ProzeFriedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg HS Moderne & Individualisierung WS 15/16 Prof. Dr. Michael von Engelhardt von: Vanessa Novoa Gierlich, Verena Kallmünzer, Lea Lewitzki Der Prozess der Zivilisation und die Gesellschaft der Individuen ( Norbert Elias) Norbert Elias *1897 in Breslau †1990 in Amsterdam Studium der Medizin und der Philosophie, später Zuwendung zur Soziologie Miterleben von Umbrüchen in beiden Weltkriegen, Flucht im 2. Weltkrieg nach Frankreich und Großbritannien Hauptwerk: „Über den Prozess der Zivilisation“ (1939) → Kardinalproblem: Verhältnis von Individuum und Gesellschaft 1. Prozess der Zivilisation 1.1 Ziel Theorie der menschlichen Gesellschaft bzw. der Menschheitsentwicklung Kardinalproblem: Das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft Prozesssoziologie: Grundthese eines permanenten Wandels von Gesellschaften (gegen Systemtheorie, die in Elias' Augen bloße Zustandssoziologie ist) Menschen können nicht als einzelne Wesen gesehen werden, sondern stets im Plural, Handeln des Einzelnen kann nur im Zusammenhang des Handelns anderer Menschen betrachtet werden Gesellschaft und Individuum können nicht getrennt, sondern nur gemeinsam behandelt und gedacht werden (das Eine ist ohne das Andere nicht möglich) 1.2 Elias Figurationstheorie Ablehnung von kollektivistischen und individualistischen Theorien aufgrund der Überbewertung je einer Seite → Entwicklung einer Theorie zur Vermittlung zwischen beiden Ansätzen Soziale Beziehungen als Kern der sozialen Wirklichkeit → Figuration Betonung der Dynamik des sozialen Wandels Begründungen der Ablehnung individualistischer und kollektivistischer Entwicklungstheorien: individualistisch: Eintreten von unbeabsichtigten Folgen und Unmöglichkeit der Durchsetzung individueller Entscheidungen (in der Gesellschaft) kollektivistisch: Ablehnung von teleologischen Theorien → fehlende Existenz von Anfangspunkt, Ziel und Determinanten Prämisse seiner Entwicklungstheorie: intentionales Handeln der Menschen, die in ein Handlungsgeflecht eingebunden sind = wechselseitige Interdependenz d.h.: Bildung von Figuration ↓ Veränderung der Figuration ↓ Veränderung des Verhaltens der Individuen ↓ Veränderung des Bewusstseins und des Triebhaushaltes ProzeFriedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg HS Moderne & Individualisierung WS 15/16 Prof. Dr. Michael von Engelhardt von: Vanessa Novoa Gierlich, Verena Kallmünzer, Lea Lewitzki Menschen sind „Auslöser und Initiatoren der sich wandelnden »Umstände«, auf die sie ihr Verhalten immer wieder aufs Neue korrigierend ausrichten müssen“ (Schroer 2000: 347) 1.3 Soziogenese Analyse der langfristigen Entwicklung der Gesellschaftsstrukturen Monopolisierungsprozess: Akkumulation der Elementarfunktionen → Kriegergesellschaft (Feudalismus, Monopol der Waffen, Macht bei Kriegern und Priestern) → höfische Gesellschaft (Absolutismus, Monopol des Landes, Macht beim Adel) → Berufsbürgertum (Kapitalismus, staatliches Monopol, Macht bei den politischen und wirtschaftlichen Spezialisten) Funktionsteilungsprozess: gesellschaftliche Entwicklung als langfristige sozioökonomische Differenzierung, zunehmende Funktions- und Arbeitsteilung → Verlängerung der Interdependenzketten und somit zunehmende Spezialisierung der Individuen 1.4 Psychogenese Analyse der langfristigen Entwicklung des menschlichen Verhaltens Zivilisationsprozess: → körperliche Verrichtungen werden in Intim- und Privatsphäre verlagert → Fremdzwang wird in einem langen Prozess zu einem Selbstzwang Entwicklung in Abhängigkeit der Soziogenese: → Mittelalter: fremd- und selbstauferlegte Verbote noch gering, wenig Affektregulation, Gewalt an Tagesordnung → Absolutismus: zunehmende gegenseitige Rücksicht, um das eigene Überleben zu sichern und sich die Gunst des Königs zu gewinnen → industrielles Bürgertum: Zwänge des ökonomischen Beziehungsgeflechtes, Verhaltensregeln werden automatisch von einer breiten Schicht verinnerlicht, zentral ist die Selbstkontrolle 2. Individualisierung Individualität ICH-Identität jeweilige Ausgestaltung des Typischen Typisches WIR-Identität ähnliche Ausbildungen von psychischen Selbststeuerungsmustern durch Leben in Gesellschaft → nach dieser Definition ist Individualität nur innerhalb der Gesellschaft erreichbar → Gesellschaft wirkt gleichzeitig typisierend und individualisierend → Ambivalenz im Menschen: Einzigartigkeit vs. Konformität → laut Elias wird das Bedürfnis nach Individualisierung von außen an die Menschen herangetragen (gleichsam eines „Imperativs“) je stärker die funktionale Differenzierung einer Gesellschaft, desto höher der Grad der Individualisierung ProzeFriedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg HS Moderne & Individualisierung WS 15/16 Prof. Dr. Michael von Engelhardt von: Vanessa Novoa Gierlich, Verena Kallmünzer, Lea Lewitzki Fähigkeit zur Individualität unterscheidet den Menschen vom Tier Kosten der Individualisierung: - „Arsenal der ungelebten Dinge“ (Elias zitiert Rilke), d.h. zahllose Wahlmöglichkeiten in hochdifferenzierten Gesellschaften lassen Menschen an ihren Entscheidungen zweifeln - Menschen können sich nicht nur entscheiden, sondern müssen es - Als Erwachsener müssen Neigungen zugunsten der Spezialisierung (v.a. des Berufslebens) aufgegeben bzw. vernachlässigt werden ABER: gleichzeitige Entschädigung durch enormes Maß an äußerer Sicherheit 3. Zeitdiagnose Individualisierung als zunehmender Trend der Entwicklungsgeschichte Verschiebung von WIR-Identität zur verstärkten ICH-Identität → Individualität hat heute einen höheren Stellenwert und gilt als Ideal, diese Entwicklung zeichnet sich seit der Renaissance ab Einfache Gesellschaften Individualität: sich seiner selbst bewusst sein Betonung von Gemeinsamkeit funktionsteilige (moderne) Gesellschaften „sich selbst als Beobachter beobachten“ → höchste Stufe des Selbstbewusstsein Betonung der Unterschiede Zunehmende Autonomie, Verantwortung und Selbstkontrolle Problem der heutigen Gesellschaft: Gefahr der „Überindividualisierung“ → ICH-Identität wird nicht mehr von WIR-Identität begrenzt, die Menschen sind zwar einmalig aber einsam und isoliert Elias fürchtet das zunehmende Ungleichgewicht von persönlichen Neigungen gegenüber gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen → Verkümmerung des eigentlichen Seins um sich in der Gesellschaft zu erhalten Der momentane Zustand der Gesellschaft wird nicht als Gipfel der Entwicklung gesehen → immer Möglichkeit des Rückschritts sozialer Prozesse und der Verkürzung von Handlungsketten → Annahme ständiger (potentieller) Kriegsgefahr und Konfliktcharakter der Gesellschaft