,
wenn der Mensch, ganz im Sinne von Wilbers Integration von reflux und
efflux, in sich höchstenwickeltes Mitschöpfertum (Sehnsucht) und
höchstentwickelte Mitgeschöpflichkeit (Demut) vereinen kann.
Hinter dem „Zwang Gottes" steckt so der freie Zugang in sich und zu
sich selbst, die not-wendige innere Ent-Scheidung zum universellen Ichoder Menschsein. Diese zu wagende Entscheidung stellte auch Heidegger in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ereignis des Kommens oder Ausbleibens einer "Vermenschung des Seienden". "Wie
aber die Götter? Nicht aus ‚Religion‘; nicht als Vorhandenes; nicht als
Notbehelf des Menschen, sondern aus dem Seyn, sondern als dessen
Entscheidung, künftig in der Einzigkeit des Letzten.
Warum muß diese Entscheidung gewagt werden? Weil damit die Notwendigkeit des Seyns in die höchste Fragwürdigkeit hinaufgehoben und
die Freiheit des Menschen, daß er seines Wesens Erfüllung ins Tiefste
legen kann, in die Ab-gründigkeit hinabgestoßen, weil so das Sein in die
Wahrheit der einfachsten Innigkeit seiner Er-eignung gebracht wird. Und
was ‚ist‘ dann? Dann erst ist diese Frage unmöglich, dann ist, für einen
Augenblick, das Er-eignis Ereignis. Dieser Augenblick ist die Zeit des
Seins."163
Auch Carl Amery endet mit demselben Aufruf an die nur in sich selbst
die Chance der Menschwerdung vollbringen könnenden Menschen:
"Wählt. Das ist die Botschaft des Jahrtausends".164
Der tiefe, offene Riß in der Sprache des Seins
Die rationale Selbsterkenntnis des Menschen ist eine notwendige, doch
nicht hinreichende Bedingung für die Ereignung dieser Wahl. Wie in den
bisherigen Ausführungen immer wieder bemerkt, ist die moderne, rationale Sprache in sich Ausdruck und damit immer wieder selbstorganisierendes Instrument einer Welt voller Trennungen und Risse, von denen
163
Heidegger, M., Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis, Gesamtausgabe, Band 65,
Frankfurt/Main 1989, S. 508.
164 Amery. C., Die Botschaft des Jahrtausends, München/Leipzig 1994, S.178.
143
die Risse von Innen und Außen und von Subjekt und Objekt die entscheidenden sind.
Wie bereits oben mit Hölderlin gesprochen, braucht die sich vollbringende menschliche Subjektivität eine die trennende Objektbeschreibung transzendierende, die innere Mitgeschöpflichkeit und Mitschöpferkraft erinnernde, so den Riß des Getrenntseins von Subjekt und Objekt
erschütternde Form der Erkenntnis und Kommunikation, d.h. entsprechende Sprache.
Ähnlich bei Heidegger: "Sprache und Ereignis. Aufklang der Erde, Widerklang der Welt. Streit, die ursprünglichste Bergung der Zerklüftung,
weil der innigste Riß. Die offene Stelle.
Sprache, ob gesprochen oder geschwiegen, die erste und weiteste
Vermenschung des Seienden. So scheint es. Aber dies gerade die ursprünglichste Entmenschung des Menschen als vorhandenes Lebewesen und ‚Subjekt‘ und alles Bisherigen. Und damit Gründung des Daseins und damit der Möglichkeit der Entmenschung des Seienden.
Die Sprache gründet im Schweigen. Das Schweigen ist das verborgenste Maß-halten. Es hält das Maß, indem es die Maßstäbe erst setzt.
Und so ist die Sprache Maß-setzung im Innersten und Weitesten, Maßsetzung als Erwesung des Fugs und seiner Fügung (Ereignis). Und sofern die Sprache Grund des Da-seins, liegt in diesem die Mäßigung und
zwar als der Grund des Streites von Welt und Erde."165
Ein im Schweigen gründendes Sprechen bedeutet auch ein in innerer
Vergegenwärtigung des Ganzen, in Meditation gründendes äußeres
Handeln. So erwächst im inneren Geistigen die Mäßigung des modernen Aktivismus. Gleichwohl genügt auch diese Seite nicht. Die Integration von Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Geist und Natur, von
Dissoziation und Integration braucht immer beide Seiten. Darum jetzt
vom mit Meister Eckhart begonnenen Innenblick in die Bedingungen
neuer Subjektivität zurück in deren moderne Außensicht.
165
Heidegger, M., a.a.O., S. 510
144
Mater-Idea und aufschwingende Integrationsschleifen Mitgeschöpf und Mitschöpfer Mensch in objektiver Sicht
Hier ergibt sich ein neuer, wissender Bezug zum vorangestellten Motto,
zum modern formulierten Integrationsgedanken Kurt Biedenkopfs: "Nur
das gemeinsame Bemühen um die Wiederentdeckung der Zusammenhänge, um eine ganzheitliche Betrachtungsweise in allen Bereichen der
Wissenschaft kann uns...den Zugang zu den Ordnungsgesetzen erschließen, denen die Organisation menschlicher Gesellschaft entsprechen muß, wenn sie zugleich lebensfähig und menschgerecht sein soll."
Anders gesagt: Es geht nicht um Mensch oder Natur sondern um
Mensch und Natur, letztlich sogar vor allem um die Natur des Menschen. Um eine Ökologie und Humanität (Mitgeschöpflichkeit und Mitschöpfertum) integrierende Ordnung entdecken und gestalten zu können, bedarf es einer Integration der diese Bereiche bisher trennenden
Erkenntnis-, Bewußtseins- und Gestaltungsformen. Die führende bewußtseinsbildende Institution der Moderne ist ihre Wissenschaft. Die in
ihrer jeweiligen Sprache und Methodik scheinbar unüberbrückbaren
Geistes- und Naturwissenschaften spiegeln nicht nur den gefährlichen
Riß, sondern reproduzieren ihn tagtäglich. Deshalb ist die Überbrückung
dieses Risses eine der dringendsten Voraussetzungen für alle Probleme der Moderne. Bevor dazu unten die integrative Sicht einer ganzheitlichen gesellschaftlichen Selbstorganisation oder Ordnung gewagt wird,
hier zuerst einige allgemeine Ansätze zur Integration des geistes- und
naturwissenschaftlichen Denkens.
Ein geradezu epochaler Vorschlag, wie auf der Grundlage moderner
naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die bisher unerklärbaren Bewußtseinsphänomene verständlich werden, kommt von Ervin Laszlo. Anknüpfend an die alten Äthertheorien und an neueste Forschungsergebnisse begreift er den sogenannten leeren Raum nicht als leer, sondern
als erfüllt und durchdrungen von einem universellen, allesverbindenden
Feld, welches er Nullpunktfeld nennt. "What fills the whole space is an
intense energy known as ‚zero-point field‘. It itself, this vast field is not
electromagnetic, gravitional, or nuclear. Instead, it is the originating
145
source, not only of all these known fields, but also of the matter particles
themselves."166
Damit werden nicht nur die bisher unerklärbaren, sogenannten paranormalen Phänomene, wie z.B. Telepathie oder meditative Zustände,
wissenschaftlich erklärbar. Auch die Evolution des Lebendigen, deren
Komplexität durch die Theorien von Mutation und Auslese allein nicht
erklärbar sind, bekommt so ein neues, durch Wechselwirkungen in diesem universellen Feld begreifbares Bild. Lebewesen und vor allem
menschliche Individuen sind damit nicht mehr isolierte und nur durch
einige Sinnesorgane mit ihrer Umwelt verbundene Erscheinungen sondern umgekehrt nur relativ stabile Gefüge in einem unendlichen Netzwerk innerer Verbindungen, der Biospäre, die wiederum ein Element
der weiteren Verbindungen des Kosmos ist. "Consciousness itself, an
aspect of the human organism, is embedded in this web of relations.
The emerging insight is that our brains can receive information not only
through the five senses, but also by tapping directly into the waves in
the vacuum field. Traffic between our minds and the rest of the world is
constant and flows in both directions. Everything that goes on in our
minds leaves its wave-traces in the embedding vacuum field, and our
minds are constantly receiving the subtle patterns that propagate there."167
Der allesdurchdringende Energie-, Informations- und Kreationsfluß ist
so das Primäre, das Eigentliche; die unserem bisherigen Weltbild als
einzig existent erscheinenden Dinge bis hin zu menschlichen Individuen
und Gesellschaften sind nur temporäre, stehende Wellenkomplexe in
166
Laszlo, E., Life - a dance through the zero-field, in: Caduceus. Healing into wholeness, Issue 38, Warwickshire 1997, S. 16; deutsch: „Der Raum ist erfüllt von einer
intensiven Ernergie, welche als ‚Nullpunktfeld‘ bekannt ist. Dieses ist kein elektromagnetisches, Gravitations- oder Nuklearfeld. Stattdessen ist es die ursprüngliche Quelle
all dieser bekannten Felder, doch ebenso der Materiepartikel.“
167 Ebenda, S. 17; deutsch: „Bewußtsein selbst, ein Aspekt des menschlichen Organismus, ist eingebettet in dieses Netz von Verbindungen. Die wachsende Einsicht zeigt,
daß unsere Hirne Informationen nicht nur durch die fünf Sinne, sondern auch durch
direktes Hineingehen in die Wellen des Vakuumfeldes empfangen werden können. Der
Verkehr zwischen unseren Hirnen und dem Rest der Welt fließt konstent in beide
Richtungen. Alles was in unseren Hirnen vorgeht hinterläßt seine Wellenabdrücke im
Vakuum-Feld, und unsere Hirne empfangen ständig die dort verbreiteten subtilen Muster“. Siehe auch: Talbot, M., Das holographische Universum. Die Welt in neuer Dimension, München 1994; und: Bohm, D., J. Krishnamurti, Vom Werden zum Sein,
Bern/München 1985.
146
diesem universellen Fluß. Ein scheinbar nur naturwissenschaftliches
Konzept, welches jedoch enorme Konsequenzen hat für das Selbstverständnis von menschlicher Existenz, von Leben, Tod und Verantwortung, von Mitgeschöpflichkeit und Mitschöpfertum und sogar für das
abstrakteste philosophische Problem von Materie und Geist.
Der Begriff der Materie verweist noch auf seinen wörtlichen Ursprung
von „Mater“, d.h. auf das „Urmütterliche“, das zugleich Allesumschließende und schöpferisch Hervorbringende. Im historischen Prozeß der
Bewußtseinsspaltungen wurde „Materie“ zum zugrundeliegenden, doch
nicht mehr eigenschöpferischen Prinzip. Das Schöpferisch-Aktive wurde
vom „Weiblich“-Lebendigen abgetrennt und zu einer scheinbar völlig
anderen, geistigen oder ideellen Realität. Plato sah es als eigenes
Reich der Ideen; Descartes und Spinoza unterschieden ausgedehnte
und denkende Substanz, doch dachten sie noch im Rahmen einer göttlichen Einheit; Kant schließlich gab der Moderne die metaphysische
Legitimation, die unseren Sinnen gegebene Welt als unschöpferische,
streng kausal und mechanisch wirkende zu betrachten und zu bearbeiten, die Bereiche von Schönheit oder Freiheit projizierte er in eine völlig
andere, unerfahrbare Welt der Dinge an sich.
Die dargestellten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verweisen nun
wieder auf die Identität; das zugrundeliegende universelle Feld ist in
sich selbst schöpferisch, kreativ. Der Biologe Rupert Sheldrake kommt
zu dem Schluß, daß kreative und evolutiv neue Komplexe im universellen Feld auch als bisher kaum verwirklichte morphogenetische Felder
vorhanden sein können; bis irgendwann und irgendwo der Resonanzraum entsteht, worin diese „Ideen“ sich mehr oder weniger intensiv verwirklichen.168 Die naturwissenschaftlich-moderne Identität von Seinsgrund und Kreativität, von Nullpunktfeld und morphogenetischen Feldern, ergibt so zugleich eine neue Integration der alten Begriffe von
Materie und Geist/Idee, die „Mater-Idea“ heißen könnte.
Sehr ähnliche wie die hier dargelegten Gedanken und darüberhinaus
interessante Lösungen für weitere bisher unvereinte theoretische Konzepte entwarf in jüngster Zeit Fritz Preuß. Ausgehend von einer naturwissenschaftlich-umfassend geschulten Exaktheit bietet er mutige und
168
Sheldrake, R., Das schöpferische Universum, München 1985; ders., Die Wiedergeburt der Natur. Wissenschaftliche Grundlagen eines neuen Verständnisses der Lebendigkeit und Heiligkeit der Natur, Bern 1981.
147
in ihrer Umfänglichkeit erstaunliche Erkenntnisse für eine Selbsterkenntnis des Menschen im Licht universeller Erkenntnis. Fast wie eine
Integration der oben dargestellten ontologischen Dreigliederung des
Seins und der alldurchdringenden Feldtheorie zeigt sich seine Evolution
der ursprünglichen Schöpfungskraft: Sie beginnt mit der von unbewußten Ätherkräften geführten materiellen Stufe, setzt sich über die von
vorr-, teil- bzw. grundbewußten Seelenkräften gesteuerte Stufe des Lebendigen fort und gipfelt in der vollbewußten Geisteskraft des Menschen. Deren höchste Qualität ist die Freiheit, sich für oder gegen die
Evolution, für oder gegen den Frieden der Schöpfung entscheiden zu
können. So gelangt auch er zum Begriff des Mitschöpfers Mensch, zur
Erkenntnis der Mitschöpfungswirkung des vollbewußten menschlichen
Subjekts.169
Die obigen Ausführungen zeigten uns den Kosmos als ein am Rande
des Chaos spielendes selbstorganisierendes Werden tendenziell komplexerer Gebilde, deren Evolution einhergeht mit entsprechender Involution. Dieses allgemeine Bild erklärt unsere Mitgeschöpflichkeit, jedoch
noch nicht ausreichend die mitschöpfende Potenz des Menschen. Die
Selbstorganisationstheorie zeigte uns die für das Entstehen und Stabilisieren von selbstseienden Gebilden entscheidende Funktion von Referenzmodi. Jede im Vergleich zum Bisherigen integralere Seinsweise
bedarf eines diese neue Integralität fassenden und vermittelnden Referenzmodus. Für die materiellen Formen sind dies die elementaren
Wechselwirkungen, für das Leben das neurohormonale Geschehen und
für das menschlich/gesellschaftliche Sein ist es menschlicher Geist. Die
menschliche Qualität ist so Grundbedingung der Erhaltung aller gesellschaftlichen Prozesse, aber inwieweit ist sie zugleich deren Schöpfer
und damit Schöpfer im darüber hinausgehenden kosmischen Sinn? Wo
und wie geschieht die innerste Integration von Mensch und Natur, ohne
deren Erkenntnis alle ökologischen Probleme weiterhin zwischen Umwelt- und Naturschutz umherirren? Wie sind diese scheinbar theologischen Fragen in wissenschaftlichen Begriffen denkbar?
169
Preuß, F., Die Aufbaukräfte der Schöpfung oder das Allgesetz der Friedensliebe,
Hamburg 1993; auch: Der Aufbau des Menschlichen. Die Mitschöpfung der Lebewesen
an ihrer Gestaltung. Hamburg und Berlin 1987.
148
Dazu sind die Fragen zu transformieren: Wie kann der Mensch als ein
Teil eines ihn hervorbringenden und einschließenden gesellschaftlichen
und kosmischen Prozesses zugleich dessen mitentscheidender Drehund Angelpunkt sein?
Auch hier bietet sich auf der Grundlage der modernen Physik ein neues
Bild für die Lösung dieses Paradoxons. Der Mensch ist ein im Prozeß
der Evolution herausgebildetes Ganzes von in ihm integrierten Schwingungsfrequenzen, die aus Eltern und Umgebung bis hin zum gesamten
Kosmos in ihm zusammenwirken. Die dabei zusammenkommende subtile Energie und Frequenz wird bei meditativer Er-Innerung an das Universelle in allen scheinbar einzelnen Momenten zur besonderen Qualität von "flow". Dies ist ein einzigartig integrativer Referenzmodus: Er
involviert nicht nur, sondern verwandelt sich dabei selbst in kreative
Evolution. In solchen Momenten des innerlichen Eintauchens in die
Ganzheit ereignet sich eine Art innerer Kollaps des Seins, woraus Momente eines völlig neuen, wieder dem Ursprung verbundenen Universums, Momente einer Neugeburt des universellen menschlichen Seins
entspringen.
Die das Ganze im menschlichen Moment integrierende Schleife dreht
sich in sich zurück und hinterläßt irgendein neuartiges Dasein, einen
Gedanken, eine Kunst, Erkenntnis oder Technik, geschöpft aus der besonderen Verbindung der allgemeinmenschlichen Qualität von "flow" mit
den konkreten Umständen des konkreten Menschen. Bisher ereignete
sich diese menschliche Schöpfungsqualität vor allem spontan, infolge
mehr oder weniger unbewußter, in Kreativität umschlagender Zusammenflüsse. Die dem meditativen Zustand inneren Einsseins verwandte,
nur darüber hinaus in konkretem inneren Bezug zu konkreten anderen
Dingen - d.h. in Liebe - wirkende Kreativität scheint jedoch, ebenso wie
Meditation, bewußt erlernbar, bewußt vervollkommnen zu sein. Wenn
irgendwann eine größere Zahl von Menschen beginnt, ihre Energie und
Aufmerksamkeit nicht mehr primär auf die Ausnutzung oder Sicherung
ihrer materiellen oder affektiven Bedingungen und auch nicht auf meditativen Rückzug aus der Welt, sondern auf einander potenzierende
Ausbildung ihrer eigentlich menschlichen Qualitäten von Mitgefühl und
Kreativität zu richten, dürfte eine andere, neue menschliche Ebene der
Wirklichkeit beginnen.
149
Für die menschliche Kreativität und Selbstwerdung bedeutsam und im
Licht der obigen Erkenntnisse auch einsichtig, ist die von Mihaly Csikszentmihalyi entwickelte Flow-Theorie. Er integrierte "Evolution und Psychologie" und konnte so zeigen, daß und warum Zustände des EinsSeins und der Kreativität zugleich Momente des höchsten, innerlich
empfundenen Glücksgefühls sind. "Es sind diese Empfindungen - Konzentration, Selbstversunkenheit, hohes Engagement, Freude und ein
Gefühl von Erfolg - die viele Menschen als die schönsten Augenblicke
ihres Lebens beschreiben...Ich habe solche Gefühle als flow-Erlebnisse
bezeichnet, weil viele Probanden in unseren Studien berichtet haben,
daß sie während dieser denkwürdigen Momente ganz spontan handelten, so als würden sie von der Strömung eines Flusses davongetragen."170 Dieser sie tragende Strom, in dem sie durch eigene Subjektivität gelangten, ist der universelle Strom der Evolution.
Die Identität von holistischer Selbstreferenz und menschlicher
Innerlichkeit
Am Ende dieses Kapitels, dem es um eine neue Qualität menschlicher
Selbsterkenntnis durch die Integration naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher bzw. geistiger Erkenntnisse ging, läßt sich anhand eines prägnanten Problems noch einmal die für unser Trennungsbewußtsein erstaunliche Identität beider Erfahrungsweisen verdeutlichen.
Es zeigte sich, daß selbstorganisierende Systeme aller Ebenen letztlich
bestimmt sind von der Art und Qualität ihrer Selbstreferenz. Wie viele
Subsysteme, Strukturen und Funktionen in einem komplexeren Gebilde
als ein neues Ganzes zusammenwirken, hängt entscheidend davon ab,
ob irgendein besonderer Referenzmodus zur Koordination oder Abstimmung all dieser Momente in der Lage ist. In der materiellenergetischen Seinsebene waren dies elementare Wechselwirkungen,
170
Csikszentmihalyi, M., Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Eine Psychologie
für das dritte Jahrtausend, Stuttgart 1995, S. 233f.
150
in der organismisch-affektiven Ebene neurohormonelle Prozesse bzw.
diese ausdrückende Emotionen und in der geistig-kulturellen Ebene
„höhere Gefühle“, d.h. Liebe/Wissen/Selbst bzw. Geistigkeit.
Die auf der vitalen Ebene genannte Identität von neurohormonellen
Prozessen und Emotionen deutet bereits darauf hin, daß hier nur zwei
Sprach- bzw. Wahrnehmungsformen für dieselbe Wirklichkeit vorliegen.
Diese Brücke läßt sich im Rahmen der modernen Verhaltenswissenschaften bereits denken.171 Ebenso identisch, jedoch wegen der traditionell weiten Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften bisher
kaum denkbar, sind die Begriffe holistischer oder geistig-kultureller
Selbstreferenz und menschlicher Innerlichkeit. Beide erfassen die komplexeste und integralste Ebene der Wirklichkeit. Der Referenzmodus,
der Formen geistiger Wirklichkeit - technische Erfindungen oder Entdeckungen, soziale Kreationen, Kunstwerke und Erkenntnisse - durch
eine sich in menschlichen Individuen vollziehende holistische Abstimmung mit dem universellen Ganzen erzeugt und erhält, ist genau dieselbe Wirklichkeit, die in mystischer Sprache als „höchstes Einssein“,
„Innigkeit“, „Istigkeit“ etc. erscheint.
Damit zeigt sich die Wahrheit jenes im Prolog genannten Gedankens
von Sri Aurobindo: "Wissenschaft oder zumindest Forschung werden
unerwartete, neue Richtungen einschlagen...Erkenntnisse werden die
Trennungswand zwischen Seele und Materie schwächen. Es wird versucht werden, die exakte Wissenschaft auf psychologische und psychische Bereiche auszudehnen, aus der Erkenntnis der Wahrheit heraus,
daß diese unter eigenen Gesetzen stehen, die nicht physische sind, die
aber doch Gesetze sind, wenn sie auch von den irdischen Sinnen sich
nicht fassen lassen und unendlich formbar und subtil sind.“172
171
Ermisch, A., Gehirne und Gefühle, Leipzig 1985; und ders., Stammesgeschichtliche
Grundlagen von Motivationen und Emotionen, in: Geißler, E. (Hrsg.), Vom Gen zum
Verhalten, Berlin 1988.
172 Sri Aurobindo, Zyklus der menschlichen Entwicklung, Planegg 1983, S. 270f.
151
III. Gesellschaftliche Selbstorganisation im Übergang
1. Wendezeit?
Das Verständnis der Gegenwart als einer "Wendezeit" ist spätestens
seit Erscheinen von Fritjof Capras gleichnamigem Buch ein geflügeltes
Wort. Nicht nur Visionäre oder Querdenker, auch etablierte Wissenschaftler oder Politiker erkennen die für ein Überleben der Menschheit
notwendige Erneuerung unserer Art zu denken, zu wirtschaften und zu
leben an. "Der Ruf nach Umdenken ist unüberhörbar geworden und
geht quer durch alle Bereiche der Gesellschaft."173
Doch bedeutet diese allgemeine Anerkennung der Notwendigkeit noch
lange keinen genauen Begriff, wie, wohin und wodurch diese "Wende"
hin zu neuen gesellschaftlichen Selbstorganisationsformen oder Ordnungsmustern sich vollziehen solle. Ein möglichst konkreter Begriff davon ist aber Voraussetzung, wenn der Mensch nicht wie in bisheriger
Geschichte nur teilbewußtes sondern bewußtes Subjekt dieses Vollzuges sein muß.
Capra benennt in seinem Buch die anstehenden Synthesen von westlichem und östlichem Verständnis. Als Naturwissenschaftler dringt er dabei jedoch kaum in die eigentlichen menschlichen Kernzonen als Ort
dieses Geschehens vor. Um nun einen möglichst konkreten Begriff als
Bedingung des Handelns zu finden, werden hier insbesondere diese
kaum gedachten Seiten der "Wendezeit" gesucht.
Einen guten Ausgangspunkt dafür bietet Graf Dürckheim: "Wir stehen
heute in einer Zeit der großen Wende. Der innerste Kern des Menschen, sein transzendentes Wesen, war lange in Vergessenheit geraten. Aber die lebendige Wurzel, die er ist, kann niemals zerstört werden.
Wo immer dieser Kern vergessen wird - unfehlbar kommt die Zeit, in der
er aufbegehrt. Diese Entdeckung kennzeichnet den Zukunftsmenschen
des Westens. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit nimmt
die westliche Welt Erfahrungen ernst, in denen dieser Kern sich meldet.
Es geschieht heute nicht nur, wie zu allen Zeiten, in jenen kleinen Krei173
Ulrich, H., G.J.B. Probst, Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln,
Bern/Stuttgart/Wien, 1995, S. 11.
152
sen, die man die Mystiker nannte, sondern auf breiter Front. Das bedeutet, schlicht gesagt, die Wiederentdeckung der Seele, nun aber nicht
als eine Angelegenheit des Glaubens, sondern als eine unausweichliche und erfahrbare Wirklichkeit."174
Die anstehende Wende geht also weit über alle nur aus den heute herrschenden Begriffen abgeleiteten Sichtweisen hinaus. Um sie nicht nur
zu prognostizieren, sondern im erhellenden Sinne zu begreifen, werden
im folgenden einige dahin tendierende Theorieansätze für einen entsprechend integralen Begriff der Gesellschaft synthetisiert. Aus diesem,
theoretisch begründeten Blickwinkel werden manche intuitiven Prognosen vorausschauender Denker über die Zukunft von Mensch und Gesellschaft leichter verständlich.
Die Theorien der Selbstorganisation und der Komplexität entstammen
zwar weitgehend den Bereichen der Naturwissenschaft, sie bergen, als
auf einen Begriff des Ganzen gerichtete Theorieansätze, jedoch auch
interessante Möglichkeiten für das differenzierte Verstehen menschlicher Gesellschaft. Eine direkte Übertragung der naturwissenschaftlichen Theorien birgt jedoch Probleme. So erarbeitete z.B. der Soziologe
Niklas Luhman eine auf den ersten Blick faszinierend differenzierte Betrachtung von Gesellschaften als "Sozialen Systemen"175, die wichtige
Hinweise auf notwendige strukturelle Regelungen für ökologische Korrekturen ergibt. Doch da er, als typischer, positivistisch orientierter Soziologe, keine ontologische Differenzierung von Seinsschichten und so
auch keine eigengesetzliche Wirkung höherer menschlicher, nicht auf
die jeweilige Gesellschaft reduzierbarer Einflüsse kennt, gerinnt seine
Theorie zu einer zwar hochkomplexen, doch geistig unbefriedigenden
Systemtheorie. Diese Erklärung von Gesellschaft allein auf der Ebene
eines symbolisch organisierten Tierreiches hat keinen Raum für die
subjektive menschliche Freiheit der Entscheidung, der Mitschöpfung
und der die vormenschliche Egozentrik übergreifenden Verantwortung.
Noch Kant, der auf seine Weise die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft vollzog, kam nicht umhin, verwundert die für ihn unbegreifbare menschliche Fähigkeit zu Freiheit zu konstatieren. Offensicht174
Dürckheim, K.G., Von der Erfahrung der Transzendenz, Freiburg 1985, S. 92.
Luhmann, N., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt
1984; siehe auch: ders., Ökologische Kommunikation, Opladen 1986.
175
153
lich gehöre der Mensch nicht nur einem Reich der Naturereignisse an,
ist er nicht völlig gefangen im ihn umgebenden Ablauf von Ursachen
und Notwendigkeiten, sondern kann als vernünftiges Wesen selbst Beginn einer Kausalkette sein. Er bekennt, daß er "niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen,
wäre nicht das Sittengesetz...dazugekommen und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen". Doch wie dies möglich sei, "wie reine Vernunft
praktisch sein könne...für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein
Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken könne, das
zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend,
und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen", sei vergeblich.176
Eine solche Vorentscheidung, den Menschen und dementsprechend
auch seine gesellschaftlichen Strukturen nicht als subjektlos funktionierende Systeme, sondern als von SUBJEKTIVEN, d.h. im oben genannten Sinne geistig-sinnhaften Momenten mitbeeinflußte Ganzheiten zu
betrachten, läßt sich auf der Grundlage der obigen ontologischanthropologischen Ausführungen treffen. Damit ergibt sich für die gesellschaftliche Selbstorganisa-tion folgendes, nicht die gesamte Komplexität doch die fundamentalen Ebenen und Grundfunktionen berücksichtigende Bild:
Gesellschaften entstanden aus tierischen Horden durch die Evolution
der neuen Referenzqualität geistig-kultureller Selbstorganisation. Um
die Besonderheit des Neuen zu verstehen, ist zuerst das Organisationsbild einer dieser Ebene vorhergehenden Tierhorde zu vergegenwärtigen: Es ist ein weitgehend biogenetisch verankertes Gesamtsystem
von Trieben oder Instinkten. Diese organisieren selbst nicht nur die
Funktionskreise von Nahrung, Fortpflanzung und Schutz sondern darüber hinaus, durch spezielle Herden- und Dominanzaffekte, die Struktur
der Herde. Der Einzelorganismus ist darin, d.h. in das System der durch
ihn durchgehenden und ihn in allen Lebensfunktionen affektiv ergreifenden Reaktionen, eingeschlossen, er funktioniert als ein Teil der sich
insgesamt selbsterhaltenden Herde. Die Selbstreferenz des Ganzen,
176
Siehe Kant, Immanual, Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1971, S. 603ff.; ders.,
Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig 1878, S. 41; und ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in ebenda, S. 282.
154
d.h. die Koordination der Teilfunktionen der Herde zu einem relativ einheitlich in ihrer Umwelt agierenden Ganzen, vollzieht sich in neurohormonellen, d.h. die physiologischen Funktionen des Einzelorganismus
weitgehend dem Ganzen unterordnenden Prozessen. Der tierische Einzelorganismus, der ja als eigenes Ganzes auf die ihn über verschiedene
Sinnesorgane erreichenden Signale reagiert, kann diese Prozesse
möglicherweise empfinden177 und auf dieser Ebene sogar mit dem
Menschen kommunizieren, er verfügt jedoch nicht über die besondere,
erst den Menschen als Individuum aus der Affektivität heraushebende
SUBJEKTfähigkeit.
Die tierhaft-affektiven Funktionen bleiben im gesellschaftlichen Bereich
weitgehend erhalten, auch menschliche Wesen re-agieren in weiten
Teilen ihrer Lebensprozesse eher instinktiv-unbewußt denn subjektivselbstbewußt auf verschiedenste Affektionen. Doch diese Affekte genügten nicht zur bisherigen und genügen erst recht nicht zur zukünftigen
Selbstorganisation menschlicher Gesellschaft. Erscheint diese auch
nach außen hin als ein Ensemble von vermittelnden Artefakten wie
Werkzeugen, Worten oder Kunstwerken, so ist doch das wesentliche
Geheimnis ihrer Existenz die Qualität ihrer Selbstreferenz. Die im Übergangsprozeß zum Menschen gebildeten Subjektpotenzen, hier neben
Wissen und Selbst vor allem die emotionale Qualität von Liebe (siehe
oben II.7), ermöglichen die Einbeziehung und sogar Kreation anderer,
über die eigenreferenziellen Funktionen hinausgehender Komplexe.
Diese werden bei Eignung in die vorausgesetzten gesellschaftlichen
Strukturen integriert, ergeben so als Werkzeuge eine effizientere energetisch-materielle Selbstreproduktion, als Kommunikationsmittel eine
Vervielfältigung der interagierbaren bzw. mitteilungsfähigen Komplexe
und als geistige Formen (Ideen) die tendenzielle Entfaltung der eigentlich menschlichen Qualitäten.
Hier ist ein erinnernder Zwischenvermerk wichtig: Die Evolution von
Mensch und Gesellschaft aus dem Tierreich ist ein widersprüchlicher,
unentschiedener, nach wie vor zwischen den Ebenen des tierhaften und
des menschlichen Niveaus schwankender Prozeß. Alle kulturelle
177
Über die Empfindungsfähigkeit von Tieren und Pflanzen siehe bei Roads, M.J., Mit
der Natur reden, Interlaken 1994; oder bei Schul, B., Wunderbare Tier- und Pflanzengeheimnisse, Interlaken 1995.
155
Schöpfung und damit dadurch mögliche gesellschaftliche Evolution ereignete und ereignet sich immer nur in menschlichen, d.h. in der Präsenz der menschlichen Potenzen vollzogenen Akten. Kein instinktiver,
d.h. im Zweck der Organismus- oder der Gruppenerhaltung ablaufender
Affekt ist zu einer wirklichen, d.h. der bestehenden Komplexität oder
Innigkeit Neues hinzufügenden Schöpfung fähig. Rousseau ahnte, daß
bereits das erste Wort nur ein Akt der Liebe, d.h. der sympathischen
Beziehung zum benannten Gegenstand, sein konnte. Und der russische Denker und Praktiker Peter Kropotkin führte anhand von ihm aufgezeigter Beispiele eine höchst interessante Diskussion mit den seinerzeitigen Wissenschaftlern, die versuchten, das Modell tierischer, d.h.
durch Mutation und Konkurrenz wirkender Evolution auf die Gesellschaft zu übertragen. Er zeigte, daß alle entscheidenden Kulturleistungen, von der Erfindung des Gartenbaus über grundlegend neue, Technik und Wirtschaft erweiternde Erkenntnisse, bis hin zu weltbewegenden Ideen wie denen von Sokrates oder Jesus, immer in solchen Zeiten
geschahen, in denen freier sozialer Raum für die Entfaltung der
menschlichen Potenzen bestand bzw. solcher durch echte menschliche
Initiative geschaffen wurde.178
Damit wurde bereits gesagt, daß die bisherige Geschichte keineswegs
immer zugleich menschliche Geschichte war, eher im Gegenteil, es gelang bisher nur hin und wieder und für vorübergehend kurze Zeiträume
die Selbstorganisation freier Gesellschaftsformen der menschlichen
Entfaltung und Mitschöpfung. In diesen ereigneten sich alle entscheidenden Kulturleistungen. Deren neue Möglichkeiten komplexerer Realität wurden jedoch bisher immer wieder als Mittel insgesamt tierhaftaffektiver Gesellschaftsformen funktionalisiert. So wurden z.B aus den
ursprünglich in Freiheit erfundenen Gartenbaukünsten, die den Anwendenden ein höheres Maß an Muße zur Entfaltung und zum Selbstgenuß
ihrer menschlichen Qualitäten ermöglichten, Mittel der Verselbständigung von Macht, der Ausgliederung herrschender Klassen aus dem Reproduktionsprozeß und des Zwangs breiter Schichten in eher unmenschliche Produktionsformen.179
178
Kropotkin, P., Wsaimnaja pomoschtsch kak faktor evoljuzii, Charkow 1919.
Siehe dazu bei Mumford, L., Mythos der Maschine, Frankfurt 1981; oder Thompson, W.I., Der Fall in die Zeit, Reinbek bei Hamburg 1987.
179
156
Inwieweit diese bisherige widerprüchliche, menschliche Fortschritte und
Rückfälle einschließende Geschichte ein unvermeidlicher Übergangsprozeß war und ist, kann erst im Falle der Verwirklichung einer weitgehend menschlich selbstorganisierenden Gesellschaft beantwortet werden. Daß ein solcher Schritt in eine menschliche Geschichte nicht nur
ohne moralische Überforderung der Individuen möglich, sondern angesichts der gegenwärtigen Probleme sogar notwendig ist, soll im folgenden weiter ausgeführt werden.
2. Die Selbstorganisation, Evolution und Involution von
gesellschaftlichen Ganzheiten
Mit Hilfe der im kulturellen Prozeß geschöpften Werkzeuge, Institutionen und Ideen bildeten sich im geschichtlichen Prozeß alle uns bekannten gesellschaftlichen Teilbereiche von Wirtschaft, Sozialität und
Kultur. Für deren Selbstreferenz und ideelle Entwicklung gibt es jeweils
besondere Formen, die Wirtschafts-, Sozial- oder Kulturwissenschaften.
Aus deren Blickwinkel ergibt sich jedoch kein Bild gesellschaftlicher
Selbstorganisation als Ganzes, denn sie sehen die Gesamtgesellschaft
immer nur aus der Teilsicht ihrer eigenen Problemlösungsfelder: die
Wirtschaftstheorie erfaßt Menschen nur aus der Sicht der Stabilisierung
oder Effizierung von Reproduktions- und Verteilungsproblemen; die Soziologie betrachtet Gesellschaft als ein Feld sozialer Analysen, und
Kulturwissenschaften erfassen die Zustände und Entwicklungen geistigkultureller Aspekte. Ein die Gesellschaft als Ganzes verstehender Blick
erfordert philosophisch-ontologische Einsichten in die ganzheitlich wirkenden Tiefenstrukturen, in die unsichtbaren Adern menschlicher Wirklichkeit. Ein solcher Blick wird auf der Grundlage der oben (II.2.) umrissenen Ontologie möglich.
Gesellschaft ist in dieser ontologisch-ganzheitlichen Sicht ein komplexes selbstorganisierendes System, welches alle drei fundamentalen
Seinsschichten umfaßt und in sich zusammenschließt. Sowohl die physikalisch-energetische als auch die organismisch-affektive wie die geistig-kulturelle Ebene wirken zusammen und ergeben ein Gesamtsy-
157
stem. Die entscheidende Frage dabei ist die nach dem Ineinandergreifen der Schichten.
Diese Frage ist klar zu unterscheiden vom Zusammenwirken der gesellschaftlichen Subsysteme, die jeweils der Selbstorganisation der sich
aus den Schichten ergebenden Funktionen dienen und dazu Funktionen aller Ebenen für den jeweils eigenen Zweck integrieren. So organisiert das Wirschaftssystem zwar vor allem die materielle Reproduktion,
ist in sich selbst aber bereits ein schichtenübergreifender Komplex, der
kulturelle und soziale Funktionen für diese Reproduktion einbezieht.
Ähnlich vollzieht das Sozialsystem moderner Gesellschaft zwar vor allem die komplexe Selbstorganisation der affektiv-sozialen Lebensfunktionen, dies jedoch unter Einbezug kultureller und materieller Funktionen. Auch die geistige Schicht hat primär ihr dienende gesellschaftliche
Strukturen wie Bildungssystem, Kultur- und Kunstinstitutionen, die aber
für ihre komplexe gesellschaftliche Selbstorganisation wiederum auch
andere, soziale und materielle Funktionen nutzen. Und dazwischen liegen zahlreiche vermittelnde gesellschaftliche Subsysteme wie Wissenschaft, Recht, Verwaltung, Medien etc., deren schichtenübergreifender
Charakter offensichtlich ist.180
In ontologisch-übergreifender Sicht, d.h. bewußt abstrahierend von den
je besondere Bilder für ihren je besonderen Zweck erzeugenden gesellschaftlichen Teilsystemen, ergibt sich ein im Vergleich zur äußeren gesellschaftlichen Komplexität relativ einfaches, klares Bild. Dabei ist, neben der Anerkennung der Seinsschichten, die Berücksichtigung des
oben (siehe II.2.) ausgeführten doppelten Determinismus wichtig. D.h.
die Realität, in welcher Form auch immer, unterliegt Einflüssen "von
unten" und "von oben", und erst das Verständnis von deren Zusammenspiel ermöglicht verstehende und beeinflussende Einsichten. Die
Reihenfolge der folgenden Darstellung entspricht so allein unserem linearen Verstand und Darstellungsvermögen, sie ist nicht gleichzusetzen
mit der inneren Logik der Sache. Deshalb bitte ich die Lesenden darum,
180
All deren selbstorganisierende Funktionen und Strukturen sind sehr gut differenziert
und ausgeführt bei Luhmann, N.; Soziale Systeme, a.a.O.
158
im inneren geistigen Raum daraus ein Ganzes, von allen Ebenen zugleich gebildetes Integral zu denken.
Erleichtert werden innerer Gedanke und Vorstellung des Ganzen, wenn
dem Vollziehenden bewußt ist, daß das unseren Sinnen entgegentretende Bild im Normalfall weniger die objektive Realität als unser Sinnesvermögen ausdrückt. Die in der organisch-affektiven Ebene geprägten
Sinnes- und Verstandesorgane ordnen den Nahbereich der Wirklichkeit
in einer für das eigene Überleben zweckhaften Art und Weise, die nur
wenig übereinstimmt mit dem von uns weitgehend unabhängigen, in
jedem seiner zeitlichen oder räumlichen Momente in innerer, uns unsichtbarer Wechselwirkung mit dem gesamten Seienden existierenden
Ganzen. Die Art und Weise dieser durch unsere Sinnesorgane oder
deren technische Hilfsmittel nicht wahrnehmbaren universellen Wechselwirkung, die noch den uns scheinbar leeren Raum durchzieht, läßt
sich am ehesten mit Feldern, Wellen oder Schwingungen einer uns
nicht zugänglichen Frequenz vergleichen. Auch der traditionelle Begriff
des "Weltäthers", der von der modernen Physik trotz anderslautender
Wunschbilder nicht widerlegt wurde181, oder Begriffe wie "feinstoffliche
Wirklichkeit" mögen hierbei helfen. Nicht nur die zu Anfang des Jahrhunderts von Heisenberg entdeckte, das zuvor scheinbar stabile Weltbild erschütternde Unbestimmtheitsrelation, sondern auch neue Erkenntnisse über die Natur des Lichtes bzw. der Biophotonen verweisen
auf die Existenz dieser unseren Sinnen nicht zugänglichen Wirkungen
und Wirklichkeiten182 (siehe II.3.5.).
Gesellschaft, in welcher Größenordnung auch immer, organisiert sich
selbst im Zusammenspiel der drei fundamentalen Ebenen, die wir oben
(II.1.) als materiell-physikalische, organisch-affektive und geistigkulturelle Realitäten bezeichnet hatten. Als die allgemeinen Hauptproblemfelder - positiv gesagt: allgemeinen Hauptspielfelder - jedes
selbstorganisierenden Seins hatte sich zum einen Selbstreferenz und
zum anderen Negentropie erwiesen. Selbstorganisierende Systeme aller Ebenen existieren nur als referenziell geschlossene und negentro181
Siehe Jeans, J., In unerforschtes Gebiet, in: Dürr, H.-P., Physik und Transzendenz,
München 1990, S. 44f.
182 Eine gute Zusammenfassung diesbezüglicher Forschungen und Erkenntnisse liefert Bischof, M., Biophotonen. Das Licht in unseren Zellen, Frankfurt/Main 1995.
159
pisch offene. Selbstreferenz bedeutet, daß jede selbstseiende Entität
durch einen auf der jeweils höchsten beteiligten Seinsebene wirkenden
Referenzmodi alle ihr zugehörigen Organe, Strukturen, Funktionen etc.
so miteinander abstimmt, daß sie sich als im Sinne des Ganzen ergänzende fungieren. Negentropie bedeutet, daß das System zur Aufrechterhaltung seiner, im Vergleich zur Umwelt komplexeren bzw. intergrierteren Strukturen/Funktionen hochwertige Energien, Schwingungen bzw.
Affekte aus seiner Umwelt selektiv, d.h. mit antreibender und nicht zerstörender Wirkung, aufnehmen muß. Dies geschieht passiv, durch Filter
(wie z.B. die Erdatmosphäre vorwiegend die für Leben notwendigen
Strahlungen passieren läßt), oder wird in höheren Ebenen tendenziell
aktiv selbstorganisiert (wie z.B. freie Geistigkeit die Affektwelt bewußt
integriert).
Das vereinfachte Bild gesellschaftlicher, sich durch Menschen als Wesen aller Ebenen verwirklichende Selbstorganisation zeigt so:
A - die materiell-physikalische Ebene, d.h. Nahrung, Wärme, Schutzund Transportmittel etc., als Basis. Diese referiert sich selbst durch
elementare Wechselwirkungen und bezieht aus der Umwelt des Nullpunktfeldes Negentropie in Form von hochwertiger Strahlungsenergie
B - die organisch-affektive Ebene, d.h. vor allem Anerkennungs- und
Machtstruktur, als Mitte. Diese referiert sich selbst durch neurohormonell vermittelte Affekte und bezieht aus der Umwelt Negentropie in Form
von hochwertigen materiell-physikalischen Entitäten.
C - die geistig-kulturelle Ebene, d.h. Inspiration, Erfindungen, Kunst,
Ideen etc., als Gipfel. Diese referiert sich selbst durch kulturell organisierte Formen geistiger, d.h. das Einzelne mit dem universellen Ganzen
verbindender Wirkungen und bezieht ihre Negentropie aus den organisch-affektiven Impulsen.
Die vollbewußte Vergegenwärtigung dieses abstrakten Blickes ergibt
einige wichtige Klarheiten für das Verständnis von Gesellschaft:
1. Aus der organisch-affektiven Schicht stammende Frequenzen, ob
Dominanz-, Zugehörigkeits-, Eifersuchts- oder andere affektive Triebe,
160
sind der tragende, erhaltende Grund aller höheren gesellschaftlichen
Organisationen. Dieses für alte Hochkulturen selbstverständliche Wissen ist wichtig, um das in der Vormoderne und Moderne verdrängte Bild
einer vorwiegend von materiell-physikalischen Frequenzen gespeisten
Gesellschaft zu korrigieren. Das insbesondere durch Sigmund Freud
neuentdeckte gesellschaftliche Affektive wirkt dabei nicht tierhaft pur,
seine Impulse werden vielmehr durch spezielle Erziehungsformen zur
gesellschaftskonformen Wirkung diszipliniert. Zur Disziplinierung der in
sich selbst geschichteten Affekte dienen entweder höhere, komplexe
Affekte, d.h. vor allem Gruppen-, Anerkennungs- oder Dominanzaffekte.
So bilden sich verschiedenste Sublimationen, Neurosen etc. Oder die
Organisation geschieht durch selbstbefreiende geistige Qualitäten wie
Liebe, Wissen und Wille, dann bilden sich trotz bzw. mit ihren Leidenschaften freie menschliche Wesen, Individuen und menschliche Gesellschaften.
2. Echte gesellschaftliche Evolution und Involution, d.h. die Erweiterung
gesellschaftlicher Komplexität und Integration, geschieht immer nur
durch Momente geistiger Einwirkung, sei es in Form einer Entdeckung
oder Erfindung, einer Erkenntnis oder einer kreativen Gestaltung. Nur in
solchen von Liebe, Wissen und Willen gespeisten Momenten, dringt
neues Universelles in bisherige, so oder so immer auch beschränkte
gesellschaftliche Strukturen, erweitert bzw. integriert sie. Dies bestätigt
die oben konstatierten Vermutungen, daß entscheidende menschheitliche Momente immer nur aus solchen Motiven und entsprechend gestimmten menschlichen Verbündungen entsprangen. Andersartige, primär auf der Ebene von Dominanz-, Angst- oder anderen Affekten spielende Prozesse können bereits geschöpfte geistige Momente nutzen,
erzeugen dabei jedoch immer nur neu beschränkende Wirklichkeiten.
Ein Beispiel dafür ist die alles Leben gefährdende und bedrohende Nutzung der durch inspirierte Wesen wie Einstein vollbrachten Entdeckung
des atomaren Kerngeschehens, ein anderes die Benutzung ursprünglicher Befreiungsimpulse wie z.B. derer von Jesus oder Mohammed für
neue Vermachtungsformen.
Eine sehr interessante Erkenntnis über die vom Geistigen her wirkende
gesellschaftliche Evolution findet sich beim Wirtschaftsethiker Karl Ho-
161
mann. Entgegen der weitläufigen Auffassung eines geistlos entstandenen und waltenden Subsystems freier Marktwirtschaft zeigt er nicht nur,
daß ihre Begründung durch den Philosophen Adam Smith ein Akt tiefen
und kreativen Engagements für menschliche Freiheit und Entfaltung
war. Er zeigt auch, daß es für die bestmögliche Funktion dieses, tendenziell allen menschlichen Wesen die Voraussetzungen kreativer Entfaltung ermöglichenden Subsystems immer wieder eines hütenden Eingreifens des politisch-rechtlich organisierten Geistes bedarf, um affektiveinwirkenden Tendenzen von Vermachtung zu begegnen183.
Mit Homanns Hinweis auf die bestmögliche Funktion des letztlich zur
Reproduktion materiell-physikalischer Negentropie dienenden Wirtschaftssystems - bestmöglich dabei mit ihm begriffen im Sinne eines
übergreifenden Zieles freier menschlicher Entwicklung - ergeben sich
erste Rückschlüsse von der allgemeinen Sicht gesellschaftlicher
Selbstorganisation auf möglichst sinnvolle Formen ihrer konkreten Praxis. Nicht nur Homann sondern auch andere Denker aus verschiedenen
Traditionen erkannten dabei allgemeine Prinzipien der Ordnung gesellschaftlicher Gesamtorganisation, die der hier ontologisch gewonnenen
Einsicht verblüffend verwandt sind. Dazu und wie dieser klärende Blick
helfen kann, bisherige grobe Disharmonien und Behinderungen
menschlich-gesellschaftlicher Evolution/Involution zu erkennen, im folgenden einige Ansätze.
3. Chaos und Selbstorganisation, gesellschaftliche
Ordnungsmuster und Wandel
Die in der universellen, Natur und Gesellschaft übergreifenden Evolution entstandenen Gebilde oder Systeme erhalten sich im Sein durch die
ihnen inhärenten Prinzipien der Selbstorganisation(siehe II.2.). Für ein
Bild des gesellschaftlichen Ganzen ist dieser Fokus der Selbstorganisa183
Homann, Karl, Wirtschaftsehtik als Ordnungsethik, in: Homann, K./ F. BlomeDress, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, S. 20ff.
162
tion zu erweitern. Er ist zum einen einzubetten in eine umfassendere
Sicht von Chaos, Komplexität und Evolution, zum anderen zu konkretisieren für die im menschlichen Bereich geltenden besonderen Formen
bewußt organisierter Selbstorganisation. Dabei helfen die Begriffe und
Sichtweisen natürlicher und gesellschaftlicher Ordnungsmuster.
Aus der Gewohnheit unserer alltäglichen Lebensvollzüge und beschränkten Lebenszeit erscheint uns das Vorhandensein von Ordnungen, von dauerhaften Mustern und Regeln in allen Bereichen als normal. Nicht so ist es jedoch im darüber hinausschauenden Blick. Dann
erscheint das Ganze als ein sich ständig bewegender Fluß, in dem Dinge entstehen, sich verändern und vergehen. Die Erkenntnis der modernen Chaos- und Komplexitätsforschung lehrt, daß das uns gewohnte
geordnete Leben nur eine "Insel im Chaos" ist und daß auch alle so
seienden Dinge oder Systeme nicht dauerhaft, sondern nur als am
Rande des Chaos fließende Gebilde existieren. Dies ist auf den zweiten
Blick folgerichtig und unvermeidlich: Nur ein Gebilde, welches sich in
sich selbst fließend erhaltend dem ewig umgebenden Fluß anpaßt,
kann im Sein bleiben; jedes feste, unfließend-unflexible wäre kurzfristig
verflossen.184
Dies, das Fließgleichgewicht am Rande des Chaos, ist die eine Seite
selbstorganisierenden Seins, die andere, diesem scheinbar und oft
auch real entgegenstehende, ist die Ausbildung relativ stabiler Ordnungsmuster. Beides sind zugleich nur andere Aspekte der oben als
energetische Offenheit und referenzielle Geschlossenheit begriffenen
Selbstorganisationsprinzipien. Um im umgebenden universellen Fluß
überhaupt etwas Besonderes zu sein, bedarf es der Abgrenzung, die
zugleich eine Eingrenzung darstellt, und eines sich ab- und eingrenzenden Inhaltes. Dieser fließende Inhalt braucht und bildet eine Form oder
Ordnung, d.h. ein relativ stabiles Muster, in dem sich negentropische
und referenzielle Prozesse verschiedenster Seinsebenen in gegenseitiger Wechselwirkung und so im Sein erhalten.
Für ein Planetensysstem bildet sich diese Ordnung in den Abständen
und Umlaufbahnen, für einen Organismus in den regelmäßigen Prozessen der verschiendensten Organe, und in der Gesellschaft finden wir
184
Siehe gut bei Lewin, R., Die Komplexitätstheorie. Wissenschaft nach der Chaosforschung, Hamburg 1993; und Waldrop, M.M., Inseln im Chaos. Die Erforschung komplexer Systeme, Reinbek bei Hamburg 1993.
163
Ordnungsmuster vielfältigster Art, von anerzogenen Normen und Gewohnheiten bis hin zu rechtlich fixierten Regeln und Institutionen.
In allgemeiner Sicht gibt es dabei eine Dialektik von Inhalt und Form
oder Ordnung. Der Inhalt bildet eine ihn stabilisierende Form, da aber
jede Erstarrung Tod wäre, kann diese keine absolute, ewig unveränderbare sein; der beständig fließende und variierende Inhalt verändert daher hin und wieder seine Form, paßt diese seiner veränderten Wirklichkeit an. Da aber die Form der Bändigung des sonst chaotischen Inhaltes dient, kann es geschehen, daß eine Umformung der alten Form
durch den gewandelten Inhalt nicht gelingt und somit das gesamte Gebilde wieder im universellen Fluß verschwindet.
In den physikalischen und organischen Ebenen ereignet sich die Bildung von Formen und Ordnungen naturhaft spontan, die Ebene von
Mensch und Gesellschaft entsteht und entwickelt sich nur im mehr oder
weniger bewußten Mitschaffen und Mitschöpfen durch den Menschen.
Hinsichtlich der Dialektik von Inhalt und Ordnung erwächst daraus ein
Dilemma. Dieses erscheint - aus der Sicht des begrenzten individuellen
Lebens - im Normalfall relativer gesellschaftlicher Stabilität nur am Rande, es wird in Zeiten anstehender gesellschaftlicher Evolution jedoch
zum existentiellen Problem für Individuen und Gesellschaft:
Im Normalfall genügen zur Wahrung des lebensnotwendigen Flusses
gelegentliche kleine Impulse, kleine technische, soziale oder kulturelle
Variationen oder Veränderungen, die eine völlige Erstarrung vermeiden.
Dafür hat noch die Natur gesorgt, es gibt immer einen geringen Prozentsatz der menschlichen Spezies, deren Lebensprinzip weniger der
Vollzug der vorgegebenen und eingewohnten Muster, als deren Infragestellung und die Suche nach neuen, universal gesehen besseren Mustern ist. Die Mehrzahl der eher in der Gewohnheit und Regel lebenden
Individuen sorgt jedoch dafür, daß diese nicht die gegebene Ordnung
gefährden.
In Übergangszeiten wie der gegenwärtigen genügen diese wenigen
nicht, dann bedürfte es mächtiger Impulse. Dafür jedoch gibt es keine
Voraussetzungen in der menschlichen Natur. Dies ist letztlich der
Grund, warum in der bisherigen Geschichte keine Gesellschaft zur inneren Erneuerung in der Lage war. So mußte mit der alten Ordnung jeweils fast die ganze Gesellschaft, d.h. Individuen, Artefakte etc., untergehen.
164
Daraus erwächst heute, da der anstehende Wandel nicht nur einen von
vielen Stämmen oder Staaten sondern die Menschheit insgesamt betrifft, Gefahr, Problem und Chance: die Gefahr, daß die naturhafte
Trägheit der Gewohnheiten die Lebensgrundlagen der gesamten
Menschheit zerstört. Das Problem, dies zu erkennen und daraus dann
die Chance einer bewußten, die Dialektik von Fluß und Ordnung, Inhalt
und Form, Stabilität und Wandel in menschenwürdiger Form vollziehenden gesellschaftlichen Existenz und Evolution.
4. Erkenntnisse für eine freiheitliche Wirtschafts- und
Sozialordnung
Die unbewußt evolvierte gesellschaftliche Komplexität, die sich uns in
den oben dargestellten Subsystemen von Wirtschaft, Recht, Bildung
etc. darstellt, orientierte sich nicht an der einfacheren Ordnung der
schichtenspezifischen Erfordernisse und erzeugte so nicht nur komplexintegrierte Formen, sondern immer wieder auch komplizierte, für das
gesellschaftliche Ganze eher destruktive denn integrative, so freiheitshindernde Zwischengebilde. Diese zwar immer wieder von neuen kreativ-integrativen Impulsen fortbewegte, doch insgesamt blinde Form gesellschaftlicher Selbstorganisation und Evolution war bisher dominierend. Sie wird aber heute, da die erreichte materielle Potenz und soziale
Differenzierung in dieser affektiv-blinden Form das irdische Ganze bedroht, zum Problem der weiteren gesellschaftlichen Evolution und
menschlichen Existenz überhaupt. Das notwendige Pendant einer das
Ganze berührenden Dimension gesellschaftlichen Stoffwechsels und
Verkehrs ist eine dies Ganze integrierende, d.h. eine übergreifend
menschliche bzw. menschheitlich geordnete Selbstorganisation. Deshalb werden im folgenden einige mit den obigen Einsichten in die allgemeinen ontologischen Grundlagen des gesellschaftlichen Seins vereinbare Hinweise auf klarer geordnete und dennoch komplexere und
integrierte - so freiheitsfreundliche - gesellschaftliche Selbstorganisationsformen dargestellt. Als deren entscheidende Bedingung wird dabei
immer wieder, neben den für menschliche Entfaltung aller Individuen
165
erforderlichen materiellen Voraussetzungen, die Erkenntnis und darauf
beruhende Neuordnung des Gesamtzusammenhangs betont.
Bereits zu Anfang des Jahrhunderts gab Rudolf Steiner, der Begründer
der Anthroposophie, einige, aus der oben eingenommenen ontologischen Sicht interessante Hinweise für die Zukunft menschheitlicher
Entwicklung. Ausgangspunkt für ihn war die Klarheit, daß es um eine
Neuintegration von Innen und Außen geht; daß es darum geht: "die Lebensfrage der Gegenwart und der nächsten Zukunft in dem umfassenden Sinne einer Frage der äußeren Einrichtung und der inneren Erneuerung zu sehen". Dazu bedürfe es mehr als nur "engherziger Routine", sondern eines Gedankens vom Zusammenhang des Ganzen. Aus
der Erkenntnis dieses Zusammenhanges ergab sich ihm die Logik der
Dreigliederung des gesellschaftlichen Organismus.
Gesellschaft hat drei grundlegende Bereiche: Wirtschaft, Soziales und
Geistiges. Diese haben jeweils ihre eigenen Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten. Deshalb ist es für ein möglichst harmonisches Ganzes
wichtig, diese Eigengesetzlichkeiten zu beachten und keinen Bereich
mehr als notwendig mit dem anderen zu verquicken. "Nicht darum kann
es sich in dem gegenwärtigen Augenblicke weltgeschichtlicher Entwicklung handeln, eine andere Art der Abhängigkeit des Rechts- und
Geisteslebens vom Wirtschaftsleben anzustreben, sondern darum, ein
solches Wirtschaftsleben zu gestalten, in dem nur Gütererzeugung und
Güterzirkulation sachgemäß verwaltet werden, in dem aber aus der
Stellung des Menschen in dem Wirtschaftskreislauf nichts bewirkt wird
für seine rechtliche Stellung zu andern Menschen und für die Möglichkeit, die in ihm veranlagten Fähigkeiten durch Erziehung und Schule zur
Entfaltung zu bringen...Dieselben Menschen, welche dieser Wirtschaftsorganisation angehören, bilden eine in bezug auf Verwaltung
und Vertretung selbständige Rechtsgemeinschaft, in der alles dasjenige
geregelt wird, das in den Urteilsbereich jedes mündig gewordenen Menschen fällt. Da wird auf demokratischer Grundlage alles dasjenige gestaltet, was jeden Menschen zum gleichen gegenüber jedem anderen
Menschen macht...Wie das Rechtsleben (die Staatsverwaltung) im
selbständigen, vom Wirtschaftsleben unabhängigen Rechtsgliede des
sozialen Organismus geregelt wird, so das Geistesleben (das Erziehungs- und Schulwesen) in völliger Freiheit in dem selbständigen Gei-
166
stesgliede der sozialen Gemeinschaft. Denn so wenig ein gesundes
Wirtschaftsleben in eins verschmolzen sein kann mit dem Rechtsgliede
des sozialen Organismus, in dem alles erfolgen muß durch die Urteile
aller einander gleichstehenden mündig gewordenen Menschen, so wenig kann die Verwaltung des Geisteslebens auf Gesetze, Verordnungen, eine Aufsicht oder dergleichen gestellt sein, die sich aus den Urteilen der mündig gewordenen Menschen ergeben. Das Geistesleben
bedarf der Selbstverwaltung, die nur aus menschheitspädagogischen
Gesichtspunkten heraus sich gestalten darf...Wer in wirklicher Lebenspraxis die Daseinsbedingungen des sozialen Organismus auf der gegenwärtigen Stufe der Menschheitsentwicklung unbefangen zu prüfen in
der Lage ist, kann wohl zu keinem anderen Ergebnis kommen als dem,
daß zur Gesundung dieses Organismus dessen Dreigliederung in einen
selbständigen Geistes-, einen solchen Rechts- und einen ebensolchen
Wirtschaftsorganismus notwendig ist. Die Einheit des ganzen Organismus wird dadurch gewiß nicht gefährdet; denn diese Einheit ist in der
Wirklichkeit dadurch begründet, daß jeder Mensch mit seinen Interessen allen drei Teilorganismen angehört und daß die Zentralverwaltungen trotz ihrer Unabhängigkeit voneinander die Harmonisierung ihrer
Maßnahmen bewirken können." 185
Die Tendenz der Internationalisierung alles gesellschaftlichen Lebens
steht dem nicht nur nicht im Wege, sondern befördert die Notwendigkeit
dieser drei Eigenlogiken. "In dem dreigliedrigen sozialen Organismus
bildet das Rechtsleben auf demokratischer Grundlage das Band zwischen dem Wirtschaftsleben, das aus seinen Bedürfnissen heraus internationale Beziehungen herstellt, und dem Geistesleben, das solche
aus seinen Kräften gestaltet." Die sich daraus ergebende Auflösung der
Staatsgegnerschaften, die sich bisher aus der Verquickung von Staatsverwaltung mit wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Interessen ergaben, sieht Steiner als einen wichtigen Garant zur Vermeidung von Kriegen und zur Beförderung von Frieden und Freiheit.186
185
Steiner, R., Die Dreigliederung des sozialen Organismus, eine Notwendigkeit der
Zeit, in: ders., Staatspolitik und Menschheitspolitik, Dornach 1988, S. 15ff.
186 Steiner, R., Internationale Lebensnotwendigkeiten und soziale Dreigliederung, in:
ebenda, S. 21ff.
167
Die Freiheit der Entwicklung menschlicher Individuen bestimmt auch
Karl Homann als letztlich übergreifende Zielbestimmung aller gesellschaftlichen Ordnung. Er benennt keine explizite Ontologie oder Dreigliederung gesellschaftlicher Selbstorganisation, das entsprechende
Prinzip jedoch zieht sich durch seine geistvollen Darstellungen der inneren Zusammenhänge und entsprechenden Korrekturvorschläge gesellschaftlicher Organisation.
Seine als "Wirtschaftsethik" entwickelte Theorie macht sowohl die Hierarchie als auch die Selbständigkeit der Ebenen deutlich. So verdeutlicht
er, in Anknüpfung an den diesen Zusammenhang ursprünglich begründenden Philosophen Adam Smith und an die modernere Theorietradition des "Ordo", daß die Ausdifferenzierung moderner Marktwirtschaft
kein spontanes Ergebnis zufälliger gesellschaftlicher Entwicklung ist,
vielmehr ein von tiefen moralischen Intentionen über die bestmöglichen
Wege zu menschlicher Freiheit inspiriertes Geschehen. Ihre primär effektiver Produktivität und Verbraucherinteressen unterliegende Logik
gestattet tendenziell allen Menschen die materiellen Grundlagen für eines menschenwürdigen Lebens und die schöpferische Beteiligung daran. Im Unterschied zu allen anderen, mehr oder weniger von Machtoder anderen affektiv-beschränkenden Energien durchdrungenen und
beeinträchtigten Wirtschaftsformen, ist sie so die für freie menschliche
Entwicklung möglichst aller menschlichen Individuen adäquate Organisationsform. "Die moralische Vorzugswürdigkeit der Markwirtschaft liegt
darin, daß sie das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung der
Solidarität aller Menschen darstellt."187
So sehr ethische Werte die letzten Zielbestimmungen gesellschaftlicher
Ordnung darstellen, so wenig dürfen ihre Kriterien unmittelbar mit denen
der anderen Ebenen vermischt werden. Freier und als relativ selbständiges gesellschaftliches Subsystem ausdifferenzierter wirtschaftlicher
Wettbewerb kann auf den ersten Blick als Ausgrenzung von Schwachen
oder Nichtachtung Unterlegener erscheinen. Weitblickend betrachtet,
dient dies dem bestmöglichen Wohl aller Mitmenschen. Darüber hinaus
bändigt er die immer zur Verselbständigung neigenden Machtaffekte, ist
187
Homann, K., Wirtschaftsehtik als Ordnungsethik, in: Homann, K./F. Blome-Dress,
Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, S. 49.
168
so - "nach der berühmten Formulierung von Franz Böhm - das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte".188
Entsprechend einer Selbständigkeit der Ebenen bedeutet für ihn freie
Marktwirtschaft dabei keineswegs die Dominanz wirtschaftlicher Interessen über alle anderen Bereiche. Erforderlich ist eine ebenso optimale
Ausprägung der anderen Gesellschaftsbereiche, erst im dann gegebenen Gesamtzusammenhang kann sich marktwirtschaftlicher Wettbewerb frei entfalten. Dies zeigt er deutlich am vergleichsweisen Vorteil
sozialer, d.h. die Imperative der anderen Ebenen integrierender Marktwirtschaft.
Ohne explizite ontologische Begründung benennt Homann dabei die
von oben einwirkende Hierarchie der Ebenen. Zum einen geht eine entsprechende politisch-rechtliche, d.h. demokratische Ordnung systematisch dem Markt voraus. Und zum anderen ist die rechtliche Form der
Privatheit, bzw. der rechtsstaatlich geschützten Freiheit individueller
Entscheidungen und Engagements, gebunden an vorausgehende und
fundierende kollektive Vereinbarungen und kollektive Zuschreibungen.
Übersetzt in die oben verwandte ontologische Sprache heißt dies: Geistige, im Gesamtzusammenhang aller Wesen wurzelnde Impulse begründen entsprechende rechtlich-soziale Strukturen, und diese wiederum fundieren adäquate wirtschaftliche Selbstorganisationsformen. Umgekehrt gesehen sind entsprechend effektive Wirtschaftsformen Bedingung für eine solidarisch-soziale und freie geistige Entwicklung der
menschlichen Individuen.
Ebenso von der Denktradition des "Ordo" her entwickelt Kurt Biedenkopf verwandte und für unser Thema in bedeutsamer Hinsicht konkrete
Vorschläge einer ganzheitlich-gesellschaftlichen Ordnungspolitik. Ob
bewußt gesetzt oder aus spontaner Intuition, jedoch erstaunlich treffend
benennt er bereits im Untertitel seiner "Neuen Sicht der Dinge" die drei
für jede menschliche Gesellschaft fundamentalen Schichten: „Freiheitliche...Wirtschafts-... und Sozialordnung“. Ähnlich treffend aus der Sicht
dieser Ontologie sind seine Vorschläge zur Neuordnung bzw. Neuklärung der gesellschaftlichen Funktionen.189
188
Böhm, F., zitiert nach: Homann, K., ebenda, S. 50.
Biedenkopf, K., Die neue Sicht der Dinge, Plädoyer für eine freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung, München 1985.
189
169
Das Wirtschaftssystem, so führt er aus, entwickelt eine eigene, den Gesetzen von Bedarf und Angebot entsprechende Organisationslogik. Diese ist nicht, wie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erfolglos
versucht, durch Einmischung sozialer oder geistiger Funktionen in deren
andere Logik zu zwingen, sondern im Gegenteil sollte in einer bewußten
gesellschaftlichen Ordnung dieses in sich logische Spiel des Marktes
vor dem immer wieder drohenden Eingriff von Machtinteressen geschützt werden. Dafür wiederum genügen nicht moralische Appelle,
sondern es bedarf einer entsprechenden Organisation, einer Ausgestaltung des Rechtssystems als Hauptorganisator einer freien Sozialität.
Zur gesellschaftlichen Selbstorganisationsform des Geistes führt Biedenkopf weniger aus, deutlich wird dennoch die Grundhaltung, daß ein
Bezug des Menschen zum Ganzen des Universums, von ihm traditionell
als "Gott" begriffen, existiert, und nur aus der Wahrung dieses Bezuges
die für menschliches Dasein nötige übergreifende Ermutigung und Verantwortung erwächst. Und da dieser Bezug nur als ein jeweils innerlichindividueller lebendig ist, ist für diesen je individuell gestimmten Geist
die Freiheit des Individuums grundlegende Bedingung und zu wahrendes Ziel aller gesellschaftlichen Ordnungen.
5. Die Bereiche sozialer Selbstorganisation
Die im großen Rahmen der Dreigliederungsidee betrachtete harmonische gesellschaftliche Ordnung gewinnt weitere Präzision bei noch feinerer Differenzierung innerhalb der großen Ebenen. Inbesondere die
soziale oder auch seelische, nicht nur als Zwischenglied zwischen Wirtschaft und Geist vermittelnde, sondern in vieler Hinsicht das Hauptfeld
gesellschaftlicher Selbstorganisation ausmachende Ebene, erfordert ein
differenziertes Verstehen. Dies um so mehr, als die Kategorien des
Materiellen und Geistigen in der bisherigen Tradition der Moderne die
Kategorien des Sozialen oder Seelischen weitgehend ausblendeten
bzw. unterbelichteten. Und vermutlich nicht zufällig fallen deshalb wesentliche Vorahnungen zukünftiger menschlicher Entwicklung gerade in
diese Ebenen. Marx begriff den Reichtum menschlicher Beziehungen
als die eigentliche Ebene allen Reichtums und definierte als entschei-
170
dende Struktur einer menschlichen Gesellschaft jene Assoziation, deren
innerer Sinn die freie Entwicklung eines jeden als Bedingung für die
freie Entwicklung aller ist. Hölderlin ahnte mit anderen Worten dasselbe,
wenn er im Hyperion schrieb: "Die Liebe gebar Jahrtausende voll lebendiger Menschen; die Freundschaft wird sie wiedergebären. Von Kinderharmonie sind einst die Völker ausgegangen, die Harmonie der Geister wird der Anfang einer neuen Weltgeschichte sein."190 Und die selbe
Notwendigkeit bestimmte jüngst Carl Amery in seiner "Botschaft des
Jahrtausends", als den neuen, nicht auf äußeren Autoritäten, sondern
auf der freien geistigen Verbindung wissender menschlicher Individuen
beruhenden Bund.
Deshalb ist es im Licht einer übergreifenden Betrachtung bedeutsam,
wenn der zuletzt angeführte Kurt Biedenkopf neben der für große und
so unvermeidlich menschlich anonyme gesellschaftliche Komplexe erforderlichen rechtlich-anonymen Regelung sozialer Prozesse zugleich
auf eine ebenso adäquate Selbstorganisationsform der nichtanonymen
Sozialprozesse insistiert. In seiner Theorie der "kleinen Lebenskreise"
begründet er klar und prägnant, daß menschliche Lebensfunktionen
und Qualitäten wie Geborgenheit, Anerkennung, Solidarität, Eigenverantwortung, Mitgefühl etc. ihnen entsprechende sozial-unmittelbare Organisationsformen benötigen. "In der freiheitlichen Gemeinschaft, die
die Würde des Menschen zur Grundlage hat, haben die kleineren und
größeren Gemeinschaften nicht nur die Aufgabe, den sozialen Ort des
Menschen zu bestimmen und die Selbstorganisation und Selbstanpassung der Gesellschaft zu ermöglichen. Sie haben zugleich die Aufgabe,
zwischen dem einzelnen Menschen und dem Staat zu vermitteln. Der
einzelne Mensch, jeder von uns als Person, kann den Staat als organisiertes Ganzes nicht ,begreifen´, so wie wir den Nächsten verstehen
können...Toleranz und Rücksichtnahme sind Kategorien zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie sind auf das Verhältnis des einzelnen
zur staatlichen Gewalt, zur staatlichen Organisation und damit zum
Staat selbst nicht anwendbar...Die Bedingungen staatlicher Existenz
und menschlichen Handelns sind deshalb nicht vergleichbar. Sie haben
190
Hölderlin, F., Hyperion oder der Eremit in Griechenland, in: Hölderlins Werke,
Zweiter Band, Berlin/Weimar 1989, S. 100.
171
keine gemeinsame Ebene. Sie stehen sich fremd gegenüber. Sie müssen vermittelt werden. Die menschlichen Gemeinschaften, die Organisationen innerhalb der Gesellschaft, vor allem die kleinen Lebenskreise
unterschiedlichster Art leisten diese Aufgabe...In der heutigen Wirklichkeit ist der Staat weit stärker in ein direktes Verhältnis zum einzelnen
Menschen getreten, als es mit dem Wesen des Menschen und des freiheitlichen Rechtsstaates vereinbar ist. Zugleich haben die kleinen Gemeinschaften ihre Fähigkeit eingebüßt, dem einzelnen, in den Bindungen des Rechts, als Ort sozialer Identität zu dienen. Sie können dadurch nicht länger zwischen Mensch und Staat ,vermitteln´. Die Gesellschaft wird dadurch nicht nur anonymer, sondern auch kälter und unpersönlicher. Toleranz und Rücksichtnahme gehen verloren. Es sind
Eigenschaften, die man nur in der konkreten Erfahrung mit dem Nächsten erwirbt. Beide, Mensch und Staat, nehmen mehr und mehr Schaden: Der Mensch gefährdet seine Menschlichkeit, der Staat seine
Handlungsfähigkeit. Die Neigung des Menschen zu Gewalttätigkeiten
nimmt zu, die materielle Berechtigung des Staates zur Gewaltanwendung nimmt ab.
Der Ausweg aus dieser Gefährdung menschlicher Ordnung heißt: Wiederbelebung der kleinen Lebenskreise. Nirgends ist dies wichtiger als im
Bereich der sozialen Ordnung - die längst gesellschaftliche Ordnung
geworden ist. Für den Menschen heißt dies: Verzicht auf den direkten
Zugang zum Staat, um mit dessen Hilfe persönliche Interessen gegenüber anderen durchzusetzen, sowie stärkere Rücksichtnahme auf die
eigenen Lebensgemeinschaften. Der Mensch muß lernen, mehr von
seinem Mitmenschen zu ertragen als bisher. Gerade in den Bereichen
der Gesellschaft, die von uns heute als ,alternative Gesellschaften´ bezeichnet werden, ist dieser Lernprozeß in vollem Gange. Rücksicht und
Toleranz als notwendige Voraussetzungen der Gemeinschaft müssen
eingeübt werden. Ansprüche an den Staat müssen ersetzt werden
durch den Ausgleich der Interessen in den kleinen Lebenskreisen und
damit durch Vertrauen auf den Mitmenschen. Personale Solidarität ist
ein Verhältnis des personalen Vertrauens. Hier beginnt die Ethik der
Solidarität...die Zeit, da soziale Systeme zu Herrschaftssystemen wer-
172
den können, muß zu Ende gehen. Zur politischen und wirtschaftlichen
Freiheit muß die soziale Freiheit treten."191
Auch die sich neu herausbildende sozialwissenschaftliche Theorietradition des bisher vor allem in den USA verbreiteten Kommunitarismus
zielt auf diese Defizite, auf die wiederzubelebenden Strukturen und
menschlichen Potenzen dieser Zwischenebene. Die theoretische Einsicht geht dabei bis dahin, daß wirkliche menschliche Freiheit, d.h. die
weitergehende Entfaltung der individuellen menschlichen Potenzen,
zwar rechtlich-abstrakte Voraussetzungen braucht, doch erst im unmittelbaren sozialen Feld der nur hier möglichen differenzierten Anerkennung der jeweils besonderen individuellen Qualitäten sich verwirklichen
kann.192
Ein konkretes Verständnis dieser Zwischenebene des Sozialen ist wesentlich, um einen ganzheitlichen Begriff und eine wirkliche Praxis
nachhaltiger Regionalität zu finden. Deshalb sei dieses Defizit im folgenden, unter Bezug auf andere Wissenschaftler, noch deutlicher benannt.
Aus einer fast gegensätzlichen Theorie- und Praxistradition wie der
oben ausgeführte Kurt Biedenkopf kommt Rudolf Bahro. Ihr gemeinsames Grundverständnis an diesem speziellen Punkt verweist daher auf
die Bedeutsamkeit des Themas. Aus dem gemeinsamen Schnittpunkt
dieser Ebene initiierten beide ein praktisches Forschungsexperiment.193
Auch Bahro begründet, daß und inwiefern eine Wiederbelebung der von
Biedenkopf als "kleine Lebenskreise" benannten sozialen Zwischenstruktureneine notwendige Bedingung nachhaltiger Entwicklung ist. Es
braucht einer Vergesellschaftung in "Einheiten von überschaubarer
Größe, so daß sie sich wesentlich auf unmittelbare Kommunikation zwischen Menschen gründen kann... Kleinere Einheiten sind auch notwendig, damit unsere Distanz zu den Gegenständen unseres Handelns,
191
Ebenda, S. 415ff.
Eine gute Zusammenfassung dazu siehe bei Honneth, A. (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften,
Frankfurt/Main 1993.
193 Zur Geschichte und Theorie dieser Praxis siehe Bahro, R. u.a., Apokalypse oder
Geist einer neuen Zeit, Berlin 1995.
192
173
Wünschens und Denkens wieder geringer wird. Ohne direkten praktischen Kontakt mit der konkreten Umwelt, die uns Heimat ist, erhalten
wir kaum rechtzeitig die Rückmeldungen, die uns fühlbar dafür verantwortlich machen, um uns herum das Gleichgewicht nicht zu stören...Gerechtigkeit und Selbstverwirklichung können sich nur umfassend
ereignen, wenn sich die Auseinandersetzung darüber wegverlagert von
den materiellen Gegebenheiten und Interessen auf die seelisch-geistige
Ebene“.194
Dieselben Gedanken, daß eine zukunftsfähige Kultur kleine Lebenskreise, wirkliche Gemeinden im Sinne echter sozialer Gemeischaften wiederbeleben muß, finden sich beim Vater der modernen Kommunikationstheorie, dem jüdischen Philosophen Martin Buber. Er argumentiert existentiell: Die notwendige Erneuerung der Kultur kann "nirgendwo anders
mehr herkommen als aus uns selber, aus unserm innersten Entschluß
und unserer innersten Verwandlung..., nur noch aus der eigenen Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde."195 Diese Gemeinden sieht er jedoch nicht als Rückfall in vormoderne Abhängigkeitsverhältnisse, sondern als von innen, aus dem seelisch-sozialen Feld zwischen "Ich und Du" entspringende neue Qualität. "Ich rede nicht von
Nähe, sondern von Beziehung. Das ist eine klare, aber sehr wichtige
Unterscheidung. Keinesfalls stellt die bloße Zugehörigkeit zu einer
Gruppe bereits eine wesenhafte Beziehung der Mitglieder untereinander
dar...Die große Beziehung besteht nur zwischen echten Persönlichkeiten. Zwar sagt ein Kind ,Du´, noch ehe es ,Ich´-Sagen lernt, aber auf
der Höhe des persönlichen Erlebens muß ein Mensch erst wahrhaft
,Ich´ sagen können, um das Geheimnis des ,Du´ ganz wahr und echt zu
erfassen." Weder die unpersönlichen, oft vom Affekt der Macht korrumpierten politisch-parteilichen Formen, noch die sich im Herdenaffekt der
Nähe von der gesellschaftlichen Entwicklung isolierenden Gruppen
bieten dafür Räume. "Damit der Mensch nicht verlorengeht, brauchen
wir Leute, die nicht im Kollektiv aufgegangen sind." Es gehe darum,
194
Bahro, R., Über kommunitäre Subsistenzwirtschaft und ihre Startbedingungen in
den neuen Bundesländern, in: ebenda, S. 173ff.
195 Buber, M., Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidelberg 1985, S. 262ff.
174
"mitten im Prozeß der Differenzierung...das Prinzip der Integrierung zu
wahren."196
Ausgehend von einer durchdringenden Betrachtung der bisherigen
Menschheitsgeschichte fand schon der Begründer der modernen Soziologie, Ferdinand Tönnies, deutliche und warnende Worte zu einer nur
noch in anonymen Großstrukturen funktionierenden Gesellschaft: "...da
die gesamte Kultur in gesellschaftliche und staatliche Zivilisation umgeschlagen ist, so geht in dieser ihrer verwandelten Gestalt die Kultur selber zu Ende; es sei denn, daß ihre zerstreuten Keime lebendig bleiben,
daß Wesen und Ideen der Gemeinschaft wiederum genährt werden und
neue Kultur innerhalb der untergehenden heimlich entfalten."197
Diese Argumentationen zum seelisch-sozialen Defizit moderner Gesellschaft sprechen für sich, lösen jedoch noch nicht das Problem der praktischen Wiederbelebung bzw. Neukonstituierung dieser Zwischenebenen. Zum Teil von inspirativen Gedanken, zum Teil intuitiv aus innerem
Gefühl motiviert, gibt es eine reiche Geschichte praktischer Versuche
zur Wiederbelebung dieser verlorenen Dimension, die jedoch bisher
keine befriedigenden und somit keine für größere Kreise relevanten Lösungen hervorbrachten. Ein Hauptgrund dafür sind die nicht aufgelösten
theoretischen und praktischen Risse. So gerieten die praktischen Entwicklungsversuche immer wieder ins Abseits bloßer Gegenbewegungen
und rückwärtsgewandter Isolation. Andererseits verblieb die theoretische Soziologie verblieb weitgehend in der Abstraktheit der Großstrukturen. Ausnahmen bilden die genannten übergreifenden Ordnungsgedanken Biedenkopfs und Bahros sowie die mit übergreifender Theorie
verbundenen Ansätze des angloamerikanischen Kommunitarismus. In
der deutschen Wissenschaft versuchten vor allem Micha Brumlik und
Hauke Brunkhorst dem Kommunitarismus verwandte integrative soziologische Theorieansätze.198
196
Buber, M., Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, Heidelberg 1985, S. 17ff.; zur Geschichte und Praxis der Kibbuzzim siehe auch bei: BuschLüty, Ch., Leben und Arbeiten im Kibbuz, Köln 1989.
197 Tönnies, F., Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1886, S.14ff.
198 Brumlik, M., H. Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/Main
1993.
175
Das Problem der praktischen Experimente wie auch der kommunitaristischen Theorien besteht darin, daß sie zwar die Zwischenebenen unmittelbar sozialer Strukturen erneut ins Licht des Bewußtseins heben,
jedoch zu einer Überbetonung bzw. isolierten Betrachtung dieser
Schicht tendieren. Eine diese Zwischenebene in einen übergreifenden
theoretischen Gesamtblick bewußt einbeziehende, die drei grundlegenden Selbstorganisationsebenen konkret differenzierende und integrierende Theorie der Gesellschaft und ihrer nachhaltigen Entwicklung,
welche über die eher intuitiven Ansätze von Steiner, Biedenkopf, Bahro
und Homann hinausgeht, ist noch nicht entwickelt. Hier besteht eine
dringende theoretische Aufgabe.
176
IV. Integrative Pfade zu einer nachhaltigen Entwicklung
1. Allgemeine Ontologie und konkrete Integrationen
Die zuletzt ausgeführten Gedanken einer zu erneuernden unmittelbarsozialen Ebene scheinen im Widerspruch zu stehen zu den zuvor beschriebenen, gerade in ihrer Ausdifferenzierung als anonyme Subsysteme erfolgreichen, von persönlichen Machtaffekten unabhängigen
und historisch erstmals allen beteiligten Individuen die Wohlstandsbedingungen freier Selbstentwicklung ermöglichenden Strukturen. Moderne kritische Theorie thematisiert diesen Widerspruch als den von System- und Lebenswelt, von zweckrationalem und kommunikativem
Handeln, ohne je-doch praktikable Lösungsansätze für die Probleme
der Gegenwart daraus zu gewinnen.199
Gut begründete Hinweise, daß scheinbar unlösbare Widersprüche weniger der Realität, als ungenügenden theoretischen Vorentscheidungen
anzulasten sind, fanden sich bereits oben bei Karl Homann und dessen
Einsichten in das freiheitsfreundliche Zusammenspiel von Moral und
Ökonomie.
Im folgenden geht es darum, ähnlich integrierende, d.h. die Widersprüche weniger ausschließende als durchdringende Denk- und Praxisansätze begrifflich zu erfassen und zu begründen. Zielpunkt ist das wirkliche gesellschaftliche Ganze. Um sich bei dessen Komplexität nicht in
Teilaspekten zu verlieren, wird die oben entwickelte ontologische Gesamtstruktur (siehe II.) als Methodik zugrunde gelegt. Aus deren Sicht
ergaben sich erste wichtige Klärungen bei der Betrachtung der bewußt
oder unbewußt eine Dreigliederung des gesellschaftlichen Ganzen zugrunde legenden Konzeptionen. Diese bleiben im folgenden im Hintergrund, um vordergründig möglichst konkrete Begriffe einer integralen
Wirklichkeit zu finden.
Der ontologische Blick zeigte uns die drei fundamentalen Selbstorganisationsebenen materiell-energetischer (Ebene A), organisch-affektiver
199
Bedeutendster Vertreter dafür ist Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Fankfurt/Main 1981.
177
(Ebene B) und geistig-kultureller (Ebene C) Wirklichkeit. Der integrative
Blick fragte nach den entscheidenden Rissen, danach, welche Blockaden und unintegrierten Bereiche bisher ein harmonischeres Zusammenspiel des komplexen gesellschaftlichen Ganzen blockieren. Gemäß
der obigen Erkenntnis liegt dabei ein wesentliches Augenmerk auf der
Integration innerer und äußerer, subjektiver und objektiver Begriffe und
Ansätze. Da uns aber bisher keine adäquate, d.h. subjektiv-objektive
Begrifflichkeit zur Verfügung steht, bleiben Brüche in der Darstellung
unvermeidbar. D.h. die Integrationen werden sowohl in objektiven und
als auch in subjektiven Begriffen dargestellt und es wird immer wieder
auf deren, hinter der modern-sprachlichen Spaltung existierende Identität verwiesen.
2. Integration von Geist und Affekt: Neuer Bund und Recht
Triebe oder Affekte sind die selbstorganisierenden Regelkreise oder
Referenzmodi des Tierreiches, welche dementsprechend auch im Menschen biogenetisch angelegt, vererbt, wirksam sind. Ob organische Affekte wie Angst oder Hunger oder soziale Affekte wie Eifersucht, Neid
oder Machttrieb, sie selbstorganisieren sich affektiv-unbewußt, d.h. sie
werden im Normalfall kaum bewußt gelenkt, vielmehr passiv erlitten
(siehe II.2.). Das darüber hinausgehende Menschliche, d.h. die höhere
Selbstorganisations-ebene von Kultur oder Geist, entstand und entsteht
in dem Maße, wie diese affektive Starre und Beschränktheit zuerst im
Prozeß der biotischen Evolution plastisch und dann im Prozeß der kulturellen Evolution, mittels der höheren Potenzen Liebe, Wissen, Selbst
und vermittelnder Artefakte, Symbole und Begriffe, zu neuen, komplexeren Strukturen sublimiert wurden. Tiefsichtige Denker wie Fichte oder
Scheler sahen, daß diese Wechselwirkung und Entwicklung, die allmähliche Durchdringung der affektiven Ebene durch den Geist, der tiefere Sinn und Hintergrund der bisherigen Menschheitsgeschichte ist.200
200
Siehe Fichte, J.G., Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Fichtes Werke,
Vierter Band, Felix-Meiner-Verlag Leipzig o.J., S. 393ff.; und Scheler, M., Die Stellung
des Menschen im Kosmos, in: Späte Schriften, Bonn 1995, S. 7ff.
178
Dabei geschah und geschieht nicht nur eine allmähliche Weiterung des
im Tierreich auf den Gesichtskreis des Affektes beschränkten Wahrnehmungs- und Selbstorganisationshorizontes, sondern auch eine Verwandlung der innerpsychischen Strukturen. Diese durchläuft verschiedene Stufen. Aus dem ersten Erschrecken des erwachenden Menschen
über sein inneres Tierreich folgt meist zuerst der Versuch der Verleugnung, Verdrängung und Unterdrückung der noch nicht frei integrierbaren Affekte. Doch gemäß ontologischen Gesetzen (siehe II.2.) kann die
höhere Selbstorganisationsstruktur des Geistes die niedere der Affekte
zwar komplexer organisieren, aber nicht außer Kraft setzen. Die Versuche der Unterdrückung und Verdrängung nutzen so zwar die subtileren
Energien des Geistes, doch das Ergebnis ist keine Befreiung vom inneren Tierreich, sondern dessen bedrängte, neurotische Reaktion. Diesen
historischen Schritt beschrieb Norbert Elias in seinem "Prozeß der Zivilisation".201 Bereits Fichte sah darin einen unvermeidlichen Zwischenschritt der Menschwerdung, er nannte es die "Bezähmung der Sinnlichkeit". Er kannte noch nicht die erst von Sigmund Freund geprägten Begriffe zur Charakterisierung der aus der Bezähmung der Triebe folgenden neurotischen un- und unterbewußten Strukturen, sah jedoch die
katastrophalen, von ihm "Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit" genannten Folgen dieser geistbewehrten Egozentrik.202 Hegel begriff es in
seiner "Phänomenologie des Geistes" dann als "geistiges Tierreich".
Fichte sah voraus, daß aus diesen negativen Effekten tendenziell
menschliche Selbsterkenntnis erwächst, und irgendwann, auf der
Grundlage eines wissenderen und mit der Kunst des Handelns begabten Geistes, ein Zeitalter der Freiheit, oder, mit unseren Worten, der
vom Geist integrierten Sinnlichkeit entstehen kann.
Die Vordenker einer integralen Welt, insbesondere Sri Aurobindo und
Rudolf Bahro (siehe I.4.2.), betonten ganz im selben Sinne, daß für diese evolutionäre Möglichkeit die Erkenntnis von der Notwendigkeit und
der ganzheitliche Vollzug einer inneren Selbstentwicklung des Menschen, einer subjektiven, d.h. vom selbstbewußten Geist zu vollziehenden Integration seiner Triebe, entscheidend ist.
201
202
Elias, N., Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/Main 1991.
Fichte, J.G., a.a.O., S. 405ff.
179
Geschieht dies nicht, werden die unerkannten inneren Schatten, die
Selbstbeschränkungen der eigenen Befreiungssehnsüchte wie in bisherigen Befreiungsbewegungen und Revolutionen auf irgendeinen äußeren "Schuldigen" projiziert, geschieht nicht mehr als die ewige Wiederholung der Dramen von Ideologie, Macht, Unterdrückung etc. in jeweils
neuen Gewändern.
Die entscheidene Potenz zur Selbstbefreiung, darin sind sich alle großen Geister einig, liegt in der höchstintegrativen Energie- und Erkenntnisform, die sich im Übergang vom Tier- zum Menschenreich zuerst
naturgenetisch herausbildete und sich seitdem kulturell allmählich
selbstentfaltet. Wie Vladimir Solovev in seinem "Sinn der Liebe" wunderbar schrieb, bildet nur diese den subtilen Bereich der Mitte, den
Übergang, die Integration von Trieb und Geist: "Die Kraft dieses geistigkörperlichen Schaffens im Menschen ist allein die Verwandlung oder die
Wendung nach innen eben jener schöpferischen Kraft, die in der Natur,
nach außen gewandt, die schlechte Unendlichkeit der physischen Vermehrung der Organismen hervorbringt."203
Geist und affektiver Trieb sind die beiden über dem Materiellen wirkenden Seinsebenen. Die hier in kurzen Zügen umrissene Problematik und
Aufgabe einer inneren Integration der Seinsebenen Geist und Trieb ist
deshalb die entscheidende für alle anderen, ob ökologischen, ökonomischen oder sozialen Probleme. Im Vergleich zu diesen, ontologisch untergeordneten, Problemen wird ihr jedoch bisher nur eine marginale gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Die notwendige innere Integration
ist nicht, wie in Ahnung ihrer Bedeutung manche Gesellschaftssysteme
durch ideologische Erziehungssysteme bewirken wollten, von außen
induzierbar (siehe II.2.9.). Wie der Geist als Integration zwischen Individuum und Universum, so ist und bleibt auch die Integration der Sinnlichkeit eine vor allem individuell-subjektive, nur in innerer und möglichst
auch in äußerer Freiheit realisierbare Aufgabe. Doch die Bedingungen
und Anregungen dafür, ob gelegentlich zufällig einige oder strukturell
begünstigt viele Individuen diese Qualität erlangen, dürfte durch die Gestaltung entsprechender gesellschaftlicher Freiräume bedingt sein.
Diese Strukturgestaltung der Außenwelt aber bleibt abhängig von einer
Erneuerung der Innenwelt und von der Fähigkeit zur Integration beider.
203
V. Solovev, Der Sinn der Liebe, Hamburg 1985, S. 67.
180
Die Freiheit eines souveränen Umgangs mit dem eigenen inneren Tierreich, d.h. der Selbstentwicklungsstand eines freien Menschen, wurde
bisher nur von relativ wenigen, deshalb oft als maßgebende Menschen
ins Menschheitsgedächtnis eingegangenen Individuen, wie z.B. Laotse,
Sokrates, Jesus oder Hildegard von Bingen vorbildlich erreicht.204
Falls irgendwann eine kritische Masse menschlicher Individuen diese
innere Freiheit erlangt, ist eine neue Qualität menschlicher und damit
gesellschaftlicher und ökologischer Selbstorganisation denkbar. Auch
dann wird der Mensch kein ausschließlich gutes, d.h. kein rein geistiges
Wesen; seine innere Vielschichtigkeit und deren geistvolle Integration
bleibt jedem Individuum immer wieder neu zu vollziehende Aufgabe.
Daher wird die in der bisherigen Geschichte zur komplexen Selbstorganisation und zum Selbstschutz der komplexen gesellschaftlichen Ordnung vor affektiven Beschränkungen hervorgebrachte Staats- und
Rechtsstruktur auch in einer freieren, menschlich entfalteten, subjektiveren Gesellschaft nicht aufgelöst werden. Diese gesellschaftlichen Formen bleiben notwendige Vermittlungs- und Entwicklungsfelder für das in
jedem Individuum neu zu entfaltende Spiel zwischen Affekten und Humanitas.
Der Bios, die affektiven Tendenzen oder Schwächen, gehören zum
Menschen. Nicht moralische Überforderungen, sondern strukturelle
Chancen zur Entwicklung der inneren Freiheit sind der einzig mögliche
Lösungsweg für all die daraus erwachsenden gesellschaftlichen Probleme. Auch zur Lösung der drängenden Umweltprobleme ist auf diese
Formen nicht zu verzichten. Bernhard Verbeek zeigt in seiner „Anthropologie der Umweltzerstörung“, wie sehr diese Zerstörung aus unintegrierten affektiven Impulsen erwächst und empfiehlt dafür vielfältige,
deren ungehemmten Übergriff verhindernde gesellschaftliche Regelmechnismen.205
Alle diese steuerlichen und rechtlichen Strukturen sind erforderlich.
Doch wird der Schwerpunkt ausschließlich darauf gelegt, so wird damit
vergessen oder verdrängt, daß die Erfindung und auch die strukturelle
Verwirklichung dieser Formen bereits die Wirkung SUBJEKTIVER
204
205
Siehe dazu Jaspers, K., Die maßgebenden Menschen, München 1964.
Verbeek, B., Die Anthropologie der Umweltzerstörung, Darmstadt 1994.
181
menschlicher Qualitäten voraussetzt; d.h. es bedarf der Voraussetzung
einer kritischen Masse freier und selbstverantwortlicher Individuen.
Eine neue, mehr als je bisher vom menschlichen Geist, von Liebe und
Wissen integrierte gesellschaftliche Ordnung scheint deshalb nicht nur
möglich sondern historisch notwendig. Die Vordenker eines integralen
Zeitalters, Jean Gebser, Sri Aurobindo und Rudolf Bahro, gaben dafür
wichtige, wenn auch von der möglichen Realität selbst sicher vielfach
gebrochene, konkretisierte Hinweise (siehe I.4.2.).
Für die Selbstorganisation einer solchen freieren Ordnung wird die Ausbildung entsprechender intersubjektiver oder kommunikativer Kenntnisse, Fähigkeiten und Strukturen sehr bedeutsam sein. Theorien und Praxisansätze affektfreier, d.h. vor allem machtfreier Kommunikation und
Assoziation erhalten deshalb wachsende Bedeutung. Entgegen der gegenwärtigen, aus einem Bild subjektloser Humanität gedachten Kommunikationstheorie, bedarf es dazu jedoch der Kompetenz der innerindividuellen Integration, d.h. der freien SUBJEKTIVITÄT (siehe I.3.2.).
Auf der menschlichen Basis einer kritischen Menge freier Individualität
könnte jener neue Bund entstehen, dessen Zustandekommen Carl
Amery als das entscheidende Faktum menschlicher Zukunft erachtet.206
Wie Joachim von Fiore schaute, könnte und müßte er auf neuer bewußter Ebene die Funktion der geistgeleiteten Integration der Affektstruktur übernehmen, für welche die bisherigen großen geistigreligiösen Epochen - die des autoritär-projizierten Vatergottes und die
des menschlichen, aber stellvertretend-fernen Beispiels des Gottessohnes - zwar jeweils Lösungs- und Bewegungsformen boten, die jedoch
für die menschlichen Individuen noch mehr oder weniger unfrei blieben
und damit zugleich subjektbehindernd wirkten.
Die bisherigen geschichtlichen Versuche eines solchen Bundes - sowohl die christliche Kirche als auch die sozialistischen Parteien entsprangen dieser Intention - vollbrachten bisher kein klares Bewußtsein
ihrer selbst und scheiterten deshalb immer wieder in den Fangarmen
unbewußter, trotz hehrer Ideale von beschränkten Trieben bestimmter
Nebenzwecke und Ideologien. Eine Transzendenz dieser bisherigen
Vorgeschichte könnte möglich werden, wenn sich ein neuer Bund mit
206
Amery, C., Die Botschaft des Jahrtausends, München 1994.
182
vollem Bewußtsein seiner selbst bildet. Dies erfordert vor allem ein immer wieder zu vergegenwärtigendes Wissen seiner Brückenbestimmung: Die tiefste oder höchste, unendliche Sehnsucht und Inspiration
unendlich generierende Quelle des Bundes ist der universelle Geist
selbst. Sein unendliches Wirkungsfeld aber ist die notwendig beschränkte Wirklichkeit der anderen Seinsebenen. Hier hat ein in sich
weiterer Bund nicht die notwendig beschränkten Zwecke staatlicher
oder familiärer Aufgaben zu erledigen, als vielmehr dafür zu sorgen,
daß sie nicht immer wieder an den affektiven Beschränkungen zugrunde gehen, d.h. daß soziale Räume für die geistige Entwicklung der anderen, weniger weiten Mitmenschen offen bleib.
In der heutigen Zeit, da infolge einer das Geistige verdrängenden Epoche die ausufernden beschränkten Zwecke sogar die allgemeinen Lebensgrundlagen bedrohen, hat sich dieser Bund auch auf diesem Feld,
d.h. bei der Neukonstituierung einer nachhaltigen Wirtschaftsform, zu
bewähren.
3. Riß und Integration von Geist und Sinnlichkeit:
Sozialökologie, lebendiger Reichtum und Integrated Art
Das Zusammenspiel von physikalisch-energetischer und geistigkultureller Ebene vollzieht sich ebenso wie bei Trieb und Geist in subjektiver Innenwelt und im objektiven gesellschaftlichen Außenraum.
Nicht nur die affektiven Triebe, auch der Körper des Menschen wurde in
vielen Erlösungstraditionen durch die höhere Potenz des Geistes maskiert. Wie die Neurotisierung der Triebe ist auch diese Verdrängung des
Körpers verständlich, als Gegenreaktion des Geistes im ersten Erwachen und Erschrecken über die naturhafte Beschränktheit des Leibes.
Eine selbstbewußte, der Mitgeschöpflichkeit und ihrem Mitschöpfertum
entsprechende geistige Entwicklungsform des Menschlichen wird eine
freiere und integrative Organisationsform von menschlicher Körperlichkeit und Sinnlichkeit finden, wie sie in diesbezüglich hochentwickelten
Kulturen des Ostens bereits ausgeprägt war. Die "Bezähmung der Sinnlichkeit" wird aufgehoben in einer "Kultivierung der Sinnlichkeit" (Fichte).
183
Eine innere Neuintegration von sinnlich-materieller und geistigkultureller Ebene ermöglicht nicht nur eine neue, von den Neurosen der
Übergangs-epochen freie Gesundheit und Schönheit. Diese innere Befreiung der Sinnlichkeit ist zugleich eine notwendige Voraussetzung für
die äußere Befreiung von der "Überflußgesellschaft"207, eine notwendige Vorausset-zung für eine zukunftsfähige, d.h. nachhaltige Entwicklung. Dazu ist es wesentlich, den inneren, im äußeren Geschehen der
Vernutzung materieller Güter und Umwelten nicht sichtbaren Zusammenhang sozioökonomischer und soziokultureller Selbstorganisation
moderner Industriegesellschaften zu erkennen.
Deshalb sei noch einmal kurz die oben ausgeführte Ontologie gesellschaftlicher Organisation zu vergegenwärtigt: Gesellschaft ist ein
selbstorganisierender Komplex aller drei Seinsebenen. Deren Zusammenspiel unterliegt den ontologischen Grundgesetzen, d.h. die unteren,
die weniger komplexen materiell-energetischen bzw. körperlichsinnlichen Strukturen bilden die unauflösbare Grundlage für die höherkomplexen affektiven Strukturen, und diese organisieren selbst diese
Grundlage entsprechend ihren komplexeren Erfordernissen. Die affektiven Formen wiederum sind die Grundlage für die noch höherkomplexen, alle unteren neu integrierenden geistig-kulturellen Strukturen.
Zur Selbstorganisation und Reproduktion dieser Ebenen bilden sich besondere gesellschaftliche Funktionssysteme: die Wirtschaft, die sozialen Institutionen und das Geistesleben. Die innere Organisationsstruktur
dieser Funktionssysteme ist jedoch jeweils ganzheitlich, deshalb von
ihren Funktionen selbst zu unterscheiden.
Die Wirtschaft, das in äußerer Sichtweise der Umweltprobleme problematischste Subsystem der Moderne, dient zwar der Reproduktion der
materiell-energetischen Negentropien, deren moderner Bedarf geht jedoch weit über das zur Reproduktion des körperlichen Lebens notwendige Maß hinaus. Dies allein ist kein besonderes Phänomen der Moderne, alle Gesellschaftsformen benötigen und erzeugen materielle Artefakte als Vermittler der höheren Strukturen. Zur sozial-affektiven
Selbstorganisation bedarf es affizierender Instrumente, vom Zwangsinstrument Waffe oder Gefängnis bis hin zum affektsteigernden Anerken207
Den Begriff der "Befreiung von der Überflußgesellschaft" prägte Herbert Marcus.
Siehe dazu Marcuse, H., Befreiung von der Überflußgesellschaft, in: Cooper, D., Dialektik der Befreiung, Hamburg 1969.
184
nungs-, Status- und Machtsymbol, wie früher große Federn oder Paläste und heute luxuriöse Autos und Flug-reisen. Demgegenüber ist der
Artefaktbedarf des Geisteslebens eher gering, es erzeugt Schriftstücke,
religiöse Symbole und Kunstwerke.
Alle früheren Zivilisationen gingen daran zugrunde, daß es nicht gelang,
den verselbständigten, über die körperliche Befriedigung weit hinausgehenden Affektkonsum zu integrieren. Die moderne Zivilisation hat dieses Problem potenziert. Sowohl die Anzahl der Menschen als auch die
hervorgebrachten Techniken sorgen für einen trotz allen besseren Wissens wachsenden Konsum. Moderner Umweltschutz und Umwelttechnik
dienen weniger der Verringerung dieser Fehlsteuerung, als dazu, diese
durch kosmetische Projekte und durch Beruhigung des Gewissens soweit als möglich auszureizen.
Die tierhafte Blindheit der unintegrierten Affekte, die in den eigentlichen
Problemzonen nicht Hunger oder Kälte sondern Macht- und Anerkennungstriebe208 sind, treibt das Rad der Selbstzerstörung bisher energischer als alle geistigen Gegenimpulse; dies auch deshalb, weil bisher
kaum erkannt bzw. immer wieder verdrängt wurde, daß hier, im geistigen Raum des eigenen Inneren, das Problem zuerst zu lösen ist. Die
Moderne verfügt zwar über das anthropologische und psychologische
Wissen, welches Voraussetzung einer anderen, geistig-kulturell integrierten Bewegungsform der sonst blind nach außen wirkenden Affekte
ist. Der modern auf die Spitze getriebene und institutionell noch fest
verankerte Riß zwischen Innen- und Außen, zwischen Subjekt und Objekt verhindert jedoch sowohl Theorie wie Praxis einer kulturellen Integration. Das medizinische, anthropologische und psychologische Wissen bemüht sich um Beruhigung dieser oder jener der vielen individuellen Psychen oder Psychosomatiken, die angesichts der wachsenden
Sinnleere verzweifeln bzw. ausscheren. Statt dessen notwendig wäre
eine von diesem modernen Wissen geleitete Kultivierung der Affekte
und Sinnlichkeit.
Dazu bedürfte es einer neuen, bisher erst in Ansätzen entwickelten
Wissenschaft und praktisch-gesellschaftlichen Organisation, deren Fokus genau diese inneren, individual- und sozialpsychischen Blindstellen
208
Eine gute Darstellung dieser Problemzone gibt Honneth, A., Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main 1992.
185
der Moderne sind. Um diese Schnittstelle von unbewältigten sozialen
Affekten und unbewältigter Naturzerstörung zu treffen, nannte Rudolf
Bahro seinen Ansatz "Sozialökologie".209
Den Finger auf den wunden Punkt zu legen ist noch keine Lösung. Der
Strom der Evolution sucht nach positiven Möglichkeiten höherer Komplexität und intensiverer Integration. Zur wirklichen Befreiung von der
Überflußgesellschaft braucht es deshalb Konzepte und Lebensräume
einer anderen, doch nicht weniger, sondern höher komplexen und integrierter-intensiveren Wirklichkeit. Bevor unten dafür einige allgemeinstrukturelle Gedanken entwickelt werden, folgt an dieser Stelle das
Konzept einer neuen, reflux und efflux beachtenden Integration von
Geist, Affekt und materiell-sinnlichen Produkten/Artefakten, das Konzept eines lebendigen statt toten Reichtums.
Was ist "lebendiger Reichtum"? Das gegenwärtig übliche Wohlstands-,
Reichtums- und damit Entwicklungsbewußtsein ist eng gebunden an die
problemverursachende Überbetonung monetärer oder materieller Formen. Die naturgegebene zeitliche und räumliche Begrenztheit der materiellen Formen wird sozial übersteigert zum Gefühl der Knappheit und
auf dieser sozialpsychischen Basis wirkt die einander ausschließende
und dabei die Natur vernutzende Konkurrenz um diese Ressourcen.
Der gesunde Wettbewerb um innovative und effektive Lösungen wird
davon überlagert. Dieses Problem haftet noch an den bisher angedachten Auswegen aus der Vernutzungsfalle. Die Begriffe nachhaltiger
Wirtschafts- und Lebensstile verweisen zwar auf die materielle Begrenztheit der Ressourcen, aber sie verkennen die damit nur mittelbar
verbundene und in sich notwendig grenzenlose Natur des Geistes.
Der Mensch ist nicht nur ein sich durch Nahrung oder andere Dinge befriedigendes Tier, sondern in ihm wirkt darüber hinaus ein unstillbarer
Unendlichkeitsdrang. Die Negation oder Frustration dieses menschlichen Transzendenztriebes bewirkt nur eine geistige Depression und
damit ein verzweifeltes Festhalten am Bisherigen statt eines durch neue
Visionen zu ermunternden Aufbruchs in Richtung ganzheitlicher Lösungsformen.
209
Bahro, R., Konzeption eines Institutes für Sozialökologie an der HumboldtUniversität zu Berlin, in: ders., Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung, Berlin/Frankfurt/Main, 1991, S. 341ff.
186
Der Begriff eines neuen Wohlstandsmodells210 geht zwar über den eines nachhaltigen Wirtschaftens hinaus, greift jedoch in seiner Verhaftung am wiederum nur materielle und stagnierende Assoziationen erweckenden ”Wohl-Stand” ebenfalls zu kurz in der Benennung und damit
Freisetzung der zur Erneuerung notwendigen Energien.
Der Begriff eines ”lebendigen Reichtums” beseitigt nicht die notwendig
zu beachtende Akzentuierung des Materiellen als knappes Gut, befreit
jedoch die völlig andere Energie und Triebkraft menschlicher, technischer, gesellschaftlicher, kultureller Vision und Evolution aus diesem zu
engen Korso. Er verbindet das Bewußtsein materieller Begrenztheit mit
den an sich unbegrenzt-überfließenden Reichtumsakzenten von SelbstBewußt-Sein, technisch-kreativer und künstlerischer Schöpfung, universeller Selbstverwirklichung und Gemeinwohl. Das ist der Gehalt, der
dem wörtlich-urspünglichen Sinn des Begriffes „Reich - tun“, d.h. eines
auch dem „Reich“ oder dem Ganzen verbundenen Tuns, auf neuer
Ebene wieder näherkommt.
Dieser Begriff eines lebendigen Reichtums verkörpert so eine weitgehende Integration: Die Probleme und notwendigen Lösungen der gesellschaftlichen, insbesondere sozio-ökonomischen Ebene werden unmittelbar rückgebunden an die innermenschliche Befreiung - an die ErLösung des Risses zwischen rational-idealistischem Sollen und unterdrückter Sinnlichkeit, als Voraussetzung zur Entwicklung freier und
selbstverantwortlicher menschlicher Subjektivität.
An diese integrierende Philosophie des lebendigen Reichtums anknüpfend, ergeben sich auch Hinweise für konkretere Handlungsansätze und
Organisationsformen einer nachhaltigen Entwicklung. Eine insbesondere die Integration von Wirtschaft und lebendigem Geist bezweckende
Idee dafür ist die der Integrated Art.
Die Konzeption der Integrated Art geht aus von der einzigartigen Wertschöpfung in der lebendigen Natur: Fast aus Nichts entstehen enorme
Stoffwechselgefüge ohne jegliche Abfälle oder Schadstoffe; so z.B. aus
kleinsten Samen riesige Lindenbäume, die noch dazu die Arten ihrer
Umwelt eher vervielfältigen als dezimieren. Der einzige menschliche
210
Siehe dazu Weizsäcker, E. U. v., Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der
Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt, Darmstadt 1994.
187
Bereich, der bisher dieser ungeheuren Wertschöpfung nahekommt, ist
die Kunst: Einige Pinselstriche eines „van Gogh“ erzeugen ungeheure
Werte, weit abgeschlagen im Vergleich dazu ist jegliche rein technische
Produktion.Wie ist dies zu integrieren? Es braucht nicht mehr, aber
auch nicht weniger als ein Durchbrechen der gewohnten Trennungen:
bisher ist in unseren Gedanken etwas entweder Kapital oder Kunst,
entweder profan oder heilig, entweder materieller oder ideeller Wert.
Integrated Art transzendiert diese Trennung: Kapital integriert Kunst,
Heiliges integriert Irdisches. Wird dies, wie vom Autor R.S. Tomek konzipiert, noch dazu verbunden mit der komplexesten Unternehmensform,
der Aktiengesellschaft, ergibt sich folgende Möglichkeit: Aktien sind
nicht mehr nur eindimensionale Wertpapiere sondern vieldimensionale,
mit der Initiierung nachhaltiger Projekte verbundene Kunstwerke. Infolge
der doppelten Orginalität von Kunstwerk und Projekt und der damit auch
vieldimensionalen Wertschöpfung von Wirtschaft, Sozialität und Kunst
gewinnen die Aktien eine besondere Attraktion. Sie aktivieren Kapital
als Aktionsenergie, zugleich erhalten und steigern sie ihren Wert auch
unabhängig vom Betriebserfolg. Damit löst sich das engstirnige Interesse am einseitig monetären Gewinn. Rendite und Zins bleiben spielerische Ausdrücke erfolgreicher Aktionen, deren materielle Gewinne nicht
mehr als alleinig anerkannte Erfolgsbefriedigungen dienen müssen.
Dies erlaubt die Investition in ethische und ökologische Projekte ohne
einseitigen, für die höheren Ebenen rücksichtslosen, monetären Verwertungszwang.
"Zur Verwirklichung dieses neuen Paradigmas der Ökonomie bedarf es
eines weiterentwickelten Managementansatzes (flowManagement, siehe I.5.), um diese Prinzipien in und durch konkrete Projekte umzusetzen. Dabei sollte die Führungsinitiative und -verantwortung jeweils bei
solchen Persönlichkeiten liegen, die ihr Bewußtsein am weitesten entwickelt haben.
Der Sinn der neuen Ökonomie ist die Förderung der kollektiven Evolution des Lebens im allgemeinen und des menschlichen Lebens im besonderen. Die wichtigsten Kriterien dafür sind Nachhaltigkeit, Bewußtseinserweiterung, Wissensoptimierung, Verantwortlichkeit, Effiziens
(HighTec) und Effektivität (HighOrg). Management ist somit neben den
funktionalen Aspekten auch künstlerische Arbeit an der sozialen Pla-
188
stik."211Nicht nur das individuelle menschliche Leben (siehe II.2.9.),
sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft werden somit Kunstwerke, im
weitesten und zugleich innersten Sinn einer durch menschliche Kreativität in Bezug zur universellen Schöpfung vollbrachten Schönheit.
4. Affekt und Materie: Triebkraft und Wirtschaft
Das Zusammenspiel der affektiven und der materiellen Ebenen allein,
d.h. ohne die eine menschliche Qualität erst konstituierende geistigkulturelle Ebene, bleibt auf der Evolutionsstufe des Tierreiches. Seine
Einbindung in die höhere, komplexere Ebene und die Probleme dieser
Integration wurden in den vorangehenden Abschnitten erörtert. Für eine
nachhaltige Entwicklung in Theorie und Praxis bedeutsam bleibt jedoch
noch das grundsätzliche Problem, ob und inwieweit diese Ebenen mit
ihrer natürlich-affektiven Spontanität oder nur als möglichst kultivierte
einzubinden sind. Übersetzt in die modern-strukturelle Sprache ist es
das Problem, ob und inwieweit diesen an sich beschränkten, affektivegozentrischen Triebkräften im Rahmen der gesellschaftlichen Strukturen, insbesondere im Rahmen des Wirtschaftswettbewerbes, freies
Spiel zu belassen bzw. inwieweit ihnen durch rechtlich-untersetzte und
geistig-begründete Wertmaßstäbe Regel und Rahmen zu geben ist.
Daß die bestmögliche Lösung auch hier in der Mitte, der Integration
liegt, scheint theoretisch (siehe III.4.) und praktisch bewiesen. Im gesellschaftlichen Blickfeld versagten die beiden Extreme von "Sozialismus" und "Kapitalismus". Und auch für die individuelle Existenz scheint
eine Mitte von lebendigem Trieb und meditativer Kultur das gesündeste.
Wie jedoch diese Mitte, die Integration einer ungezähmten Affektivität in
menschliche und ökologische Strukturen, in lokalen wie globalen Lebens- und Wirtschaftsräumen zu gestalten ist, bleibt eine offene, vermutlich erst in zahlreichen praktischen Experimenten zu klärende Frage.
211
Zitat aus: Hosang, M., A. Mascha, R.S. Tomek, Manifest der Integrated Art, Retzow
1998, S. 3.; Weiteres dazu siehe bei Tomek, R.S., Erfolg durch Synergie. Das Management der Zukunft, Ravensburg 1993.
189
Aus den Problemen und Rissen der Moderne ergeben sich prägnante
Hinweise für die Gestaltung und Gestalter dieser Regionen der Zukunft.
Diese können nicht - im Sinne einer schlechten Utopie - theoretisch
vorweggenommen werden. Ihre Entdeckung bleibt den Abenteurern der
neuen Welt vorbehalten, die ihren Reichtum nicht in äußeren Fernen,
sondern in innerlich begründeten, ganzheitlichen Regionen entdecken
werden.
Letztlich entscheidend für all diese Details wird sein, ob die neue Integra-tion der wesentlichen Risse gelingt. Deshalb werden abschließend
noch einmal die zu Anfang (I.1.) genannten grundlegenden Integrationsaufgaben in möglichst einfacher, klarer und lebensbezogener Form
dargestellt.
5. Formen der Integration
Integrierte Wirtschaft
Die ursprünglichen Stämme und Völker praktizierten - notgedrungen
auch mangels anderer Techniken - die Subsistenzwirtschaft. D.h. sie
lebten und arbeiteten von den durch eigene unmittelbare Arbeit erlangten Früchten und Erträgen ihrer unmittelbaren Umgebung. Die so gegebene unmittelbare Rückbezogenheit auf die Natur und die noch nicht
vorhandenen Strukturen einer Ansammlung von materiellem Reichtum
ließen die Umwelt unzerstört. Sie erlaubten jedoch auch nur geringe
Entfaltungsmöglichkeiten menschlicher Bewußtheit, Sozialität und
Kreativität.
Diese Entwicklungsbeschränkung führte zum mehr oder weniger gewaltsamen Ausbruch, in dessen Ergebnis sich gegenteilige Wirtschaftsformen bildeten: Der heute erreichte Gipfel des modernen Kapitalismus ist geprägt durch eine fast völlige Loslösung von der Natur:
Ungeheure Energie-, Stoff- und Warenströme, deren Organisationsformen kaum noch der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse, eher
der Vermehrung eines verselbständigten, abstrakt-leeren "Reichtums"
dienen, werden erzeugt, weltweit bewegt, zum Teil genutzt und zum
190
größeren Teil als unorganische Abfälle der Umwelt aufgebürdet. Diese
Strukturen, die erst jetzt die letzten Länder der Erde erreichen, bewirkten jedoch eine enorme Steigerung der Produktivität. Viele ihrer Techniken könnten die wirtschaftliche Basis einer freien menschlichen Kultur
bilden. Doch ihre verselbständigten, noch durch den Gegensatz zur
Subsistenz geprägten Strukturen bewirken bisher eher eine lebensbedrohliche Frustration ihrer Schöpfer.
Eine zukunftsfähige Wirtschaft kann und wird die positiven Seiten beider geschichtlichen Epochen - lokale Naturnähe und kreative Weltoffenheit - integrieren. Dadurch entstehen neue Wirtschaftsformen, die
globale Arbeitsteilung mit naturnahen Lebenstätigkeiten vereinen. Dafür
gibt es Ansätze wie die Konzepte moderner Subsistenz212 oder regionaler Kreislaufwirtschaft. Verbunden damit sind neue, integrierte Konzepte von Arbeit und Freizeit. Neben den bisher dominierenden Arbeitsformen von Markt und Staat kann sich der sogenannte dritte Sektor, der Sektor der sozialen oder gemeinnützigen Arbeit, neu entfalten.213 Die dazu notwendigen sozialen Initiativen und Selbstorganisationen werden sich nicht allein auf der wirtschaftlichen Ebene ausbilden. In
seinem Buch „Das Ende der Arbeit“ beschreibt dies Jeremy Rifkin: „Im
marktwirtschaftlichen Bereich ist die Produktivität das einzige Kriterium,
und daher können in diesem Sektor Maschinen an die Stelle der Menschen treten. Im Gegensatz dazu kommt es im Dritten Sektor auf die
Entwicklung menschlicher Beziehungen, auf Einfühlungsvermögen, Solidarität und Verantwortung an - alles Eigenschaften, die Apparate nicht
besitzen.“214
Dazu bedarf es einer neuen Integration der wirtschaftlichen Ebene mit
neuen Formen integrierter Sozialität und freier Subjektivität.
212
Siehe z.B. den Rundbrief Subsistenzperspektive, Globalisierung/Regionalisierung,
Bielefeld 1996.
213 Siehe dazu z.B. Fox, M., Revolution der Arbeit. Damit alle sinnvoll leben und arbeiten können, München 1996; und: Rifkin, J., Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft,
Frankfurt/Main 1997.
214 Rifkin, J., Das Ende der Arbeit, Frankfurt/Main 1997, S. 218.
191
Integrierte Sozialität
Der Mensch war und ist ein soziales Wesen. Hervorgegangen aus Primatenhorden lebten die frühen Menschen als verwandtschaftlich organisierte Stämme. Diese gewährten dem Individuum Schutz, Anerkennung und soziale Identität. Die verwandtschaftliche Selbstorganisation
und die Traditionalität der soziokulturellen Formen bot jedoch nur wenig
Raum für die Entfaltung jener vielfältigen individuellen Kreativität und
der zum Ganzen tendierenden menschlichen Potenzen, wie auch für die
Herausbildung freier, selbstbewußt organisierter Sozialität.
Dementsprechend entstanden Gegentendenzen und in deren Folge die
in der Anonymität der modernen Städte und Staaten gipfelnden gesellschaftlichen Organisationsformen. Die darin lebenden Individuen sind
frei von unmittelbar-sozialen Engen und Zwängen, dies aber um den
Preis fast völligen Verlustes der eigentlich sozialen Dimension (siehe
III.5.). Die fehlenden unmittelbar-sozialen Einbindungen, Anerkennungen und Impulse wirken eben auch als innermenschliche Sinnleere und
verursachen vielfach psychosomatische Erkrankungen. Besitz und Konsum materieller Güter dienen als Ersatz, als Vermittler sozialer Anerkennung bzw. als Status- und Machtsymbole, die jedoch das menschliche Wesen zuinnerst unbefriedigt lassen.
Eine zukunftsfähige Gesellschaft bedarf einer neuen, integrierten Sozialität
oder
Assoziation.
Die
Wiederherstellung
menschlichüberschaubarer und unmittelbar erlebbarer kleiner Lebenskreise oder
Communities - als Formen vielseitiger menschlicher Kommunikation,
wahrhaftiger Anerkennung und der alltäglichen Einübung von Mitgefühl,
Solidarität und sozialer Verantwortung - darf dabei die Entfaltung freier
Individualität keinesfalls beschränken, sie wird die menschliche Selbstentwicklung aller Beteiligten vielmehr zum entscheidenden Sinn erheben. Diese Individualität hat dann eine unmittelbare menschliche Heimat, verkörpert zugleich aber auch den anderen menschlichen Pol eines universellen, planetaren oder globalen Weltbürgertums, der bewußten und weltweiten Selbstorganisation aller Menschen als Menschen. Max Scheler: „An diesem Umschlagpunkt hat das Ganze den
eigenen kritischen Punkt seines Selbst-Werdens überwunden. Am sel-
192
ben Punkt aber muß auch die Weltgeschichte beginnen. Denn die Leitung durch den Geist ist erst möglich durch die Kooperation aller Völker
und Kulturen."215
Um diese Integration von Individualität und Sozialität zu bewirken, bedarf es einer Verbindung mit neuen, integrierten Formen des menschlichen Geistes.
Integrale Subjektivität
Das erste geistige Erwachen der werdenden Menschen führte zur Ahnung und Erkenntnis, daß sie nicht nur Teil ihrer unmittelbaren Umgebung, sondern darüber hinaus auf unbegreifliche Weise mit dem gesamten Sein verbunden sind. Geringes wissenschaftlich-konkretes Erkenntnis- und Wirkungsvermögen und unentwickelte Abstraktionsfähigkeiten ließen die Allverbundenheit nur in Symbolen vertrauter Wesenheiten erscheinen - als Stammestotem, später als personifizierte Göttinnen oder dann als einen patriarchalen Gott. Die eigenen subjektivmenschlichen Schöpferkräfte wurden dabei weitgehend auf diese projiziert.
Weiter erwachte Individuen vernahmen die in der inneren Stimme mithörbare Stimme des Universums oder der universellen Evolution und
erkannten die menschliche Berufung zur Mitschöpfung. Die allgemeine
Befreiung von den geistig-einbindenden und zudem meist affektivbeschränkten (vermachteten) Mythen und Religionen bewirkte jedoch
die vorläufige Gegenreaktion eines materialistischen Atheismus, die
Vermeidung jeglicher menschlicher Rückbindung ans Ganze. Die aus
den frühen Beschränkungen gelöste menschliche Subjektivität überhöhte dadurch sich selbst in den Wahn einer absoluten Machbarkeit
und Beherrschbarkeit der Welt, die gespeist wird durch die Verzweiflung
der im Innersten unsicheren, weil rückbindungslosen Subjekte.
215
Scheler, M., Philosophie und Geschichte, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Bonn
1990, S.164.
193
Integrale Subjektivität wird eine Mitte finden zwischen der Demut der
Mitgeschöpflichkeit und der universellen, aufs Ganze, auf die Kreation
neuer Lebensmöglichkeiten wirkenden Sehnsucht des Mitschöpfers
Mensch. Aurobindo umriß die Formen solcher Geistigkeit: „Dieser Menschentypus wird besonderen Glaubensformen verhältnismäßig gleichgültig gegenüberstehen und es den Menschen selbst überlassen, die
Glaubensformen zu wählen, zu denen sie sich naturnotwendig hingezogen fühlen. Sie werden nur den Glauben an diese spirituelle Wandlung
für wesentlich halten, den Versuch, diese zu leben und jedwede Erkenntnis - in welcher Form diese gegossen sein mag, ist dabei nicht
ausschlaggebend - in dieses Leben einzubeziehen.“216
Menschliche Manager in der Region 21
Ziel der gesamten Ausführungen war die ganzheitliche Begründung
neuer Perspektiven, der Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung
mit menschlichem Gesicht. Dies nicht aus Idealismus oder Utopie sondern aus der Notwendigkeit und Dringlichkeit der heutigen Probleme. Es
wurde deutlich, daß die ökologischen, sozialen und geistigen Probleme
nur verschiedene Seiten desselben Phänomens der Krise der modernen Zivilisation sind; und nur durch ein entsprechend ganzheitliches, die
Ebenen integrierendes Herangehen ist es begreifbar und lösbar.
Um eine dem Ganzen von Mensch und Natur gemäße Existenz- und
Entwicklungsperspektive zu entdecken, wählten wir die Methodik der
Integration der Risse. Diese Risse - zwischen Natur und Gesellschaft,
zwischen Wirtschaft, Sozialität und Geist, zwischen Theorie und Praxis,
zwischen Individuum und Kosmos, zwischen Innen- und Außenwelt,
zwischen Subjekt und Objekt etc. - durchziehen vermutlich die ganze
bisherige Menschheitsgeschichte, und ihre Wurzeln reichen eventuell
zurück bis in die Anfangsgründe des uns bekannten, vermutlich durch
Differenzierung eines für uns ungreifbaren Ursprungs entstandenen
Universums.
216
Sri Aurobindo, Zyklus der menschlichen Entwicklung, Planegg 1983, S. 289.
194
Im Verlauf der Evolution entstanden immer differenziertere und komplexer selbstorganisierende Gebilde, bis hin zum Menschen als Individuum
und Gesellschaft. Diese gelangten im Geschichtsprozeß bis heute an
einen, im Selbstverständnis als Moderne begriffenen Entwicklungspunkt, der sie vor Probleme eines bisher nicht gekannten Ausmaßes
stellt. Die in zuvor nie gekanntem Maße gesteigerte theoretische Kompetenz und damit verbundene praktische Gestaltungsmacht des Menschen erweist sich als ohnmächtig zur Lösung der wachsenden ökologischen und psychosomatischen Probleme. Deshalb begaben wir uns auf
die Suche nach den Schatten, nach den unbewußten und unbewältigten
Rissen der Moderne, und entwickelten davon ausgehend Gedanken
einer neuen Integration des Ganzen.
Es bedurfte einer auf der Grundlage der modernen Wissenschaften
entwickelten ganzheitlichen Ontologie. Davon ausgehend ergaben sich
systematische Blickpunkte auf die Risse, Schatten und notwendigen
Integrationen der Gegenwart.
Mit dieser theoretisch begründeten Sicht können wir zu den praktischen
Problemen und Ansätzen des Anfangskapitels zurückkommen. Dort
stießen wir unter anderem auf zwei neue Tendenzen der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Praxis. Zum einen entwickelte sich im Gefolge der
bisher in der Weltkonferenz von Rio gipfelnden Umweltbewegung die im
Konzept der Agenda 21 zusammengefaßte Tendenz, Entwicklung nicht
mehr nur in wachsenden Größenordnungen sondern auch in der qualitativen Gestaltung von ökologisch und menschlich überschaubaren Regionen zu suchen. Obwohl diese Tendenz noch jung ist, wird sie sich
entfalten. Denn, wie der Vordenker einer neuen Ökonomie, Leopold
Kohr, bereits vor Jahrzehnten in seinem "Breakdown of Nations" begründete und wie die erwachenden praktischen Tendenzen eines Bioregionalismus217 zeigen, bieten Regionen eine in fast jeder Hinsicht
ideale Größenordnung für eine natur- und menschgemäße Existenz und
Entwicklung.
217
Siehe Gugenberger, E., R. Schweidlenka, Bioregionalismus. Bewegung für das 21.
Jahrhundert, Osnabrück 1996. Diese vor allem in den USA beobachtete Bewegung
zeigt sich ebenso, nur noch nicht unter einem solchen Begriff, in der auch in Deutschland zunehmenden Tendenz regionaler Netzwerke, lokaler Agenden, Communities etc.
195
Die Menschen einer Region können jenseits der Anonymität großgesellschaftlicher Verwaltungsstrukturen die in der Moderne verlorene unmittel-bar soziale Dimension neu ausbilden und in diesen kleineren Lebenskreisen die für die Zukunft von Mensch und Erde notwendigen
menschlichen "Lebensfunktionen und Qualitäten wie Geborgenheit, Anerkennung, Solidarität, Eigenverantwortung, Mitgefühl etc." neu ausbilden.218 Daraus und aus der Bezogenheit zur regionalen Natur könnte
die Kompetenz zur regionalen Integration von Ökonomie und Ökologie,
zur Gestaltung nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe erwachsen.
Dieses "könnte erwachsen" verweist jedoch auf eine im bisherigen Bewegungsfeld regionaler Entwicklung kaum reflektierte Leerstelle. Das
anfangs genannte "in die Menschen muß man investieren" (siehe I.1.3.)
zielt auf die neue Qualität menschlicher Subjektivität, ohne deren Ausbildung alle Ansätze neuer Lebenskreise, lokaler Agendas, nachhaltiger
Kreislaufwirtschaft etc. nur geist- und machtlose Versuche bleiben.
Die bedeutsamste Entscheidung bleibt - wie zuerst Fichte begriff - die
innere Entscheidung des Menschen zu sich selbst. Carl Amery nennt es
in seiner "Botschaft des Jahrtausends" das "enge Nadelöhr", die "hohe
Meß-latte", durch die der Mensch zeigen wird, ob er in der Evolution
bleibt, oder "ob sich die Evolution mit uns etwas Lebensunfähiges geleistet hat".219 Auch Max Scheler sah die Zukunft des Menschen nicht vorentschieden sondern abhängig vom Menschen selbst: "Er kann sich und in sich und durch sich das Universum heilen und heiligen. Aber er
kann auch seinen Versuch aufgeben - und vertieren. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er den Versuch aufgibt und wieder unter die Tiere zurückkehrt - allerdings dann als der Tiere schlechtestes...Dieses unbestimmte Geschöpf ist noch seltsam unentschlossen - was es ist, sein
will, sein soll. Sicher ist nur: Es muß sich entscheiden! - Und bald! Denn
sonst hat es zur Entscheidung keine Zeit mehr - und ist eben dadurch,
daß es sich nicht entscheidet (geistiger Akt), zum Tier bereits entschieden".220
218
Biedenkopf, K., Die neue Sicht der Dinge, München 1985, S. 415ff.
Amery, C., Die Botschaft des Jahrtausends, München 1994, S. 176.
220 Scheler, M., Philosophie und Geschichte, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Bonn
1990, S. 157.
219
196
Mangelnde Subjektivität ist die dringendste Leerstelle moderner Theorie
und Praxis. Solche Subjektivität erwächst nur aus dem flow ganzheitlicher Verbundenheit und Verantwortlichkeit. Dafür finden sich im noch
ungeordneten Gärungsfeld der Gegenwart auch praktische Ansätze.
Das zukunftsorientierte Management tendiert zu einer der modernen
Komplexität entsprechenden, ganzheitlichen Kompetenzbildung (siehe
I.5.), jedoch bleibt hier noch der Riß. Die Tendenz des zukunftsorientierten Managements ist durch einen tiefen strukturellen Riß von den
bioregionalen Bewegungen getrennt. Die Ansätze eines neuen, über die
Ziele bloßer Verwertung hinausgehend verantwortlichen Managements
zielen noch primär auf globale Großstrukturen. Und die Subjekte regionaler Entwicklungen projizieren insbesondere darauf altideologische
Feindbilder. Wenn irgendwann auch hier praktische Brückenschläge
geschehen, wenn sich menschliche Manager für die Regionen des 21.
Jahrhunderts bilden, wäre durchaus Hoffnung; Hoffnung auf neue, im
Spannungsfeld regional-konzentrierter Sozialität und Wirtschaft einerseits und globaler Kommunikation und Subjektivität andererseits fließende Evolution und Involution. Im Sinne der vielstimmigen Integration
vieler Gedanken lassen wir zum Schluß noch einmal Jeremy Rifkin
sprechen: „Wir stehen an der Schwelle eines Zeitalters der globalen
Märkte und der automatisierten Produktion. Bald wird die Wirtschaft
kaum noch menschliche Arbeitskräfte brauchen. Ob dieser Weg in einen sicheren Hafen führt oder ob ein schrecklicher Abgrund auf uns
wartet, dies wird davon abhängen, wie gut wir uns auf das postmarktwirtschaftliche Zeitalter vorbereiten, das der Dritten Industriellen Revolution folgen wird. Das Ende der Arbeit könnte das Ende unserer Zivilisation bedeuten. Es könnte aber auch eine breite soziale Veränderung
in Gang setzen und zu einer Wiedergeburt unserer Menschlichkeit führen. Die Zukunft liegt in unseren Händen.“221
221
Rifkin, J., Das Ende der Arbeit, Frankfurt/Main 1997, S. 219.
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206
Anhang
LebensGut Pommritz
Entwicklungszentrum einer ökologisch-sozialen Landkultur
Anlage 1 zum Registrierungsvertrag zur EXPO 2000
als “Weltweites Projekt in Deutschland”
Projektträger: Neue Lebensformen e.V.
02627 Pommritz, Nr. 1
Verantwortliche Vorstandsmitglieder: Dr. Maik Hosang und Bruno Lipke
1. Projektbeschreibung
Die Idee zu diesem "Modellversuch einer ökologisch-sozialen Landkultur" entstand im Gespräch zwischen dem sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf und dem Vordenker Rudolf Bahro. Ort des Experimentes einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise im ländlichen Raum sind von der sächsischen Regierung dafür bereitgestellte
Teile des Gutes in Pommritz bei Bautzen. Das Konzept wurde entwikkelt vom Institut für Sozialökologie der Humboldt-Universität zu Berlin,
welches das Ganze auch wissenschaftlich begleitet. Das Projekt will
beispielhaft erkunden und verdeutlichen, wie ressourcensparsamere
Wirtschafts- und Lebensstile ohne Verlust an Lebensqualität gestaltbar
sind. Bisher sind 50 Menschen unmittelbar beteiligt, geplant ist es für
ca. 300.
Sachlich geht es darum, eine an der Agenda 21 orientierte lokale und
regionale Entwicklung zu initiieren; d.h. vor allem um die Stärkung lokaler Organisationen und dezentraler Entscheidungsprozesse, um Befugnisse und Verantwortungen für eine nachhaltige Entwicklung auf die
Hauptnutzer natürlicher Ressourcen zu delegieren.
207
Die Vision ist die Gestaltung eines lebendigen Zentrums für ökologisches und soziales Leben und Wirtschaften. Die ideell und materiell
beteiligten Menschen engagieren sich für ihren Lebensunterhalt und
ihre Lebensfreude, für die Erhaltung ihrer Umwelt und für die Entfaltung
einer vielseitigen Kultur. Die Verbindung von Ökologie, Humanität und
Ästhetik bildet ein Gemeinwesen voll lebendigen Reichtums.
Ökonomische Grundlagen sind die ökologische Bewirtschaftung von 80
ha Land, mit Hofveredlung durch interne Bäckerei, Käserei, Kelterei
etc., weitgehend dezentraler Wasser-, Energie- und Baustoffversorgung
und speziellen Marktprodukten (Ökologische Lebensmittel, Ingenieurbüros, Gästebetrieb und Seminarzentrum). Die soziokulturelle Struktur
zeichnet sich aus durch vielfältige Selbstorganisations- und Kommunikationsformen, um allen Beteiligten stabile und sinnvolle Arbeitsplätze
und Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen.
2. Projektziele
Das Projekt zielt auf die Gestaltung eines zukunftsfähigen Lebens- und
Wirtschaftsstils im ländlichen Raum. Entsprechend den neuen wissenschaftlichen Analysen zum Thema nachhaltiger Entwicklung geht es
dabei vor allem um ein Zusammenwirken natürlicher, wirtschaftlicher,
sozialer und geistig-normativer Dimensionen. Ziel ist so eine neue Synthese und Synergie von Natur und Wirtschaft, Evolution und Management, Mensch und Technik.
Im ganzheitlichen Prozeß lassen sich drei Unter- mit ihren jeweiligen
Teilzielen herausheben:
I - Aufbau einer dualen Ökonomie: lokale Kreislaufwirtschaft mit speziellen Marktprodukten.
Die alltäglichen Güter wie Nahrungsmittel, Baustoffe, Wasser und
Energie werden weitgehend in örtlichen bzw. regionalen Kreisläufen
erwirtschaftet, d.h. aus gegebenen Ressourcen erzeugt, regional gelagert, ausgetauscht, verbraucht und als Reststoffe zurückgeführt.
Außerdem werden spezielle Produkte für den überregionalen Markt
208
erzeugt, insbesondere spezielle Nahrungsgüter mit ökologischem
Gütesiegel und komplexe Dienstleistungen.
II - Gestaltung einer vielfältigen und menschlich reichen Sozialität.
Die Gestaltung menschlich-unmittelbarer und überschaubarer Lebens- und Arbeitskreise fördert soziale Selbsthilfe und solidarische
statt konkurrenzorientierte Verhaltens- und Verbrauchsweisen. Dies
ermöglicht u.a. einen umweltschonenderen und effizienteren Einsatz
aufwendiger Gebrauchs- und Konsumgüter, z.B. durch Car-Sharing.
III-Wiederbelebung der ländlichen Region durch Gestaltung einer reichen Soziokultur.
Förderung des ländlich-unmittelbaren Bildungs- und Kulturangebotes
und beispielhafte Perspektiventwicklung. Im Sinne einer ökologischen Zukunft benötigen insbesondere die Kinder und Jugendlichen
bereits jetzt gesunde und ökologische Erfahrungs- und Entwicklungsbedingungen. Ziel ist, sie einzubeziehen in die Kreisläufe der Natur,
sie anzuregen zur Wahrnehmung und behutsamen Gestaltung und
Nutzung ihrer Umwelt; zu gesellschaftlicher Mitverantwortung für die
Zukunft.
Um das Projekt in der Gesamtheit der unten beschriebenen ökologischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Ziele zu realisieren,
wurden mehrere Teilprojekte gebildet. Dies sind:
* Aufbau eines an der Agenda 21 orientierten regionalen Kommunikations-, Verkehrs- und Vermarktungssystems.
* Herstellung ökologischer Güter des täglichen lokalen und regionalen
Bedarfs: Lebensmittel, Energie, Wasser und Baustoffe.
* Überregionale Vermarktung ökologischer Güter und spezieller
Dienstleistungen.
* Aufbau einer autonomen Energieversorgung durch Holzheizwerk,
eventuell mit Ergänzung durch Solarthermie.
* Ökologische Restaurierung und soziokulturelle Umnutzung der
denkmal- geschützten Gutsgebäude.
* Bildungszentrum und Bibliothek für Sozialökologie, mit einem Jugendbildungszentrum für Ökologie und Kommunikation.
209
2.1. Zielsetzung nachhaltiger Lebensstil
Die entscheidende Zielsetzung einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise läßt sich nur grob, etwa anhand voraussichtlicher Einsparungen an Energie, Transporten, Geräten etc., oder anhand der erhaltenen und gesteigerten Artenvielfalt im Gesamtbiotop LebensGut, oder
anhand eines schwer meßbaren anderen Wohlstandsempfindens verifizieren.
Um eine Anschaulichkeit und Überprüfbarkeit des nachhaltigeren Lebensstils zu gewährleisten, werden diese Zielsetzungen, in Anlehnung
an das Konzept „Faktor vier - Doppelter Wohlstand, halbierter Energieverbrauch“ wie folgt bestimmt:
1. Durch die relative Integration von Wohnen, Arbeit und Freizeit und
durch die weitgehende Nutzung der lokalen und regionalen Ressourcen, werden ein Großteil der sonst üblichen Transporte und
entsprechenden Emissionen, Energieverbräuche etc. eingespart.
Zielstellung: Eingespart wird mindestens die Hälfte der vom mitteleuropäischen Durchschnittsbürger verbrauchten Transporte und entsprechenden Energieverbräuche.
2. Durch gemeinsame Nutzung von Technik (Autos, Waschmaschinen, Werkzeuge, Video- und Kommunikationstechnik etc.) werden
entsprechende Produktionsverbräuche eingespart und Abfälle
vermindert.
Zielstellung: Die für alle persönlichen Bedürfnisse ausreichende ProKopf-Ausrüstung mit Autos, Waschmaschinen und Computern ist
höchstens halb so groß wie im mitteleuropäischen Durchschnitt.
3. Ökologische Landwirtschaft: Weniger Energieverbrauch, größere
Artenvielfalt.
Zielstellungen: Der Gesamtenergieeinsatz pro Ertragseinheit Getreide beträgt höchstens die Hälfte im Vergleich zum konventionellen
210
Anbau. Auf einer Fläche von 10 Hektar finden sich mindestens
doppelt so viele Pflanzen- und Tierarten.
4. Erhöhter Wohlstand: Durch die Neuverteilung von Arbeit und vielfältige Kommunikations- und Kulturformen entsteht trotz vergleichsweise geringeren Einkommens ein hohes persönliches
Wohlbefinden, es gibt weniger Krankheiten und weniger Ersatzsyndrome wie Drogen etc.
3. Umsetzungsstadien
Die Grundaussagen über die Vorteile des oben umschriebenen nachhaltigen Lebensstils lassen sich bereits jetzt verifizieren, jedoch ist der
Vergleichsmaßstab noch gering. Primäres Ziel ist deshalb die Erweiterung des Projektes auf eine repräsentable Größe von 80-200 Personen
und alle entsprechenden Bedingungen.
Dazu gehört der Aufbau bzw. die Erweiterung einzelner Teilprojekte mit
konkreteren Zielstellungen:
Die Ökologische Lebensmittelproduktion und deren regionale Vermarktung sind bereits realisiert. Ebenso arbeitet das Bildungszentrum und
die Bibliothek. Diese werden in den Folgejahren ausgebaut.
Der Einbau einer Holzvergaserheizung ist geplant für 1998/99.
Die Restauration der Gutsgebäude ist im Gange. Da dies durch ein Sozialprojekt realisiert wird, sind nur Planungen möglich und keine präzisen Realisierungsetappen festlegbar. Ziel ist deren weitgehender Abschluß bis Ende 1999.
211
Erfülltes, rundum gesundes Leben will Frieden
und Frieden will erfülltes Lebendigsein.
Ewiger Frieden auf dieser Erde wird möglich,
wenn alte Fremdenangst und tödliche Lebensenge
sich verwandeln in unerschöpfliche Weltabenteuer.
Es ist an der Zeit,
die Trennungen von Natur und Kultur,
von Medizin, Politik und Wirtschaft,
von Körper, Seele und Geist
aufzuheben in einem Unternehmens-Abenteuer:
Welt - Friedens - Erlebnis - Park
„Quellen des Lebens“
Unternehmensziel - Dienstleistungsidee Marktpotential - Finanzdaten
Unternehmensziel
In einem weltgeschichtlich bedeutsamen und natürlich reizvollen Ambiente, im Dreiländereck Deutschland - Polen - Tschechien, entsteht ein
phantastisches, alle großen Heilungskulturen der Erde zum unendlichen
Friedens-Abenteuer vereinendes Gesundheits-, Erholungs- und Erlebniszentrum.
212
Trendidee und Wettbewerbsvorteil
Wir leben und erleben gegenwärtig den Beginn des Übergangs von der
Sachprodukt- zur Wissensgesellschaft. Dem zugrunde liegt die Marktsättigung mit sachlich-dinglichen Produkten und der relativ gesicherte
Wohlstand breiter Schichten. Die zwei wirtschaftlichen Haupttrends dieser Entwicklung sind der Aufschwung der Kommunikationsindustrie und
die Blüte des Tourismus. Deren Entwicklung wird noch maßgeblich von
bisherigen Strukturlogiken geprägt und beide Trends scheinen auf den
ersten Blick ohne Berührung zueinander. Sieht man sie jedoch in Verbindung mit weiteren noch unterschwelligen Trends, wie sie sich im raschen weltweiten Erfolg solcher Bücher wie „Sophies Welt“, „Celestine“
oder „Emotionale Intelligenz“, abzeichnen, so ergibt sich eine deutliche
neue Tendenz:
Die Entfaltung und der Genuß neuer und ganzheitlicher Lebensqualitäten. Diese erzeugen auf der einen Seite im Wettbewerb gefragte persönliche Kompetenzen wie Intelligenz, Charisma und Kreativität. Auf der
anderen Seite befriedigen sie die offenbar in allen Menschen stark angelegten Bedürfnisse nach Lebenserweiterung, Selbst- und Welterfahrung sowie ganzheitlicher Gesundheit.
Die Trends von Multimedia-, Gesundheits-, Esoterik- und Tourismusindustrie dienen genau diesen Bedürfnissen. Infolge ihrer Bindung an die
alten Strukturlogiken bleiben jedoch wesentliche Bedürfnisfelder weitgehend unerfüllt. Der Internetsurver weitet sein Wissen, doch in seiner
Naturferne und Isolation dürsten ihn Körper und Seele. Die Gesundheitsindustrie bietet körperliche Heilungen aller Art, doch die meist zugrundeliegenden seelisch-geistigen Defizite bleiben unbefriedigt. Die
Esoterikszene bietet Sinnersatz vieler Art, ihre lebensabgewandte Tendenz hinterläßt jedoch Leere in Körper und Seele. Der Tourist erlebt an
den Stränden von Hawai oder in den Tempeln Ägyptens zwar Ahnungen natürlicher und sinnhafter Lebensfülle, doch bleibt dies momenthaft
isoliert vom gewöhnlichen Leben.
213
Greifen wir alle diese Trends und ihre Defizite auf, dann treffen wir ein
riesiges Bedürfnis- und ein vermutlich unbegrenztes Marktpotential:
Der Park der „Quellen des Lebens“ zielt genau auf die bisher unerfüllten
Lücken einer ganzheitlichen, d.h. gleichzeitig körperlich-seelischgeistigen Kompetenz und Gesundheit.
Dazu umfaßt er folgende Haupterlebnisbereiche:
A - Vitalia
Die Erlebnisbereiche der weltweiten Gesundheit bieten eine einzigartige
Vielfalt an körperlich-sinnlichen Entspannungs-, Erholungs-, Fitnessund Heilmethoden. Das Ambiente „Vitalia“ besteht aus einem im Gesamtpark eingefügten Ensemble
von orginalgetreu eingerichteten
altchinesischen, ayurvedischen, tibetanischen, afrikanischen, griechisch-römischen und auch modernen Heilzentren. Dazu gehören entsprechende Gesundheits- und Erlebnisbäder sowie traditionelle Revitalisierungsmethoden, bis hin zu modernen Fitnessbereichen. Die Besucher können all diesen Reichtum der Heilung und körperlichen Lebenssteigerung wahrnehmen, ausprobieren und für sich als heilsam erfahrene Methoden intensiv erleben sowie erlernen. Sie haben drei mögliche
Intensitäten ihres Gesundheitserlebnisses: I. Besichtigung und Ausprobieren, II. Belegung intensiverer Heilbehandlungen, III. Erlernen der für
die persönliche Vitalität besten Methoden
B - Philusia
Heilung war und ist in gesunden Gesellschaften immer eine Sache von
Körper, Seele und Geist. Alle Heilweisen haben philosophische Hintergründe. Diese geben ein Bild von der Teilhabe des Menschen an universellen oder kosmischen Energien, ob diese chinesisch Chi, indisch
Prana oder modern Orgon genannt werden. „Philusia“ bedeutet „Liebe
zum Sein“ und steht hier für eine Erlebniswelt weltweiten Wissens. Diese ist unmittelbar integriert in den Erlebnispark der weltweiten Gesundheit und bietet in entspannend-erholsamer Weise eine lebensnahe
Vielfalt an Zugangsweisen, Antworten und Befriedigungen zum stark
214
wachsenden Bedürfnis nach Selbsterkenntnis, Lebensorientierung und
Lebenssinn.
Indische, Ägyptische, Chinesische, Tibetanische, Griechische, Südamerikanische, alteuropäische Weisheitsformen, Religionen bzw. Philosophien werden in einem ihren Traditionen nachempfundenen architektonischen Ambiente, d.h. in Tempeln oder Weisheitsschulen inmitten ihrer
kulturtypischen Gartenanlagen, inklusive entprechend agierender Darsteller, lebendig erlebbar. Auch hier gibt es drei mögliche Intensitäten:
I. Besichtigung, II. Teilnahme am permanenten Gespräch über die
Grundthemen des Daseins, III. Belegung intensiverer Erlebnis- und Erfahrungsseminare.
C - Oasia
Ebenfalls integriert in die Erlebniszentren von Vitalia und Philusia bieten
sich den Besucher jeweils traditionell orientierte - nur gemäß moderner
Hotelqualitäten ausgerüstete - Pensionen und kulinarische Genüsse.
Diese wiederum bilden permanente Verkaufsausstellungen der jeweils
kulturtypischen Konsum- und Gebrauchsgüter. Das Gesamtensemble
ist so in unauffällig-unaufdringlicher Art auch ein riesiges Erlebniskaufhaus. Alle hier nutzbaren Gesundheitsartikel, Weisheitssymbole und
Bücher, Kunstwerke, Einrichtungsgegenstände und auch Konsumgüter
können vor Ort ausprobiert und über einen Versandservice bestellt und
nachgeliefert werden.
D - Intelligenzia
Der Weltpark „Quellen des Lebens“ bietet die weltweit bisher kaum vorhandene Dienstleistung einer lebensnahen Synergie von Gesundheit,
Kunst, Natur, Wirtschaft und Geist. Die Ressourcen Natur, Wissen/Weisheit und Kreativität sind die entscheidenden Potentiale künftiger Lebens- und Unternehmensführung und werden hier in speziellen
Tagungen, Messen, Kongressen und Konferenzen weiterentwickelt. Ergänzender Teil des Ganzen wird daher ein innovatives Kongress- und
215
Entwicklungszentrum für integrale, d.h. technische, geistige, emotionale
und körperliche Intelligenz.
Das gesamte Ensemble wird in all seinen Aspekten durch Architekturkünstler gestaltet und in die Natur eingefügt.
Marktpotential
Die Einzigartigkeit des Gesamtprojektes „Quellen des Lebens“ zielt auf
den sich zunehmend globalisierenden Dienstleistungs- und Tourismusmarkt.
Das riesige Marktpotential ist den Daten des Verbandes Deutscher
Freizeitunternehmen zu entnehmen:
* Rund 20 Millionen Besucher kommen jährlich allein in Deutsche Freizeitparks
(davon kommen allein rund 2,5 Millionen in den Europa-Park)
* der Umsatz der Freizeitparks betrug 1996 über 700 Millionen DM
* ca. 100.000 Teil- und Vollzeitarbeitskräfte arbeiten in den Parks
* die Wachstumsrate in der Branche liegt im zweistelligen Bereich; der
Europa-Park
verzeichnet seit seiner Eröffnung sogar Wachstumsraten von 100
Prozent
Die „Quellen des Lebens“ rechnen bei Vollendung der ersten Ausbaustufe im Jahre 2003 mit einer durchschnittlichen Besucherzahl von
2000 Personen pro Tag; davon 1000 als Tagestouristen, 900 als durchschnittlich einwöchige Urlaubstouristen und 100 als Tagungsbesucher.
Dies entspricht einem Jahresvolumen von rund 720.000 Besuchertagen.
Im Vergleich zur vielfach höheren Besucherzahl des Europa-Parkes ist
dies eine konservative Annahme. Die Einzigartigkeit eines „WeltParkes“ im Herzen des zukünftigen Europa könnte jedoch potentiell sogar die Zahlen des Europa-Park übersteigen.
216
Wie die Erfolgsbilanz des am unerschlossenen Südrand Österreichs
gelegenen Rogern-Bades Blumau zeigen, ist die Lage am bisherigen
Rande Europas nicht hinderlich. Im Lichte der Zukunft Europas bedeutet sie jedoch einen potentiell-bedeutsamen Standortvorteil.
Zentrale Finanzdaten der ersten Ausbaustufe im Vollbetrieb
Umsatz-, Rohertrags- und Ergebnisplanung - Grobvorschau (in TDM)
1. Erträge/Umsatzerlöse
= 77.000
2. Aufwendungen
2.1. Personal (300 Arbeitsplätze in Polen)
2.2. Material, Medien und Waren
2.3. Abschreibungen Gebäude
2.5. Summe Aufwendungen
3. Ergebnisse gewöhnlicher Geschäftstätigkeit
4. Kreditzins (7%)
5. Kredittilgung (10% p.a.)
= 15.000
= 15.000
= 3.000
= 33.000
= 44.000
= 4.500
= 6.500
Zu versteuernder Ertrag
= 33.000
8. Möglicher Gewinn je nach Steuern und Kreditvolumen ca.
Investitionen
TDM)
Erschließung von 20 ha
(Kosten pro qm 80 DM)
Baukosten 30.000 qm
(Baukosten brutto pro qm 2.000 DM)
Freiflächengestaltung
(Kosten brutto pro ha 50 TDM)
Produktentwicklung
(3 Jahre x 2.000 TDM)
Gesamtinvestitionen
217
20.000
Kosten
= 16.000
= 60.000
= 10.000
= 6.000
=92.000
(in
Finanzierung der Investitionen
Eigenkapitalanteil
Kredit bzw. Auflage eines Fonds
Fördermittel Polens bzw. der EG
= 8.000
= 65.000
= 19.000
Umsatz p.a.
Eintritt Philusia/Oasia (2.000 X 40 DM x 360)
Beherbergung (800 x 60 DM x 360)
Verzehr (2.000 x 20 DM x 360)
Merchandising(700 x 10 DM x 360)
Kauf und Versand in Ökosia (500 x 50 DM x 360)
Konferenzen (100 P x 150 DM x 360)
= 28.800
= 17.300
= 14.400
= 2.500
= 9.000
= 5.400
Gesamt
= 77.000
Initiatoren
Dr. Maik Hosang, Privatdozent für Sozialökologie, Zukunftsplanung und
integrales Projektmanagement; Konzept des EXPO-2000 Projektes LebensGut Pommritz.
Andreas Mascha, Konsultant für holistisches Management
Merete Mattern, Visionärin, Architektin, Politikerin
Reinhard Stefan Tomek, Ökologischer Unternehmer, Berater für innovative Unternehmenskonzepte, Konzept der INtegrated Art
Gesellschafts- und Beteiligungsform
Integrated Art Aktiengesellschaft
218
Manifest der INtegrated ART
INtegrated Art ist die bewußte Vernetzung der Prinzipien der
Kunst mit den Prinzipien der Ökologie, der Ökonomie und
des Geistes; Implementiert in die realen Strukturen der
menschlichen Gesellschaft, mit dem Ziel eines sich lebendig
entfaltenden
Gesamtkunstwerks
eine
On-goingPerformance.
1 . Ethos und Sinn/Geist und Kunst von INART
Projekte und Initiativen der INART sind zugleich Dienst und Freude
am letztendlichen Sinn von Mensch und Erde,
an der Evolution des kollektiven Lebens im allgemeinen
und des menschlichen Lebens im besonderen.
Sie befördern und verbinden (integrieren)
Wahres (Wissen, Bewußtsein, Weisheit),
Gutes (Liebe, Mitgefühl, Einssein) und
Schönes (Kreativität, Innigkeit, Schöpfung).
Sie wirken
aus Freiheit (zwangloser innerer Entscheidung des Individuums),
durch Sehnsucht (des ICH nach universellem Selbstsein)
und durch Demut (Hingabe des Ich an die universelle Energie
von Urschöpfer, "Gott" oder Evolution).
Kunst ist kreative Gestaltung. Sie soll nicht nur Gegenstände betreffen
und von Spezialisten gemacht werden sondern die Menschen, ihre Gesellschaft, ihre Wirtschaft und ihre Natur auf neue Weise lebendig
durchdringen. Künstlerisch-kreative Menschen sitzen nicht im Boot der
isolierten Kunst oder rudern - meist aussichtslos - gegen die Strömung.
Sie tauchen, mit ihren Qualitäten von Mut, Liebe, Wahrhaftigkeit, Wissen und Demut, mutig ein in den Fluß des Lebens und nutzen dessen
Energie zur Gestaltung schönerer Welten.
219
2. Famile, Beziehungen und Erotik
Menschen sind soziale Wesen und entfalten all ihre Schönheit und
Kreativität erst in wahrhaftigen, freundschaftlichen, lebendigen und
ganzheitlichen Beziehungen und Kommunikationen.
Erotik ist die natürliche Synopse zwischen Liebe, Freundschaft, Sinnlicheit und Sexualität. Erotik ist ein psychosomatisches Phänomen, ohne
das es keine Evolution des Menschlichen Seins und Werdens gibt. Die
persönlich optimale Synergie aus ganzheitlichen Wahrnehmungen läßt
durch Kontraste Spannungszustände und Lösungen entstehen, die sich
in einem Flow von Hormonen und Inspirationen ausdrücken, die körperliches und geistiges Leben positiv stimulieren.
Die negative Bewertung und Vereinnahmung des erotischen Elementes
durch Ideologien und Religionen als etwas Unmoralisches oder Dämonisches lehnen wir ab. Das kreative, wahrhaftige , kommunikative Umgehen mit dem erotischen Prozeß , also das künstlerische Umgehen,
soll gleichzeitig zu einer Entdämonisierung und einer Kultivierung, zu
einer Integration des Sinnlichen führen; in weiterer Folge zu einer positiven Bereicherung der Beziehung zu sich selbst und anderen Menschen.
Das Paar, die Zweierbeziehung ist die Kernzelle jeder Familie. Aber der
Begriff der Familie kann nicht länger eine ausschließliche Domäne genetischer Bande sein. Der Mensch des 21. Jahrhunderts sucht und gestaltet sich seine Familie , die seinem Wesen und seinen psychosomatischen Notwendigkeiten am besten entspricht. Die isolierte Kleinfamilie
- Vater , Mutter, Kind - ist in komplexen Zeiten unter ökologischen und
ökonomischen Prämissen nicht mehr optimal geeignet ein Hort der
Freude, der geistigen und körperlichen Erneuerung und Entwicklung zu
sein. Die neue Familie lebt als ein freundschaftlicher und kultivierter
Bund von Wesensverwandten, die sich seelisch, körperlich und geistig
ergänzen.
Dies erfordert eine kultiviertere Verwirklichung ethischer Spielregeln,
eine neue, wahrhaftige Moral. Neben anderen sind dabei folgende
Grundsätze wichtig: Selbstbestimmung, wie das Sich-Nehmen oder Ge-
220
statten von ganzheitlichen Beziehungen mit Dritten, darf nicht zu Lasten
der Freude des Partners gehen. Die Frage der Loyalität und andere
Gebote der Freundschaft sind noch stärker zu beachten, als man dies in
einer Besitzstandsgesellschaft gewohnt war.
221
3. Neue Paradigmen der Ökonomie und der Ökologie
Das neue Paradigma der Ökonomie basiert primär auf dem Prinzip der
Kooperation statt des Konkurrenzkampfes. Das Prinzip des Wettbewerbes - als Inspiration und feed-back-Funktion - ist dabei einbeschlossen.
Dies erfordert Kreativität und die Kompetenz der Komplexitätsbewältigung. Ziel ist die Verwirklichung einer Multiple-win-Strategie.
Die neue Ökonomie erweitert den lediglich außenweltlich bezogenen
Nutzenbegriff um die innenweltliche Dimension. D.h. neben den quantifizierbaren, materiellen Nutzenaspekten werden auch immaterielle Nutzenfaktoren (wie Sinnerfahrung, Schönheit, Freundschaft, Persönlichkeitsentwicklung, etc.) einbezogen. Nur eine ganzheitliche Sichtweise
des Nutzenbegriffes (im Sinne des Neoutilitarismus) bietet die Wertund Informationsbasis für tatsächlich ökonomische Entscheidungen.
Die zentrale Frage ist: was kann man miteinander machen, wie kann
man die Konstellation der Akteure so gestalten, so daß der Konsument
ebenso wie der Mitarbeiter, der Lieferant wie der Kapitalgeber nachhaltig Freude hat - durch echten, gesunden, die Umwelt nicht schädigenden Wertzuwachs und nicht durch Spekulationsgewinne auf dem Papier. Das Ziel ist eine ganzheitliche, synergetische Wertschöpfung, die
im Sinne des "stakeholder- value" Gedankens zu nachhaltigen und damit - auch im monetären Sinne - zu besseren Ergebnissen führt.
Zur Verwirklichung des neuen Paradigmas der Ökonomie bedarf es eines weiterentwickelten, zukunftsfähigen und bewußten Managementansatzes (vgl. flowManagement), um diese Prinzipien in und durch konkrete Projekte umzusetzen. Dabei sollte die Führungsinitiative- und verantwortung jeweils bei solchen Persönlichkeiten liegen, die ihr Bewußtsein am weitesten entwickelt haben.
Der Sinn der neuen Ökonomie ist die Förderung der kollektiven Evolution des Lebens im allgemeinen und des menschlichen Lebens im besonderen. Die wichtigsten Kriterien dafür sind: Nachhaltigkeit, d.h. Zukunftsfähigkeit, Bewußtseinserweiterung, Wissensoptimierung, Verantwortlichkeit, Effizienz (HighTec) und Effektivität (HighOrg). Management
ist somit neben den funktionalen Aspekten auch künstlerische Arbeit an
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der sozialen Plastik.
Aus der neuen Sicht der Ökonomie ergibt sich implizit auch das Prinzip
der Ökologie. In diesem neuen Ansatz des guten Haushaltens (von
griech. oikios), ist der sinnvolle und vernünftige Umgang mit Ressourcen und der Natur als Lebensgrundlage enthalten. Ökologisches Wirtschaften kann nur im Kontext der Bewußtheit ökosystemischer Zusammenhänge und der daraus resultierenden Verantwortung funktionieren.
Wobei die Prinzipien der Ökologie nicht nur auf die Eingriffe in die Natur
Anwendung finden sondern auch auf die gewählten Methoden und
Denkhaltungen. Dabei steht die Seinsorientierung vor der Habenorientierung; d.h. ökologischer Lebensstil und situative persönliche Verantwortung stehen vor Zertifizieren ökologischer Güter und starrer Regelwerke. Diese Form der Ökologieorientierung impliziert einen Bewußtwerdungsprozeß jedes einzelnen - um situationsgerecht, achtsam
und im Sinne des Gesamtökosystems handeln zu können.
4. Die Beziehung zum Staat
Kernstück des Staates muß die Neue Familie werden. Kreativität, innovatives Zusammenleben und gemeinsames Nutzen von Energie , Wasser und Wohnungen müssen durch entsprechende Gesetze gefördert
werden.
Die Integration von Wohn-, Arbeits- und Freizeitwelt durch neue Architekturen für Stadt und Land und modernste, ökologisch orientierte
Technik sollen zum Ziel einen schlanken, unbürokratischen Staat haben, der in seinem Handeln Achtung vor der Würde des Bürgers hat.
Die Rückbesinnung auf die wirkliche Anwendung der Menschenrechte
und Grundgesetze und die demokratische Mitbestimmung müssen zur
direkten Demokratie in einem förderalistischen Europa und zu einer
Rückbesinnung und Redimensionierung der politischen Parteien führen.
Die neue Rolle des Staatswesens soll u.a. darin bestehen, das Bildungswesen so zu entwickeln, daß nicht allein Wissen, sondern das
Optimieren der Persönlichkeit des Bürgers, beginnend mit der Grund-
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schule, gefördert wird . Und in weiterer Folge sollte durch entsprechende Steuergesetze alles gefördert werden, was zur nachhaltigen Unabhängigkeit vom Staats-tropf und zum konkreten, regionalen Umsetzen
von Wertschöpfungsideen führt.
Das Leben der Bürger als Gesamtkunstwerk - das vom Staat, solange
es nötig ist, als Coach und Impressario gemanagt wird, um danach am
Erfolg prozentual angemessen zu partizipieren - sollte das Leitbild für
den neuen europäischen Staat, seine Funktionäre und Instrumente
sein.
Erstunterzeichner:
Antonia Hasselmann
Maik Hosang
Andreas Mascha
Reinhardt Stefan Tomek
Astrid Thomele
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