Theoretische Grundlagen

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Für Nicola
5
6
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
1.
Einleitung
11
2.
Methodologische Vorbemerkung: Sozial- und kulturwissenschaftlicher Rekonstruktivismus als Ansatz zur Erforschung der
Auslandsberichterstattung
15
Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in
Massenmedien
24
3.
3.1
3.1.1
3.1.2
3.2
3.2.1
3.2.1.1
3.2.1.2
3.2.2
3.2.2.1
3.2.2.2
3.2.2.3
3.2.3
3.2.3.1
3.2.3.2
3.2.3.3
3.2.3.4
Bilder – Frames – Diskurse – Auslandsbild: Grundlagen der internationalen Perzeption und Kommunikation
Nationen-, Völker- und Kulturbilder: Perzeption unter den
Bedingungen geokultureller Distanz
Die Grenzen der Stereotypenforschung und die basalen Einheiten
der Kommunikation
Internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse in Massenmedien
Die Struktur des Auslandsbildes der Massenmedien
Die Nachrichtendefinition als Entwicklungsproblem des globalen
Informationsflusses
Strukturtheoreme und Nachrichtenfaktoren der Auslandsberichterstattung
Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische
Mikroebene): der Journalist im internationalen und interkulturellen
Darstellungsprozeß
Politische Sozialisation: Persönliche Wahrnehmungen und Ideologien
als Einflußgröße der Auslandsberichterstattung
Berufliche Sozialisation: Rollenmodelle der Auslandsberichterstattung
Journalistische Verhaltenskodizes und internationale Berichterstattung
Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische
Mesoebene): Die Medienorganisation im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß
Informationelle Rahmenbedingungen der Auslandsberichterstattung
Entscheidungshandeln und Steuerung der Auslandsberichterstattung
durch externe Informationsgeber
Redaktionelle Entscheidungsprogramme und Auslandsberichterstattung
Entscheidungshandeln und soziale Beziehungen in der Auslandsberichterstattung
35
35
45
51
51
51
56
72
73
77
86
88
91
94
101
104
7
3.2.4
3.2.4.1
3.2.4.1.1
3.2.4.1.2
3.2.4.1.3
3.2.4.2
3.2.4.2.1
3.2.4.2.2
3.2.4.2.3
3.2.4.3
3.2.4.3.1
3.2.4.3.2
3.2.4.4
3.2.4.4.1
3.2.4.4.2
3.2.4.5
3.2.4.5.1
3.2.4.5.2
3.2.4.5.3
Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung (theoretische
Makroebene): Medien, Politik und Gesellschaft im internationalen
und interkulturellen Darstellungsprozeß der Medien
Mediale Thematisierung und öffentliche Themenstrukturierung
in der Auslandsberichterstattung
Themenagenden als Strukturelemente des medialen Auslandsbildes
Entstehungsbedingungen medialer Themenagenden im Kontext des
gesellschaftlichen Auslandsdiskurses
Gesellschaftliches Wirkungspotential der Auslandsberichterstattung
Auslandsberichterstattung, Politik und Gesellschaft: nationale und
internationale Systembedingungen
Medien und Gesellschaftssystem: eine systemtheoretische
Betrachtung
Auslandsberichterstattung und nationale Systembeziehungen
Auslandsberichterstattung und internationale Systembeziehungen
Innergesellschaftliche Anschlußkommunikationen der Auslandsberichterstattung: eine Synopse aus Mediennutzungs- und politikwissenschaftlicher Linkage-Forschung
Übergreifende Themenfelder des Inlands- und Auslandsgeschehens
Inhaltliche Einflüsse interner Anschlußdiskurse auf die Auslandsberichterstattung
Die Massenmedien in internationalen Krisen und Konflikten
Wirkungspotentiale der Medien in internationalen Konflikten
Rollenmodelle der medialen Konfliktkommunikation
Transkulturelle Kommunikation: Der Journalist als „Sinn-Übersetzer“ zwischen den Kulturen
Auslandsberichterstattung und „kulturelle Übersetzung“ –
die Inhaltsebene
Auslandsberichterstattung und globale Interaktion –
die Beziehungsebene
Auslandsberichterstattung und multikulturelle Gesellschaft
108
109
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130
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137
140
146
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152
157
163
164
171
175
Zusammenfassung
178
Literaturverzeichnis (Bd. 1)
189
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (Bd. 1)
211
8
Vorwort
Die vorliegende Arbeit widmet sich der Untersuchung von Strukturen, Entstehungsbedingungen und gesellschaftlichen Wirkungspotentialen des Nahost- und Islambildes in der überregionalen Presse der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus
soll ein Beitrag zur theoretischen wie methodischen Erforschung internationaler und
interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien geleistet werden. Die Empirie konzentriert sich auf die großen deutschen Pressemedien im Zeitraum 1946/5594. Theorie und Methodik streben relative Eigenständigkeit als Grundlagen zur Untersuchung von Medieninhalten der Auslandsberichterstattung unterschiedlicher
Mediensysteme und geographischer Ausrichtung an.
Die Arbeit ist in zwei Bände unterteilt: Band 1 beschäftigt sich nach einigen methodologischen Vorbemerkungen mit der Theorie der Auslandsberichterstattung
(Kap. 3); Band 2 beinhaltet sowohl eine quantitative Langzeitstudie (Kap. 5) wie
auch qualitative Falluntersuchungen (Kap. 6) zum Nahost- und Islambild in der deutschen überregionalen Presse.
Die Habilitationsschrift des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität
Hamburg (Institut für Politische Wissenschaft) ist aus einem von der VolkswagenStiftung begründeten Forschungsprojekt (1995-97) hervorgegangen und durch ein
Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt
worden (1998-2000). Mein besonderer Dank gilt meinen Förderern Prof. Dr. Udo
Steinbach, Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg, und Prof. Dr. Hans
J. Kleinsteuber vom Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg,
die das Projekt seit Mitte der neunziger Jahre mit unermüdlicher Energie begleitet
haben. Für ihre vielfältige Ünterstützung möchte ich mich außerdem herzlich bedanken bei: Prof. Dr. Dieter Roß (Institut für Journalistik, Universität Hamburg), Prof.
Dr. Gernot Rotter (Seminar für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients, Universität Hamburg), Prof. Dr. Rainer Tetzlaff (Institut für Politische Wissenschaft,
Universität Hamburg) und Dr. Ralph Weiß (Hans-Bredow-Institut für Rundfunk und
Fernsehen, Hamburg). Besonderer Dank gilt auch meinen engagierten und akribischen Kodierern Matthias Neureiter und Holger Scheel sowie Dr. Dieter Ludwig von
der Staatsbibliothek in Hamburg. Mein Bruder Dan Lohmeyer hat unermüdlich Korrektur gelesen. Frau Barbara Kuhnert (Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart)
und dem Presse- und Informtionsamt der Bundesregierung verdanke ich es, daß ich
in den letzten Jahren als wissenschaftlicher Berater, Programmgestalter und Referent
in zahlreichen Zusammenhängen Gelegenheit hatte, Ergebnisse meiner Forschungsarbeit im politischen Raum publik zu machen. Bundespräsident Johannes Rau und
seine Mitarbeiter gaben mir die Gelegenheit, als Leiter der internationalen Konferenz
9
"The Ethics of Journalism – Comparison and Transformations in the IslamicWestern Context" im Schloß Bellevue (Berlin, 29.-30. März 2001) einen Beitrag
zum Dialog zwischen der islamischen und der westlichen Welt zu leisten. Den Kollegen des Deutschen Orient-Instituts danke ich für Ihre Unterstützung und meinen
zahlreichen Studenten an der Universität Hamburg dafür, daß sie mir die Lust an der
Sache erhalten.
Kai Hafez
10
1.
Einleitung
Internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse in Massenmedien befinden
sich am Kreuzweg zweier großer Paradigmen der Gegenwart, der „Globalisierung“
und dem „Zusammenprall der Kulturen“ ("clash of civilizations"). Während die
Globalisierungsthese in der Nachfolge Marshall MacLuhans ("global village") die
Massenmedien als Vermittler und Generatoren von Weltwissen mit systemverbindendem und kulturharmonisierendem Charakter begreift, geht die von Samuel Huntington geprägte kulturpessimistische These von einem wachsenden Konfliktpotential zwischen den großen Weltkulturen und insbesondere zwischen der islamischen
Welt und dem Westen aus. Beide Paradigmen sind zwar vielfältig im Hinblick auf
die Zukunft der internationalen Beziehungen diskutiert worden, jedoch bisher nicht
in integrierter Weise, so daß weder Wechselwirkungen noch mögliche Widersprüche
zwischen den Grundannahmen aufgedeckt worden sind. So ist beispielsweise zu
untersuchen, wie Medien eine globalisierende Wirkung in Richtung auf die Angleichung von Werten, politischen Kulturen und Lebensstilen entfalten können sollen,
wenn zugleich angenommen wird, daß sowohl Produzenten als auch Konsumenten
der Auslandsberichterstattung in Hochindustriestaaten wie in Entwicklungsländern
noch in kultur-differentialistischen Wahrnehmungs- und Denkmustern verharren.
Zwar sind die weltweiten Ähnlichkeiten professioneller Nachrichtenwerte nicht zu
übersehen, die nicht zuletzt durch die zentrale Stellung großer Nachrichtenagenturen
gefördert werden. Dennoch haben komparative Untersuchungen gezeigt, daß verschiedene Mediensysteme selbst auf der Basis identischer Quellen ihre Nachrichten
in vielen Fällen völlig unterschiedlich gestalten.1
Dieser Prozeß der „Domestizierung“ von Nachrichten sorgt dafür, daß nationale
Medienräume ungeachtet ihrer technischen Erweiterungen auch in Zeiten der Globalisierung Bestand haben. Zunehmende technische Vernetzung und unternehmerische
Verflechtung der globalen Kommunikationsstrukturen gehen in vielen Fällen mit
einem nach wie vor starken inhaltlichen Partikularismus der Berichterstattung einher.
Die Ausprägung einer zweifelsfrei pluralistischen Medienkultur wie der deutschen
hat nicht verhindern können, daß in der Auslandsberichterstattung zum Teil vielfaltsgefährdende solipsistische Kapseln entstehen, wie dies etwa Peter Glotz und
Wolfgang R. Langenbucher bemängeln: „Wie kommt es in einem unbestreitbar freien Land, in dem über die meisten Fragen kontrovers diskutiert (...) zu einer fast ehern durchgehaltenen nachrichtenpolitischen Linie?“2
1 Michael Gurevitch/Mark R. Levy/Itzhak Roeh, The Global Newsroom. Convergences and Diversities in the Globalization of Television News, in: Peter Dahlgren/Colin Sparks (Hrsg.), Communication and Citizenship. Journalism and the Public Sphere, London/New York 1993, S. 195-216.
2 Peter Glotz/Wolfgang R. Langenbucher, Der mißachetete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse,
München 1993, S. 13.
11
Die Massenmedien fungieren in der internationalen Kommunikation als zentrale
Schalt- und Vermittlungsstellen. Anders als bei Geschehnissen im Nahbereich fehlt
den Konsumenten im Fernbereich des Auslandsgeschehens zumeist das kritische
Korrektiv eigener Erfahrung oder alternativer Informationsquellen, was das Einflußpotential der Medien auf das gesellschaftliche Auslandsbild vergrößert. Internationale Massenkommunikation erweist sich gleichwohl nicht allein als systemverbindendes Element der Globalisierung, sondern kann ebenso separate politische Identitäten
und das perzeptive Konfliktpotential in den internationalen Beziehungen fördern.
Eine technikzentrierte Sichtweise der Globalisierung übergeht medieninhaltliche
Defizite, sie überdeckt Strukturprobleme der Auslandsberichterstattung hinsichtlich
der inhaltlichen Gestaltung und gesellschaftlichen Teilhabe am internationalen Mediendiskurs, ohne deren Kritik und Transformation das Kommunikationspotential in
den internationalen und großräumigen interkulturellen Beziehungen unausgeschöpft
bleibt.3 Der „Zusammenprall der Kulturen“, der die Globalisierung in und durch
Medien behindert, basiert zumindest in Teilen auf „Kommunikationsstörungen“ und
Perspektivmängeln im System der internationalen Massenkommunikation, und die
Einflußnahme auf internationale Medienbilder ist ein wesentliches Element der „kulturellen Macht“ (im Sinne Stuart Halls), um die Staat und Gesellschaft, nationale wie
transnationale Kräfte konkurrieren.
Das Zusammenwirken von Medien, Politik und Gesellschaft ist in der Auslandsberichterstattung bisher kaum erforscht worden, was unter anderem einer weitgehenden theoretischen Verengung auf die Sozialpsychologie (Stereotype usw.), auf die
Nachrichtenfaktorenlehre und andere etablierte Theoriebereiche geschuldet ist, die
trotz ihrer großen Bedeutung allein keine komplexe und homogene Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse ausbilden. Die bedeutsamsten
Probleme der Auslandsberichterstattung in Deutschland wie in anderen Staaten bestehen nicht in rassistischer Terminologie, sondern müssen in der Art der Themengestaltung der Medienagenda, der argumentativen Komposition (dem sogenannten
Framing), dem Prozeß der Informationsverarbeitung, dem gesellschaftlichen Systemverhalten der Auslandsberichterstattung (etwa in Krisenzeiten), der Stellung der
Medien in der transkulturellen Kommunikation und vielen anderen Theoriebereichen
lokalisiert werden. Nur eine komplexe theoretische Erörterung ist geeignet, vereinfachende Annahmen, die etwa von der Identität der westlichen Nahostberichterstattung
mit westlichen politischen Interessen ausgehen,4 durch eine multiperspektivische
Sicht auf die Beziehungen zwischen Medien- und politischem System zu erweitern.
Desinformationskampagnen und Bildfälschungen5 stellen nur die „Spitze des Eis3 Kai Hafez, Medien – Kommunikation – Kultur: Irrwege und Perspektiven der Globalisierungsdebatte, in: Rainer Tetzlaff (Hrsg.), Weltkulturen unter Globalisierungsdruck. Erfahrungen und Antworten aus den Kontinenten, Bonn 2000, S. 93-117.
4 Hamid Mowlana, Images and the Crisis of Political Legitimacy, in: Yahya R. Kamalipour (Hrsg.),
The U.S. Media and the Middle East. Images and Perception, Westport 1997, S. 8.
5 Beispielhaft sei hier das Foto des Luxor-Attentats in Ägypten genannt, das im Original die Tempelanlage mit einer davor befindlichen Wasserpfütze zeigt, aus der auf der ersten Seite der BildZeitung durch Rotfärbung eine Blutlache gemacht wurde, die ein blutiges Massaker suggerierte.
12
bergs“ grundlegender Probleme der Auslandsberichterstattung dar. Ungeachtet der
Tatsache, daß die deutsche Auslandsberichterstattung im internationalen Vergleich
in vielen Bereichen (Zahl der Korrespondenten, Umfang der Berichterstattung usw.)
relativ positiv abschneidet, sind auf allen theoretischen Ebenen – von der individuellen Wahrnehmung des Journalisten über die Interessen der Medienorganisation bis
zum Verhältnis zwischen Medien, Politik und Publikum – eine Reihe von Strukturfragen zu erörtern. Auch nach der Beendigung der in den siebziger und achtziger
Jahren in der UNESCO geführten Debatte über die Neue Weltinformationsordnung
bestehen zahlreiche Probleme der internationalen Massenkommunikation fort und
werden heute in einem kulturräumlichen Zuschnitt erörtert, der die ältere Sicht der
Beziehungen zwischen „Industrie-“ und „Entwicklungsländern“ zwar nicht ersetzt,
aber ergänzt, und sie werden mit einem theoretischen Instrumentarium untersucht,
das die ehemals vorherrschenden Modernisierungs- und Dependenztheorien funktionalistisch erweitert.6
Innovationsbedarf ist auch im Bereich der Methodologie der Erforschung der
Auslandsberichterstattung zu erkennen. Während die Kombination aus quantitativen
und qualitativen Verfahren der Inhaltsanalyse heute in hohem Maß wissenschaftlich
etabliert ist, bestehen Defizite bei der Formulierung methodischer Leitsätze zur Integration von Inhaltsanalyse und Theorie im Hinblick auf die konkrete regionale Anwendung. Die vorliegende Arbeit basiert auf einem Verfahrensansatz, der als „sozial- und kulturwissenschaftlicher Rekonstruktivismus“ bezeichnet wird und der die
Theorie der Auslandsberichterstattung in ein Dreischrittverfahren integriert, das aus
Medieninhaltsanalyse, regionalwissenschaftlicher Expertise und angewandter Medientheorie besteht (Kap. 2).
Das Erörterung theoretischer Grundlagen der Auslandsberichterstattung ist nach
einer einleitenden Verständigung über Grundprobleme der internationalen und interkulturellen Perzeption und Kommunikation (Kap. 3.1) in zwei große Bereiche unterteilt: theoretische Aspekte der Struktur des Auslandsbildes der Medien und Entstehungs- und Wirkungsbedingungen. Hauptziel des Strukturkomplexes ist es, einen
dichten Katalog von Theoremen zur Überprüfung der Beschaffenheit der Texte der
Auslandsberichterstattung zu erstellen, der es ermöglicht, die quantitativ wie qualitativ gesicherten empirischen Befunde zur Struktur des Nahost- und Islambildes zu
erklären (Kap. 3.2.1). Der Entstehungs- und Wirkungskomplex der Theorie ist seinerseits in mehrere Ebenen gegliedert: die theoretische Mikroebene untersucht die
Stellung des Journalisten im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß,
d.h. die Einflüsse seiner politischen und beruflichen Sozialisation auf die Medieninhalte (Kap. 3.2.2); die Mesoebene elaboriert die Position der Medienorganisation:
verlegerische Rahmenbedingungen, Stellung im Informationsfluß sowie Entscheidungshandeln und soziale Interaktion in der Auslandsredaktion (Kap. 3.2.3). Das
theoretische Schwergewicht liegt auf der Makroebene der Beziehungen zwischen
Bilder, die lügen, Hrsg. vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1998,
S. 22.
6 Kai Hafez, Der Nahe Osten und die Neue Weltinformationsordnung, in: Nord-Süd aktuell 10 (1996)
4, S.705-711.
13
Medien, Politik und Gesellschaft, der Bildung der Medienagenda, dem Systemverhalten der Medien, den Beziehungen zwischen Auslandsberichterstattung und Innenpolitik, der Stellung von Medien in internationalen Konflikten und in der globalen
Kulturkommunikation.
14
2.
Methodologische Vorbemerkung: Sozial- und kulturwissenschaftlicher Rekonstruktivismus als Ansatz zur Erforschung der Auslandsberichterstattung
Vor der eigentlichen Beschäftigung mit der Theorie der Auslandsberichterstattung
muß die Frage der methodologischen Stellung der Theorie bei der empirischen Erforschung der Medieninhalte der Auslandsberichterstattung erörtert werden. Die
Frage des Verhältnisses zwischen Medieninhalt und „Realität“ und damit die Frage
danach, wie „realistisch“ Auslandsberichterstattung ihre Konsumenten informiert, ist
Gegenstand eines grundlegenden wissenschaftlichen Meinungsstreits, ob überhaupt,
und wenn ja, wie der Realitätsbegriff fundiert werden kann. Es wird im Verlauf der
Darstellung der bisherigen Forschung zur Auslandsberichterstattung zu zeigen sein,
daß große Unterschiede bei der methodologischen Grundlegung bestehen.
Der MacBride-Bericht geht bei seiner Aufzählung von häufigen Defiziten der
Auslandsberichterstattung implizit davon aus, daß man die Fähigkeit der Medien, die
politische und gesellschaftliche „Realität“ eines Landes darzustellen, tatsächlich
bewerten und messen kann (Kap. 3.2.1.1). Auch andere Strukturtheoreme etwa über
die Eliten- oder Konfliktzentrismus der Medien (Kap. 3.2.1.2) sind auf der Basis
eines „realistischen Ansatzes“ entwickelt worden. Sogar die frühe Nachrichtenwerttheorie (Kap. 3.2.1.2) etwa von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge basiert auf
dem Realismus als Forschungsparadigma.
Die Nachrichtenwertschule in der Tradition von Winfried Schulz jedoch, die insbesondere für den deutschen Sprachraum maßgeblich ist, hat mit dem Realismus
gebrochen und statt dessen die bis heute in der Medieninhaltsforschung einflußreiche
Position eines radikalen Konstruktivismus7 formuliert.8 Gemäß der konstruktivistischen Position von Schulz existieren inner- und außermediale Realität nicht als separate Einheiten, sondern Medien sind Institutionen, die quasi als verlängerter Arm der
kognitiven Bildkonstruktion eine „Konstruktion der Realität“ vornehmen: Medien
7 Vgl. u.a. Vivien Burr, An Introduction to Social Constructionism, London/New York 1995.
8 Innerhalb der deutschen Nachrichtenwertforschung hat es eine Kontroverse gegeben, wobei vor
allem Journalisten als handelnde Subjekte und aktive Bildkonstrukteure in den Vordergrund getreten sind. Joachim Friedrich Staab kritisierte etwa, daß das „Kausalmodell“ der Nachrichtenwerttheorie, bei dem der Nachricht selbst ein bestimmter Wert zugeordnet wird, während es tatsächlich
doch die Ziele („Finalmodell“) der professionellen und politischen Interessen der Journalisten, Medieneinrichtungen usw. seien, die einer bestimmten Information einen Nachrichtenwert verliehen
(Joachim Friedrich Staab, Entwicklungen der Nachrichtenwerttheorie. Theoretische Konzepte und
empirische Überprüfungen, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Fortschritte der Publizistikwissenschaft, München 1990). Die starke Bindung dieses Forschungszweigs an die amerikanischen bias- oder gatekeeper-Forschung kann hier als Versuch einer engeren Bindung der Nachrichtenwerttheorie an die
Sozialpsychologie interpretiert werden. Auch die Vertreter des „Finalmodells“ verbleiben gleichwohl paradigmatisch innerhalb des Konstruktivismus, da auch durch die psychologische Deutung
der Nachrichtenfaktoren die Erforschung der Beziehung zwischen Medien- und Geschehensrealität
unberücksichtigt bleibt.
15
sind Weltbildapparate und liefern kein Abbild der Welt. Schulz führt die Nachrichtenwerttheorie auf Lippmanns Stereotypenforschung zurück. Aus der Perspektive des
Konstruktivismus ist die Bindung zur Sozialpsychologie ebenso konsequent wie der
Widerstand gegen Versuche, außermediale Realitäten zu objektivieren. Gemäß
Schulz ist das Bestreben, „Nachrichten mit dem, ‘was wirklich geschah’, zu vergleichen, prinzipiell unmöglich (...). Denn Realität kann nicht in ‘Reinkultur’ registriert
und als Prüfstein der Nachrichtenberichterstattung bereitgestellt werden (...).“9 Die
konstruktivistische Nachrichtenwerttheorie gibt daher keine Auskunft über die Art,
wie Ereignis- und Geschehensrealität in Medienrealität umgewandelt wird, sondern
sie konzentriert sich auf die Untersuchung von inhaltlichen Gewichtungen innerhalb
der Medienrealität.10
Die radikal-konstruktivistische Medienforschung hat einen wichtigen Beitrag zur
wissenschaftlichen Relativierung normativer Objektivitätsdoktrinen des Journalismus
geleistet, indem sie nachgewiesen hat, daß Massenmedien Konstruktions- und Schematisierungsleistungen analog der menschlichen Wahrnehmungsapparate (vgl. Kap.
3.1) vornehmen. Zugleich jedoch stellt der Konstruktivismus der Theorieforschung,
zumindest in seiner radikalen Anwendung, geradezu eine Blockade gegen Versuche
dar, die Leistungen der internationalen Kommunikation im Bereich der Massenkommunikation hinsichtlich ihrer Realitätsadäquanz zu untersuchen, wie dies etwa
im MacBride-Bericht gefordert worden ist.
Wie gegen den Realismus lassen sich auch gegen den radikalen Konstruktivismus
als Grundlage der Theorie der Auslandsberichterstattung eine Reihe von Einwänden
formulieren:
• Trotz der letztlichen ontologischen Unbeweisbarkeit der Realität, gibt es Gründe,
„die Realität“ weder als Vernunftsgröße noch als Vergleichsgröße der Medienanalyse aufzugeben. Der radikale Konstruktivismus hat nicht hinreichend erklären können, warum Realitätsentwürfe, gleich ob von Journalisten oder anderen
gefertigt, scheinbar unterschiedliche Grade der Beliebigkeit – des Konstruktionsgrades – aufweisen können. Als Gradmesser für die Beurteilung solcher Wirklichkeitsgrade muß nicht ein letztlich unerfüllbarer Objektivitätsanspruch fungieren, sondern das Maß ist die intersubjektive Überprüfbarkeit eines Realitätsentwurfs.11 Inwieweit, so ist zu fragen, handelt es sich bei der Medienberichterstat9 Winfried Schulz, Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen
Berichterstattung, Freiburg/München 1990 (2. Aufl.), S. 25-27; vgl. a. Winfried Schulz, Ein neues
Weltbild für das Fernsehen? Medientheoretische Überlegungen zur Diskussion um Regionalisierung
und Internationalisierung, in: Media Perspektiven 1/1982, S. 24 f.
10 Schulz, Die Konstruktion, S. 27-29.
11 Lutz M. Hagen: „Wenn Objektivität verstanden wird als Methodensammlung mit dem Anspruch,
intersubjektiven Wahrheitsvorstellungen zu genügen, hat sie ihren Platz sowohl in einer kritischrational orientierten als auch in einer konstruktivistisch orientierten Qualitätsforschung“ (Lutz M.
Hagen, Informationsqualität von Nachrichten. Meßmethoden und ihre Anwendung auf die Dienste
von Nachrichtenagenturen, Opladen 1995, S. 50). Dorothée Kreuzer: „Jedes Angeot einer vermeintlich adäquateren Darstellung bietet lediglich die Möglichkeit, beide Auffassungen als Ansichten kritisch zu vergleichen und ihre Parameter zu konturieren. Ein höheres Maß an Wahrheit für das eine
oder andere Bild ist daraus nicht abzuleiten.“ Dorothée Kreuzer, Der elektronische Orientalismus:
16
tung um einen „glaubwürdigen“, weil von anderen Diskursteilnehmern bestätigten Realitätsentwurf? Der radikale Konstruktivismus behauptet zwar zu recht,
daß eine solche Überprüfung nur bei faktischen Sachverhalten möglich ist, nicht
aber bei Zusammenhangsinterpretationen, die nicht verifizierbar sind (also bei
Frames usw.; vgl. Kap. 3.1).12 Auch hier jedoch gilt das Gebot der intersubjektiven Multiperspektivität, d.h. die Frage, inwieweit die eigene (hier: die journalistische) Interpretation von anderen geteilt werden kann und geteilt wird. Eine solche vermittelnde Position zwischen Realismus und radikalem Konstruktivismus
nimmt der „Rekonstruktivismus“ Günter Benteles ein. Der rekonstruktivistische
Ansatz geht einerseits davon aus, daß natürliche wie auch gesellschaftliche Realität weitgehend unabhängig vom Subjekt (etwa dem Journalisten) existent sind
und vom Subjekt rekonstruiert werden können, weil in der Regel Teile der vermittelten Realitätsentwürfe intersubjektiv bestätigt werden können, was überhaupt erst die Basis dafür legt, daß Menschen sich kommunikativ verständigen
können, daß jedoch andererseits „Realität“ zu komplex ist, um als Ganzes erfaßbar zu sein und daher selektiert, transformiert und insofern tatsächlich konstruiert
wird.13 Während in der Regel nicht explizit auf den Rekonstruktivismus Bezug
genommen wird, hat ein zwischen Realismus und Konstruktivismus vermittelnder
Ansatz bei der Untersuchung von Auslandsberichterstattung in den neunziger
Jahren Zulauf gewonnen. Ein solcher Ansatz ersetzt den naiven Realismus, der
noch in den späten siebziger Jahren und zur Zeit des MacBride-Berichts vorherrschte, er modifiziert jedoch zugleich den status quo-affirmativen radikalen
Konstruktivismus der Post-MacBride-Dekade.14
• Als Einwand gegen den radikalen Konstruktivismus ist auch geltend zu machen,
daß die radikal-konstruktivistische Nachrichtenwerttheorie interne Widersprüche
aufweist. Der erkenntnistheoretische Zweifel des radikalen Konstruktivismus
Spiegelreflexe im Weltspiegel. Zur Auslandsberichterstattung insbesondere über die arabische Welt
in Magazinsendungen des bundesrepublikanischen Fernsehens, in: Helmut Kreuzer/Heidemarie
Schumacher (Hrsg.), Magazine audiovisuel. Politische und Kulturmagazine im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1988, S. 226.
12 Vgl. die Diskussion bei: Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft: Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien u.a. 1995, S. 294.
13 Günter Bentele, Fernsehen und Realität. Ansätze zu einer rekonstruktiven Medientheorie, in: Knut
Hickethier/Irmela Schneider (Hrsg.), Fernsehtheorien. Dokumentation der GFF-Tagung 1990, Berlin 1992, S. 53 ff. Vgl. a. ders., Wie wirklich ist die Medienwirklichkeit? Einige Anmerkungen zum
Konstruktivismus und Realismus in der Kommunikationswissenschaft, in: Günter Bentele/Manfred
Rühl (Hrsg.), Theorien öffentlicher Kommunikation, München 1993, S. 166-171. Nach Bentele existieren auch Bereiche der medialen Bildkonstruktion ohne intersubjektive Verifikationsmöglichkeit,
namentlich die sogenannten „Pseudorealitäten“ der von Medien selbst bewußt inszenierten Ereignisse, die unter dem Begriff der Nachrichtenfälschung firmieren können. Bentele, Fernsehen, S. 60
f. Diese Realitäten ohne Dokumentationscharakter sind auch in der allgemeinen Wahrnehmungstheorie unter dem Begriff der „Imaginationen“ beschrieben worden (vgl. Kap. 3.1.1).
14 Gadi Wolfsfeld beispielsweise grenzt sich bei seiner Untersuchung amerikanischer, israelischer und
palästinensischer Berichterstattung über den Nahostkonflikt vom radikalen Konstruktivismus ab,
indem er dem Ereignis einen Stimulus-Charakter („Events matter“) für den darauf folgenden, durch
zahlreiche subjektive Einflüsse geprägten Prozeß des medialen Framing zuschreibt. Gadi Wolfsfeld,
Media and Political Conflict. News from the Middle East, Cambridge 1997, S. 34 ff.
17
müßte sich im Grunde auch auf die Nachrichtenwerttheorie selbst erstrecken.
Wie aufzuzeigen sein wird (Kap. 3.2.1.2 und Kap. 4.2.1) geht man beispielsweise
bei der Definition von Nachrichtenfaktoren wie „Nähe“ von einem bestimmbaren
Verhältnis zwischen Medien- und Geschehensrealität aus: Ein Urteil darüber, ob
eine Nachricht aus einem kulturell nahen oder fernen Kontext entnommen wird,
ist in letzter Instanz erst auf der Basis einer (im radikalen Konstruktivismus eigentlich unzulässigen) Realitätsannahme möglich. Die Ausführungen über „essentialistische“ oder „synkretische“ Kulturmodelle (vgl. Kap. 3.1.1) werden verdeutlichen, daß auch in diesem Bereich nicht von einem Konsens ausgegangen
werden kann. Tatsächlich kommt also auch die Nachrichtenwertforschung nicht
ohne Realitätsdefinitionen als „kaschierte“ Hintergrundbedingungen aus, was
auch an Aussagen wie denen von Schulz deutlich wird, daß die Massenmedien
„in der Regel die Wirklichkeit nicht repräsentieren“, sondern Stereotype und Interessen von Journalisten das Nachrichtenwesen dominieren.15 Die Feststellung,
daß etwas nicht in Übereinstimmung mit der Realität steht ebenso wie die Vorstellung, daß etwas in Übereinstimmung mit der Realität steht, setzt eine Vorstellung von „Realität“ selbst voraus, was im Widerspruch zur radikalkonstruktivistischen Grundauffassung steht.16
• Ein zweiter Widerspruch besteht zwischen radikalem Konstruktivismus und der
konstruktivistischen Wissenschaftstheorie. Wenn ein Realitätsbeweis ebensowenig führbar ist wie ein Beweis der Nicht-Realität, dann ist die zentrale Prämisse
des radikalen Konstruktivismus unbeweisbar. Ulrich Saxer weist zu Recht auf die
„solipsistische Vernachlässigung einer beobachtungsabhängigen Realität“ durch
den radikalen Konstruktivismus hin.17 Gerade die Unwiderlegbarkeit des Konstruktivismus offenbart einen Schwachpunkt der radikal-konstruktivistischen
Theorie, die modellartig geschlossen, nicht falsifizier-, aber auch nicht verifizierbar ist. Dies bedeutet, daß der radikale Konstruktivismus entweder als Para15 Winfried Schulz, Massenmedien und Realität. Die „ptolemäische“ und die „kopernikanische“
Auffassung, in: Max Kaase/Winfried Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation: Theorien, Methoden,
Befunde, S. 139.
16 Niklas Luhmann hat im Konstruktivismusstreit eine vermittelnde Position eingenommen, in der er
einerseits auf den Konstruktionscharakter jeglicher sinnlich vermittelter Realitätswahrnehmung und
-vermittlung hinweist, andererseits jedoch auch darauf, daß kein kognitives System – also auch
nicht der Konstruktivismus oder eine andere Wissenschaft – auf Realitätsannahmen verzichten
kann. Wenn die Unterschiede zwischen (kognitiven) Systemen und (realer) Umwelt gänzlich aufgelöst werden, entfällt auch die sinnstiftende Referenz der Konstruktivismusthese: „Das vielleicht
wichtigste Ergebnis dieser Überlegungen ist, daß die Massenmedien zwar die Realität, aber eine
nicht konsenspflichtige Realität erzeugen. Sie lassen die Illusion einer kognitiv zugänglichen Realität unangetastet. Zwar hat der ‘radikale Konstruktivismus’ recht mit der These, daß kein kognitives
System, mag es als Bewußtsein oder als Kommunikationssystem operieren, seine Umwelt operativ
erreichen kann. (...) Zugleich gilt aber auch, daß kein kognitives System auf Realitätsannahmen
verzichten kann. Denn wenn alle Kognition als eigene Konstruktion geführt (...) würde, würde diese
Unterscheidung selbst als paradox erscheinen und kollabieren.“ Niklas Luhmann, Die Realität der
Massenmedien, Opladen 1996 (2., erw. Aufl.), S. 164 f.; vgl. a. S. 15 ff.
17 Ulrich Saxer, Thesen zur Kritik des Konstruktivismus, in: Communicatio Socialis 25 (1992) 2,
S. 179. Zur Kritik des radikalen Konstruktivismus in der Medienwissenschaft vgl. a. Hermann Boventer, Der Journalist in Platons Höhle. Zur Kritik des Konstruktivismus, in: ebenda, S. 157-167.
18
Theorie die Erkenntnisbildung aller oder keiner der mit sozialen Realitätsentwürfen beschäftigten Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in Frage stellt, daß
entweder jegliche Form kritisch-empirischer Wissenschaft als struktureller Widerspruch abgelehnt oder aber die empirische Wissenschaft – im Sinne des Rekonstruktivismus – als intersubjektiver Annäherungsversuch an Realität akzeptiert werden muß. In keinem Fall jedoch kann ein einzelner Wissenschaftsbereich, wie die Medienforschung, als Sonderzone unzulässiger Realitätsvergleiche
definiert werden.
„Rekonstruktivismus“ als solcher ist ein unvollständiges methodologisches Paradigma und insofern in der Anwendung auf die Auslandsberichterstattung der Medien
keine befriedigende Alternative zum radikalen Konstruktivismus. Rekonstruktivismus im Sinne Benteles besagt, daß Medienrealität und außermediale Realität auf der
Basis eines intersubjektiven Realitätsverständnisses vergleichbar sind, ohne zu erklären, wie und von wem derartige Vergleiche vorgenommen werden können. Verschiedene Qualifikationen sind erforderlich, um den Vergleich Realität-Medienrealität
durchführen zu können: medienanalytische Qualifikationen und gegenstandsanalytische Qualifikationen. Als „medienanalytische Qualifikation“ muß hier zunächst die
Befähigung bezeichnet werden, durch quantitative und qualitative Verfahren der
Inhaltsanalyse die Struktur des Auslandsbildes von Massenmedien zu rekonstruieren
und die Befunde theoretisch zu deuten. „Gegenstandsanalytische Qualifikation“
bezeichnet die Befähigung, die Diskrepanz zwischen medialer und außermedialer
Realität durch eine auf nichtmedialer Kenntnis basierenden Anschauung und Analyse
des „Auslandes“ – also dem Gegenstand der Auslandsberichterstattung – beurteilen
zu können. Sprachlich ist letzterer ein Teil eines Rekonstruktivismuskonzepts wie
dem Benteles, obwohl dieser Prozeß treffender als „Dekonstruktion“ zu bezeichnen
wäre, da zwar „Realität“ rekonstruiert werden soll, aber doch nur mit dem Ziel, den
gleichfalls rekonstruierten Textsinn zu überprüfen und zu kritisieren, also zu dekonstruieren.
Benteles Antwort auf die Frage, wer die Glaubwürdigkeit der Medienrealität beurteilen kann, ist notwendigerweise allgemein formuliert, da er den Rekonstruktivismus als eine generelle methodologische Prämisse ohne Spezifikation für die Theorie
der Auslandsberichterstattung entwickelt hat. Er beschreibt „Vorwissen“ und „direkte Information“ als Bestandteile einer zur Medienkritik notwendigen Primärerfahrung bzw. Diskrepanzerfahrung (gemeint ist die Diskrepanz zwischen Realität und
Medienrealität).18 Primär- und Diskrepanzerfahrung können nicht als identisch betrachtet werden, auch wenn Bentele keine Unterscheidung trifft, denn die Primärerfahrung muß auf die direkte sinnliche Wahrnehmung von Ereignissen oder Teilen
von Ereignissen beschränkt bleiben, während die Diskrepanzerfahrung auch Erfahrung der Diskursdiskrepanz sein kann. Diese Form der Diskrepanz ist etwa gegeben,
wenn Medien- und wissenschaftlicher Diskurs stark unterschiedliche Erkenntnisse
vermitteln, wobei der wissenschaftliche Diskurs sich in der Regel weniger dadurch
auszeichnet, daß Wissenschaftler über Primärerfahrung verfügen, sondern daß sie in
18 Bentele, Fernsehen, S. 64.
19
systematischer und umfassender Weise die Primärerfahrung anderer untersuchen und
vergleichen (z.B. Memoiren) und durch die verschiedenen nicht-(massen-)medialen
Quellen eigenständige Realitätsentwürfe rekonstruieren, die der Medienrealität als
Vergleichsgröße entgegengehalten werden können. Da der Kreis derjenigen, die
unter den Bedingungen geokultureller, politischer wie räumlicher Distanz (vgl. Kap.
3.1.1) über Diskrepanzerfahrungen verfügen, tendenziell kleiner ist als bei der (nationalen, regionalen oder lokalen) Inlandsberichterstattung, gehören die Außenpolitik, die Außenwirtschaft, andere mit internationalen Fragen beschäftigte Institutionen
und Organisationen sowie die international orientierte Wissenschaft zu den wichtigsten Kreisen von Medienrezipienten mit einem Potential an Diskrepanzerfahrung.
In Anlehnung an Benteles Rekonstruktionsansatz, der hier aus besagtem Grund
als Rekonstruktions-Dekonstruktions-Ansatz bezeichnet wird, muß ein Ansatz zur
Erforschung der Auslandsberichterstattung auf drei Qualifikationen basieren:
• Inhaltsanalytische Qualifikation: Die Erfassung der Medienrealität ist kein Prozeß sui generis, denn Medienberichterstattung existiert nicht als homogenes Ganzes, sondern ist im Gegenteil gerade durch die großen Mengen der Texte – und
bei elektronischen Medien auch durch deren Flüchtigkeit – nicht leicht zu rekonstruieren. Die Basis zur Re-Rekonstruktion der Medienrealität ist nicht allein der
einzelne Medientext, sondern der Mediendiskurs bzw. definierte Teile dieses
Diskurses (z.B. überregionale Tageszeitungen), d.h. eine Vielzahl von Textkörpern, die mit den Mitteln der quantitativen wie qualitativen Medieninhaltsanalyse
untersucht werden müssen (Kap. 4.2.1, 4.2.2 und 4.2.3).
• Gegenstandsanalytische Qualifikation: Zur Anwendung der Theorie der Auslandsberichterstattung bedarf es der Einbettung der Theorie in eine interdisziplinäre sozial- und kulturwissenschaftliche Methode. Es muß davon ausgegangen
werden, daß ohne die Mithilfe solcher Disziplinen wie der Politikwissenschaft,
der Orientalistik und anderen Wissenschaftsdisziplinen, die eine diskrepante Rekonstruktion der Gegenstandsrealität vornehmen, ein Vergleich zwischen Realität
und Medienrealität nicht gelingen kann, da sie innerhalb der Wissenschaften diejenigen Fächer sind, die über ihren Zugriff auf außermediale Quellen alternative
Entwürfe zu der in Massenmedien entwickelten Realität des Auslandsgeschehens
vorlegen können.19 Bisher geäußerte kritische Positionen gegen den radikalen
Konstruktivismus in der Medienanalyse scheiterten möglicherweise daran, daß
die Medienwissenschaft kaum „glaubwürdig“ war, wenn es um die Interpretation
der außermedialen Realität (und die Kritik der Medien) ging, da dies nicht das
angestammte Feld der Disziplin ist. Eine textanalytische Herangehensweise wie
beispielsweise die Teun van Dijks verfügt zwar über die medienanalytische
19 Die Installation der Sozial- und Kulturwissenschaften als Instanz der Glaubwürdigkeitsprüfung soll
nicht als Monopolposition verstanden werden. Gerade in der Auslandsberichterstattung können
hochqualifizierte Publikumseliten, die aus der einen oder anderen Perspektive über Primär- und
Diskrepanzerfahrung verfügen (z.B. Handlungsreisende), einer rezipientenorientierten Medienkritik
sinnvoll zuarbeiten, wie sie Gregor Halff generell gefordert hat. Gregor Halff, Wa(h)re Bilder? Zur
Glaubwürdigkeit von Fernsehnachrichten, in: Klaus Kamps/Miriam Meckel (Hrsg.), Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen, Opladen 1998, S. 127-134.
20
Kompetenz, Frames und Diskurse der Medienwissenschaft zu erfassen, operiert
in der Regel jedoch auf einem sehr vorwissenschaftlichen Level gegenständlicher
Sachkenntnis.20 Der rekonstruktivistische Ansatz der Medienforschung kann daher sinnvoll nur im Zusammengehen mit anderen Sozial- und Kulturwissenschaften realisiert werden.21
• Medientheoretische Qualifikation: Die Tatsache, daß Inhaltsanalyse und intersubjektive Gegenentwürfe der außermedialen Realität eine Vorstellung von Leistungen und Defiziten der Auslandsberichterstattung schaffen können, weist noch
nicht aus, daß man Aussagen über textuelle Tiefenstrukturen (Stereotype, Diskurse, Frames usw.) oder über den gesellschaftlichen Entstehungs- und Wirkungsprozeß der Medientexte treffen kann. Dazu ist die Anwendung der Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse auf die Befunde von Rekonstruktion und Dekonstruktion erforderlich (wobei eine diskurstheoretisch wie sozialpsychologisch orientierte Analyse der Textstrukturen mit einer kausalen Medientheorie verbunden wird; Kap. 3).22 Einflüsse auf den Medieninhalt machen
sich lange vor der Publikation eines Zeitungsartikels in der Orientierung des
20 Als beliebiges Beispiel kann hier van Dijks Analyse der Medienberichterstattung über die unmittelbar vor Amtsantritt erfolgte Ermordung des gewählten libanesischen Präsidenten Bashir Gemayel
(1982) genannt werden, wobei die Grenzen einer (ansonsten akribisch durchgeführten) linguistischen und diskurstheoretischen Untersuchung der Auslandsberichterstattung erkennbar werden. Bei
dem Versuch einer Erklärung der arabischen Reaktionen auf die Ermordung heißt es: „The only
surprising element is the opinion in the Third World, and especially in the Arab countries, about
Gemayel and his political position. Logic would predict that those who are anti-Israel are also antiGemayel and anti-Falange. This is, however, not necessarily the case, which shows how complex
political attitudes and positions may be in the Middle East: Political realism, and the hope that even
the controversial Gemayel might contribute to a peaceful solution of the Lebanese conflict are more
relevant at this moment than the Moslem opposition against the Christian Maronites and their traditional allies“ (Teun A. van Dijk, News Analysis. Case Studies of International and National News in
the Press, Hillsdale 1988, S. 126). Van Dijks Überraschung über arabische Medienreaktionen war
die Folge der Tatsache, daß ihm die Geschichte arabisch-falangistischer Querallianzen, die bereits
1976 ihren vorläufigen Höhepunkt in der Deckung eines falangistischen Massakers an Palästinensern in Tal Al-Zaatar durch den syrischen Präsidenten Hafez al-Asad fand (Patrick Seale, Asad of
Syria. The Struggle for the Middle East, London 1988, S. 284 f.), nicht bekannt war und daher auch
die Erklärung empirisch ermittelter Medieninhalte auf Grenzen stieß, da die „Gegenstandsqualifikation“ begrenzt blieb.
21 Die Fächer-Fragmentierung der auslandsorientierten Medienforschung ist bereits Anfang der achtziger Jahre kritisiert worden. Birgit Scharlau: „Unter den Medienforschern hat sich eine Art Arbeitsteilung eingebürgert – die einen untersuchen nur die großen Zusammenhänge, die anderen nur den
Mikrokosmos der Medienprodukte – unter gegenseitiger Ausschließlichkeit der Arbeitsbereiche,
wie es scheint. Die Ergebnisse werden nicht aufeinander bezogen, miteinander vermittelt, sondern
einfach ‘zusammengeklebt’; denkt man diesen theoretischen Hiatus zu Ende, kommt man zu einer
Vorstellung, bei der die denunzierten Inhalte direkt aus der Abstraktheit globaler Dimensionen hervorzugehen scheinen: Die ganze Materialität des Produktionsprozesses bleibt dabei ausgeblendet.“
Birgit Scharlau, Kritik? Kritik!, in: medium 10 (1980) 6, S. 23.
22 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird zwar keine im engeren Sinn linguistische Diskursanalyse
durchgeführt, wie sie etwa Siegfried Jäger ausgearbeitet hat (Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung (2. überarb. u. erw. Aufl.), Duisburg 1999). Gleichwohl dient das Konzept
des Diskurses der Erweiterung der basalen Kategorien der Erforschung von Textstrukturen über den
Rahmen der Soziopsychologie hinaus (Kap. 3.1.2).
21
Journalisten, der Medienorganisation und im Zusammenspiel zwischen Medien,
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bemerkbar. Dabei muß im Interesse der
Theorie-Empirie-Bindung darauf geachtet werden, welche Einfluß- und Wirkungsfaktoren mit den Mitteln der Inhaltsanalyse eliminiert werden können und
welche nicht. Wenn in einer gesellschaftlichen Krisensituation sich die Presse
unisono der Position der Regierung des Heimatlandes anpaßt und ihre vorherige
Kritik an dieser Politik aufgibt, dann kann man davon ausgehen, daß weder der
einzelne Journalist noch die Medieninstitution prägend ist, sondern das Verhalten
des politischen Systems und das Interesse am Systemerhalt, das die Medien zur
Anpassung bewegt. Diese Beobachtung ist – außer in Zeiten manifester Zensur
und Informationskontrolle (etwa in Kriegen) – unabhängig davon, ob direkte Einflüsse der Politik nachgewiesen werden können, die als Extra-Medien-Daten mit
den Resultaten von Rekonstruktion/Dekonstruktion verglichen werden. Es ist
vielmehr die Anpassungsleistung der Medien als solche bzw. das „Fließgleichgewicht“ zwischen Medien und Politik (vgl. Kap. 3.2.4.2.1), das zur Bestimmung
von Einflußfaktoren auf Medieninhalte von Interesse ist. In anderen Fällen allerdings muß hinsichtlich der Erklärungsfähigkeit der Theorie auf der Basis der
durch Inhaltsanalyse gewonnenen Empirie Vorsicht walten. Medieninhaltsanalyse
kann, auch wenn sie theoriegeleitet ist, per se keine Aussagen über Medienwirkung oder -nutzung treffen, da Wirkdaten fehlen. Erkennbar wird lediglich die
„Wirkungspotenz“23 der Medien, d.h. aus dem Inhalt der Auslandsberichterstattung können Schlußfolgerungen über denkbare gesellschaftlich-politische Wirkungen gezogen werden. Wenn bestimmte Inhalte in Medien nicht erscheinen –
z.B. Beiträge über Mauretanien – dann ist auch nicht denkbar, daß die Medien
eine mobilisierende Wirkung auf den Leser in bezug auf diesen Sachverhalt –
z.B. hinsichtlich der deutsch-mauretanischen Beziehungen – ausüben.
Zusammenfassend ergibt sich für die Analyse der Strukturen, Entstehungsbedingungen und Wirkungspotenzen der Auslandsberichterstattung auf der Grundlage des
sozial- und kulturwissenschaftlichen Rekonstruktivismus-Dekonstruktivismus folgendes anwendungsbereite Verfahrensschema:
a) Re-Rekonstruktion: Rekonstruktion der „Medienrealität“ (sie ist ihrerseits eine
Rekonstruktion der außermedialen Realität) durch quantitative und qualitative
inhaltsanalytische Verfahren (z.B. Re-Rekonstruktion der Kontext-Frames der
medialen Darstellung eines Auslandsereignisses)
b) Dekonstruktion I: Erstellen eines alternativen Realitätsentwurfs und kritischrationaler Vergleich der Medienrealität mit sozial- und kulturwissenschaftlichen
Erkenntnissen über den Berichterstattungsgegenstand (z.B. Aufzeigen alternativer Kontext-Frames)
23 Projektbericht: Medienwirkungen in der internationalen Politik, in: ZUMA-Nachrichten 6/1980,
S. 49.
22
c) Dekonstruktion II: Erklärung des durch Re-Rekonstruktion und Dekonstruktion I
gewonnenen Diskrepanzmodells mit Hilfe der Theorie der Auslandsberichterstattung (z.B. Erklärung für die Abweichung oder Deckungsgleichheit der medialen
von den wissenschaftlich präferierten Frames).
23
3.
Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien
Unter Auslandsberichterstattung soll im folgenden jedes System der journalistischen
Informationsübermittlung verstanden werden, in dessen Verlauf Informationen und
Nachrichten staatliche Grenzen überschreiten. Diese Definition ist die einfachste,
weil staatsrechtlich verankerte. Die Terminologie des Titels des folgenden Kapitels –
internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse – weist gleichwohl darauf
hin, daß die Theorie weniger die staatliche als vielmehr die nationale und kulturelle
Grenzüberschreitung zu erfassen versucht, wobei die Entitäten dieses Prozesses –
Nationen und Kulturen – nicht leicht zu definieren sind. Der Nationenbegriff stützt
sich auf unterschiedliche Definitionen historischer, kultureller, religiöser und insbesondere sprachlicher Gemeinsamkeiten, die nicht deckungsgleich mit Staatsgrenzen
sein müssen. Dies ist nicht allein in der arabischen Welt der Fall, wo der nationale
Kleinstaat erst im 20. Jahrhundert supranationale Loyalitäten staatsrechtlich ersetzt
hat, ohne sie allerdings als Basis der Ideologiebildung (z.B. arabischer Nationalismus) gänzlich zu verdrängen. Dies ist beispielsweise auch in Asien der Fall, wo etwa
außerhalb Chinas in vielen Staaten chinesische Minderheiten mit teilweise nationaler
Bindung an China leben, oder in Afrika, wo stämmisch-ethnische Bindungen eine
Reihe von Staaten mit Zerfallsprozessen bedrohen. Internationale Berichterstattung
findet daher bei genauer Betrachtung gar nicht ausschließlich als Auslandsberichterstattung – also über Staatsgrenzen hinweg – statt, sondern erfolgt auch innerhalb von
Staaten oder zwischen Staatengruppen mit nationalen Bindungen. Für den vorliegenden Theorieentwurf allerdings bezeichnet „internationale Medienberichterstattung“
zwischenstaatliche Vermittlungsprozesse. Dies gilt analog auch für „interkulturelle
Medienberichterstattung“, zumal sich die Theorie weniger auf Interkulturalität im
interpersonalen oder gesellschaftlichen Gruppenkontext (Minderheiten) bezieht,
sondern vielmehr auf die sogenannte public-to-public-Kommunikation zwischen
kulturellen Großräumen mit Hilfe von Massenmedien.24
Staatliche, nationale und kulturelle Grenzüberschreitungen der Auslandsberichterstattung müssen nicht nur durch die Pole des Informationsflusses definiert, sondern
auch durch die Beschreibung der „Informationskanäle“ differenziert und eingegrenzt
werden:
• Die vorliegende Theoriematrix beschäftigt sich nicht mit Kommunikationsverfahren, die nicht eindeutig zur Massenkommunikation gezählt werden können, also
etwa mit dem Internet, das auf spezifische Weise Elemente der Individualkommunikation (z.B. E-mail) und der Massenkommunikation (z.B. Online-Versionen
von Printmedien) verbindet, und im Massenmediensegment eigene Formen der
interaktiven Kommunikation (z.B. Chat-Foren) entwickelt hat, die bei den Printund elektronischen Medien (Radio/TV) kaum vorhanden sind, da es sich um Me24 Eine Ausnahme stellt Kapitel 3.2.4.5.3 dar.
24
dien der Ein-Weg-Kommunikation handelt. Die vorliegende Theoriematrix bezieht sich nur auf letzteren, klassischen Bereich des „vermittelnden“ Journalismus, der, so eine grundlegende Theorieprämisse, auch in Zeitalter des Internet
nicht an Bedeutung verlieren wird, da Informationsmengen zunehmen und daher
ein fortdauernder Bedarf an einer Reduktion der Informationskomplexität vorhanden sein wird.25
• Der vorliegende Theorieentwurf beschäftigt sich auch nicht mit Formen der
Grenzüberschreitung, wie sie in den letzten Jahrzehnten vor allem durch direktempfangbare Rundfunksatelliten möglich geworden sind. Hier handelt es sich in
der Regel um nationale Programme, die zusätzlich zu ihrer primären Orientierung
auf den nationalen Raum ins Ausland gesendet und dort empfangen werden können. Nationale, kulturelle oder staatliche Grenzüberschreitung ist für die vorliegende Theorie aber nur dort als „Auslandsberichterstattung“ gekennzeichnet, wo
diese Grenzüberschreitung im Prozeß der Nachrichten- und Informationsbeschaffung, -verarbeitung und -verbreitung mindestens zweimal erfolgt und wo ein Informationsrücktransfer stattfindet: Nachrichten aus dem Ausland werden von nationalen Medien zum heimischen Publikum rücktransferiert und Berichte über
das Ausland für dieses Publikum aufbereitet. Dabei ist der Idealtyp der Auslandsberichterstattung (zumindest aus Sicht einer rekonstruktiven Realitätssicht;
vgl. Kap. 2), daß Staat und Gesellschaftssystem A über Staat und Gesellschaftssystem B Informationen erhält (B' in Abb. 3.1).26
25 Jo Bardoel, Beyond Journalism: A Profession between Information Society and Civil Society, in:
Howard Tumber (Hrsg.), News. A Reader, Oxford 1999, S. 379-391; Miriam Meckel, Perspektiven
der globalen Informationsgesellschaft, in: dies./Markus Kriener (Hrsg.), Internationale Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 299-321.
26 Die grenzübergreifende Überlappung staatlicher Medienräume, die insbesondere durch die
Satellitentechnologie gefördert worden ist, ist in den Abbildungen 3.1 – 3.3 als Schnittfeld C
ausgewiesen.
25
26
Was diesen vermittelnden Prozeß der auf nationale Publika zugeschnittenen Auslandsberichterstattung betrifft, so ist bisher keine homogene Theorie vorgelegt worden, die die internationalen und interkulturellen Darstellungsprozesse in ihren einzelnen Facetten erfaßt und derart anwendungsbezogen aufbereitet, daß die Theorie
zur Erklärung empirisch-inhaltsanalytischer Befunde der Auslandsberichterstattung
dienen kann. Die vorhandenen Theorien und Theoreme der internationalen Kommunikation wenden sich der medialen Auslandsberichterstattung nur am Rande zu:
• Zentrum-Diffusions-Ansatz (Modernisierungstheorie): Der Zentrum-DiffusionsAnsatz basiert (im Gegensatz zum Zentrum-Peripherie-Ansatz; s.u.) auf der Annahme, daß sich der Nachrichten- und Informationsfluß durch globale Kommunikation aus den Zentren in die Peripherien verlagert und hierdurch neue Informationszentren entstehen, die den Modernisierungsprozeß fördern.27 Dabei wird
zum Teil konzediert, daß die Berichterstattung des vermittelnden Journalismus
fragmentarisch ist und einer Reihe von Störfaktoren unterliegt, d.h. die durch
Massenmedien erfolgende Informationsdiffusion gilt als in Teilen disfunktional
im Sinne der übergeordneten Modernisierungsziele.28 Probleme der Auslandsberichterstattung sind allerdings in der modernisierungstheoretisch orientierten internationalen Kommunikationsforschung nicht systematisch verfolgt worden, da
sie angesichts der angenommenen überwiegenden Modernisierungseffekte des
bestehenden Systems globaler Massenkommunikation als eine quantité négligeable gelten.
• Zentrum-Peripherie-Ansatz (Dependenztheorie): Aus Sicht des ZentrumPeripherie-Ansatzes stellt internationale Kommunikation in ihrem gegenwärtigen
Zustand nur eine sehr begrenzte Entwicklungsressource für die „Dritte Welt“ dar,
da die globale Medienordnung – wie die politische und ökonomische Weltwirtschaftsordnung insgesamt – asymmetrisch ist und in dieser Form geradezu zur
Vertiefung bestehender Entwicklungsunterschiede beiträgt.29 Probleme der globalen Massenkommunikation werden als ein Sonderfall der Kombination aus
Kommunikations- und Kulturimperialismus betrachtet, denn zur Dominanz der
27 Ithiel de Sola Pool, Technologies without Boundaries. On Telecommunications in a Global Age,
Cambridge 1990, S. 137 ff. Zum diffusionistischen Ansatz vgl. a. Everett H. Rogers, The Diffusion
of Innovations, Glencoe, Il 1962.
28 Wilbur Schramm: „We must conclude that the flow of news among nations is thin, that it is unbalanced, with heavy coverage of a few highly developed countries and light coverage of many lessdeveloped ones, and that, in some cases at least, it tends to ignore important events and to distort
the reality it presents.“ Wilbur Schramm, Mass Media and National Development. The Role of Information in the Developing Countries, Stanford/Paris 1964, S. 65.
29 Johan Galtung, Eine strukturelle Theorie des Imperialismus, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion, Frankfurt 1972, S. 29-104.
Zum Dependenz- oder Imperialismusansatz im Hinblick auf globale (Massen-)Kommunikation vgl.
a. Herbert Schiller, Mass Communications and American Empire, New York 1969; ders./Kaarle
Nordenstreng, National Sovereignty and International Communication, Norwood 1979; Thomas L.
McPhail, Electronic Colonialism. The Future of International Broadcasting and Communication,
Newbury Park u.a. 1987; Gerald Sussman/John A. Lent, Critical Perspectives on Communication
and Third World Development, in: dies. (Hrsg.), Transnational Communications. Wiring the Third
World, Newbury Park u.a. 1991, S. 1-26.
27
Kommunikationsmittel durch die Zentrumsnationen (Hochindustriestaaten) tritt
deren Beherrschung der berichterstatteten Inhalte, etwa über die Kontrolle der
wichtigsten Nachrichtenagenturen. Während daher aus Sicht des ZentrumPeripherie-Ansatzes die Konditionen des Auslandsjournalismus in den Peripherieländern in hohem Maß von den westlichen Zentrumsstaaten bestimmt werden
können, werden in der Auslandsberichterstattung der Zentrumsstaaten Ereignisse
dermaßen selektiv wahrgenommen und vermittelt, daß sie sich in das allgemeine
imperialistische Interaktionsschema fügen, wobei Bedürfnisse der Peripherienationen in den Medien der Zentrumsnationen wenig Berücksichtigung finden.30
Die strukturelle Theorie des Imperialismus (Galtung) ist eine der wenigen Makrotheorien der internationalen Beziehungen, die die globalen Informationsbeziehungen und insbesondere die Darstellungsprozesse der Massenmedien (in der
Auslandsberichterstattung) zu einem Bestandteil macht. Zu einem theoretischen
Erklärungsmodell, das differenziert genug wäre, um für empirische Untersuchungen dienlich zu sein, gelangt sie gleichwohl nicht.
• Globalisierungstheorie: Als theoretischen Leitbegriff der internationalen Kommunikationsforschung hat „Globalisierung“ ältere Paradigmen der Modernisierung oder Dependenz in den neunziger Jahren weitgehend abgelöst. Dennoch ist
die grundlegende Polarität der Theorien erhalten geblieben, mit dem Unterschied
allerdings, daß sich die Globalisierungstheorie weniger mit den durch Kommunikationsprozesse induzierten Entwicklungen in Nationalstaaten als mit supranationalen Strukturen beschäftigt. Zu unterscheiden sind grundsätzlich zwei Gattungen
von Globalisierungstheoremen mit sehr unterschiedlichen Implikationen für die
internationale Medienberichterstattung. Sie können unter den Begriffen „Konversionstheorie“ und „Domestizierungstheorie“ gruppiert werden. Der locus classicus der Konversionstheorie ist Marshal McLuhans Ansatz des „globalen Dorfes“
(global village), wonach insbesondere die Massenmedien als eine derart perfektionierte Form der technischen Erweiterung des menschlichen Sinnesapparates
betrachtet werden, daß für das 21. Jahrhundert die Realisierung eines kollektiven
globalen Bewußtseins prognostiziert wird.31 In diesem Ansatz sind Störungen der
internationalen Medienberichterstattung, wie sie in der Modernisierungstheorie
ansatzweise und in der Dependenztheorie mit Schwerpunkt erörtert werden, ohne
Belang, zumal die radikal-konstruktivistische Basis des McLuhan’schen Denkens
gar keinen Raum für funktionalistische Betrachtungen der Auslandsberichterstattung läßt. McLuhans Arbeit hat auch in späten Werken der Modernisierungstheorie konversionstheoretische Spuren hinterlassen, etwa wenn dort angenommen
wird, daß mit dem quantitativen Ausbau globaler Kommunikationsbeziehungen
das Informationsniveau in den Medien steigt, partikulare Auslands- und Weltbil-
30 Galtung, Eine strukturelle Theorie, S. 58-60. Galtung konzeptionalisiert sogar die später im MacBride-Bericht angedeutete Rückwirkung der westlichen Auslandsberichterstattung auf die interne
politische Kultur der Entwicklungsländer, wenn er davon spricht, daß die globale Massenkommunikation eigene „Bedürfnisse“ wecke. Ebenda, S. 60 f.
31 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle/“Understanding Media“, Düsseldorf u.a.1992.
28
der abgebaut und internationale Konflikte minimiert werden.32 Eine differenzierende Fortsetzung findet die Konversionstheorie in Roland Robertsons Konzept
der „Glokalisierung“, wobei lokale, regionale, nationale und globale Perspektiven der Gesellschaftswahrnehmung als zunehmend verschmelzend betrachtet
werden.33 Kritiker der Konversionstheorie haben moniert, daß sie die Globalisierungstendenzen der Massenkommunikation überbewertet, indem sie die zunehmende technische Vernetzung und ökonomische Transnationalisierung mit der
Universalisierung von Medieninhalten gleichsetzt und politische, ideologische
oder kulturelle Partikulareinflüsse der Auslandsberichterstattung lokal, national
wie international operierender Medien unterbewertet.34 Dabei hat sich die An32 Pool, Technologies, S. 132-137.
33 Roland Robertson, Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Ulrich Beck (Hrsg.),
Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt 1998, S. 192-220; ders., Mapping the Global Condition, in: Annabelle Sreberny-Mohammadi/Dwayne Winseck/Jim McKenna/Oliver Boyd-Barrett
(Hrsg.), Media in Global Context. A Reader, London 1997, S. 2-10.
34 Hedley Bull weist darauf hin, daß eine quantitative Ausweitung von Kommunikation nicht zu
einem Abbau von Konflikten in den internationalen Beziehungen führen muß, sondern daß gerade
die Intensivierung der Kommunikation Spannungen durch das Gewahrwerden partikularer (subjektiver) Identitäts- oder Interessenunterschiede vergrößern kann (Hedley Bull, The Anarchical Society.
A Study of Order in World Politics, London/Basingstoke 1977, S. 273-276; vgl. a. Bassam Tibi,
Krieg der Zivilisationen. Politik zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995,
S. 273). Zbigniew Brzezinski meint, daß sich die internationalen Beziehungen weitaus geeigneter
durch das Modell der „globalen Stadt“ („global city“) verdeutlichen lassen, durch ein nervöses und
fluktuierendes Netz, das mehr durch Interaktion als durch Kenntnis und Übereinstimmung zu betrachten ist (Zbigniew Brzezinski, Between two Ages, New York 1970). Michael Kunzcik hat darauf hingewiesen, daß McLuhan keinen Begründungszusammenhang für sein Konzept einer quasievolutionären Entwicklung der Weltgesellschaft aus der Kommunikation herstellt (Michael Kunczik, Massenmedien und Entwicklungsländer, Köln/Wien 1985, S. 197). Annabelle SrebernyMohammadi konzediert einen Widerspruch zwischen der These McLuhans vom „globalen Dorf“
und den Ergebnissen der empirischen Berichterstattungsforschung, die in hohem Maße Domestizierungstendenzen der Auslandsberichterstattung belegt (Annabelle Sreberny-Mohammadi, Global
News Media Cover the World, in: John Downing/Ali Mohammadi/Annabelle SrebernyMohammadi (Hrsg.), Questioning the Media. A Critical Introduction, Thousand Oaks u.a. 1995 (2.
Aufl.), S. 429). Thomas Schuster verbindet die Kritik an McLuhans Techno-Idealismus, der Machteinflüsse und den Widerspruch zwischen der Entwicklung technischer Reichweiten und programminhaltlichem Partiklarismus ausblendet, mit einer Kritik an McLuhans radikal-konstruktivistischem
Denken. Das Global-Village-Modell ist demnach selbst ein Ideologem, da es einerseits den status
quo des westlich dominierten free flow of information fordert, dies jedoch anders als die mainstream-Modernisierungstheorie durch seine Leugnung von Wirklichkeitsmaßstäben nicht mit den
leicht angreifbaren westlich-modernen Inhalten, sondern mit der Utopie eines durch Kommunikation erzeugbaren Globalbewußtseins begründet (Thomas Schuster, Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit, Frankfurt 1995, S. 41, 76-97). Die Ungleichzeitigkeit
von technischer Globalisierung und inhaltlichem Partikularismus im Bereich der Massenmedien ist
von einer Reihe von Autoren als ein Grundwiderspruch der derzeitigen globalen Kommunikation
erkannt worden. Thomas L. McPhail hat moniert, daß ungeachtet der wachsenden technischen
Kommunikationsmöglichkeiten der Informationsstand in den Beziehungen zwischen Industrie- und
Entwicklungsländern abnimmt (McPhail, Electronic Colonialism, S. 285). Esther Krumbholz und
Kerstin Reishus weisen darauf hin, daß sich die Berichterstattung über die „Dritte Welt“ seit der
Kolonialzeit nicht entsprechend den technologischen Möglichkeiten entwickelt hat (Esther Krumbholz/Kerstin Reishus, Standbild Ausland, in: Die Entwickler. Der Blick der Medien auf die Dritte
Welt (Trickster 18), München 1990, S. 65). Zum Zusammenhang zwischen Auslandsberichterstat-
29
nahme einer „Domestizierung“ der Auslandsberichterstattung als idealtypisches
Gegenbild zur (konversiven) Globalisierung herauskristallisiert. Die empirisch
gestützte Erkenntnis, daß dasselbe Ereignis, aufbereitet auf der Basis derselben
Informationsquellen, in unterschiedlichen nationalen Mediensystemen in stark
abweichenden und teilweise sogar gegensätzlichen Darstellungen münden kann,
spricht dafür, daß partikulare politische, gesellschaftliche, organisatorische, religiös-kulturelle Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung einer Homogenisierung der Weltbilder, wie sie der Konversionstheorie vorschwebt, grundsätzlich
35
im Wege stehen. Während also aus Sicht der Konversionstheorie die Vermittlungsleistung der Auslandsberichterstattung in einem Auslandsbild mündet, das
Aspekte des Ursprungs- und des Ziellandes der Auslandsberichterstattung vereint
(A/B in Abb. 3.2), spiegeln sich aus Sicht der Domestizierungstheorie in hohem
Maß Einflüsse der Journalisten und des Medien- und Gesellschaftssystems des
Ziellandes wider (A' in Abb. 3.3).
Um aus solchen theoretischen Ansätzen eine anwendungsbezogene Theoriematrix
der Auslandsberichterstattung zu gewinnen, muß an einer anderen Entwicklung der
Medientheorie angeknüpft werden: der in letzten Jahren zunehmenden Systematisierung und Homogenisierung von Spezialtheorien der Medieninhaltsforschung,36 die
zum Teil auch unter dem Begriff der „Qualitätssicherung“ von Medieninhalten firmiert.37 Die vorliegende Theoriematrix versteht sich – trotz zahlreicher inhaltlicher
Abweichungen und Differenzen – als Pendant zur Theorieentwicklung nach Pamela
J. Shoemaker und Stephen D. Reese für den Bereich der Auslandsberichterstattung,
wo eine solche Systematisierung bisher nicht erfolgt ist. Shoemaker und Reese haben
Aspekte der Auslandsberichterstattung nahezu gänzlich außer acht gelassen und
haben statt dessen ihr Theoriengebäude zur Entstehung, Struktur und Wirkung von
Medieninhalten nahezu ausschließlich anhand empirischer Befunde und Theoreme
entwickelt, die im nationalen (US-amerikanischen) Raum entstanden sind.38 Aspekte
der internationalen und interkulturellen Grenzüberschreitung und die damit einher-
35
36
37
38
30
tung und Globalisierung vgl. a. Markus Kriener/Miriam Meckel, Internationale Kommunikation.
Begriffe, Probleme, Referenzen, in: dies. (Hrsg), Internationale Kommunikation. Eine Einführung,
Opladen 1996, S. 15 f.; Kai Hafez, Gestörte Globalisierung. Gegentrends auf dem Weg zu einer internationalen Medienkultur, in: Blätter des Informationszentrums 3. Welt 228/1998, S. 20 f; ders.,
International News Coverage and the Problems of Media Globalization. In Search of a „New
Global-Local Nexus“, in: Innovation. The European Journal of Social Sciences 12 (1999) 1, S.4762.
Gurevitch/Levy/Roeh, The Global Newsroom.
Pamela J. Shoemaker/Stephen D. Reese, Mediating the Message. Theories of Influence on Mass
Media Content, New York 1996.
Hagen, Informationsqualität.
Daß die Arbeit von Shoemaker und Reese Fragen der internationalen Kommunikation und Auslandsberichterstattung nicht berücksichtigt, wird nicht zuletzt daran deutlich, daß zentrale Eckpfeiler der vorliegenden Theoriematrix wie Stereotypentheorie, Nationenbildforschung, Systemtheorie,
transkulturelle Kommunikation und Krisen- und Konfliktkommunikation bei den amerikanischen
Autoren nicht in Erscheinung treten. Eine praxisorientierte Einführung in die verschiedenen Aspekte der Auslandsberichterstattung bietet: Jaap van Ginneken, Understanding Global News. A Critical
Introduction, London et al. 1998.
gehenden spezifischen Probleme der menschlichen Wahrnehmung, der medialen
Informationsbeschaffung und der Einflüsse durch und auf Politik und Gesellschaft
werden nicht konzeptionalisiert, da sie nicht konstitutiv für den Entwicklungsprozeß
der meisten verwendeten Theorien und Theoreme – z.B. agenda-setting- oder gatekeeper-Hypothesen – gewesen sind. Mit der spezifischen Wirkung des AgendaSetting im internationalen Rahmen, mit den besonderen Systemkonfigurationen des
Mediensystems im Hinblick auf die internationale Berichterstattung, mit den Beziehungen zwischen Auslands- und Inlandsberichterstattung, um nur einige Beispiele zu
nennen, haben sich nur sehr wenige Arbeiten beschäftigt. Bei einer Systematisierung
des theoretischen Wissens über Prozesse der Auslandsberichterstattung zeigen sich
eine Reihe von Leerstellen der Forschung in Theoriebereichen wie der transkulturellen Kommunikation durch Massenmedien, die noch in einem geradezu vorparadigmatischen Zustand sind.39
Der Aufbau der Theoriematrix zu internationalen und interkulturellen Darstellungsprozessen in Massenmedien (Abb. 3.4) ist das Resultat des Versuchs, die Inhaltsstrukturen, ihren Verursachungs- und Entstehungsprozeß sowie deren gesellschaftlichen Wirkungshorizont gleichermaßen zu erfassen:
• Wahrnehmung und Kommunikation: Einleitend werden Grundkategorien der
menschlichen Wahrnehmung und Kommunikation, insbesondere im Hinblick auf
internationale und interkulturelle Sachverhalte definiert. Dabei sind verschiedene
theoretische Richtungen eingeflossen, die ihrerseits in unterschiedlichen akademischen Disziplinen und Teildisziplinen entstanden sind (Soziopsychologie, Soziolinguistik usw.). Die Bestimmung von Grundkategorien der Wahrnehmung
und Kommunikation wie „Bild/Nationenbild“, „Stereotyp/Nationenstereotyp“,
„Diskurs,“ „Frame“ oder „Phasenstruktur“ ist zur Analyse von Medientexten in
Presse und Rundfunk erforderlich. Eine Eingrenzung auf den ein oder anderen
theorieleitenden Begriff – etwa auf Stereotype – würde den Geltungsbereich der
gesamten Theoriematrix im Hinblick auf ihre Gültigkeit zur Erklärung von Strukturen, Ursachen und Wirkungen der Theorie erheblich einschränken und wird daher vermieden.
39 Frühzeitige Plädoyers für neue Forschungsanstrengungen auf dem Gebiet der Auslandsberichterstattung haben Claus Eurich und Herbert Kluge sowie Ansgar Skriver gehalten. Claus Eurich/Herbert
Kluge, Auslandsberichterstattung im Deutschen Fernsehen, in: Rundfunk und Fernsehen 24 (1976)
1-2, S. 97-108; Ansgar Skriver, Auslandsberichterstattung – eine Entwicklungs- und Forschungsaufgabe, in: Jörg Aufermann/Hans Bohrmann/Rolf Sülzer (Hrsg.), Gesellschaftliche Kommunikation und Information. Forschungsrichtungen und Problemstellungen. Ein Arbeitsbuch zur Massenkommunikation II, Frankfurt 1973, S. 695-713.
31
• Medientheorie: Wahrnehmungs- und kommunikationstheoretische Annahmen
werden aus heuristischen Gründen von der Medientheorie getrennt, denn die vorliegende Theorie behauptet, daß bei der in der Wissenschaft häufig praktizierten
Ableitung der Medien- aus der Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorie –
etwa Stereotypentheorie als Paradigma zur Erforschung der Auslandsberichter-
32
stattung – die Spezifika des Mediensystems und des Zusammenspiels zwischen
Journalist, Medien und Politik/Gesellschaft verloren gehen. Begrifflichkeiten der
Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorie finden sich gleichwohl auf allen
Ebenen der vorliegenden Medientheorie wieder: Sie gehen in die Analyse von
Inhaltsstrukturen ein (Welchen Stellenwert besitzen beispielsweise Frames und
Stereotype in Texten der Auslandsberichterstattung?), ebenso wie in die Mikrotheorie (Wie wirken etwa persönliche Stereotype des Journalisten?) und in die
Mesotheorie (Wie wirkt sich beispielsweise das Verhältnis NachrichtenagenturRedaktion auf die Formierung von Diskursen aus?). Sie werden jedoch in eine
kommunikationswissenschaftlich, politologisch, soziologisch und kulturwissenschaftlich fundierte Theorie eingeordnet, die keinem Primat der Soziopsychologie folgt.
• Strukturkomplex der Medientheorie: Im Strukturkomplex der Theorie werden
Strukturaspekte der Schrift- und Bildtexte der Auslandsberichterstattung systematisch erfaßt. Im Vordergrund stehen die Herauskristallisierung, der Vergleich und
die Synthetisierung von Kriterien und Kriterienkatalogen der bisherigen Forschung über Medieninhalte, insbesondere der Nachrichtenwertforschung und
verwandter Untersuchungen über das Auslands- und Dritte-Welt-Bild in Massenmedien. Die Ergebnisse dieser Forschungsrichtungen sind teilkongruent, jedoch bisher nicht ausreichend vernetzt worden. Als Schwierigkeit für die gesamte
Theoriematrix erweist sich, daß Nachrichtenfaktoren sich nur bedingt unter den
Strukturaspekt ordnen lassen, da die Nachrichtenwertforschung nominell beansprucht, die Ursachen-Faktoren zu nennen (journalistische Routine), die zu einer
bestimmten Textstruktur führen, weswegen sie auch zum Teil als medienwissenschaftliches Pendant zur Soziopsychologie betrachtet wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß Nachrichtenfaktoren gar nicht in einem Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang verortet werden, sondern es wird von einem einheitlichen Begriff der „Medienrealität“ ausgegangen, wobei die Strukturen außermedialer Ereignisse und ihre Konstruktion in den Medien nicht als Vermittlungsprozeß, sondern als Entität behandelt werden (Welche dem Ereignis immanenten Faktoren wirken sich in der Nachrichtenroutine aus?). Nachrichtenfaktoren lassen sich daher aus der Perspektive ihres theoretischen Geltungsanspruchs
sowohl in den Struktur- wie auch im Ursachen- und Wirkungskomplex der Theorie der Auslandsberichterstattung integrieren. Die methodologische Beschränkung nahezu aller Nachrichtenfaktorenanalysen auf die Inhaltsanalyse von Medientexten zeigt jedoch, daß sich ihre eigentliche Aussagekraft auf Textstrukturen
beschränkt, während weder ein Vergleich Medienrealität/Ereignisrealität noch
die Analyse von Einflußfaktoren zwischen diesen Polen geleistet wird (was gemäß der radikal-konstruktivistischen Schule auch gar nicht gewünscht wird). Ein
Nachklang der Verortungsproblematik ist, daß Nachrichtenfaktoren als routines
der medialen Redaktionsarbeit auf der Mesoebene der Theorie nochmals in Erscheinung treten.
• Entstehungs- und Wirkungskomplex: Die Untersuchung von Entstehungs- und
Wirkungsbedingungen medialer Textstrukturen ist unter anderem aus den ge33
nannten Gründen in den letzten Jahren zunehmend nicht mehr allein in der
Kommunikations-, sondern auch in den Politik- und anderen Sozialwissenschaften erfolgt.40 Der Ursachen- und Wirkungskomplex der Theorie der Auslandsberichterstattung läßt sich in drei Ebenen unterteilen: die Ebenen der Mikro-, Mesound der Makrotheorie. Auf der Mikroebene werden sozialisationsbedingte Einflüsse des Auslandsjournalisten auf den Medientext untersucht; auf der Mesoebene werden die Texte als Endprodukt der Medienorganisation als einem Informationsverarbeitungs- und organisierten Sozialsystem betrachtet; und auf der Makroebene werden die Beziehungen zwischen Medien und Gesellschaftssystem untersucht.
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Mikroebene: Das Schwergewicht liegt hier zum einen auf der individuellen
und politischen Sozialisation des Auslandsjournalisten, in deren Verlauf sich
die kognitiven und affektiven Grundlagen internationaler Wahrnehmung herausbilden, die später Einfluß auf die Auslandsberichterstattung nehmen können. Zum anderen werden journalistische Rollenkonzepte der Auslandsberichterstattung als operationale Komponente eingeführt (Im Hinblick auf welche nationalen oder internationalen Handlungen und Anwendungen gestaltet
der Journalist seinen Text?).
Mesoebene: Zu den theoretisch konzeptionalisierbaren Einflüssen der Medienorganisation auf internationale und interkulturelle Rahmenbedingungen
zählen die informationellen Rahmenbedingungen, das Verhältnis von Agenturmaterial zu journalistischer Eigenleistung, die durch verlegerische (oder
andere hierarchische) Interessen sowie soziale Interaktionsprozesse gesteuerten Entscheidungsprogammierungen der Auslandsredaktionen, die sozialen
Beziehungen zwischen Zentral- und externen Redaktionen (Auslandskorrespondenten) sowie die Struktur der innerjournalistischen Meinungsführermilieus.
Makroebene: Die vorliegende Theoriematrix legt das Schwergewicht auf die
Makroebene der Theorie, da das Zusammenspiel von Medien, Politik und
Gesellschaft als Kernbereich der Medienforschung im Rahmen der Politikund Sozialwissenschaften betrachtet wird. Die Makrotheorie ist so angelegt,
daß sie abschnittsweise von „innen“ nach „außen“ fortschreitet – von der
Strukturierung der nationalen öffentlichen Themenagenda und Debatte (über
internationale Fragen) als Grundfunktion der Medien (a) und den Einflußfaktoren auf die Auslandsberichterstattung im nationalen System (b) über die Interaktionen zwischen nationalem und internationalem Diskurs (c) bis zu den
Grundfunktionen der Medien im internationalen Raum, d.h. im Rahmen der
internationalen Krisen- und Konfliktkommunikation (d) sowie der inter- bzw.
transkulturellen Kommunikation (e).
40 Vgl. Frank Marcinkowski, Publizistik als autopoietisches System. Politik und Massenmedien: Eine
systemtheoretische Analyse, Opladen 1993, S. 11.
34
3.1
Bilder – Frames – Diskurse – Auslandsbild: Grundlagen
der internationalen Perzeption und Kommunikation
Einige der wesentlichen Grundlagen der Perzeptionstheorien, die für die politikwissenschaftlich orientierte Erforschung der Darstellungsprozesse in Massenmedien von
Bedeutung sind, gehören in den Bereich der angewandten Sozialpsychologie (z.T.
auch als „politische Psychologie“ bezeichnet). Die angewandte Sozialpsychologie
kann als ein theoretisches Schnittfeld von Politikwissenschaft, Sozialwissenschaften
und Psychologie betrachtet werden,41 das die psychologische Deutung politischer
Denk- und Verhaltensweisen erforscht. Zu den Kernbereichen zählt die Bild-, Vorurteils- und Stereotypenforschung, die – ergänzt durch Ergebnisse der Kulturanthropologie und Ethnologie – häufig in die Nationen-, Völker-, Kultur- und Religionsbildforschung, d.h. in die Untersuchung der perzeptiven Beziehungen sozialer Großgruppen und politischer Verbände übergeht. Insofern kann die angewandte Sozialpsychologie zugleich als Teilbereich der Theorie der internationalen Beziehungen
bezeichnet werden, da weder die Entscheidungsprozesse im internationalen politischen System noch die zwischengesellschaftlichen Beziehungen von den Nationenund Kulturbildern unbeeinflußt bleiben.42
Zur begrifflichen Grundlegung einer Theorie der Auslandsberichterstattung ist
die soziopsychologische Vorgehensweise allein unzureichend. Da es sich hierbei in
hohem Maß um die Untersuchung von Textstrukturen handelt, ist es nicht verwunderlich, daß gerade in den letzten Jahren analytische Ansätze in die Medienforschung
eingeflossen sind, deren Ursprünge auf die Linguistik-, Literatur- sowie auf die
Kommunikationswissenschaften zurückgehen, also auf Wissenschaften, deren locus
nicht psychogene Perzeptionsphänomene sind, die im Text verifiziert werden, sondern die Gesamtheit des kommunizierten Textes selbst. Es findet eine Verlagerung
von der Perzeptions- zur Kommunikationsforschung statt. Im folgenden werden vor
allem die Framing- und die Diskursanalyse mit der Soziopsychologie gekoppelt, um
einen komplexen Begriffsapparat zur Strukturbestimmung der internationalen Kommunikation aufzubauen.
3.1.1 Nationen-, Völker- und Kulturbilder: Perzeption unter den
Bedingungen geokultureller Distanz
Der Begriff „Bild“ (image) ist von Kenneth E. Boulding in die Politikwissenschaft
eingeführt worden. Er definiert das Bild als Summe der kognitiven und affektiven
Perspektiven und Urteile eines Handelnden in Bezug auf sich selbst und auf seine
Umwelt.43 In der deutschen Bildforschung hat sich diese Definition etwa bei Werner
41 Ernst-August Roloff, Politische Psychologie, in: Wolfgang W. Mickel (Hrsg.), Handlexikon der
Politikwissenschaft, Bonn 1986, S. 402 f.
42 Vgl. Henning Behrens/Paul Noack, Theorien der internationalen Politik, München 1984, S. 96 ff.
43 Kenneth E. Boulding, The Image. Knowledge in Life and Society, Ann Arbor 1969 (7. Aufl.).
35
K. Ruf ebenfalls durchgesetzt: „Ein Bild wird im allgemeinen definiert als die Gesamtheit der Charakteristika, die einem Objekt von einem Individuum – oder auch
einer Gruppe – zugeschrieben wird (...). Demnach ist ein Bild zu verstehen als ein
Element, welches konstitutiv ist für die Vorstellung von der Wirklichkeit, welche ein
Individuum oder eine Gruppe sich zu eigen macht.“44 Zwar basiert die Bildforschung
nicht auf einer radikalen erkenntnistheoretischen Infragestellung der außerhalb des
menschlichen Bewußtseins existierenden Realität wie bei George Berkeley oder
Bertrand Russell,45 doch geht man davon aus, daß die kognitive Realitätsaneignung
ein Transformationsprozeß ist, bei dem nicht die Realität selbst, sondern ein durch
Wahrnehmung gefiltertes Desiderat dieser Realität abgebildet wird.
Die Prinzipien der kognitiven Realitätsaneignung lassen sich auf drei verschiedenen Ebenen ansiedeln:
• Bild-Realitäts-Problematik: Zwischen Realität und kognitiver Abbildung besteht
kein Identitätsverhältnis, sondern die Beziehungen sind vielfach gebrochen. Bilder sind entweder das Ergebnis von Vereinfachungsprozessen zur sinnhaften Aneignung komplexer Informationsangebote, d.h. Bilder sind Formen der Wahrnehmungsreduktion und der Reduktion von Umweltkomplexität mit dem Zweck
der adäquaten Umweltbewältigung.46 Oder Bilder sind Imaginationen ohne jeden
Hinweis auf intersubjektiv überprüfbare Realität (vgl. Kap. 2), so daß selbst die
Vorstellung von einem „Körnchen Wahrheit“ (kernel of truth) eines jeglichen
Abbildungsvorgangs unzutreffend ist. Die Neigung zu realitätsfremder Imagination ist um so größer, je abstrakter das abzubildende Objekt ist; sie ist damit etwa
im Fall von „Nationen“ und „Nationenbildern“, um die es im Fortlauf der Darstellung primär gehen wird, als strukturell relativ groß einzustufen.47 Zur Einschätzung des Bild-Realitäts-Verhältnisses sind daher Bildtypisierungen erforderlich, wobei etwa Boulding zwischen spatial images (räumliche-geographische
Vorstellungen), temporal images (Zeitvorstellungen), relational images (Weltordnung der Kulturen usw.), personal images (individuelle Bilder) und images of
value (Wertvorstellungen) unterscheidet.48 Der Bildbegriff hebt nicht allein die
„Versagensleistungen“ der Perzeption hervor, er ist nicht identisch mit realitätsfremder Imagination, sondern Bilder können ebenso Elemente der intersubjektiven Realitätskohärenz aufweisen (vgl. Kap. 2).
• Bild-Struktur-Problematik: Bilder existieren nicht isoliert, sondern sie werden in
komplexe Bildstrukturen eingedeutet, so daß komplementär zur Reduktion von
44 Werner K. Ruf, Der Einfluß von Bildern auf die Beziehungen zwischen Nationen, in: Zeitschrift für
Kulturaustausch 23 (1973) 3, S. 21.
45 George Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, nach einer
Übersetzung von Friedrich Überweg mit Einleitung, Anmerkungen und Registern neu herausgegeben von Alfred Klemmt, Hamburg 1979; Bertrand Russell, Probleme der Philosophie, Frankfurt
1978 (7. Aufl.).
46 Eckhard Marten, Das Deutschlandbild in der amerikanischen Auslandsberichterstattung. Ein
kommunikationswissenschaftlicher Beitrag zur Nationenbildforschung, Wiesbaden 1989, S. 11
47 Otto Klineberg, The Human Dimension in international Relations, New York u.a. 1964.
48 Boulding, The Image, S. 47 f .
36
Komplexität die sinnstiftende Konstruktion von Realität durch die Organisation
von Informationen stattfindet; ein konstitutiver Prozeß der Weltbildkonstruktion.49 Leon Festinger hat in seiner Theorie der „kognitiven Dissonanz“ darauf
hingewiesen, daß die Einbettung neuer Information vor allem nach den Maßgaben einer notwendigen kognitiven Balance erfolgt, in die sich das neue Bild einfügt oder die es in einem neuen Equilibrium stabilisiert, wobei im Zweifelsfall
das etablierte Bildsystem ein strukturelles Übergewicht gegenüber neuen Bildern
geltend macht, was eine Art Sekundäranpassung der Wahrnehmung nach sich
ziehen kann (s.u.: Stereotype).50 Das Bildsystem entsteht im Verlauf der primären
Sozialisation (soziales Milieu) und der sekundären Sozialisation (Schule, Universität, Medien usw.) sowie durch direkte Erfahrung (ohne Vermittlung der Sozialisationsinstanzen).51 Als ein Sonderproblem der Erforschung von Abbildungsvorgängen im internationalen Kontext erweist sich, daß die Sekundärvermittler wie
etwa die Massenmedien gegenüber der primären Sozialisation und der direkten
Erfahrung eine im Vergleich zu anderen Bildbereichen dominierende Stellung
einnehmen.
• Individuum-Kollektiv-Problematik: Wie der Hinweis auf die Sozialisationsinstanzen beispielsweise verdeutlicht, können Bilder und Bildstrukturen neben der
individuellen auch eine kollektive Dimension beinhalten, denn auch die Einordnung der individuellen Bildproduktion in größere soziale Zusammenhänge erweist sich als eine Frage der Umweltbewältigung. Das Individuum bildet die Realität auf seine eigene Weise ab, es findet eigene Formen der Wahrnehmungsselektion und -organisation. Im sozialen Zusammenhang jedoch können die Erfahrungen kumuliert werden und das Bildspektrum insofern über den Horizont direkter sinnlicher Erfahrung erweitert werden. Zudem ist prinzipiell das Vorhandensein oder die Entstehung kollektiver Bilder eine Voraussetzung für Kommunikation und soziale Integration, so daß abweichende Bildvorstellungen zu Faktoren der sozialen Desintegration werden können.52 Kollektivbilder lassen sich, wie
Bilder im allgemeinen, typisieren, wobei Siegfried Quandt zwischen Expertenbildern in Politik, Wirtschaft und Kultur, Bildern von Massenmedien und Volksvorstellungen unterscheidet.53 Die Einordnung von Medienbildern als reinen Kollektivbildern ist jedoch fragwürdig, da, wie zu zeigen sein wird, individuelle Einflüsse des Journalisten, der Medienorganisation oder gesellschaftlicher Partikularkräfte auf die Medien einwirken. Allerdings existieren kollektivistische Einflüsse, etwa bei der Vereinheitlichung von Medienbildern in bestimmten Krisenund Konfliktsituationen.
49 Marten, Das Deutschlandbild, S. 17.
50 Leon Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, Hrsg. von Martin Irle und Volker Möntmann,
Bern u.a. 1978.
51 Ruf, Der Einfluß, S. 22.
52 Marten, Das Deutschlandbild, S. 26-28; Pütz, Wolfgang, Das Italienbild in der deutschen Presse.
Eine Untersuchung ausgewählter Tageszeitungen, München 1993, S. 39.
53 Siegfried Quandt, Zur Wahrnehmung der Deutschen im Ausland. Images als Produkt und Faktor der
Geschichte, in: Völker und Nationen im Spiegel der Medien, Bonn 1989, S. 37.
37
Die genannten Problembereiche der Bildproduktion beziehen sich auf die Frage der
kognitiven Realitätsaneignung und -verarbeitung. Bildern werden neben der kognitiven in der Regel auch eine affektive (emotional-wertende) und eine konative (handlungsorientierte) Dimension zugeschrieben. Dabei wird zumeist davon ausgegangen,
daß sich die Bildkomponenten – vor allem der Übergang zwischen Kognition und
Affektion – weder analytisch noch experimentell deutlich unterscheiden lassen.54
Hinsichtlich der Beurteilung der Bildproduktion im Kontext der sozialen Wahrnehmung lassen sich in der Sozialpsychologie zwei Meta-Paradigmen unterscheiden.
Eine Reihe von Autoren hat darauf hingewiesen, daß die Vereinfachungs- und
Schematisierungsvorgänge der Wahrnehmung grundsätzlich keine pathologischen
Erscheinungen sind, sondern notwendige Orientierungsleistungen darstellen.55 Änne
Ostermann ordnet diese Positionen unter die Rubrik der „Gleichheitshypothese“,
wonach es sich bei den genannten Prozessen um reguläre, allgemein-menschliche
Vorgänge handelt. Die Gegenposition subsumiert Ostermann unter der „Ausnahmehypothese“, wobei die Vereinfachungen von Umweltinformation als wahrnehmungspathologisch betrachtet und die gesellschaftliche Deformation der Realitätsverarbeitung betont wird.56
Es scheint sinnvoll, den beiden Bild-Paradigmen ein drittes hinzuzufügen, das
den Bildwandel konzeptionalisiert. Als „Entwicklungshypothese“ könnte eine Position bezeichnet werden, in der zwischen der Notwendigkeit der Orientierungsleistung
vereinfachender, schematisierter und kollektivierter Bilder im allgemeinen und der
Wandelbarkeit jedes einzelnen Bildes unterschieden wird. Eine gezielte, aus den
politischen, sozialen oder sonstigen normativen Ansätzen abgeleitete Differenzierung einzelner Bildbereiche ist ohne den Verlust der primären Orientierungsfunktion
des Bildkomplexes insgesamt möglich.57 Zu den wichtigsten Bedingungen des Bild54 Ruf, Der Einfluß, S. 23. Für eine Medienanalyse, die sich auf die Untersuchung der Darstellungsprozesse in den Medien selbst konzentriert, statt durch einen Vergleich mit sogenannten ExtraMedien-Daten (Meinungs-umfragen usw.) das Affekt- und Handlungspotential von Medienbildern
zu erforschen, spielt die Dreiteilung nur eine untergeordnete Rolle. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, daß Bilder handlungsleitend sein können, dies jedoch nicht müssen. Der BildHandlungs-Bezug läßt sich gemäß Robert K. Merton zu vier Charaktertypologien verdichten. Er unterscheidet a) den vorurteilsfreien Nichtdiskriminierer (all-weather liberal), b) den vorurteilsfreien
Diskriminierer (fair-weather liberal), c) den vorurteilsbehafteten Nichtdiskriminierer (fair-weather
illiberal) und d) den vorurteilsbehafteten Diskriminierer (all-weather illiberal). Robert K. Merton,
Discrimination and the American Creed, in: Robert M. MacIver (Hrsg.), Discrimination and National Welfare, New York 1949, S. 99-126.
55 Vgl. u.a. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der
industriellen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1957, S. 48 f.; Rheinhold Bergler/Bernd Six,
Stereotype und Vorurteile, in: K. Gottschaldt/Ph. Lersch/F. Sander/H. Thomae (Hrsg.), Handbuch
der Psychologie, Bd. 7: C.F. Graumann (Hrsg.), Sozialpsychologie, Göttingen 1972, S. 1371-1432;
H.C. Duijker/N.H. Frijda, National Character and National Stereotypes, Amsterdam 1960, S. 125.
56 Änne Ostermann, Zu Analyse außenpolitisch relevanter Feindbilder in der Bundesrepublik 19491971, Bd. 2: Das Freund-Feind-Schema als stereotypes Perzeptionsmuster internationaler Politik.
Eine inhaltsanalytische Untersuchung von Schulgeschichtsbüchern: Zum Problem stereotyper Muster in der Darstellung von Geschichte und Politik, Frankfurt 1977, S. 121 ff.
57 Hans J. Kleinsteuber, Stereotype, Images und Vorurteile. Bilder und Feindbilder in den Köpfen der
Menschen, in: Wissenschaft und Fortschritt 42 (1992) 2, S. 53.
38
wandels zählen: a) Es muß ein differenziertes Informations- und Bildungsangebot
zur Verfügung gestellt werden, das die empirisch nachgewiesene Korrelation zwischen Informations- und Bildarmut (je geringer die formale Bildung, um so größer
die Vorurteile) berücksichtigt;58 b) Wandel ist um so leichter zu realisieren je früher
in der individuellen Sozialisation eine entsprechende Entwicklung eingeleitet wird,
da sich Bilder nach den Regeln der kognitiven Dissonanzlehre im Lauf der Zeit verfestigen können;59 c) Bildwandel ist nicht allein das Resultat von Aufklärung oder
Erziehung, sondern Wandlungsfähigkeit ist unter anderem eine Funktion der individuellen oder, im Fall von Kollektivbildern, der soziopolitischen Interessenlage. Die
Revision einmal verfestigter Bilder und Bildstrukturen ist in der Regel nur dann
vielversprechend, wenn eine positive Übereinstimmung mit der Motivationsstruktur
(affektive Ebene) des Bildträgers besteht.60
Der Bildbegriff ist sowohl ein terminus technicus der Sozialpsychologie in der
oben dargelegten Weise als auch ein Oberbegriff für eine Reihe anderer, teilkongruenter Konstruktionen, darunter „Stereotyp“, „Feindbild“ und „Vorurteil“. Die Entstehungsgeschichte der Begriffe in unterschiedlichen, in die Sozialpsychologie hineinwirkenden Fachdisziplinen von der Kommunikationswissenschaft61 bis zur Werbepsychologie hat dazu geführt, daß zwischen den Begriffen keine definitorisch klare
und konsensuale Abgrenzung besteht.62
Im folgenden wird der Stereotypenbegriff als eine Teilmenge des Bildbegriffs betrachtet, der die Aspekte der Einflusses kognitiver Schemata (Bild-StrukturProblematik) sowie die Kollektivität (Individuum-Kollektiv-Problematik) von Bildern hervorhebt. Stereotype sind wie Bilder insgesamt Produkte der kognitiven Realitätsumformung, die das Übergewicht des Bildsystems gegenüber dem Einzelbild
ausdrücken, oder anders formuliert, bei dem die Wahrnehmung das Resultat vorangegangener Wahrnehmungen und etablierter Bildstrukturen ist. Walter Lippmann
beschreibt diesen Vorgang als Grundregel der Perzeption: „For the most part we do
not first see, and then define, we define first and then see.“63 Die Unterscheidung
zwischen „Bild“ und „Stereotyp“ besteht in der Schwerpunktverlagerung des Bedeutungsinhalts von der Bild-Realitäts- zur Bild-Struktur-Problematik. Hinzu kommt,
wie bei einigen Autoren so auch im vorliegenden Fall, eine Verschiebung zum Kollektivbild, wobei ein Bild individuelle wie kollektive Einflüsse beinhaltet, Stereotype
58 John Harding/Bernard Kutner/Harold Proshansky/Isidor Chein, Prejudice and Ethnic Relations, in:
Gardner Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Bd. 2: Special Fields and Applications,
Reading/London 1954, S. 1046 f.
59 Ebenda, S. 1034 ff.
60 Vgl. die Darstellung zu Rosecrance in Kap. 3.2.4.4.1.
61 Der Stereotypenbegriff wurde von Walter Lippmann eingeführt und war eine drucktechnische
Metapher. Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1949 (Orig. 1922), S. 79 ff; vgl. a. Peter R.
Hofstätter, Die Psychologie der öffentlichen Meinung, Wien 1949.
62 Diese Tatsache ist von einer Reihe von Autoren moniert worden; vgl. a. Susanne von Bassewitz,
Stereotype und Massenmedien. Zum Deutschlandbild in französischen Tageszeitungen, Wiesbaden
1990, S. 22.
63 Lippmann, Public Opinion, S. 81.
39
hingegen immer Kollektivbilder sind.64 Wie zu zeigen sein wird, wäre es insofern
sinnvoller statt von „Nationenbildern“ von „Nationenstereotypen“ zu sprechen, da in
diesem Bereich durch geringe Eigenerfahrung und die Wirkung der geographischen
Distanz die Bedeutung sekundärer gesellschaftlicher Vermittlungsinstanzen (wie der
Massenmedien) nachhaltig ist, was wiederum zur Kollektivierung von Bildvorgängen beiträgt.65
Als eine Sonderform und sinnvolle theoretische Ergänzung des Bildbegriffs kann
das Feindbild betrachtet werden. Der Schwerpunkt des Feindbildbegriffs liegt, anders als beim Stereotyp, im Bereich der Bild-Realitäts-Problematik. Sieht man von
der zusätzlichen besonderen Verankerung des Begriffs in der konativen Dimension
ab (Feindbilder als Motiv für perzipierte und antizipierte Handlungen des Wahrnehmenden wie des Wahrgenommenen; das Feindbild geht von einem feindlichen Handlungspotential und von feindlichen Handlungsabsichten aus und legt damit eigene
Handlungskonsequenzen näher als jede andere Bildgattung), so steht weniger die
Frage nach der Schematisierung und Gemeinschaftlichkeit der Wahrnehmung als
vielmehr die Frage der authentischen, oder präziser: intersubjektiv überprüfbaren
(vgl. Kap. 2) Realitätsabbildung im Vordergrund.
Was die Einschätzung des Verhältnisses Bild-Realität betrifft, bezeichnen Hans
Nicklas und Änne Ostermann das Feindbild als die inadäquate Hervorhebung des
Aspekts der Feindschaft.66 Ostermann hat darauf hingewiesen, daß die Inadäquanz
dabei nicht zwangsläufig bedeuten muß, daß der Feind real nicht existent ist, da
Feindbilder Bilder realer wie imaginärer Feinde sein können. Ostermann ordnet das
Verhältnis Bild-Realität daher auf einem Kontinuum zwischen 0 und 100 an, wobei 0
das Feindbild eines Paranoikers, 100 hingegen eine intersubjektiv bestätigte Bedrohungswahrnehmung erkennen läßt: „Der gängige Feindbildbegriff, der eine nicht
64 von Bassewitz, Stereotype, S. 6 f.
65 Ähnlich wie das Stereotyp ist das Vorurteil ein Urteil a priori, das einer individuellen Tatsachenüberprüfung nicht standhält. Das Vorurteil wird häufig, wenn in der Literatur auch nicht durchgängig, als affektiv-wertendes Pendant zum kognitiven Bild oder Stereotyp bezeichnet. Dabei wird
überwiegend davon ausgegangen, daß zwar die Vereinfachungen und Verzerrungen von Bildern
und Stereotypen prinzipiell unvermeidlich sind, daß jedoch die latente Wahrnehmungsverweigerung, die mit dem Vorurteil einhergeht, sich einem möglichen und eventuell gewünschten Bildwandel irrational-affektiv widersetzt. Die Abgrenzung zwischen Bild/Stereotyp und Vorurteil ist insofern definitorisch nicht stringent, als auch Bildern und Stereotypen in der Regel nicht nur eine kongnitive, sondern auch eine affektiv-wertende Dimension zugeschrieben wird, so daß das Vorurteil
als Begriff für die affektiv-emotionale Dimension von Bildern und Stereotypen verwendet werden
kann. Da dies überflüssig erscheinen muß und andererseits, wie oben gezeigt, die Frage des Bildwandels ohne ein Verständnis für die Mehrdimensionalität des Bildbegriffs – kognitiv, affektiv, konativ – nicht erreicht werden kann, so daß eine Herausnahme nicht-kognitiver Bestandteile aus der
Definition von Bild/Stereotyp nicht sinnvoll erscheint, stellt sich der Umgang mit dem Vorurteilsbegriff aus der Perspektive der sozialpsychologischen Bildtheorie als ein definitorisches Abgrenzungsproblem dar.
66 Hans Nicklas/Änne Ostermann, Die Rolle von Images in der Politik. Die Ideologie und ihre Bedeutung für die Imagebildung am Beispiel des Ost-West-Konflikts, in: Völker und Nationen im Spiegel
der Medien, Bonn 1989, S. 27.
40
realitätsangemessene Perzeption meint, wäre dann ein engerer Feindbildbegriff, der
nur die eine Seite des Kontinuums erfaßt.“67
Nationen, Völker, Kulturen und Religionen entstehen als Resultat von Bildkonstruktionsvorgängen: „A nation is some complex of the images of the persons who
contemplate it, and as there are many different persons, so there are many different
images.“68 Kollektive Selbstbilder von Nationen, also Auto-Nationenstereotype,
unterliegen in der Regel einem starken kollektiven Konsens- und Vereinheitlichungsdruck. Sie sind, darauf hat Kenneth E. Boulding hingewiesen, im Kern Traditionsbilder (folk images), die zumeist über die Primärgruppe vermittelt werden, die
sich jedoch auch in der Wechselbeziehung zwischen politischen Eliten und der politischen Kultur einer Gesellschaft entwickeln können. Auto-Nationenstereotype sind
in der Regel eng mit der Frage politischer Legitimität verbunden, wobei Eliten- und
Massenbilder nicht zu weit voneinander abweichen dürfen, da sonst ein Legitimationsverlust der Herrschaft droht.69
Neben den nationalen (kulturellen, religiösen usw.) Selbstbildern existieren entsprechende Fremdbilder oder Hetero-Stereotype.70 Bildkonstruktionsvorgänge unterliegen im internationalen Kontext dem Sonderproblem einer weitgehenden Trennung
der Nah- und Fernwelt des Perzipienten. Während Bilder der gesellschaftlichen
Nahwelt durch eine Synthese aus Primär-, Sekundärsozialisation und direkter Erfah67 Ostermann, Zur Analyse, S. 100. Problematisch bleibt auch bei Ostermann, daß „Realitätsinadäquanz“, wie die Autorin selbst bemerkt, nicht nur die Folge von Imagination (Mißinterpretation im
Sinne der Feindschaft), sondern auch eine von Realitätsvereinfachung (unvollständige Wahrnehmung des Gegners, der ausschließlich in seinen negativen Eigenschaften wahrgenommen wird;
Schwarz-Weiß-Zeichnung) sein kann. Dies bedeutet zugleich, daß auch die Wahrnehmung real existierender Feindschaft insoweit realitätsinadäquat ist, als sie sich allein oder vornehmlich auf die
Feindlichkeit als Wesenszug des anderen kapriziert. Selbst der Feind kann freundschaftliche Beziehungen zu anderen pflegen, und er kann über ein Potential zum Einstellungswandel verfügen. Da
dies nichts anderes bedeutet, als daß Feindbilder tatsächlich immer mehr oder weniger realitätsinadäquat sind, ist auch Ostermanns Kontinuummodell unvollständig, denn die verschiedenen Typen
des Feindbildes müßten unterhalb des 100-Punktes angesiedelt werden, während der 100-Punkt
selbst eine komplexe Bildstruktur jenseits von Feindbildern markiert. Daniel Freis Feindbildtypologie beispielsweise beschränkt sich daher auch nicht auf die Frage des „richtig“ oder „falsch“ der
Feindwahrnehmung und konzentriert sich vielmehr auf eine genaue Beschreibung der Realitätsannahmen im Rahmen des Feindbildes, etwa auf Nullsummen-Denken, die Vorstellung vom „Ausnahmecharakter gegnerischer positiver Handlungen“ oder „Zweifel an Reziprozität“ (Entgegenkommen des Gegners). Daniel Frei, Feindbilder und Abrüstung: Die gegenseitige Einschätzung der
UdSSR und der USA. Eine Studie des Instituts der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung
(UNIDIR), München 1985; ders., Wie Feindbilder entstehen, in: Günther Wagenlehner (Hrsg.),
Feindbild. Geschichte – Dokumentation – Problematik, Frankfurt 1989, S. 222-226.
68 Kenneth E. Boulding, National Images and International Systems, in: James N. Rosenau (Hrsg.),
International Politics and Foreign Policy. A Reader in Research and Theory, New York/London
1969, S. 423.
69 Ebenda, S. 424.
70 Zur Einführung in die Theoriediskussion über Nationenbilder vgl. Marten, Das Deutschlandbild,
S. 9-118; von Bassewitz, Stereotype, S. 3-50; Rosario Ragusa, Der Medien-Stiefel. Italienberichterstattung in der deutschen Presse, Frankfurt/Bern 1981, S. 9 ff.; Michael Rehs, Nationale Vorurteile
– ein Problem internationaler Verständigung, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 23 (1973) 3, S. 3-9;
Pütz, Das Italienbild, S. 46-49; Völker und Nationen im Spiegel der Medien, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1989.
41
rung entstehen, fehlt bei der Verarbeitung von Informationen über andere Nationen
oder Kulturen in der Regel direkte Erfahrung und die Primärgruppe ist weitgehend
auf die soziale Qualifikation in der Nahwelt ausgerichtet, so daß die Rolle der sekundären Sozialisationsinstanzen von der Schule bis zu den Massenmedien wächst.71
Das Problem geopolitischer und -kultureller Distanz ist damit zugleich eines der
sekundären Realitätsvermittlung durch Medien.
Mit den Entstehungsbedingungen von Auto- und Hetero-Stereotypen von Nationen, Völkern, Kulturen oder Religionen hat sich eine Reihe von theoretischen Ansätzen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen beschäftigt. Die Ethnozentrismustheorie betont das ideologische Abgrenzungsbedürfnis sozialer Gruppen;72 die Psychoanalyse bzw. „Ethnopsychoanalyse“ deutet sie zum Teil als „Narzismus der kleinen Differenz“;73 aus Sicht der politikwissenschaftlichen Perzeptionsforschung sind
Nationenbilder das Resultat von individuellen Perzeptionsleistungen und
-fehlleistungen im politischen Entscheidungsprozeß oder Ausdruck von Werteeinflüssen der politischen Handlungsträger (Perzeption/Fehlperzeption);74 sie werden
71 Verschiedene Autoren haben auf die Distanzerfahrung als Sonderproblem der Nationenbildund/oder Medienforschung hingewiesen: Ostermann, Zur Analyse, S. 114; von Bassewitz, Stereotype, S. 23 f.; Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: Hans-Joachim König/Wolfgang Reinhard/Reinhard Wendt (Hrsg.), Der europäische
Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, Berlin
1989, S. 9-42.
72 Locus classicus des Ethnozentrismusansatzes sind die Arbeiten von William Graham Sumner sowie
von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford. William Graham Sumner, Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores and Morals, New York 1906; Daniel J. Levinson, The Study of Ethnocentric Ideology,
in: Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/ Daniel J. Levinson/R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality, New York 1950, S. 150. Zur Ethnozentrismustheorie vgl. a. Robert LeVine/Donald T. Campell, Ethnozentrismus: Theories of Conflict, Ethnic Attitudes and Group Behavior, New York 1972; Roy Preiswerk/Dominique Perrot, Ethnocentrisme et histoire: l’Afrique,
l’Amérique indienne et l’Asie dans les manuels occidentaux, Paris 1975. Zur Entwicklung der
Ethnozentrismusforschung vgl. Jean-Francois Bürki, Der Ethnozentrismus und das Schwarzafrikabild. Eine Begriffsbestimmung, gefolgt von einer Analyse des Schwarzafrikabildes in drei großen
europäischen Tageszeitungen: Neue Zürcher Zeitung, Die Welt, Le Monde, Bern u.a. 1977, S. 5 f.
73 Dieser auf Sigmund Freud zurückreichenden Vorstellung liegt die Einsicht zugrunde, daß Regression zu Religion und Kultur als wichtige Faktoren des Weltbildes dazu beitragen können, daß selbst
kleinen Differenzen größte Bedeutung beigemessen wird, um den kulturdefinierten Narzismus der
eigenen Person oder Gruppe zu befriedigen. James M. Youakim, Psychodynamic Perspectives on
the „Clash of Civilizations,“ in: Mind & Human Interaction 6 (1995) 3, S. 141 f.
74 Robert Jervis’ Arbeiten sowie die gesamte vom Ost-West-Konflikt stimulierte Perzeptionsforschung
ist häufig als Relativierung der sogenannten realistischen Schule der Außenpolitik (Morgenthau
u.a.) verstanden worden, insofern als sie den Einfluß von Perzeptionsvorgängen, kollektiven wie individuellen Bildkonstruktionen als zum Teil höher eingestuft hat als die Wirkung ökonomischer
und politischer Machtressourcen: „A desired image (...) can often be of greater use than a significant increment of military or economic power. An undesired image can involve costs for which almost no amount of the usual kinds of power can compensate and can be a handicap almost impossible to overcome.“ (Robert Jervis, The Logic of Images in international Relations, New
York/Oxford 1989 (Repr. von 1970), S. 6). Jervis definiert das „Bild eines Staates“ (image of a
state) in der internationalen Politik als „beliefs about the other that affect his predictions of how the
other will behave under various circumstances“ (S. 5). Nationenbilder können demnach als das Resultat aller Bilder der Vergangenheit und Gegenwart über einen anderen Staat/eine andere Nation
42
der voluntaristischen Nutzung zum Zweck der Legitimation oder Massenmobilisierung zugeschrieben (Kalkulation/Fehlkalkulation);75 oder sie werden als Grundbedürfnis politischer Systeme betrachtet, die durch externe Abgrenzung ihre Autonomie sichern und Existenzberechtigung demonstrieren.76
Fremdbilder von Nationen, Kulturen, Völkern oder Religionen sind, wie die entsprechenden Selbstbilder, traditionsträchtige Massenbilder.77 Sie zeichnen sich durch
eine ungewöhnliche historische Persistenz aus: „(S)uch systems of beliefs tend to be
relatively stable, in the sense that it requires unusual political, economic, or social
events to modify them on a wide scale.“78 Gleichwohl unterscheidet Franz W. Dröge
zwischen drei historischen Periodizitäten des Nationenbildes: a) kultur-dauernden
Stereotypen (z.B. religiöse Vorstellungen); b) kultur-epochalen Stereotypen (z.B.
75
76
77
78
zur Antizipationsgrundlage zukünftiger Handlungen werden. Dadurch daß auf diese Art auch Stereotype zum Tragen kommen, die vom politischen Akteur unzureichend reflektiert und durch alternative Wahrnehmungskonzepte ergänzt werden, kommt es nach Jervis zu Fehlperzeptionen
(misperceptions) im politischen Entscheidungsprozeß (Robert Jervis, Perception and Misperception
in International Politics, Princeton 1976; vgl. a. Michael MccGwire, The Genesis of Soviet Threat
Perception, Hrsg. von The Brookings Institution, Washington, D.C. 1987, S. 1-62; Richard B. Parker, The Politics of Miscalculation in the Middle East, Bloomington/Indianapolis 1993 sowie Kai
Hafez, Rezension zu Richard B. Parker, The Politics of Miscalculation in the Middle East,
Bloomington/Indianapolis 1993, in: Orient 36 (1995) 2, S. 331-332). Zu einem ähnlichen Ergebnis
kommt auch Ole R. Holsti, in dessen Modell sich allerdings Nationenbilder mit den Wertvorstellungen des politischen Akteurs (images of what ought to be) zu einem einheitlichen handlungsleitenden „Glaubenssystem“ (belief system) verbinden, das seinerseits in Wechselbeziehung mit realen Interessen und Motiven den Entscheidungsprozeß mitbestimmt. Ole R. Holsti, The Belief System and
National Images: a Case Study, in: The Journal of Conflict Resolution 6/1962, S. 244-252.
Im Unterschied zu Jervis geht etwa Jochen Hippler von einem Modell aus, das zwar Fehlperzeptionen der Eliten nicht ausschließt, vor allem jedoch den kalkulierten Einsatz eines Feindbildes zum
Zweck der politischen Legitimation und Massenmobilisierung betont. Jochen Hippler, Islam und
westliche Außenpolitik, in: ders./Andrea Lueg (Hrsg.), Feindbild Islam, Hamburg 1993, S. 180 ff.
Bei Jean-Christophe Rufin dienen Feindbilder der internationalen Beziehungen als äußeres Korrelat
der innergesellschaftlichen Konsensbildung, der Annäherung institutioneller Subsysteme und Aufrechterhaltung der politischen Handlungsfähigkeit der pluralistischen Gesellschaft. Dabei sind aus
der Sicht Rufins Auto-Stereotype der Demokratie als einer „friedlichen“ Politikform, die vor allem
auf Grund des relativen Mangels an innerer Repression entstehen, im Kontext des internationalen
Systems zu relativieren. Rufin spricht statt dessen von einer paradoxalen „Diktatur des Liberalismus“, wobei jeder Grad an innerer Freiheit mit globaler Repression – zumindest auf der Wahrnehmungsebene – verbunden ist (Jean-Christophe Rufin, Die Diktatur des Liberalismus, Deutsch von
Hainer Kober, Reinbek bei Hamburg 1994 (frz. Orig. 1994), S. 11-22). Bereits Kenneth E. Boulding hat darauf hingewiesen, daß die idealtypische Unterscheidung zwischen dem autoritären System als Form der hierarchischen Bildmanipulation (Agitation, Propaganda) und dem demokratischen System als System der offenen, pluralistischen Bildproduktion, in dem eine stereotype Verfestigung von kollektiven Bildern und Feindbildern durch pluralistische Mechanismen der Bildoffenheit und des permanenten Bildwandels verhindert wird, relativiert werden muß. Kenneth E. Boulding, The Image, S. 97-114.
Kenneth E. Boulding: „(T)he national image is essentially a historical image.“ Boulding, National
Images, S. 424.
Harding/Kutner/Proshansky/Chein, Prejudice, S. 1024.
43
Vorstellungen über „die Juden“) und c) zeitgeschichtlich determinierten Stereotypen
(z.B. Vorstellungen über „die Franzosen“).79
Wie die Sozialpsychologie hat auch das Wissen über Nationen-, Völker-, Kulturund Religionsbilder erweitert. Die komparative Stärke kulturwissenschaftlicher Ansätze besteht darin, daß sie Erkenntnisse über menschliche Wahrnehmungsprozesse
mit Aussagen über das Erkenntnisobjekt in Verbindung bringen kann und derart vor
allem Fragen im Bereich der Bild-Realitäts-Problematik in den internationalen Beziehungen zu vertiefen geeignet ist.80 In der Kulturanthropologie ist in den neunziger
Jahren, nach dem Ende des Ost-West- und ideologischen KommunismusKapitalismus-Konflikts, eine wachsende „Kulturalisierung und Ethnisierung sozialer,
ökonomischer und politischer Zusammenhänge“ registriert worden.81 Für diese These spricht die zunehmende Popularität ethnischer Identitätsmuster in zahlreichen
Staaten (ehemaliges Jugoslawien, Zentralasien, Kaukasus/Transkaukasus, Québec
usw.) ebenso wie das Vordringen des essentialistisch-differentialistischen Kulturbegriffs in die Politikwissenschaft, die etwa in Form der These Samuel P. Huntingtons
vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ (clash of civilizations) zu den meistdiskutierten Paradigmen der neunziger Jahre gehört hat,82 während sie in früheren Jahrzehnten überwiegend in der Kultur- und Geschichtswissenschaft angesiedelt war.
79 Franz W. Dröge, Publizistik und Vorurteil, Münster 1967, S. 151. Manfred Koch-Hillebrecht hat
vier „Gesetze“ der Konstruktion von Nationen-, Kultur- und sonstigen Großgruppenbildern ermittelt: a) Gesetz der Nachbarschaft: durch Grenzkriege und -konflikte entstehende Hetero-Stereotype
(z.B. Deutschland und seine Nachbarn Niederlande, Polen, Tschechien); b) Nord-Süd-Gesetz: Sowohl innerhalb als auch zwischen Staaten und Großräumen haben sich gemäß Koch-Hillebrecht seit
dem Altertum Vorstellungen der Nüchternheit, Kühlheit, Steifheit und Zurückhaltung im Norden
und Lebhaftigkeit, Leidenschaftlichkeit, Triebhaftigkeit und Faulheit im Süden entwickelt; c) WestOst-Gesetz: Vorstellungen einer größeren Kultiviertheit der West- und größeren Einfachheit der
Ostvölker (v.a. in Europa); d) Gesetz der Ähnlichkeit: Tendenz zu positiveren Hetero-Stereotypen
dort, wo historische Verwandtschaft oder Ähnlichkeit vermutet wird (Manfred Koch-Hillebrecht,
Das Deutschenbild. Gegenwart, Geschichte, Psychologie, München 1977, S. 235-242). Zahlreiche
Beispiele für das Versagen der Gesetze ließen sich entweder als Gegenbeispiele anführen, sie können jedoch auch, was sinnvoller wäre, als zeitgeschichtliche Schwankungen im Sinne Dröges verstanden werden. Um nur ein Gegenbeispiel gegen das Gesetz der Nachbarschaft anzuführen: Japanische Studien haben gezeigt, daß in Japan die als kulturell sehr entfernt geltenden USA als freundliche Nation, das kulturell verwandte China hingegen als feindliche Nation eingestuft wird, obwohl
zu beiden ein Nachbarschaftsverhältnis mit jüngerer Kriegserfahrung besteht (vgl. José Miguel Salazar/Gerardo Marin, National Stereotypes as a Function of Conflict and Territorial Proximity: a
Test of the Mirror Image Hypothesis, in: The Journal of Social Psychology 101/1977, S. 15 f.). Das
Bild der USA als normatives Modernisierungsvorbild des 20. Jahrhunderts ist in der Lage gewesen,
gleich mehrere Gesetze der Nationenbildkonstruktion zu relativieren und aufzuzeigen, daß eine Gesetzesnormierung in Wahrheit einer flexiblen Theorieformulierung weichen muß.
80 Vgl. Ina-Maria Greverus/Konrad Köstlin/Heinz Schilling, Kulturkontakt – Kulturkonflikt: Zur
Erfahrung des Fremden. 26. Deutscher Volkskundekongreß in Frankfurt vom 28. September bis 2.
Oktober 1987, 2 Bde., Frankfurt 1988.
81 Dieter Haller, Die Wiederkehr des biologisch-kulturalistischen Denkens, in: epdEntwicklungspolitik 14/1996, S. d10.
82 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72 (1993) 3, S. 22-49; ders.,
Der Kampf der Kulturen/The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996. Zur Diskussion der These Huntingtons vgl. Zusammenprall der
Kulturen?, Sonderheft der Zeitschrift Die Brücke 88/März-April 1996/2; Christoph Butterwegge,
44
Die Bild-Realitäts-Problematik sowie die Sonderprobleme der Distanzerfahrung und
der Nationen- und Kulturbilder werden in der Kulturanthropologie unter dem Begriff
der „Essentialisierung“ gefaßt. Essentialisierung beschreibt den Vorgang, bei dem
Kulturen (oder Zivilisationen) als geschlossene Sinnsysteme verstanden werden,
denen definierbare Kerneigenschaften (Essenzen) zugeordnet werden. Von essentialistischen Ansatz unterscheidet sich der synkretistische Ansatz, wonach die unter
anderem von Irenäus Eibl-Eibesfeldt konzedierte Reinheit von Kulturen real nicht
existent ist.83 Das Konzept des Kultursynkretismus ließe sich etwa durch folgende
Grundannahmen kennzeichnen: a) Nationen, Völker, Kulturen und Religionen sind
Konzepte, die historischen Wandlungsprozessen unterliegen, sie sind dynamisch,
nicht statisch; b) es sind Oberbegriffe für eine Vielzahl heteromorpher Subsysteme;
c) unterschiedliche Systeme hoher Ordnung (z.B. Zivilisation als Oberbegriff für
verschiedene kulturelle Subsysteme) besitzen im Verhältnis zueinander Zonen größerer und geringerer Kongruenz.84
3.1.2 Die Grenzen der Stereotypenforschung und die basalen
Einheiten der Kommunikation
Hans J. Kleinsteuber hat darauf hingewiesen, daß die Stereotypenbildung unter globalen Distanzbedingungen besonders ausgeprägt ist, der Einfluß von Sekundärvermittlern wächst und daher Stereotypenforschung in vielen Fällen zugleich Medienforschung ist.85 Tatsächlich wird die Untersuchung des Mediators „Massenmedien“
im Prozeß der Bildaneignung, -verfestigung oder des Bildwandels zu einem eigenen
turen?, Sonderheft der Zeitschrift Die Brücke 88/März-April 1996/2; Christoph Butterwegge,
Kampf oder Dialog der Kulturen? Samuel P. Huntingtons These vom „Zusammenprall der Zivilisationen, in: Zeitschrift für Migration und soziale Arbeit 2/1996, S. 44-47; Kai Hafez, Der Islam und
der Westen – Kampf der Zivilisationen?, in: ders. (Hrsg.), Der Islam und der Westen. Anstiftung
zum Dialog, Frankfurt 1997, S. 15-27.
83 Haller, Die Wiederkehr, S. d 10.
84 Nach James G. Carrier besteht die Wirkung der Essentialisierung in der Konstruktion von nationalen, kulturellen oder religiösen Differenzkriterien (James G. Carrier, Occidentalism: the World Turned Upside-Down, in: American Ethnologist 19 (1992) 2, S. 203). Ähnlich den Vertretern der
„Gleichheitshypothese“ in der sozialpsychologischen Stereotypenforschung weist auch James G.
Carrier darauf hin, daß Essentialisierungsvorgänge insofern nicht grundsätzlich zu vermeiden sind,
als sie eine Form der strukturellen Wahrnehmungs- und Verständniserleichterung darstellen und die
Realität nach bestimmten Merkmalen gruppieren. Die vollständige Ersetzung nationaler, kultureller
Differenzbegriffe durch theoretische Überbaukonstruktionen wie „Weltsystem“, „Globalisierung“
oder „Das Eigene und das Andere“ stellt aus Carriers Sicht keine hinreichende Alternative zur Essentialisierung dar, da die Verwendung von Kategorien der Sozialstruktur wie „Klasse“ gezeigt haben, daß hier neue Zwänge der universellen Vereinheitlichung entstehen können, die regionalen oder kulturellen Eigenarten nicht gerecht werden. Vgl. exepemplarisch die Auseinandersetzung mit
dem marxistischen Klassenbegriff in: Kai Hafez, Orientwissenschaft in der DDR. Zwischen Dogma
und Anpassung, 1969-1989, Hamburg 1995, S. 163-180.
85 Kleinsteuber, Stereotype, Images und Vorurteile, S. 51. Vgl. a. Hans J. Kleinsteuber, Stereotype,
Images und Vorurteile: Die Bilder in den Köpfen der Menschen, in: Günter Trautmann (Hrsg.), Die
Häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, Darmstadt
1991, S. 60-68.
45
Forschungsgebiet. Zugleich ist die Erforschung von Darstellungsprozessen in Massenmedien nicht mit soziopsychologischer Stereotypenforschung gleichzusetzen.
Medienberichterstattung beinhaltet neben Stereotypen und Feindbildern auch andere,
zum Teil komplexere und prozeßorientiertere Bildstrukturen, die mit dem Stereotypenbegriff nicht erfaßbar sind. Die Untersuchung der Auslandsberichterstattung der
Medien muß daher, trotz ihrer nachhaltigen Verankerung in der Stereotypenforschung, zur Offenheit des Bildbegriffs zurückkehren und ihr Arsenal an basalen
analytischen Begriffen der Kommunikation und Perzeption erweitern. Andernfalls
besteht die Gefahr, daß die Theorie der Auslandsberichterstattung sich zu einer sich
selbst erfüllenden Prophezeiung (self-fulfilling prophecy) entwickelt, in der das
Nicht-Stereotype, da es nicht untersucht wird, keine Beachtung findet. Das zentrale
Untersuchungskonzept würde auf diese Weise selbst zu einem stereotypen Schema,
denn auch die Wissenschaft unterliegt prinzipiell den gleichen Regeln der Bildkonstruktion – etwa verwendet sie apriorische Postulate zur Erklärung empirischer Befunde – wenngleich ihre Aufgabe idealiter darin besteht, sachliche Widersprüche
nicht zu nivellieren, sondern sie aufzuzeigen und zu ergründen.
Da der Begriff des „Nationenbildes“ in der angewandten sozialpsychologischen
Forschung überwiegend als Äquivalent zum Nationenstereotyp oder nationalen Vorurteil verwandt wird, d.h. im Sinn der klassischen Stereotypenforschung, eignet er
sich nicht mehr als Oberbegriff zur Erforschung interkultureller und internationaler
Perzeption. Gerhard Prinz hat den Begriff des „Auslandsbildes“ geprägt, und ihn wie
folgt definiert: „Der Begriff des Bildes (image) ist von den in der Einstellungsforschung unter anderen verwendeten Begriffen – Vorurteil, Stereotype und Bild – der
neutralste. (...) ‘Mit ihm bleibt sowohl der Inhalt (kognitiver Aspekt) wie auch die
affektive Ladung (affektiver Aspekt) und die tatsächliche Verhaltensweise (konativer
Aspekt) der anderen Gruppe gegenüber offen.’ So kann etwa ein Auslandsbild richtig sein oder falsch, differenziert oder vage, es kann positiv oder negativ gefärbt sein
und einer feindseligen oder freundlichen Haltung entsprechen. Es kann auch, ja es
wird meist vorurteilsvolle und stereotype Vorstellungen enthalten.“86
Da das „Auslandsbild“ tatsächlich lediglich als teilidentisch mit Stereotypen
(oder Feindbildern) bezeichnet werden kann, müssen andere Bildelemente durch
andere basale Analyseeinheiten der Perzeption und Kommunikation beschrieben
werden, wobei im vorliegenden Theorieentwurf neben Bild, Stereotyp oder Feindbild folgende Kategorien verwandt werden:
• frame
• Thema
• Diskurs
86 Gerhard Prinz, Heterostereotype durch Massenkommunikation, in: Publizistik 15 (1970) 3, S. 201.
Der Begriff des „Auslandsbildes“ ist von verschiedenen Autoren, unter anderem von Prinz, verwendet worden, allerdings ohne erkennbaren theoretischen Bezug. Vgl. a. von Bassewitz, Stereotype,
S. 25-27.
46
Ein frame (Rahmen, im folgenden: Frame) ist die kleinste Texteinheit, die ein Ereignis/eine Handlung erklärt, es/sie von anderen Deutungsmöglichkeiten abgrenzt
(Rahmen-Setzung) und dem Ereignis dadurch einen spezifischen Sinn verleiht.
Robert M. Entman: „To frame is to select some aspects of a perceived reality and
make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a
particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and/or
treatment recommendation (Hervorheb. d. Autors) for the item described.“87 Die
Abgrenzung zum Stereotypenbegriff ist schwierig und wird in der Literatur entweder
gar nicht oder nur sehr uneinheitlich geleistet.88 Bei Stereotypen und Frames handelt
es sich nach Erving Goffman um Schemata, die sozial geteilt werden und die Wahrnehmung von Ereignissen organisieren.89 Der Begriff des Frames grenzt sich allerdings in der Forschungspraxis vom Stereotypenbegriff in der Regel dadurch ab, daß
er nicht für Subjekt-Perzeptionen oder attributive Zuschreibungen („der Schwarze“,
„der brutale Russe“, „der ordentliche Deutsche“ usw.), sondern für Handlungsabläufe verwendet wird.90 Frames sind also Schemata, mit deren Hilfe die Ursachen, der
Verlauf und die Folgen von Ereignissen interpretiert werden. Mit dem FramingKonzept lassen sich daher nicht allein einige Grundcharakteristika ermitteln, die
anderen Nationen, Völkern usw. in Medientexten zugeschrieben werden, sondern es
läßt sich rekonstruieren, wie Handlungsabläufe der internationalen Politik oder anderer Bereiche der Auslandsberichterstattung medial konstruiert werden. Wenn Frames
ein hohes Maß an Organisiertheit aufweisen, spricht man von „Ideologien“.91
Frames lassen sich mehrdimensional beschreiben. Zhongdang Pan und Gerald M.
Kosicki unterscheiden hinsichtlich der narrativen Funktion im Gesamttext syntaktische, dramaturgische (Argumentationsaufbau) und rhetorische (z.B. Metaphern)
Frames.92 Frames können sich formal zudem als Hypothesen, Fakten, Episoden,
Kontextinformationen oder Zitate niederschlagen.93 Robert Entman nimmt eine funktional-inhaltliche Gliederung vor. Durch Frames werden demnach a) Probleme definiert (define problems), b) ihre Ursachen bestimmt (diagnose causes), c) moralische
87 Robert M. Entman, Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm, in: Journal of
Communication 43 (1993) 4, S. 52.
88 Dhavan V. Shah/David Domke/Daniel B. Wackman, „To Shine One Self Be True“: Values, Framing, and Voter Decision-Making Strategies, in: Communication Research 23 (1996) 5, S. 511.
89 Erving Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York u.a.
1974, S. 10 f.
90 Auch der Zeithorizont von Frames und Stereotypen unterscheidet sich in der Regel insofern, als
Frames weniger zeitunabhängig sind als Stereotype („Für das Massaker auf dem Tienanmen-Platz
muß China international boykottiert werden“ (Frame) im Unterschied zur „gelben Gefahr“ (Stereotyp)). Dennoch gibt es ebenso langlebige Frames wie es kurzfristige Schwankungen im Gefüge von
Nationenstereotypen geben kann, wie Dröges Kategorie der zeitgenössischen Stereotype verdeutlicht hat (Kap. 3.1.1), so daß die Zeitdimension sich nicht zur Abgrenzung von Stereotyp und Frame
eignet.
91 Jürgen Gerhards, Neue Konfliktlinien in der Mobilisierung öffentlicher Meinung. Eine Fallstudie,
Opladen 1993, S. 128. Vgl. a. Kap. 3.2.2.
92 Zhongdang Pan/Gerald M. Kosicki, Framing Analysis: An Approach to News Discourse, in: Political Communication 10/1993, S. 59 ff.
93 Ebenda, S. 61.
47
Wertungen abgegeben (make moral judgments) und d) Problemlösungen vorgegeben
(suggest remedies).94 Zu den zentralen Frames des Kalten Krieges gehörte es, daß
bei internationalen Ereignissen (etwa Kriegen) grundsätzlich kommunistische Einwirkung als Hauptkriegsursache galt, diese als „atheistische“ Aggression moralisch
gedeutet und der gegnerischen Seite amerikanische Hilfe zur Problembeseitigung
angeboten wurde. Framing während des Golfkriegs von 1991 war auf der Ebene der
Problemlösungen (Framing-Kategorie d) durch die Kernbegriffe „Krieg“ und „Sanktionen“ geprägt; Verhandlungen – etwa zwischen Kuwait und Irak – lagen außerhalb
des medialen Framings. Die Erweiterung der Frames durch die Einführung entsprechender neuer Argumente zu einem Zeitpunkt, als die bestehenden Frames bereits
etabliert waren, hätte gemäß Entman leicht dazu führen können, daß entweder das
Publikum Verständigungsschwierigkeiten gehabt und/oder der Kommunikator an
Glaubwürdigkeit verloren hätte.95
Frames sind Kleinstbestandteile von Texten, die sich ihrerseits größeren Einheiten unterordnen: den „Themen“.96 Das Thema (engl. theme oder topic) wird alltagssprachlich als das zentrale und wichtigste Konzept eines Textes erachtet. Themen
können nicht aus den Einzelteilen eines Textes – also etwa aus Stereotypen oder
Frames – gewonnen werden, sondern sie sind semantische Makrostrukturen, die den
Gesamttext oder zumindest Textteile und damit mehrere Mikrostrukturen (wie Frames oder Stereotypen) umfassen.97 Bei sorgfältig gebauten Texten ist zudem eine
Themenhierarchie erkennbar, wobei einzelne Absätze Themenbezüge enthalten, die
dem abstrakteren Thema des Gesamttextes untergeordnet werden. Jedes Unterthema
besteht seinerseits aus Mikrostrukturen wie Frames und Stereotypen. Die Mechanismen zur Themenformierung sind Generalisierung (der erste und der zweite Golfkrieg gehören etwa zum Thema „Regionalkonflikte am Persischen Golf“), Zusammenfassung (die „islamische Revolution in Iran“ faßt die politischen Ereignisse in
Iran in den Jahren 1978-80 zusammen und ist insofern eine thematische Kompilation
94 Entman, Framing: Toward Clarification, S. 52. Vgl. a. Robert M. Entman/Andrew Rojecki, Freezing out the Public: Elite and Media Framing of the U.S. Anti-Nuclear Movement, in: Political
Communication 10/1993, S. 155-173.
95 Entman, Framing: Toward Clarification, S. 55. Gemäß Entman sollte „Objektivität“ im Journalismus weniger darin bestehen, Tatsachen und Meinungen ausgewogen zu präsentieren als vielmehr
„den dominierenden Frame herauszufordern“ (Ebenda, S. 57). Entmans Framing-Konzept zielt damit im Grunde auf die Füllung einer Lücke journalistischer Rollenmodelle, die sich an Informations-, Kritik- oder Advokatismusfunktionen orientieren. Das Informationsmodell konzentriert sich
auf die objektiv-ausgewogene Medienvermittlung bereits eingeführter Frames; die Kritik- und Kontrollfunktion fordert die Kritik der Frames, die von den politischen Machthabern verwendet werden;
das advokative Journalismusmodell verlangt die Protektion der Frames sozialer Minderheiten. Eine
normative Verpflichtung, etablierte Frames zu erweitern und so den öffentlichen Diskurs zu qualifizieren, besteht nur im begrenzten Sinn des – umstrittenen – investigativen Journalismus, womit vor
allem die Aufdeckung politischer Skandale im Sinne der Medien als „vierter Gewalt“ gemeint ist.
Entmans Hinweis jedoch führt zu einer Verlagerung des journalistischen Rollenkonzepts vom Vermittler nicht zum Politiker oder Minderheitenanwalt, sondern zum meinungsführenden Experten.
96 In der Literatur werden Frames und Themen auch als Mikro- und Makropositionen abgegrenzt.
Teun A. van Dijk, News as Discourse, Hillsdale 1988; vgl. a. ders., News Analysis. Case Studies of
International and National News in the Press, Hillsdale 1988.
97 Van Dijk, News as Discourse, S. 31 ff.
48
eines komplexen politischen Handlungsablaufs) und Löschung (Details können ausgelassen werden, wenn sie zur Weiterentwicklung des Themas nicht relevant erscheinen).
Von zentralem Interesse für die Medienanalyse ist, daß sich Frame- und Themenkonstruktionen nicht nur auf einzelne Texte beziehen müssen, sondern intertextual – also in Form von „Diskursen“ – in Erscheinung treten. Ähnlich wie Stereotype,
wenngleich auf komplexere Prozesse und größere Sinnkomplexe bezogen als sie in
der Soziopsychologie üblicherweise untersucht werden, fügen sich Frames und Themen zu öffentlichen Diskursen: ein Ausschnitt dieser Diskurse ist der Mediendiskurs.
Dabei ist zu beobachten, daß sich bestimmte Frames und Themen in stärkerem Maße
in den Medien durchsetzen als andere. Während diese Tatsache bei den Themen
bereits länger bekannt ist, ist das eigentlich Neue und Interessante, daß die scheinbar
(den Themen) untergeordneten Bestandteile, die Frames, eigenständige Konkurrenzkämpfe führen, eigene Behauptungskräfte entwickeln und Karrieren durchleben,98
die für die Analyse der Mediendiskurse ebenso bedeutsam sind wie die Themen.
Während die erfolgreiche Durchsetzung eines Nationenstereotyps in den Medien
primär einer ungerichteten öffentlichen Emotionalisierung dient, deren Handlungsrelevanz unklar bleiben muß, wirkt die Durchsetzung eines handlungs- und prozeßorientierten Frames als master frame, also das Zur-Geltung-Bringen eines spezifischen
Handlungsmoments in bezug auf ein bestimmtes Thema, in weitaus stärkerem Maß
operativ. Ein dominanter Nationenstereotyp mag Aversionen der Mehrheit einer
nationalen (Medien-)Öffentlichkeit gegenüber einer anderen Nation ausdrücken –
diese Aversion bleibt folgenlos, sofern sich kein master frame zu ihrer Umsetzung
finden läßt. Vor allem in akuten Krisen- und Konfliktzeiten ist die Tendenz zur Framing-Vereinheitlichung und -Verengung besonders stark (vgl. Kap. 3.2.4.1.2 und
3.2.4.4.2). Beim Beispiel des Golfkriegs von 1991 war die Tatsache allein, daß sich
das Bild des irakischen Diktators Saddam Hussein als dem „Irren von Bagdad“ an
ältere Bilder des arabisch-islamischen Despoten anlehnte, nicht ausreichend zur
Kriegsmobilisierung. Vielmehr bedurfte es operativer Frames wie dem NaziVergleich, um Verhandlungslösungen als appeasement-Politik grundsätzlich zu
diskreditieren.
Grundsätzlich muß der Zusammenhang zwischen Text und Diskurs derart beschrieben werden, daß mit der Durchsetzungskraft eines Frames in verschiedenen
Medientexten auch die Wahrscheinlichkeit wächst, daß nachfolgend produzierte
Texte sich an die außerhalb des Textes bereits bestehende Diskursstruktur anpassen.
Dabei muß davon ausgegangen werden, daß die Durchsetzung von Frames in Diskursen kein beliebiger Prozeß ist, sondern Diskursformationen zeigen gerade im
Bereich der internationalen Kommunikation Regelmäßigkeiten, die in Anlehnung an
Teun van Dijk99 wie folgt formuliert werden können: a) sprachliche Verständlichkeit: Mediendiskurse sind, mehr als andere Diskurse, beispielsweise Wissenschaftsdiskurse, nationalsprachlich, in der Regel sogar national begrenzt und werden über
98 Wolfsfeld, Media and Political Conflict, S. 41 ff.
99 Van Dijk, News as Discourse, S. 107.
49
Staatsgrenzen hinaus nur in Ausnahmen rezipiert; b) Erfahrungsübereinstimmung:
Durch solche Diskurse entstehen Erfahrungsübereinstimmungen, nationale Diskursmuster und Charakteristika, die mit anderen Diskursen allenfalls teilkongruent sind
und sich historisch zu Diskurskulturen verfestigen können (bestimmte Frames und
Themen werden in Medien und Öffentlichkeit mancher Länder traditionell nachhaltiger aufgegriffen als in anderen); c) soziale Integration: Gemeinsame Diskurserfahrungen fördern – zumindest auf der Inhaltsebene100 – die soziale Integration, denn
Diskurse sind Teile der sozialen Wissensweitergabe im Rahmen des Sozialisationsprozesses.
Die verschiedenen basalen Einheiten der Textanalyse – Stereotyp, Feindbild, Nationenbild/-stereotyp, Frame, Thema, Diskurs – werden in der vorliegenden Theoriematrix unter dem Oberbegriff des „Auslandsbildes“ zusammengefaßt, um auch
terminologisch die Unterscheidung von der soziopsychologischen Nationenbildforschung und dem Begriff des Nationenbildes/-stereotyps zum Ausdruck zu bringen.
Abbildung 3.5 zeigt eine Auswahl der Bestandteile des Auslandsbildes, wobei die
Pyramide (das Dreieck) von oben nach unten den zunehmenden Geltungsbereich der
Analyseeinheiten angibt (z.B. sind Stereotype und Frames Bestandteile von Diskursen, nicht umgekehrt).
Für die weitere Theoriebildung gilt der Satz: Auslandsberichterstattung ist massenmedial erzeugtes und vermitteltes Auslandsbild.
100 Zur Unterscheidung zwischen Inhalts- und Beziehungsebene der Kommunikation vgl. Kap. 3.2.4.5.
50
3.2
Internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse in
Massenmedien
Die Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien kann nicht durch Ableitung aus der Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorie gewonnen werden. Das Vorhandensein bestimmter Auslandsbilder in der Öffentlichkeit sagt nur sehr bedingt etwas über Strukturen, Entstehungsbedingungen und
Wirkungen der spezifischen Auslandsbilder der Massenmedien aus. Die verbreitete
Tendenz, internationale Perzeption und Massenkommunikation als theoretische
Einheit zu behandeln, ist einer der Gründe für die Stagnation in der Forschung, die
seit etwa Mitte der achtziger Jahre – nach dem Abklingen der Debatte über die Neue
Weltinformationsordnung (NWIO) – konzediert worden ist.101 Hinzu kommen Rückstände bei der Präzisierung und Systematisierung der Theorie, die hauptsächlich
durch die Aufteilung der Forschung in zahlreiche Disziplinen und sich getrennt entwickelnde Forschungsbereiche verursacht worden sind.
3.2.1 Die Struktur des Auslandsbildes der Massenmedien
Eines der Hauptprobleme der Theorie der Inhalts- bzw. Textstrukturen der Auslandsberichterstattung ist, daß zwar eine große Zahl empirischer Untersuchungen aus
einer Reihe nationaler Mediensysteme existieren, ohne daß jedoch eine theoretische
Generalisierung erfolgt ist. Der im folgenden entwickelte Strukturkatalog der Auslandsberichterstattung ist nicht erschöpfend, stellt jedoch einen Versuch der Vernetzung bisher isolierter Forschungsdesiderata, insbesondere des MacBride-Berichts
der UNESCO, empirischer Forschungen und der Nachrichtenwerttheorie, dar. Dadurch können paradigmatisch Eckwerte der Strukturtheorie wie auch Problemzonen
der bisherigen Theoretisierungsversuche aufgezeigt werden.
3.2.1.1 Die Nachrichtendefinition als Entwicklungsproblem des globalen Informationsflusses
Im Rahmen der UNESCO wurde an der Wende zu den achtziger Jahren eine Debatte
über eine Neue Internationale Informationsordnung (NIIO) bzw. Neue Weltinformationsordnung (NWIO) oder Neue Weltinformations- und Kommunikationsordnung
(NWICO) geführt. In einer UNESCO-Mediendeklaration von 1978 wurde auf
Betreiben der Entwicklungsländer das Konzept des „free flow of information“ durch
das Konzept des „free and balanced flow of information“102 ersetzt.103 In der Ge101 Jörg Becker, Internationaler Nachrichtenfluß: Eine Stellungnahme zum Aufsatz von Birgit Schenk,
in: Rundfunk und Fernsehen 36 (1988) 1, S. 45-55.
102 Eine 1978 von der UNESCO verabschiedete Deklaration spricht von „free flow and a wider and
better balanced dissemination of information“ (Art. 1; Art. 10). Declaration of Fundamental Principles Concerning the Contribution of the Mass Media to Strengthening Peace and International Un-
51
schichte politischer Doktrinen der Weltorganisationen fand damit eine Verlagerung
vom Recht auf ungehinderte Suche, Empfang und Verbreitung von Informationen
zum Prinzip „ausgewogener“ (balanced) Kommunikation statt, wobei sich die in der
UNESCO organisierten Entwicklungsländer mehrheitlich gegen die Dominanz westlicher Nachrichtenagenturen und Massenmedien im internationalen Informationsund Kommunikationsstrom wandten. Programmatisch konsolidiert wurde das Projekt
der NIIO durch den im Auftrag der UNESCO erstellten sogenannten MacBrideBericht von 1980.104 Während auf politischer Ebene das Projekt einer Neuordnung
der Nord-Süd-Informations- und Kommunikationsbeziehungen durch den Ost-WestKonflikt überlagert wurde,105 erfährt die Debatte über die NIIO in jüngerer Zeit in
der wissenschaftlichen Fachdiskussion ein Revirement.106
Zu den Grundannahmen der Befürworter einer neuen Weltinformationsordnung
gehörte es, daß der internationale Informations- und Kommunikationsfluß nicht
einheitlich ist, sondern unterschiedliche Zonen und Flußrichtungen hoher und geringer Intensität aufweist. Zwischen den westlichen Industrie- und den Entwicklungsländern besteht demnach eine „Einbahnstraße“ oder „Nord-Süd-Ausrichtung“ des
Flusses von „Daten, Botschaften, Medienprogrammen und kulturellen Erzeugnissen“, wobei Informationen primär von Industrieländern in die Entwicklungsländer
und von den dortigen Metropolen und Eliten in die strukturschwächeren Gebiete und
zu den politisch nur bedingt partizipierenden Bevölkerungen fließen.107 Als Bestandteil der „Einbahnstraße“ des Informationsflusses wurde im MacBride-Bericht das
103
104
105
106
107
52
derstanding, to the Promotion of Human Rights and to Countering Racialism, Apartheid and Incitement to War, adopted by Acclamation on 22 November, 1978, at the Twentieth Session of the
General Conference of UNESCO held in Paris, in: George Gerbner/Hamid Mowlana/Kaarle Nordenstreng (Hrsg.), The Global Media Debate: its Rise, Fall, and Renewal, Norwood, NJ 1993,
S. 173-178.
Zur Debatte über die Neue Weltinformationsordnung vgl. a. Jörg Becker, Massenmedien im NordSüd-Konflikt, Frankfurt 1985.
Viele Stimmen – eine Welt: Kommunikation und Gesellschaft heute und morgen. Bericht der
internationalen Kommission zum Studium der Kommunikationsprobleme unter dem Vorsitz von
Sean MacBride an die UNESCO, Konstanz 1981 (engl. Orig. 1980).
Die ideologisch durch den Ost-West-Konflikt vorgeprägte Konfrontation zwischen „Freiheits-“ und
„Gleichheitsrechten“ schlug sich bei sozialistischen Staaten im Versuch einer ordnungspolitischen
Regelung zentralistischer Informationskontrollansprüche nieder. Die meisten westlichen Industrienationen, vor allem die USA und Großbritannien, wandten sich gegen eine Veränderung der freeflow-Doktrin. Dabei war im MacBride-Bericht mehrfach darauf hingewiesen worden, daß das Konzept des „balanced flow“ eine Ergänzung, nicht jedoch eine regulative Alternative zum „free flow“
darstellte. Hinsichtlich der zeitgenössischen politischen Debatte unterscheidet der Bericht vier
Gruppen: die Befürworter des „free flow“, von denen ein Teil Informationsfreiheit anstrebte, ohne
Information monopolisieren zu wollen, ein anderer Teil jedoch Veränderungen der free-flowDoktrin bemängelte, um Informationsmonopole zu sichern; und die Gegner des „free flow“, von denen ein Teil autoritär-zentralistische Ordnungsvorstellungen hegte, ein anderer Teil jedoch eine
neue, universelle Informations- und Kommunikationsfreiheit anstrebte. Vgl. Viele Stimmen – eine
Welt, S. 185 f.
Vgl. George Gerbner/Hamid Mowlana/Kaarle Nordenstreng (Hrsg.), The Global Media Debate: its
Rise, Fall, and Renewal, Norwood, NJ 1993; Hafez, Der Nahe Osten und die Neue
Weltinformationsordnung.
Viele Stimmen – eine Welt, S. 189.
von Nachrichtenagenturen108 und Massenmedien in westlichen Industrieländern
erzeugte Bild der Entwicklungsländer moniert, das „häufig falsch und verzerrt ist,
weil ein Großteil der Informationsinhalte in den wichtigsten entwickelten Ländern
hergestellt wird“.109 Wie im folgenden zu zeigen sein wird, betrachtet der MacBrideBericht jedoch, trotz dieser stark am Zentrum-Peripherie-Modell (vgl. Einleitung zu
Kap. 3) angelehnten Kritik, Probleme der Auslandsberichterstattung als Entwicklungsproblem aller globalen Mediensysteme, also auch der der Entwicklungsländer.
Probleme des globalen Informationsflusses, wie sie im MacBride-Bericht definiert worden sind, lassen sich, abhängig von der Flußrichtung des globalen Informations- und Kommunikationsstroms, in zwei Teilbereiche gliedern:
• Probleme des Informationsflusses von den Entwicklungsländern in die Industriestaaten
• Probleme des Informationsflusses von den Industriestaaten in die Entwicklungsländer.
Der Informationsstrom läßt sich zudem in Anlehnung an das Sender-EmpfängerKommunikationsmodell in drei Teilbereiche gliedern:
• Informationssuche
• Informationsempfang
• Informationsweitergabe.
Der MacBride-Bericht erkannte zwar auch Probleme im Bereich des Empfangs globaler Information – also auf der Stufe des Endverbrauchs durch den Konsumenten,
bei der Verteilung von Hardware (Radio, TV), der Zugänglichkeit zu Pressemedien
und der Alphabetisierung –, er konzentrierte sich jedoch auf die typischen Betätigungsfelder der Massenmedien: die Informationssuche und -weitergabe.110 Informationsfreiheit wurde bewußt als Freiheit definiert, Informationen zu empfangen, zu
suchen und weiterzugeben.111 Problemzonen des globalen Informationsflusses nach
dem MacBride-Bericht lassen sich in der tabellarischen Gesamtschau (Tabelle 3.1)
mit Hilfe von Wertungspunkten („minus“ für Entwicklungsdefizite; „plus“ für Entwicklungsfortschritte) verdeutlichen.
108 Zur Kritik der Nachrichtenagenturen vgl. Kap. 3.2.3.2.
109 Viele Stimmen – eine Welt, S. 64.
110 In ihrer Bilanz einiger Aussagen des MacBride-Berichts weist Susan Beam nach, daß in den meisten Staaten der Erde zumindest im Radiobereich die Minimalvorgabe der UNESCO von 50 Radios
pro 1000 Einwohnern erreicht wird, während größere Probleme noch beim Fernsehen (Minimum 20
Geräte pro 1000 Einwohner) und bei der Presse (Minimum 100 Ausgaben pro 1000 Einwohner) zu
verzeichnen sind. Die Verfügbarkeit von Radio- und Fernsehgeräten sowie Zeitschriften und Zeitungen zeigt insgesamt noch erhebliche Nord-Süd-Differenzen, die gleichwohl in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden sind. Susan Beam, Surveying the Territory: Re-Examining MacBride and
Theories of Development, in: Gazette 50 (1992) 2/3, S. 116, 128.
111 Viele Stimmen – eine Welt, S. 181.
53
54
- Fortschritte der Nachrichtenzirkulation (bez. Genauigkeit,
Aktualität usw.)
+
-
- Technische Fortschritte der
Nachrichtensammlung (bez.
Genauigkeit, Aktualität usw.)
- Verzerrungen und
Informationslücken
Entwicklungsländer geben Informationen über Industriestaaten weiter:
+
-
- Fortschritte der Nachrichtenzirkulation (bez. Genauigkeit,
Aktualität usw.)
- Ungenauigkeiten und Mängel
der Informationsverbreitung
(Öffentlichkeit in Entwicklungsländern unzureichend informiert
über Industriestaaten)
+
-
Entwicklungsländer suchen Informationen über Industriestaaten:
- Technische Fortschritte der
Nachrichtensammlung (bez.
Genauigkeit, Aktualität usw.)
- Verzerrungen und
Informationslücken
- Ungenauigkeiten und Mängel
der Informationsverbreitung
(Öffentlichkeit in Industriestaaten
unzureichend informiert über
Entwicklungsländer)
+
Industriestaaten geben Informationen über Entwicklungsländer weiter:
Sender-Empfänger-Modell
Informationsverbreitung
Industriestaaten suchen Informationen über Entwicklungsländer:
Informationssuche
Quelle: Zusammenstellung nach Viele Stimmen - eine Welt, S. 181, 203.
InformationsFluß von den
Industriestaaten
in die
Entwicklungsländer
InformationsFluß von den
Entwicklungsländern in die
Industriestaaten
Flußrichtung
der Information
Informationsempfang
- wachsende Kapazitäten des
Informationsempfangs
Entwicklungsländer empfangen Informationen über Industriestaaten:
- relativ große Kapazitäten des
Informationsempfangs
Industriestaaten empfangen Informationen über Entwicklungsländer:
Tabelle 3.1 - Problemzonen der Nord-Süd-Kommunikation nach dem MacBride-Bericht
+
+
Die Symmetrie der Zuordnung von Problemzonen zu Industriestaaten und Entwicklungsländern steht im Gegensatz zur These von der „Einbahnstraße“ und „Nord-SüdAusrichtung“ des globalen Informationsflusses. Tatsächlich nehmen gerade diejenigen Teile des MacBride-Berichts, die sich mit Fragen von Auslandsbildern in der
globalen Kommunikation112 beschäftigen, keine Zuordnung im Rahmen des NordSüd-Konflikts vor, so daß die Verbesserung des Auslandsbildes prinzipiell als Entwicklungsgaufgabe für alle Teilnehmer der internationalen Kommunikation betrachtet wird. In diesen Passagen ist ein Spannungsverhältnis zu den oben zitierten anderen Teilen des Berichts zu erkennen, in denen insbesondere Verzerrungen des Bildes
der Entwicklungsländer in den westlichen Hochindustriestaaten bemängelt werden.
Als politisches Dokument eignet sich der MacBride-Bericht, der unterschiedlichen
Einflüssen Rechnung tragen mußte, nur bedingt als Grundlage für eine stringente
Theoriebildung.
Als bedeutsame Orientierungshilfe für den Wissenschaftsdiskurs haben sich
gleichwohl die Überlegungen des Berichts zur Qualität der Kommunikationsinhalte
erwiesen. Sie lassen sich in zwei Bereiche gliedern:
• Kritik der Definition der „Nachricht“ und des Nachrichtenwertes
• Kritik der Praxis der Nachrichtenvermittlung.
Die Definition der Nachricht durch Kernbegriffe wie Aktualität, Neuigkeit und Universalität (allgemeines Interesse) muß nach Auffassung des Berichts durch zusätzliche Kriterien erweitert werden.113 Nachrichten im globalen Kommunikationsprozeß
werden als Informationen betrachtet, die Problembewußtsein und -interesse wecken
sollen, indem Ereignisse im Kontext ihrer Entstehung und Entwicklung weitergegeben werden. Nachrichten werden zudem als informationelle nationale Ressource und
als Bestandteil der politischen Bildungsarbeit eingestuft. Die Definition der Nachricht als einem von der „Normalität“ abweichenden, aktuellen und für den Botschaftsempfänger (z.B. deutsche Leser) relevanten Informationssachverhalt wird
nicht aufgegeben, sondern durch einen komplementären Nachrichtenbegriff der sozio-politischen Relevanz der Nachricht für die Gesellschaftsentwicklung in dem
Land, über das berichtet wird, erweitert.
In der Kritik der globalen Nachrichtenpraxis schlagen sich die Grundannahmen
über die Nachrichtendefinition nieder. Sie basiert zudem auf dem Konzept eines
Vergleichs der Medien- mit der außermedialen Realität.114 Eine Folge der Anormalitätsdefinition war demnach, daß Negativereignisse (Krisen, Katastrophen und Konflikte) im Prozeß der internationalen Nachrichtenvermittlung im Vergleich zum globalen Realgeschehen überrepräsentiert sind.115 Des weiteren werden folgende allgemeine Defizite von Auslandsbildern aufgezählt:
112
113
114
115
Kapitel „Herrschaft über die Kommunikationsinhalte“ im MacBride-Bericht.
Ebenda, S. 203 f.
Zu den Problemen des Medien-Realitätsabgleichs vgl. Kap. 2.
Viele Stimmen – eine Welt, S. 204.
55
• Überbetonung irrelevanter Ereignisse (overemphasizing news116)
• Zusammenfügen disparater Tatsachen zu einem artifiziellen Ganzen (making
news)
• interessengeleitete Suggestion fehlerhafter Schlußfolgerungen (misinterpretation
by implication)
• Feindbildproduktion als Legitimation und Handlungsanleitung von Individuum,
Gesellschaft und Politik
• Nichtdarstellung bedeutsamer Entwicklungen und Probleme.117
In der konzeptionellen Anlage der Kritik der Nachrichtendefinition und der Kommunikationsinhalte des MacBride-Berichts sind zahlreiche Parallelen zu dem oben
eingeführten Konzept des „Auslandsbildes“ zu erkennen. Der Bericht geht von einem komplexen Modell des Auslandsbildes aus, wobei erst aus dem Verhältnis des
einzelnen zum Ganzen (wie Frame-Thema-Diskurs), der Ereignisse zu ihrer Entwicklung und der Kommunikationsinhalte zur kommunizierten Realität ein Kriterienkatalog zur Bestimmung der Inhaltsstruktur der globalen (Massen-)Kommunikation entsteht. Stereotype werden als Teilbereiche der Nachrichtenvermittlung genannt,118 im
Vordergrund jedoch steht die komplexe Strukturanalyse medial kommunizierter
Auslandsbilder.
3.2.1.2 Strukturtheoreme und Nachrichtenfaktoren der Auslandsberichterstattung
Eine Reihe quantitativer und qualitativer Inhaltsanalysen der Print- und elektronischen Massenmedien haben reguläre oder häufige Strukturmerkmale der Dritte-WeltBerichterstattung in westlichen Massenmedien zu Tage gefördert. Der Aussagewert
der Studien ist abhängig von den untersuchten Mediensektoren, der Zusammenstellung der Medien, der zeitlichen Anordnung der Stichproben und der Art der Kodierung unterschiedlich hoch einzustufen. Ihre Vergleichbarkeit ist auf Grund der methodischen Heterogenität der Untersuchungen von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen begrenzt.
Die größte Untersuchung ist bis heute die „Foreign News“-Studie, die die International Association of Mass Communication Research (IAMCR) im Auftrag der
UNESCO bis 1980 durchgeführt hat, geblieben.119 Presse und Rundfunk von 29
116 Die englischen Begriffe stammen aus der englischen Originalversion des MacBride-Berichts: Many
Voices – One World. Communication and Society Today and Tomorrow, London u.a. 1980.
117 Viele Stimmen – eine Welt, S. 204 f.
118 Ebenda, S. 205.
119 Annabelle Sreberny-Mohammadi/Kaarle Nordenstreng/Robert Stevenson/Frank Ugboajah (Hrsg.),
Foreign News in the Media: International Reporting in 29 Countries. Final Report Undertaken for
UNESCO by the International Association for Mass Communication Research, Paris 1985; vgl. a.
die vorläufige Version des Berichts: dies. (Hrsg.), The World of the News: The News of the World,
Final Report of the „Foreign Images“ Study Undertaken by the International Association of Mass
Communication Research for UNESCO, London 1980. Zur Entstehungsgeschichte der „Foreign
News“-Studie und dem deutschen Forschungsteam vgl. Winfried Schulz, Nachrichtengeographie.
56
Ländern120 wurden dabei von Forscherteams aus 13 Nationen ausgewertet. Die Länder repräsentierten unterschiedliche soziale Systeme und Entwicklungsstufen. Mittlerweile ist der Versuch einer Neuauflage der „Foreign News“-Studie gestartet worden, deren Ergebnis gleichwohl erst in Teilen vorliegt.121
Eine Reihe größerer Studien hat sich auf die Dritte-Welt-Berichterstattung
deutschsprachiger Massenmedien konzentriert. Das Zentrum für Kulturforschung in
Bonn untersuchte im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Presse, Hörfunk und Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland;122 der
Westdeutsche Rundfunk untersuchte Fernsehsendeprotokolle;123 Beatrix Mühlethaler
erstellte eine Inhaltsanalyse deutschschweizerischer Tageszeitungen hinsichtlich
ihres Dritte-Welt-Bildes;124 Daniel Glass analysierte das Bild der Dritten Welt in
deutschen Tages- und Wochenzeitungen aus ideologiekritischer Perspektive;125 Werner A. Meier systematisierte in einer komparativen Meta-Untersuchung 104
Inhaltsanalysen des Auslandsbildes;126 Manfred Wöhlcke sowie Susanne RoemelingKruthaup untersuchten das Lateinamerikabild europäischer Presseorgane;127 Manfred
Paeffgen erforschte das Afrikabild deutscher Massenmedien;128 verschiedene Auto-
120
121
122
123
124
125
126
127
128
Untersuchungen über die Struktur der internationalen Berichterstattung, in: Manfred Rühl/HeinzWerner Stuiber (Hrsg.), Kommunikationspolitik in Forschung und Anwendung. Festschrift für
Franz Ronneberger, Düsseldorf 1983, S. 281-291.
USA, Argentinien, Brasilien, Mexiko, Algerien, Elfenbeinküste, Kenia, Nigeria, Tunesien, Zaire,
Zambia, Ägypten, Iran, Libanon, Australien, Indien, Indonesien, Malaysia, Thailand, Ungarn, Polen, UdSSR, Jugoslawien, Bundesrepublik Deutschland, Finnland, Griechenland, Island, Niederlande, Türkei.
Lutz M. Hagen, Ausländische Berichterstattung über Deutschland. Erste Ergebnisse der „ForeignNews-Studie“ über Umfang und Themen von Nachrichten über Deutschland in verschiedenen Ländern, in: Siegfried Quandt/Wolfgang Gast (Hrsg.), Deutschland im Dialog der Kulturen. Medien –
Images – Verständigung, Konstanz 1998, S. 203-211.
Dritte Welt und Medienwelt. Entwicklungspolitik und das Bild der Dritten Welt in Presse, Hörfunk,
Fernsehen, Eigenerhebungen und Sekundäranalysen des Zentrums für Kulturforschung/Bonn, im
Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Bonn 1983; vgl. a. die Vorstellung von Projektergebnissen in: Kommunikationspolitische und kommunikationswissenschaftliche Forschungsprojekte der Bundesregierung (1978-1985). Eine Übersicht über wichtige Ergebnisse, T. 1, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1986, S. 275-288.
Josef Eckhardt, Berichterstattung über die Dritte Welt im ARD-Programm und im Westdeutschen
Fernsehen, in: Media Perspektiven 12/1982, S. 767-775.
Beatrix Mühlethaler, Die Dritte Welt im Spiegel der Schweizerpresse. Eine Aussagen-Analyse
deutschschweizerischer Tageszeitungen, Freiburg/Schweiz 1976.
Daniel Glass, Die Dritte Welt in der Presse der Bundesrepublik Deutschland. Eine ideologiekritische Fallstudie, Frankfurt 1979.
Werner A. Meier, Ungleicher Nachrichtenaustausch und fragmentarische Weltbilder. Eine empirische Studie über Strukturmerkmale in der Auslandsberichterstattung, Bern u.a. 1984.
Manfred Wöhlcke, Lateinamerika in der Presse. Inhaltsanalytische Untersuchung der Lateinamerika-Berichterstattung in folgenden Presseorganen: Die Welt, FAZ, NZZ, Handelsblatt, Le Monde,
Neues Deutschland, Der Spiegel, Stuttgart 1973; Susanne Roemeling-Kruthaup, Politik, Wirtschaft
und Geschichte Lateinamerikas in der bundesdeutschen Presse. Eine Inhaltsanalyse der Quantität
und Qualität von Hintergrundberichterstattung in überregionalen Qualitätszeitungen am Beispiel
der Krisengebiete Brasilien, Chile, Mexiko und Nicaragua, Frankfurt 1991.
Manfred Paeffgen, Das Bild Schwarz-Afrikas in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik
Deutschland 1949-1972, München1976.
57
ren haben sich dem Nahost- und Islambild deutscher Medien genähert (vgl. Kap.
4.2.1). Hinzu kommen Sammelbände mit Fachaufsätzen zum Bild der „Dritten Welt“
in Massenmedien.129
Eine theoretische Verallgemeinerung der Forschungsarbeiten ist bisher an grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Bewertung empirischer Daten
gescheitert.130 Dennoch sind die folgenden Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung theoretisch bedeutungsvoll:
•
•
•
•
•
•
Regionalismus (und Metropolenorientierung)
Konfliktperspektive
Politikzentrierung
Elitenzentrierung
Dekontextualisierung
Nichtdarstellung von Strukturproblemen der internationalen Beziehungen.
Die „Foreign News“-Studie der UNESCO hat ergeben, daß der Umfang der Auslandsberichterstattung der Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland relativ
hoch ist, höher etwa als in den USA oder in den benachbarten Niederlanden.131 Während diese Vergleichsangaben nicht als hinreichend gesichert betrachtet werden
können, um eine Rangordnung des Umfangs der Auslandsberichterstattung in einzelnen nationalen Mediensystemen zu erstellen, hat die Studie Aufschlüsse über die
regionale Verteilung der Berichterstattung gegeben, in denen nahezu alle Forscherteams übereinstimmten. In fast allen untersuchten Systemen war der Anteil des regionalen Auslandes an der Berichterstattung besonders hoch, so daß Regionalismus
(geographical proximity) als ein universelles Merkmal der Auslandsberichterstattung
zu bezeichnen ist.
Nichtsdestotrotz sind auch deutliche Akzentverschiebungen im Vergleich zu der
Nachrichtengeographie der westlichen Industrie- und der Entwicklungsländer zu
erkennen. Der ebenfalls ausgeprägte Regionalismus in den Medien der Entwicklungsländer wird von relativ hohen Aufmerksamkeitswerten für die westlichen Industriestaaten begleitet, d.h. neben dem Regionalismus ist eine starke Metropolenorientierung erkennbar.132 Westeuropa und die USA finden mehr Beachtung in den Mediensystemen der Welt als Kontinente wie Asien, Afrika und Lateinamerika, obwohl
diese die höchsten Einwohnerzahlen, die meisten Staaten und die größten geographischen Flächen beherbergen. Interessanterweise gibt es eine einzige Ausnahme, die
129 Die Dritte Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
der Universität Salzburg, Salzburg 1985; Helmut Asche (Hrsg.), Dritte Welt für Journalisten. Zwischenbilanz eines Weiterbildungsangebotes, im Auftrag des Modellversuchs JournalistenWeiterbildung an der Freien Universität Berlin, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1984.
130 Birgit Schenk, Die Struktur des internationalen Nachrichtenflusses: Analyse der empirischen Studien, in: Rundfunk und Fernsehen 35 (1987) 1, S. 36-54; Becker, Internationaler Nachrichtenfluß;
Birgit Schenk, Internationaler Nachrichtenfluß: Einige Anmerkungen zur Stellungnahme von Jörg
Becker, in: Rundfunk und Fernsehen 36 (1988) 2, S. 247-249.
131 Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 33.
132 Ebenda, S. 39-43.
58
aus dem Zahlenwerk der „Foreign News“-Studie hervorgeht, ohne daß sie selbst von
den Autoren der Studie erkannt worden wäre: auf den Nahen und Mittleren Osten
entfallen im Durchschnitt der untersuchten 29 Mediensysteme der Welt höhere Aufmerksamkeitswerte als auf Nordamerika, und die Region rangiert nach Westeuropa
auf Rang 2.
In Tabelle 3.2, einer um eine Gesamt-Rangordnung ergänzten Übersicht der Ergebnisse der „Foreign Images“-Studie, wird erkennbar, daß Westeuropa die meiste
Beachtung in den Medien findet, gefolgt von dem Nahen und Mittleren Osten, Nordamerika, Asien, Afrika, Osteuropa, Lateinamerika und den übergeordneten internationalen Fragen ohne Möglichkeit der regionalen Zuordnung.133 Die starke Präsenz
Westeuropas und Nordamerikas weist auf die Nord-Süd- bzw. Metropolenorientierung der meisten Länder, die auf Kosten der Süd-Süd-Kommunikation in der Auslandsberichterstattung geht. Verursacht wird Metropolenorientierung durch eine
Reihe von Faktoren, wie der politischen und wirtschaftlichen Ausstrahlungskraft
Westeuropas und der USA, nachwirkender Bindungen aus der Kolonialzeit usw. Ob
geographische, historische, politische, wirtschaftliche oder kulturelle Faktoren dafür
verantwortlich sind, daß Asien ungeachtet seiner Bevölkerungszahlen und territorialen Ausdehnung nur eine mittlere Position einnimmt und daß Lateinamerika sich als
in hohem Maß medial isoliert erweist, ist nur durch thematisch aufgeschlüsselte
empirische Untersuchungen zu verifizieren (vgl. analog Kap. 5.2.2).
133 Birgit Schenk hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der Regionalismus als das primäre universelle
Merkmal der Auslandsberichterstattung zu gelten hat. Ihre Behauptung jedoch, die „thematische
und geographische Struktur der Auslandsberichterstattung in der Dritten Welt“ unterscheide sich
„kaum von der in den Medien der Industrienationen“ und von einem „überproportionalen Anteil
von Nachrichten aus den westlichen Industrienationen“ könne nicht gesprochen werden (Schenk,
Die Struktur, S. 42), ist nicht korrekt, zumal sie ihre Interpretation auf die „Foreign News“-Studie
stützt (ebenda, S. 38). In der Studie heißt es: „Geographical proximity and former colonial orientations have (...) been established as the two leading criteria [of news selection/K.H.].“ SrebernyMohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 42.
59
Tabelle 3.2 – Rangfolge der Beachtung von Weltregionen in der
Auslandsberichterstattung
Quelle:
1
6
5
2
4
7
2
8
3
1
6
4
5
6
2
8
5
8
1
2
5
7
3
5
3
6
4
1
5
7
2
8
3
8
5
4
1
6
2
7
Rang gesamt
Westeuropa
Osteuropa
Asien
Afrika
Nordamerika
Nordamerika
Lateinamerika
Afrika
Nahost
Asien
Osteuropa
Westeuropa
Internationales, allgem.
Nahost
berichtende Mediensysteme
Latein-amerika
Regionen, über die
berichtet wird
6
8
7
4
3
1
2
4
2
8
5
3
5
4
1
7
3
7
5
2
4
6
1
8
Bearbeitete Tabelle auf der Basis von Sreberny-Mohammadi et al., Foreign News,
S. 42
Nahezu alle empirischen Untersuchungen der Auslandsberichterstattung weisen auf
eine ausgeprägte Konfliktperspektive hin. Über politische und soziale Krisen, Konflikte und Kriege sowie über natürliche wie menschlich verursachte Katastrophen
wird relativ nachhaltig berichtet. Die Konflikthaftigkeit eines Geschehens ist demzufolge ein wesentlicher Faktor zur Überwindung der Nachrichtenschwelle.134 Einige
Vergleichsdaten größerer empirischer Studien zur deutschen und europäischen Auslandsberichterstattung sind in Tabelle 3.3 aufgelistet:
134 Die Konfliktperspektive ist das wohl am häufigsten in der Fachliteratur erwähnte Strukturmerkmal
der Auslandsberichterstattung. Vgl. u.a. Helmut Asche, Öffentliche Meinung und Berichterstattung
über die Dritte Welt, in: ders. (Hrsg.), Dritte Welt für Journalisten. Zwischenbilanz eines Weiterbildungsangebotes, im Auftrag des Modellversuchs Journalisten-Weiterbildung an der Freien Universität Berlin, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1984, S. 15 f.; Kurt Luger, Dritte-Welt-Berichterstattung:
eine einzige Katastrophe? Die Konstruktion von Wirklichkeit in Theorie und Praxis, in: Die Dritte
Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, Salzburg 1985, S. 8 f.; Rudi Holzberger, Zeitungsdämmerung: Wie Journalisten die
Welt verpacken. Eine Kritik der journalistischen Praxis, München 1991, S. 119; Kurt Luger, Zwischen Katastrophen und Shangri La: Bilder von der Dritten Welt, in: Dialog 16 (1989) 3, S. 19-29;
Heinrich von Nussbaum, UN-Ordnung mit System, in: medium 9 (1979) 2, S. 9; Glass, Die Dritte
Welt, S. 227-253. Die Katastrophenperspektive ist zudem Bestandteil der Intra-Medienkritik. Vgl.
u.a. Tilmann P. Gangloff, Ruhiger Redefluß, taz 2.8.1995; Caroline Schmidt-Gross, Bonbons und
Barbecue, taz 11.11.1996. Eine Gegenposition ist in der Untersuchung der ARD-/WDRBerichterstattung zu finden: Eckhardt, Berichterstattung über die Dritte Welt, S.768. Die Auffassungsunterschiede resultieren dabei zum Teil aus einer unklaren Definition des Begriffs „Konflikt“,
der sowohl auf offene Aggressionen und Kriege beschränkt als auch auf soziale und politische Krisen erweitert werden kann (vgl. Kap. 5.1.4), was jedoch in keiner der genannten Arbeiten erörtert
wird.
60
Tab. 3.3 – Untersuchungen zum Negativismus
Studie Untersuchungsanlage
Untersuchungsart
Wöhlcke 7 europäische Tages- Lateinamerikabild
zeitungen 1970
19731
BMZ
19832
25 dt. Printmedien,
ARD, WDR 1982/83
Schulz
19903
je 5 dt. Print- und
elektron. Medien 1975
Pütz
19934
6 dt. Zeitungen
Negativismus
Konfliktbetonte Berichterstattung:
56% BRD, 59% Schweiz,
51% Frankreich, 20% DDR
Dritte-Welt-Bild
Überregionale Tagespresse:
25% Kriege und Katastrophen
(ohne gewaltfreie Konflikte)
Bild der internationalen Durchschnittlicher Anteil der
Politik
Nachrichtenfaktoren:
"Konflikt" 31,8%; "Schaden" 3%;
"Kriminalität" 8,7%
Italienbild
Durchschnittlicher Anteil von
"Konflikt, Aggression, Zerstörung": 13,5 %
1
Wöhlcke, Lateinamerika, S. 30.
Dritte Welt und Medienwelt (BMZ), S. 49.
3
Schulz, Die Konstruktion, S.84.
4
Pütz, Das Italienbild, S. 44.
2
Es könnte die These formuliert werden, daß die Konfliktperspektive der Auslandsberichterstattung in diametralem Gegensatz zur Harmonieperspektive in der Lokalberichterstattung135 steht und daher die Konstruktion einer negativ-chaotischen Fernwelt mit der Konstruktion einer positiv-harmonischen Nahwelt korreliert. Allerdings
lassen die empirischen Daten unterschiedliche Interpretationen zu. Das Problem der
bisherigen Diskussion ist gewesen, daß zwar eine Konfliktperspektive häufig behauptet worden ist, daß jedoch das dieser These zu Grunde liegende Realitätsmodell
– also die Vorstellung von einer realitätsadäquaten Konstruktion der affektiven Dimension (positiv-negativ-neutral) des Auslandsbildes – kaum reflektiert worden ist.
Eine Konfliktperspektive kann jedoch aus den Inhaltsdaten der Medien nur interpretiert werden, wenn diese in Beziehung zu einer theoretischen Vergleichsgrundlage,
zu einem Realitätsmodell, stehen. Zwei unterschiedliche Modellebenen sind denkbar:
• Berichterstattungsanteil an Negativismus: Häufigkeit und Prozentanteil von
Negativberichten, in der inhaltsanalytischen Forschung häufig als „Negativismus“ bezeichnet, lassen sich mit Hilfe von Ereignisvalenzen, Wortfeldern (Kriege, Terrorakte usw.) und anderen Methoden für jedes einzelne Land quantitativ
bestimmen (vgl. Kap. 4.2.2). Die „Foreign News“-Studie hat darauf hingewiesen,
daß es dabei weniger die absolute Häufigkeit negativer Berichte, sondern die relative Unterrepräsentiertheit positiver Berichte in der Auslandsberichterstattung
(insbesondere über die Entwicklungsländer) ist, die berechtigt, von einer Kon-
135 Vgl. Günther Rager, Publizistische Vielfalt im Lokalen, Tübingen 1982.
61
fliktperspektive zu sprechen.136 Die Studie zeigt beispielsweise, daß der Nahe
und Mittlere Osten in der internationalen Berichterstattung besonders stark mit
militärischen Fragen, Kriminalität und anderen Konfliktbereichen in Verbindung
gebracht wird, während andere Lebensbereiche „unsichtbar“ (invisible) bleiben.137 Kritik der vorstehenden Art liegt häufig die implizite Annahme zu Grunde, daß sich „Realität“ durch ein dreiteiliges paritätisches Modell – ein Drittel
negative, ein Drittel neutrale und ein Drittel positive Ereignisse – beschreiben
läßt, und daß die Massenmedien anstreben sollten, dieser Dreiteilung zu entsprechen. Problematisch ist jedoch, daß ein solches Drittelmodell der Realität zu
stark in erkenntnistheoretischen und ethischen Prämissen verhaftet ist, um für die
sozialwissenschaftliche Theoriebildung tragbar zu sein, und zwar ungeachtet der
Tatsache, daß im folgenden behauptet werden wird, daß Realitätsrekonstruktion
bedingt möglich und zur Theoriebildung erforderlich ist (vgl. Kap. 2). Es ist daher folgerichtig, die Frage der medialen Konfliktperspektive nicht an einer idealen Drittelverteilung messen zu wollen, sondern vielmehr ein flexibleres Modell
der Dominanzvermeidung zur Prämisse zu erheben. Wenn man die Dreiteilung
der Valenzen nicht letztlich beweisen kann, so ist doch davon auszugehen, daß
die gesellschaftliche Realität eines jeden Landes komplex genug ist, um nicht
ausschließlich oder ganz überwiegend aus Negativereignissen zu bestehen. Ein
Wert von mehr als 50 Prozent solcher Ereignisse in den Medien müßte demnach
mit einer medialen Konfliktperspektive erklärt werden.
• Vergleich von Ländern und Ländergruppen: Bei der Frage der Konfliktperspektive hat es sich auf Grund der Schwierigkeiten bei der Konstruktion eines kohärenten Wirklichkeitsmodells als sinnvoll erwiesen, nicht nur einzelne Länder zu
untersuchen, sondern die Berichterstattung über verschiedene Länder und Ländergruppen zu vergleichen. Ein Hinweis auf Konfliktperspektiven der Medien
wäre demnach weniger, wenn über ein Land bis zu 50 Prozent Negatives berichtet wird, sondern vielmehr, wenn etwa über Entwicklungsländer negativer berichtet würde als über Industriestaaten, was Untersuchungen tatsächlich belegen.138
Der Vorteil der vergleichenden Herangehensweise ist, daß hier keine Realitätsprämisse über die Gleichverteilung positiven, negativen oder neutralen Geschehens aufgestellt wird, sondern die sehr viel begrenztere Prämisse, daß keine si136 Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 52. Für den amerikanischen Medienkontext
hat C.B. Pratts Untersuchung von sechs amerikanischen Zeitschriften (Time, Newsweek, U.S.News,
Nation, New Republic, National Review) starke Evidenz für die Existenz einer Konfliktperspektive
aufgezeigt. Zwischen 52 Prozent (Nation) und 93 Prozent (Time) der Afrikaberichterstattung
beschäftigte sich mit Konflikten, zwischen 4 Prozent (Time) und 48 Prozent (Nation) mit
Regierungen und Politik Afrikas. Berichte über soziale Entwicklungen, Kultur/Kunst, Wissenschaft
und Sport fehlten ganz. Afrika war in der amerikanischen Presse ein „konfliktgeschüttelter
Kontinent“ und ein „Schachbrett“ der Supermachtpolitik. C.B. Pratt, The Reportage and Images of
Africa in six U.S. News and Opinion Magazines: A Comparative Study, in: Gazette 26/1980, S. 40,
42, 43.
137 Sreberny-Mohammadi
u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 46.
138 Robert L. Stevenson/Gary D. Gaddy, Bad News and the Third World, in: Robert L. Stevenson/Donald Lewis Shaw (Hrsg.), Foreign News and the New World Information Order, Ames 1984,
S. 88-97.
62
gnifikanten Unterschiede hinsichtlich des Vorhandenseins von Konflikten in einzelnen Ländern und Kontinenten bestehen. Auch beim komparativen Ansatz stellt
sich allerdings die Frage, ob es sinnvoll ist, von einem Gleichheitsparadigma
auszugehen: Ist der Anteil von Konflikten, Krisen, Kriegen und Katastrophen in
Entwicklungsländern nicht größer als in westlichen Industriestaaten?139 Zumindest was die Bereiche der Naturkatastrophen, der Kriege und der politischen Gewalt angeht, hat die vergleichende Friedens- und Konfliktforschung diesen Einwand bestätigt.140 Er läßt sich allerdings dort entkräften, wo der Konfliktbegriff
über die genannten Bereiche hinaus auf reguläre Formen der Gewalt – etwa die
allgemeine Kriminalität, die in vielen Entwicklungsländern geringer ist als in
westlichen Staaten – sowie auf gewaltfreie Konflikte ausgedehnt wird und somit
alle politischen, sozialen und kulturellen Konfliktbereiche einschließt. Es kann
als Prämisse gelten, daß in dieser weiten Definition Konflikte in allen Ländern in
der ein oder anderen Form existieren und somit auch in einer ähnlichen Gesamtbilanz von positiver, negativer und neutraler Berichterstattung der Medien münden müßten. Von einer Konfliktperspektive und von einer unberechtigten Identifizierung der Gewalt als Wesensmerkmal insbesondere der außereuropäischen
Welt durch die Auslandsberichterstattung141 wäre hingegen zu sprechen, wenn
bei bestimmten Ländern oder Ländergruppen Negativismus generell stärker ausgeprägt wäre als bei anderen Ländern und Regionen. Die Prämisse läßt sich im
Bedarfsfall empirisch stützen (Beispielsweise durch den Vergleich von Verbrechensstatistiken in den USA und Ägypten mit der Kriminalitätsberichterstattung
über die Länder) und eignet sich in ihrer sozialwissenschaftlichen Handhabbarkeit weitaus eher zur Fundierung der Theorie der Auslandsberichterstattung (im
Sinne des Rekonstruktivismusansatzes; vgl. Kap. 2) als das erkenntnistheoretische Drittelmodell.
Politikzentrierung stellt ein weiteres Strukturmerkmal der Auslandsberichterstattung
dar. Handlungen der politischen Akteure und Systeme werden von der Medienberichterstattung als primäre gesellschaftliche Triebkräfte betrachtet und stellen daher
einen großen Teil der Informationsvermittlung in den allgemein orientierten Printund elektronischen Medien dar.142 Wie die Elitenzentrierung (s.u.) wird die Politikzentrierung von mehreren Faktoren begünstigt. Die redaktionelle Knappheit der
139 Jürgen Wilke/Birgit Schenk, Nachrichtenwerte in der Auslandsberichterstattung: Historische
Erfahrungen und analytische Perspektiven, in: Jürgen Wilke/Siegfried Quandt (Hrsg.), Deutschland
und Lateinamerika. Imagebildung und Informationslage, Frankfurt 1987, S. 29.
140 Vgl. u.a. Thomas Scheffler, West-östliche Angstkulturen. Gewalt und Terrorismus im Islam, in: Kai
Hafez (Hrsg.), Der Islam und der Westen. Anstiftung zum Dialog, Frankfurt 1997, S. 80-93.
141 Peter Dahlgren und Sumitra Chakrapani. „In the Third World, it [violence/K.H.] expresses a basic
essence. In the West, it signals imperfection, deviance, a lapse of the Wests’s genuine tradition and
destiny. The West stands for rationality: science over magic, purpose over activity, Man over Nature. Against this idealization looms the arationalty of the primitive: magic, activity without purpose, Nature dominant over Man.“ Peter Dahlgren/Sumitra Chakrapani, The Third World on TV
News: Western Ways of Seeing the „Other“, in: William C. Adams (Hrsg.), Television Coverage of
International Affairs, Norwood 1982, S. 53.
142 Eckhardt, Berichterstattung über die Dritte Welt, S. 768.
63
Auslandsberichterstattung hat einen Primat des Politischen gefördert; das qua Nachrichtendefinition erforderliche allgemeine Interesse ist bei politischen Ereignissen
gesichert; und strategische Öffentlichkeitsarbeit politischer Institutionen erleichtert
den Informationszugang im Ausland. Zu wenig untersucht worden ist bislang, welcher Zusammenhang zwischen den einzelnen Strukturaspekten des Auslandsbildes
besteht. Als Hypothese läßt sich formulieren, daß die Negativberichterstattung und
Konfliktperspektive häufig keine Phänomene sui generis sind, sondern die Folge der
übergeordneten Politikzentrierung der Medien (vgl. Kap. 5.2.1.1 und 5.2.1.2). Die
Konzentration auf die autoritäre Politikgestaltung eines Landes wird nahezu zwangsläufig eine negativere Färbung des Medienbildes nach sich ziehen als eine stärker
kulturell oder sozial akzentuierte Berichterstattung. Erneut stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Realitätsmodell, an dem Medienleistungen gemessen werden sollen. Und erneut scheint es nicht sinnvoll, von einem einfachen Paritätsmodell auszugehen, wonach alle Lebensbereiche – von der Politik bis zum Sport
– in gleichem Umfang existent sind und medial transportiert werden können (oder
gar – normativ – müßten). Eine Dominanz des Politikbereichs von mehr als 50 Prozent der Auslandsberichterstattung kann jedoch andererseits als medialer Politikzentrismus betrachtet werden.
Elitenzentrierung143 bezeichnet die Tendenz der Auslandsberichterstattung, sich
auf offizielle Eliten oder Gegeneliten (etwa Rebellen/Putschisten) zu konzentrieren,
während soziale Gruppen und Bewegungen, politische Parteien und die Bevölkerungen insgesamt in der Berichterstattung marginalisiert werden.144 Politik- und Elitenzentrierung kombiniert ergeben eine nachhaltige Konzentration der Berichterstattung
auf politische Eliten, was zum Teil zur Folge hat, daß die Darstellung dieser in den
westlichen Industriestaaten bekanntesten Vertreter der Entwicklungsländer zugleich
Unterhaltungselemente (soft news) aufweist (z.B. der Hofstaat des Shahs von Persien; der Sadismus Idi Amins; die Verschwendungssucht Bokassas; die Unberechenbarkeit Muammar Gaddafis). Helmut Asche hat darauf hingewiesen, daß Elitenzentrierung der Berichterstattung in den westlichen Industriestaaten nicht zuletzt ein
Reflex der realen Situation mangelnder Partizipationsmöglichkeiten in den Entwick143 In der Literatur wird neben der Konzentration der Medien auf Eliten auch die Konzentration auf
Personen bzw. eine begrenzte Zahl bekannter Persönlichkeiten als Strukturmerkmal der Auslandsberichterstattung bezeichnet. Beide Begriffe und Konzepte werden häufig nicht differenziert, obwohl sie ganz verschiedene Sachverhalte beschreiben: die Konzentration auf Macht, Ressourcen
usw. (Eliten) oder die Konzentration auf das Individuum (Personen). Gemeinsam ist beiden Orientierungen die relative Vernachlässigung von Massenphänomenen und sozialen Bewegungen. Harald
Rohr: „Durch die Hervorhebung von Randgeschehnissen werden die tatsächlichen Ursachen und
Wirkungen eines Ereignisses verdeckt und für den Leser nicht erkennbar. Das heißt: Politische Ereignisse werden auf agierende und nicht agierende Personen projiziert, die Probleme also personalisiert. Mit Hilfe dieser Praxis wird dann zu den die politischen Ereignisse flankierenden, unwichtigen, nichtssagenden human-interest-Geschichten übergeleitet, deren politischer und sozialer Aussagewert im Verhältnis zum eigentlichen Ereignis gleich null ist.“ Harald Rohr, Idi-, Scheich- und
Thaimädchen Stories. Die Dritte Welt in der Bild-Zeitung, Dortmund 1976, S. 33 f.
144 Luger, Zwischen Katastrophen, S. 22 f.; Glass, Die Dritte Welt, S. 207 ff.; von Nussbaum, UNOrdnung, S. 9; Luger, Dritte Welt-Berichterstattung, S. 8; Rohr, Idi-, Scheich- und Thaimädchen
Stories, S. 33 f.
64
lungsländern ist.145 Dennoch existieren auch in nahezu allen Entwicklungsländern
politische und andere Organisationen, wenngleich sie überwiegend mit begrenzten
Artikulations- und Handlungsspielräumen der politischen Betätigung ausgestattet
sind. Es muß berücksichtigt werden, daß aus der Sicht des Konzepts der „Einbahnstraße“ des globalen Informationsflusses des MacBride-Berichts die politische Marginalisierung von Bevölkerungsmehrheiten nicht nur die Ursache, sondern auch die
Folge ihrer Unterrepräsentiertheit in den westlichen Nachrichtenagenturen und Massenmedien ist, da entsprechende Auslandsbilder in die Entwicklungsländer zurückwirken und auf diese Weise zu einer systemaffirmativen und demokratiefeindlichen
Stabilisierung der herrschenden Eliten beitragen können (vgl. Kap. 5.2.2.5). Martin
Shaw hat daher darauf hingewiesen, daß die Entwicklung der Zivilgesellschaft insbesondere in der außereuropäischen Welt davon beeinflußt werden kann, inwieweit
zivilgesellschaftliche Fragen in der Auslandsberichterstattung der Industriestaaten
repräsentiert sind, da über den Umweg der internationalen Medienöffentlichkeit
häufig heimische Informationskontrolle und politische Marginalisierung umgangen
und politisch-transformatorische Prozesse verstärkt werden können.146
Als Folge der ereigniszentrierten Nachrichtendefinition kann die Dekontextualisierung, d.h. die Vernachlässigung von politischen, ökonomischen, sozialen und
kulturellen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen betrachtet werden, die häufig an
der Auslandsberichterstattung kritisiert worden ist.147 Dekontextualisierung steht im
engen Zusammenhang mit dem Diskursbegriff der Formierung von Auslandsbildern,
wobei die zum Verständnis erforderliche Vermittlung von Bildern, Stereotypen,
Frames und anderen Mikropropositionen im übertextlichen Diskurs-Kontext verloren
geht oder als isoliertes Frame-Fragment unreflektiert in Erscheinung tritt (vgl. Kap.
3.2.1). Kontextdefizite sind eng mit der Elitenzentrierung und Personalisierung des
Auslandsbildes verbunden, wobei es in der Auslandsberichterstattung, gemäß der
„Foreign News“-Studie, häufig zu einer „Reduktion komplexer internationaler Prozesse auf das psychologische Profil einiger zentraler Akteure“ kommt.148 Dekontextualisierung ist auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln: Sie ist das Resultat von
Raum-, Zeit- und Relevanzvorgaben der Medienorganisationen sowie dem Prozeß
der Informationsbeschaffung und der unterschiedlich ausgeprägten Kontextkompetenz des Journalisten (Kap. 3.2.3). Sie ist darüber hinaus das Resultat eines in der
Regel geringen Kontextwissens des Konsumenten über Auslandskontexte (vgl. Kap.
3.2.4.1.2), so daß von einem weit höheren Bedarf an Kontextinformation in der Auslands- im Vergleich zur Inlandsberichterstattung auszugehen ist.
145 Asche, Öffentliche Meinung, S. 17.
146 Martin Shaw, Civil Society and Media in Global Crises. Representing Distant Violence, London/New York 1996.
147 Glass, Die Dritte Welt, S. 162-206; Luger, Zwischen Katastrophen, S. 23. Zur strukturalistischen
Deutung journalistischer Kontextsysteme vgl. Tom Koch, The News as Myth. Fact and Context in
Journalism, New York u.a. 1990.
148 Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 29.
65
Die beiden Pyramiden in Abbildung 3.6 sollen dies verdeutlichen. Die linke, kleinere
umgekehrte Pyramide eines Inlandsberichts repräsentiert in klassischer Weise den
Aufbau eines Medienberichts, wie er in den meisten journalistischen Lehrbüchern
vermittelt wird. Der Bericht schreitet vom Aktuellen zum Hintergründigen fort. In
den ersten Sätzen steht die eigentliche Ereignismeldung, es folgen mit abnehmender
Aktualität und Dringlichkeit Kontextinformationen, die eine Einordnung des Meldungssachverhalts erlauben. Für die Meldung über einen Streik im Inland sind Informationen über vorausgegangene Lohnverhandlungen nahezu unerläßlich, um die
Ursachen des Streiks zu verdeutlichen. Ein weiterer Rückgriff auf die LohnNullrunde des vorangegangenen Jahres stellt eine zusätzliche, aber nicht unerläßliche
Kontextnachricht dar, die, wird sie vermittelt, die Motivlage der Gewerkschaften zu
verdeutlichen in der Lage ist, die zu einem drastischen Mittel des Arbeitskampfes
gegriffen haben. Die rechte, größere umgekehrte Pyramide über einen Streik im
Ausland entspricht in weiten Teilen der Inlandspyramide, ist allerdings auffällig
größer und verliert das wohlgeformte Bauprinzip der gleichseitigen Pyramide (Dreieck). Dies ist deshalb der Fall, da zur Erklärung eines Streiks im Ausland grundsätzliche Informationen über die Stellung der Gewerkschaften im Berichterstattungsland,
über die Beziehungen von Gewerkschaften und anderen Eliten im politischen und
sozialen System u.a.m. vermittelt werden müssen. Insbesondere in vielen Entwicklungsländern, aber auch in Staaten wie den USA, verfügen Gewerkschaften nicht
66
über eine vielen westeuropäischen Ländern vergleichbare Machtfülle, die Institutionenbildung ist instabil, und Gewerkschaften sind nicht allein Vertreter der werktätigen Bevölkerung, sondern weisen ausgedehnte klientelistische Bindungen zu politischen und wirtschaftlichen Eliten auf. Als Grundsatz muß also formuliert werden,
daß die journalistische Kontextvermittlung der Auslandsberichterstattung historischen und soziokulturellen Wissensdefiziten der Medienkonsumenten Rechnung
tragen muß, die einerseits kompensiert werden müssen, um ein diskursiv gestütztes
Auslandsbild zu vermitteln, die jedoch andererseits leicht zu einer strukturellen
Überforderung der Medienberichterstattung führen können.149
Politische und ökonomische Strukturkonflikte im System der Weltpolitik und
Weltwirtschaft – etwa Zusammenhänge zwischen Fortschritt und Unterentwicklung
im Kontext der Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern – sind
selten Teil der Medienberichterstattung.150 Diese Nichtdarstellung von Strukturproblemen der internationalen Beziehungen ist in weiten Teilen ein Unteraspekt der
Dekontextualisierung von Auslandsberichterstattung und der Tatsache, daß Medienberichterstattung häufig ereignis- und weniger prozeßorientiert ausgerichtet ist. Insofern ist nicht verwunderlich, daß im Unterschied zu den Strukturkonflikten die Gewaltkonflikte zwischen Staaten (z.B. Nahostkonflikt) in der Berichterstattung stark
präsent sind.151 Auslandsberichterstattung sucht, dies belegen empirische Untersuchungen, in der Regel einen deutlichen geographischen Bezug – ein Land oder eine
Region, über die berichtet wird – oder internationale Beziehungen zwischen diesem
Land und einem anderen Land.152 Politologische oder kulturwissenschaftliche
Raumordnungen – die „Erste“ und die „Dritte Welt“ oder „die islamische Welt“ und
„der Westen“ – sind analytische, zum Teil ideologisch geprägte Größen, die im Framing-Konzept eines geographisch lokalisierten Artikels in Erscheinung treten können, jedoch nur selten das Hauptthema eines Beitrags definieren.
Der einzige bedeutsame Versuch einer homogenen Theoriebildung von Strukturmerkmalen der Medienberichterstattung ist bisher im Bereich der Nachrichtenwertforschung entstanden. Sie untersucht vor allem die Beziehungen zwischen Informationsselektion und Nachrichtenvermittlung, d.h. sie konzeptionalisiert die
Schnittstelle der vom MacBride-Bericht als problematisch eingestuften Prozesse der
149 Alexander von Hoffmann hat darauf hingewiesen, daß die Dekontextualisierung nicht allein ein
Problem für das Dritte-Welt-Bild darstellt, sondern auch für die westlichen Industrieländer, denn ihrer Aufmerksamkeit entziehen sich zum Teil bedeutsame Entwicklungen, wofür der unerwartete
Ausbruch der Iranischen Revolution ein Beispiel ist. Alexander von Hoffmann, Neue internationale
Informationsordnung – ein erledigtes Thema?, in: Helmut Asche (Hrsg.), Dritte Welt für Journalisten. Zwischenbilanz eines Weiterbildungsangebotes, im Auftrag des Modellversuchs JournalistenWeiterbildung an der Freien Universität Berlin, Saarbrücken/Fort Lauderdale 1984, S. 30.
150 Glass, Die Dritte Welt, S. 254-278; Luger, Zwischen Katastrophen, S. 23; Luger, Dritte-WeltBerichterstattung, S. 7; Erhard Meueler, Neger und Co: Die Dritte Welt in Medien und Gegenmedien, in: Pädagogik Extra 13/1974, S. 23.
151 Glass, Die Dritte Welt, S. 279-317; Asche, Öffentliche Meinung, S. 25 f.
152 Die Analyse der Nachrichtengeographie der „Foreign News“-Studie der UNESCO hat gezeigt, daß
die Häufigkeit, mit der Themen von überregionaler Bedeutung aufgegriffen werden, noch hinter der
Zahl der Beiträge über Lateinamerika liegt, also dem Kontinent, über den durchschnittlich am wenigsten berichtet wird. Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News, S. 42.
67
Informationssuche und -weitergabe. Welche Faktoren (Nachrichtenfaktoren) muß
eine Nachricht aufweisen, um selektiert und vermittelt zu werden? Der Nachrichtenwert wird auf der Basis quantitativer Inhaltsanalysen der Massenmedien durch Korrelationskoeffizienten der Beziehungen zwischen Nachrichtenfaktoren und Beachtungsgrad sowie Umfang der Nachrichtenfaktoren in der Medienberichterstattung
ermittelt.153
Da news value ursprünglich wie „Stereotyp“ eine Begriffsprägung von Walter
Lippmann ist,154 auch wenn dieser selbst keine Nachrichtenwertforschung betrieben
hat, wird diese zum Teil als Weiterentwicklung der Stereotypenforschung im Bereich
der Medienanalyse betrachtet. Wie die Sozialpsychologie den Selektions- und Konstruktionsprozeß der kognitiven Wahrnehmung untersucht, richtet sich die Nachrichtenwertforschung analog auf die Ermittlung der Konstruktionsprozesse des medialen
Texts.155 Zu einer theoretischen Synthese beider Forschungsrichtungen kommt es
hingegen lediglich bei jenem Teil der Nachrichtenwertforscher, die unter dem Begriff des „Finalmodells“ Nachrichtenwerte nicht als Ausdruck einer immanenten
Beschaffenheit der Nachricht („Kausalmodell“), sondern der individuellen und politischen Orientierung der journalistischen Selektionsinstanzen betrachten.156
Im vorliegenden Zusammenhang ist die Bedeutung der Nachrichtenwerttheorie
vor allem in der Differenzierung des theoretischen Strukturkonzepts des Auslandsund Dritte-Welt-Bildes der Massenmedien anzusiedeln. Joachim Friedrich Staab
unterscheidet zwischen einer mit wenigen theoretischen Kriterien arbeitenden und
experimentell orientierten (Befragung von Journalisten) nordamerikanischen und
einer theoretisch komplexen und quantitativ-inhaltsanalytischen europäischen Forschungstradition.157 Zur europäischen Tradition zählen vor allem die im Laufe der
Jahrzehnte verfeinerten Nachrichtenfaktoren-Kataloge von Einar Östgaard, Johan
Galtung und Mari Holmboe Ruge sowie Winfried Schulz. Exemplarisch wird hier
der die zeitlich früheren Arbeiten von Östgaard und Holmboe/Ruge integrierende 18
Nachrichtenfaktoren in sechs Dimensionen umfassende Katalog von Schulz zu
Grunde gelegt.158
Die Nachrichtenfaktoren von Schulz tragen Hypothesencharakter und sind nach
mehreren Seiten offen. Ihre Wirkung wird auf einer Skala von hohen bis niedrigen
Intensitätsstufen gemessen:159
153 Schulz, Die Konstruktion, S. 70 ff.
154 Lippmann, Public Opinion, S. 348.
155 Winfried Schulz, Das Weltbild der Nachrichtenmedien, in: Walter Gagel (Hrsg.),
Massenkommunikation in der Demokratie 13 (1980) 1, S. 40.
156 Staab, Entwicklungen der Nachrichtenwerttheorie, S. 161-172.
157 Ebenda, S. 161-164.
158 Schulz, Die Konstruktion, S. 32-34, 40-45. Zu Östgaard bzw. Galtung/Ruge vgl. Einar Östgaard,
Factors influencing the Flow of News, in: Journal of Peace Research 2/1965, S. 39-63; Johan Galtung/Mari Holmboe Ruge, The Structure of Foreign News, in: Journal of Peace Research 2/1965,
S. 65-91.
159 Die folgende Auflistung nennt in der Regel nur die höchsten Intensitätsstufen. Sofern ein Beitrag
nicht diesen Kriterien entspricht – also im Fall der kulturellen Nähe ein Beitrag über ein kulturell
„fernes“ Land –, so wäre hier im Sinne Schulzes eine niedrige Intensitätsstufe zu veranschlagen.
68
• Dimension „Zeit“; Nachrichtenfaktoren „Dauer“ und „Thematisierung“: Medien bevorzugen Ereignisse, deren Anfang und Ende klar abgrenzbar und deren
Dauer sich nicht länger als über einige Studien erstreckt (höchste Intensitätsstufe). Allerdings werden auch Themen bevorzugt, die langfristig eingeführt worden
sind und die journalistische Aufmerksamkeitsschwelle bereits überwunden haben
(niedrigste Intensitätsstufe).
• Dimension „Nähe“; Nachrichtenfaktoren „räumliche Nähe“, „politische Nähe“,
„kulturelle Nähe“ und „Relevanz“: Massenmedien selektieren bevorzugt Nachrichten, die räumliche, politische oder kulturelle Nähe erkennen lassen, die also
beispielsweise aus dem Nachbarstaat, aus der Europäischen Union/NATO oder
dem westlichen Kulturraum stammen, oder die deshalb von Relevanz sind, weil
ein größerer Kreis der Medienproduzenten und/oder -konsumenten sich von einer
Nachricht individuell betroffen fühlt (hohe Intensitätsstufe).
• Dimension „Status“; Nachrichtenfaktoren „regionale Zentralität,“ „nationale
Zentralität,“ „persönlicher Einfluß“ und „Prominenz“: Die Wahrscheinlichkeit
einer Selektion wächst in dem Maß, wie eine Nachricht ein Geschehen von regionaler (Bedeutung einer Region) oder nationaler Zentralität (politische, wirtschaftliche und militärische Bedeutung eines Landes) betrifft oder wie einflußreiche Persönlichkeiten (v.a. Politiker) oder andere Prominente beteiligt sind (höchste Intensitätsstufe).
• Dimension „Dynamik“; Nachrichtenfaktoren „Überraschung“ und „Struktur“:
In der Medienberichterstattung werden überraschende, d.h. unerwartete, unvorhersehbare und ungewöhnliche Ereignisse und Entwicklungen bevorzugt (hohe
Intensitätsstufe). Über strukturell weniger komplexe Ereignisse wird häufiger berichtet als über komplexe Entwicklungen (hohe Intensitätsstufe).
• Dimension „Valenz“; Nachrichtenfaktoren „Konflikt“, „Kriminalität“, „Schaden“ und „Erfolg“: Nachrichten werden begünstigt, die ein konflikthaftes (d.h.
offen aggressives) oder kriminelles Geschehen beinhalten, in denen durch Unfälle oder Katastrophen Schaden entsteht oder die im Gegenteil einen weitreichenden, qualitativen Durchbruch auf einem bestimmten Gebiet beschreiben (hohe Intensitätsstufe).
• Dimension „Identifikation“; Nachrichtenfaktoren „Personalisierung“ und
„Ethnozentrismus“: Die Tatsache, daß ein Geschehen personalisiert ist (ein handelndes Subjekt steht im Mittelpunkt) oder daß es ethnozentrisch ist (ein Ereignis
findet im eigenen Land statt), kann die Nachrichtenauswahl begünstigen (höchste
Intensitätsstufe).
Vernetzt man die genannten Strukturkriterien des MacBride-Berichts mit den Ergebnissen der empirischen Forschung zum Auslandsbild in Massenmedien und den
Nachrichtenfaktoren (nach Schulz), so lassen sich Zonen der Übereinstimmung und
Unterschiede der verschiedenen Forschungsrichtungen sowie Vor- und Nachteile der
Ansätze zu erkennen. Abbildung 3.7 zeigt exemplarisch einige Vernetzungsmöglichkeiten. Ein Beispiel: Der Hinweis des MacBride-Berichts, die Auslandsberichterstattung sei ein Feld virulenter Feindbildproduktion, steht mit der durch eine Reihe em69
pirischer Studien ermittelten Konfliktperspektive der Medien in Einklang; beide
Aspekte werden hypothesenhaft durch die Nachrichtenfaktoren „Konflikt“, Kriminalität, Schaden und Erfolg erfaßt. Auffällig ist das hohe Maß an häufig multipler Vernetzbarkeit der Strukturtheoreme, was darauf hinweist, daß tatsächlich große Übereinstimmung zwischen den Forschungsrichtungen hinsichtlich zentraler theoretischer
Annahmen über die Struktur des Auslandsbildes in Massenmedien besteht.
70
71
Allerdings wird auch ein erkenntnistheoretischer Bruch zwischen dem MacBrideBericht und den Strukturtheoremen der Auslandsberichterstattung auf der einen Seite
und der Nachrichtenwertforschung (nach Schulz) auf der anderen Seite erkennbar,
denn das Theorem der „Nichtdarstellung internationaler Strukturprobleme“ erweist
sich als unvernetzbar mit der Nachrichtenwerttheorie, weil die Behauptung der
„Nichtdarstellung“ einen Realitätsentwurf internationaler Beziehungen zu Grunde
legt – bestimmte Probleme existieren, die die Medien nicht thematisieren –, der für
die konstruktivistische Medienwissenschaft keine Relevanz besitzt. Das in der vorliegenden Untersuchung erarbeitete Methodenparadigma des sozial- und kulturwissenschaftlichen Rekonstruktivismus (Kap. 2) ermöglicht es hingegen, Probleme der
„Nichtdarstellung“ zu berücksichtigen.
3.2.2 Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
(theoretische Mikroebene): der Journalist im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß
Individuelle Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung sind auf verschiedenen
Ebenen anzusiedeln.160 Normen, Wertbezüge, Stereotype, Feindbilder, Frames,
Theorien und Ideologien, die der Journalist im Laufe seiner politischen Sozialisation
mit primären und sekundären Instanzen (Elternhaus, Schule, Universität usw.) ausgebildet hat, können zu Einflußgrößen des medialen Darstellungsprozesses werden.
Die politische Sozialisation des (späteren) Journalisten findet in einem gesellschaftlichen Rahmen statt und stellt ein Bindeglied zwischen Journalist und Medienkonsument insofern dar, als die gesellschaftliche Bedingtheit der Wahrnehmung, wie sie
in Kapitel 3.1.1 theoretisch aufbereitet worden ist, sowohl Journalisten als auch
Konsumenten erfaßt. In einem in jedem Einzelfall zu bestimmenden Umfang und
Ausmaß teilt der Auslandsjournalist (etwa durch die Nutzung von kollektiven Nationenstereotypen) kognitive und affektive Bestandteile des Auslandsbildes mit seinem
Publikum oder mit Teilen seines Publikums, die die Art seiner Auslandsberichterstattung beeinflussen können. Um den Grad an Übereinstimmung und Differenz, an
Anpassung und Freiräumen des Journalismus gegenüber anderen Gesellschaftsgrößen wie dem Publikum in ein sinnvolles theoretisches Erklärungsmodell fügen zu
können, wird dieser Theoriekomplex aus heuristischen Gründen in einzelne Einflußgrößen aufgespalten: die individuellen politischen Wahrnehmungen und Orientierungen des Auslandsjournalisten (Mikroebene) und die Interaktionsprozesse zwischen Auslandsberichterstatter und Konsumenten (Makroebene161). Durch die Verbindung der allgemeinen Wahrnehmungs- mit der Einstellungsforschung (als Teilbereich der Sozialisationsforschung) ist die Mikrotheorie der Auslandsberichterstattung
keine Dopplung der allgemeinen Wahrnehmungstheorie (vgl. Kap. 3.1.1), sondern
stellt, wie zu zeigen sein wird, vor allem in methodischer Hinsicht ein eigenständiges
160 Zur Einführung vgl. Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 63-103.
161 Vgl. Kap. 3.2.4.1.2 und Kap. 3.2.4.2.2.
72
Forschungsgebiet dar, dem gleichwohl teilweise noch immer die fachliche Anerkennung fehlt.
Als individueller Einfluß auf die Berichterstattung kann sich zudem die zeitversetzt zur Primär- und Sekundärsozialisation erfolgende berufliche Sozialisation des
Journalisten bemerkbar machen. Verinnerlichte Rollenmodelle der Auslandsberichterstattung und journalistische Verhaltenskodizes können internationale und interkulturelle Darstellungsprozesse beeinflussen. Berufsrollen und Verhaltenskodizes beinhalten distinkte Werthaltungen des Journalisten, die er anders als die individuelle
Sozialisation in der Regel nicht mit seinem Publikum teilt, und die sowohl für sich
als auch in ihrer Wechselwirkung mit individuellen politischen Orientierungen untersucht werden müssen. Erst das Zusammenwirken von politischer und beruflicher
Sozialisation – einschließlich möglicher Konflikte zwischen persönlichen Einstellungen und beruflichen Erwartungen – bildet das Gesamt mikrotheoretischer Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung.
3.2.2.1 Politische Sozialisation: Persönliche Wahrnehmungen und Ideologien
als Einflußgröße der Auslandsberichterstattung
Im Rahmen der individuellen politischen Sozialisation werden Werte und Wahrnehmungen zu Einstellungen unterschiedlichen Komplexitätsgrades – von einfachen
Bildern und Stereotypen zu komplexeren Frames, Theorien und Ideologien – verarbeitet. Es ist kaum bestreitbar, daß persönliche Prädispositionen ihren Niederschlag
in der Medienberichterstattung finden können. Themeninteressen führen oft zu verstärkter Thematisierung, Desinteresse zur Nicht-Thematisierung. Frames und andere
Realitätstheorien können zur selektiven Hinwendung zu bestimmten Themenaspekten führen. Die Verbindung aus solchen (kognitiven) Bildkonstrukten mit (in hohem
Maße affektiven) Normen und Werten münden teilweise in Meinungen, Ideologemen
und Ideologien, die in Kommentare und Kommentierungen einfließen können.
In dem Standardwerk „The Press and Foreign Policy“ von Bernard C. Cohen
werden die potentiellen Einflüsse des Journalisten auf die Auslandsberichterstattung
als Mischung aus alltagstheoretischen Annahmen über internationale Fragen und
individuellen Wertbezügen gedeutet.162 In dieser Verbindung kommen zwei der drei
Ebenen des soziopsychologischen Konzepts der Auslandsbilder – die affektive und
kognitive, nicht jedoch die operationale Ebene – zum Tragen. Affektive wie kognitive Komponenten können zu Eckwerten unterschiedlicher Bereiche des individuellen
Meinungs- und Ideologiespektrums werden. Einige der für die Auslandsberichterstattung zentralen Ideologiebereiche werden in Tabelle 3.4 als Gegensatzpaare aufgelistet:
162 Bernard C. Cohen: „It is not merely that a correspondent’s theory of foreign policy tells him that
something is important because of its impact on other variables; he is also concerned about its impact on particular values.“ Bernhard C. Cohen, The Press and Foreign Policy, Princeton 1963,
S. 74.
73
Tabelle 3.4 – Relevante Bereiche individueller politischer Ideologiebildung (Auswahl)
Rassismus
Ethnozentrismus
Nationalismus
missionarische Religiosität
Isolationismus
Militarismus
Multi-/Inter-/Transkulturalismus
„Kosmopolitanismus“
Internationalismus
Religionsdialog
Internationalismus
Pazifismus
Dieser Katalog ließe sich beliebig erweitern, etwa um Rechts-Links-Ideologien.
Jeder einzelne Bereich kann zudem, wie dies etwa in der Feindbildforschung gemacht worden ist, auf Intensitätsskalen verortet werden. Dabei wäre auf einer Skala
von 0 bis 100 der Rassist mit 0, der Transkulturalist mit 100 und der Multikulturalist
mit einem Mittelwert einzuordnen (vgl. Kap. 3.2.4.5.1). 0 und 100 beschreiben maximal unvereinbare Weltsichten, während es bei allen Mittelwerten neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede zu benennen gibt. Anhänger sehr unterschiedlicher
kognitiver Modelle über die internationalen Beziehungen können durchaus etwa
ähnliche Wertbezüge aufweisen, beispielsweise wenn der Multikulturalist – anders
als der Rassist – zwar die friedliche Koexistenz von Rassen und Kulturen wünscht
(affektiv), den Rassenbegriff jedoch grundsätzlich als kognitives Modell zur Beschreibung der Realität akzeptiert. Oder ein Isolationist ist der Auffassung, die Außenpolitik sei grundsätzlich amoralisch (affektiv) und interessengeleitet, weswegen
man von internationalem Engagement absehen solle (kognitiv), während der Internationalist von derselben Prämisse außenpolitischer Amoralität ausgehen kann, dies
jedoch für einen unhaltbaren Zustand hält, der stärkeren internationalen Einsatz
erfordert.
Die Mikrotheorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in
Massenmedien, die Frage also, inwieweit die in der politischen (und später auch der
beruflichen) Sozialisation entstehenden Bilder und Ideologien den Inhalt der Auslandsberichterstattung beeinflussen, hat ein grundsätzliches Problem zu bewältigen,
das als Ungleichgewicht von Inhalts- und Einstellungsforschung bezeichnet werden
kann. Die soziopsychologische Erforschung von Stereotypen, Feindbildern usw. oder
andere stärker linguistisch orientierte Forschungsrichtungen wie die Framing- und
Diskursanalyse haben durch ihre starke Stellung bei der Erforschung internationaler
Medieninhalte die Sensibilität für Wahrnehmungs- und Ideologieeinflüsse gefördert.
Zugleich sind diese Forschungsrichtungen fast ausnahmslos textorientiert und verwenden inhaltsanalytische Verfahren. Die Inhaltsforschung (Wie sieht das Medienbild aus?) ist aber nur ein Bestandteil der Erforschung mikrotheoretischer Inhaltseinflüsse (Welchen Einfluß hat der Journalist auf die Medieninhalte?), da aus den Texten selbst nicht auf den Journalisten als Verursacher bestimmter Textmerkmale geschlossen werden kann, d.h. es ist nicht zu erkennen, ob diese wirklich das Resultat
sozialisationsbedingter Dispositionen des Journalisten sind oder aber beispielsweise
durch Einfluß der Medienorganisation entstanden sind. Die Ermittlung der verschiedenen, einen Text konstituierenden Einflußgrößen wird um so schwieriger, je weni-
74
ger sich diese unterscheiden, zum Beispiel wenn das persönliche Auslandsbild und
die Weltanschauung eines Journalisten mit den ideologischen Prägungen (den „Entscheidungsprogrammen“; vgl. Kap. 3.2.3) der Medieninstitutionen und ihrer Routine
der Nachrichtenselektion (Nachrichtenfaktoren) identisch sind. Entgegen solcher
Linien verfaßte Texte können zwar die Organisation als Einflußgröße ausschließen
und steigern die Wahrscheinlichkeit mikrotheoretischer Einflüsse, makrotheoretische
Einflußgrößen wie etwa momentaner Druck seitens des Publikums oder des politisch-wirtschaftlichen Komplexes (vgl. Kap. 3.2.4.2) lassen sich jedoch nicht ausschließen.
Politische Sozialisationseinflüsse sind empirisch nur durch integrierte Untersuchungen zu ermitteln, die die Inhaltsanalyse mit der Ermittlung individueller journalistischer Einstellungen verbindet. Solche Untersuchungen sind bisher nur selten
angefertigt worden.163 Eine Studie von Ruth C. Flegel und Steven H. Chaffee hat
beispielsweise gezeigt, daß Medienberichte mehr durch die persönlichen Einstellungen von Journalisten als durch die der Herausgeber (Mesoebene) und Zeitungsleser
(Makroebene) beeinflußt werden.164 Dennoch ist die Zahl empirisch aussagekräftiger
Paralleluntersuchungen bisher zu gering und sind die Ergebnisse der bisherigen
Studien zu heterogen, um generelle Aussagen treffen zu können. Für die Untersuchung von Auslandsberichterstattung gilt dies in besonderem Maß, so daß aus theoretischer Perspektive lediglich ein methodischer Imperativ der Paralleluntersuchungen formuliert werden kann, um die Mikrotheorie für die Untersuchung internationaler Darstellungsprozesse fruchtbar zu machen.165
In Ermangelung integrierter Untersuchungen von Medientexten und journalistischen Einstellungen bietet sich eine Form der Paralleluntersuchung als Alternative
an: der Vergleich zwischen verschiedenen Publikationsformen der Auslandsberichterstatter. Gerade Auslandsjournalisten sind häufig in hohem Maß auch auf den
Buchmärkten präsent, d.h. sie beliefern durch Medienberichte und Bücher verschiedene publizistische Märkte und erweisen sich in diesem Sinn als multiple öffentliche
Meinungsführer.166 Wenn davon ausgegangen werden kann, daß die Kontrolle des
Journalisten über den Inhalt dieser Buchtexte strukturell größer ist als über die Medientexte, die sie in Rundfunk und Presse veröffentlichen, wo die Medienorganisationen einen wichtigen Einflußfaktor darstellen, dann nimmt hier auch der Einfluß
persönlicher Einstellungen auf die Textinhalte zu. Buchpublikationen von Auslandsjournalisten sind daher eine verläßlichere Quelle zur Ermittlung von individuellen
Wahrnehmungs- und Ideologiemustern als die Texte der Massenmedien. Für den
Fall, daß sich ähnliche oder gleiche ideologische Einflüsse auch in der Auslandsbe163 Zum Überblick über die amerikanische Literatur vgl. Shoemaker/Reese, Mediating the Message,
S. 90 f.
164 Ruth C. Flegel/Steven H. Chaffee, Influences of Editors, Readers, and Personal Opinions on Reporters, in: Journalism Quarterly 48 (1971) 4, S. 645-651.
165 Shoemaker und Reese: „Whether personal values (...) are responsible for these differences [in media
contents/K.H.] is an empirical question. Much more research needs to be done to isolate variables
such as personal values in the context of a very complex media environment.“ Shoemaker/Reese,
Mediating the Message, S. 85.
166 Hafez/Hörner/Klemm, The Rise and Decline.
75
richterstattung nachweisen lassen, kann behauptet werden, daß diese zumindest teilweise auf Mikroeinflüsse zurückzuführen sind.
Einige exemplarische Beispiele für Ideologiemuster in Parallelpublikationen der
deutschen Auslandsberichterstattung: der Glaube an eine rassische oder ethnische
Typologisierbarkeit des Individuums im Orient ist eine Ideologie, die man als krypto-rassistisch bezeichnen und der in den Werken mehrerer deutscher Auslandsjournalisten belegt werden kann. Die Autoren pflegen keinen nordischen Rassismus, der
Semiten und andere Orientalen ausdrücklich als minderwertig betrachtet; aber sie
entwickeln in ihren Büchern zahlreiche Annahmen einer festgefügten Typologie des
Orientalen, die den essentialistischen Kern solcher Rassismen bilden kann.
• Harald Vocke (Frankfurter Allgemeine Zeitung) vermutet, die Tötungshemmschwelle liege bei Arabern niedriger als bei Europäern („Auch haben Araber insgesamt weniger Hemmungen gegenüber dem Mord als gemeinhin der moderne
Europäer.“167). Sein Verweis auf die orientalische Blutrache geht in der Generalisierung weit über die Praxis im Orient hinaus. Die Vorstellung eines das Gewaltmonopol des Staates brechenden, mordbereiten Arabers trifft etwa auf den
Durchschnittsbewohner Kairos ebensowenig zu wie auf den New Yorker, wobei
in der amerikanischen Metropole die Rate der Kapitalverbrechen, insbesondere
Mord, weitaus höher liegt. Völkerstereotype basieren bei Vocke auf einer entsprechenden Abstammungslehre („Die Perser (...) sind dem Europäer viel näher
verwandt als die semitischen Araberstämme.“168). Begründet werden solche Theorien etymologisch. Farsi zählt demnach zur indogermanischen, Arabisch
hingegen zur semitischen Sprachfamilie, was richtig ist, aber wenig aussagekräftig zur Charakterisierung der ethnisch-kulturellen Beziehungen zwischen Europa
und dem Vorderen Orient, denn die Juden Israels oder die Christen im Libanon
sprechen ebenfalls semitische Sprachen, ohne deswegen Europa weniger „verwandt“ zu sein als die „Perser“.
• Rassische Typologien sind auch in den Arbeiten Peter Scholl-Latours (u.a. Sonderkorrespondent des ZDF) zahlreich, wenn er ältere Orientalinnen als „fett wie
Nilpferde“, Kabylenfrauen als „häßlich wie die Nacht“ beschreibt oder eine ausgeprägte Tiermetaphorik auf Orientalen anwendet (Gaddafi bewegte sich „mit
der Geschmeidigkeit einer Katze“), die keine Entsprechung bei der Charakterisierung von Europäern findet.169
Andere Typologisierungen kennzeichnen nicht das Individuum, sondern Kultur und
Gesellschaft:
167 Harald Vocke, Im Duft der Zeit. Begegnung mit dem Morgen, Frankfurt/Berlin 1988, S. 145.
168 Ebenda, S. 147.
169 Karin Hörner, Peter Scholl-Latours Buch Allah ist mit den Standhaften. Die Lage war noch nie so
ernst, in: Verena Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours
verzerrtes Araber- und Islambild, Heidelberg 1993, S. 84-90; Kappert, Petra, Peter Scholl-Latour
und das „Reich des Bösen“: Kritische Lektüre des Buches Den Gottlosen die Hölle, in: Verena
Klemm/Karin Hörner (Hrsg.), Das Schwert des „Experten“. Peter Scholl-Latours verzerrtes Araberund Islambild, Heidelberg 1993, S. 129-142
76
• Gerhard Konzelmann (ARD) stereotypisiert Korruption zu einem Wesenszug der
arabischen Gegenwartskultur („Es ist keine Schande in Arabien, wenn sich der
einzelne kaufen läßt.“170); die häufige Kritik an Korruption in arabischen Medien
und in der Öffentlichkeit wird nicht berücksichtigt. Konzelmann erklärt, die arabische Politik neige zu irrationaler Gewalt („Der Rausch zum Töten und Getötetwerden löscht in Abständen die Ansätze zu vernunftorientierter stabiler Staatenbildung aus.“171). Andere mögliche Erklärungen für die Entstehung politischer
Gewalt – Instabilität des Nationalstaats und des staatlichen Gewaltmonopols, Autoritarismus, Staatsterrorismus und ethnisch-religiös motivierter Terrorismus
usw. – werden durch die Annahme einer kulturimmanenten Irrationalität ersetzt.
• Wolfgang Günter Lerch (Frankfurter Allgemeine Zeitung) legt seiner Analyse
der Politik Libanons das Modell einer religiösen Determinierung zu Grunde, die
er von politologischen Erklärungsmodellen für westliche Politik abgrenzt („Bezeichnungen wie ‘links’ und ‘rechts’ müssen in einer Welt versagen, die noch in
anderen, archaischen Kategorien des Religiösen wie Politischen denkt und lebt
als der säkularisierte Westen.“172). Lerchs Theorie ist durch eine religiöskulturalistische Essentialisierung der komplexen religiös-konfessionellen, ethnischen, sozialen, demographischen, verfassungsrechtlichen usw. Einflußfaktoren
der Innen- und innenpolitisch motivierten Außenpolitik Libanons gekennzeichnet, wobei im Libanon auch die Rechts-Links-Polarisierung über lange Jahre eine
herausragende Rolle für die Bündnisbildung gespielt hat.
• Gerhard Dambmann (ZDF) geht ebenfalls von einer kulturellen Differenz zwischen dem Westen und Japan bzw. einer „elementaren Andersartigkeit der ostasiatischen Kultur“ aus, die er unter anderem darin zu erkennen glaubt, daß demokratische Prinzipien der Mehrheitsbildung in der japanischen Politik hinter
dem kulturgeprägten Konsensdenken zurücktreten –173 eine kulturalistischessentialistische Annahme, die verkennt, daß auch Japans politisches System in
wesentlichen Teilen – etwa Wahlgesetzgebung – auf dem Prinzip der Mehrheitsbildung, nicht aber auf dem Konsens basiert.
3.2.2.2 Berufliche Sozialisation: Rollenmodelle der Auslandsberichterstattung
Die berufliche Sozialisation im Bereich der Massenmedien ist unter anderem durch
drei zentrale Faktoren gekennzeichnet:
170 Vgl. Aziz Alkazaz, Rezension zu: Gerhard Konzelmann, Die Reichen aus dem Morgenland. Wirtschaftsmacht Arabien, München 1975, in: Orient 17 (1976) 3, S. 110 f.
171 Gerhard Konzelmann, Die Araber und ihr Traum vom Großarabischen Reich, München 1976,
S. 389.
172 Wolfgang Günter Lerch, Halbmond, Kreuz und Davidstern. Nationalitäten und Religionen im
Nahen und Mittleren Osten, Frankfurt 1992, S. 14.
173 Gerhard Dambmann, Fremde Tradition vermitteln. Berichtsort Tokio: Ereignisberichterstattung
verhindert Verständnis, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977, S. 117.
77
• Individuelle Nachrichtenfaktorenroutine: Die Routine der Nachrichtenselektion
und -verarbeitung wird innerhalb der Medienorganisationen erlernt und unterliegt
daher starken mesotheoretischen, durch die Austauschbeziehungen zwischen
Organisation und Gesellschaft auch makrotheoretischen Einflüssen. Gleichwohl
verbleiben Spielräume der individuellen Interpretation dessen, was als „Nachrichtenwert“ bezeichnet werden kann, nach dem Motto: „Was denke ich, das die
anderen denken, was berichtenswert ist?“
• Adaptation journalistischer Rollenmodelle: Journalisten formulieren implizit
oder explizit berufliche Handlungsmaximen. Sie bilden das fehlende operationale Element (neben den oben genannten kognitiven und affektiven Grundlagen
persönlicher Weltanschauungen) einer individuellen Einstellungsmatrix mit möglichem Einfluß auf Medieninhalte.
• Adaptation professioneller Verhaltenscodes: Berufsständische (in vielen Staaten
auch staatliche) Professionalitätsnormen werden formuliert, um den Einfluß individueller politischer wie beruflicher Sozialisationseinflüsse durch eine (gleichwohl individuell zu interpretierende) Medienethik einzudämmen.
Der Einfluß von Rollenvorstellungen auf die Auslandsberichterstattung ist nahezu
ebensowenig gründlich erforscht wie der individueller Ideologien. Grundsätzlich sagt
Bernard C. Cohen über die Einflüsse individueller Rollenbilder auf die Auslandsberichterstattung: „(I)t seems useful to make the point explicitly that in their creative
moments or creative aspects or opportunities (and nearly all of them have these moments), the foreign affairs reporters may deem important the kinds of news stories
that reflect their dominant images of what the press ought to be contributing to the
foreign policy-making process.“174
Die Einschätzung Cohens, daß das Berufsrollenverständnis des Journalisten die
Nachrichtenselektion im Bereich der Auslandsberichterstattung beeinflussen kann,
läßt sich zu einer Grundhypothese erweitern: Berufsrollen sind im Bereich der internationalen Darstellungsprozesse in Massenmedien Antizipationen der gesellschaftlichen Wirkung und Bedeutung von Auslandsbildern und Auslandsberichterstattung.
Die aus diesen Wirkungsannahmen abgeleiteten Intentionen (Wirkungsabsichten)
können auf den Produktionsprozeß der Auslandsberichterstattung zurückwirken und
die Beschaffenheit des Auslandsbildes mitbestimmen.
Im Sinne dieser These sind Berufsrollenbilder eine operationale Ergänzung zu
den im Kontext der individuellen politischen Sozialisation entwickelten kognitiv und
affektiv fundierten Einstellungen. Sie beschreiben eine potentielle Wirkungssphäre
des Auslandsjournalisten, ohne deren Formulierung individuelle Einstellungen zwar
Einfluß auf die Medientexte ausüben können, ihre gesellschaftliche Wirkung gleichwohl nichtintentional bleibt. Suchen Journalisten jedoch nach Möglichkeiten, ihre
individuellen Wahrnehmungen und Theorien an den Konsumenten zu vermitteln und
ihnen hierdurch gesellschaftliche Relevanz zu verleihen, wird dies in der Regel über
den Umweg einer Formulierung von Berufsrollen erfolgen.
174 Cohen, The Press, S. 80.
78
Verschiedene idealtypische Rollenvorstellungen der Auslandsberichterstattung lassen sich unterscheiden:
• Neutraler Informant: Die Vorstellung, als „neutraler Informant“175 der internationalen Berichterstattung zu wirken, ist eng an die Objektivitätsnorm des demokratischen Journalismus gebunden. Das Rollenmodell knüpft teilweise an das problematische Konzept der „Realität“ als einer wahrnehm-, abbild- und vermittelbaren Größe an, wobei der Konstruktionscharakter der Realität unbeachtet bleibt.
In abgemilderter Form kann das Rollenbild jedoch auch dazu dienen, Medieninformationen ein Höchstmaß an intersubjektiver Überprüfbarkeit zu verleihen und
zu berichtende Diskurse Dritter in pluralistischer Form (pro und contra) zu vermitteln. Die Neutralitätsnorm ist prinzipiell der beste Garant dafür, daß die eigenen politischen Orientierungen – beispielsweise krypto-rassistische Ideologeme
wie oben vorgestellt – im Zustand der Selbstkontrolliertheit verbleiben. Der
Journalist vermeidet entweder bewußt ihr Vordringen in den von ihm verfaßten
Text, da er sich selbst als (meinungsloser) Mittler eines faktischen Weltgeschehens betrachtet, und er vermittelt die Ansichten Dritter (Politiker, Intellektueller
usw.). Die Neutralitätsnorm eignet sich jedoch auch zur Manipulation: zur (oft
unbewußten) Selbstmanipulation, indem die eigenen Orientierungen in einer
bevorzugten Hinwendung zu ähnlich gelagerten Ansichten Dritter indirekt in den
Text einfließen, oder zur externen Funktionalisierung etwa durch Propaganda
und staatliche Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen, die sich der Nachrichtenagenturen und Medien als Vermittler ihrer Außenpolitik bedienen (vgl. Kap.
3.2.3.2).
• Mitgestalter der Außenpolitik: Hier handelt es sich um einen ganzen Komplex
von Rollenbildern im Bereich der internationalen Berichterstattung.176 Anders als
das Neutralitätsgebot ermöglicht die Vorstellung einer Mitwirkung des Journalisten in den internationalen Beziehungen prinzipiell die Kopplung der kognitiven
und affektiven individuellen Orientierungen (politische Sozialisation) mit der
operationalen Sphäre (berufliche Sozialisation). Da die außenpolitische Mitgestaltung zumindest im demokratischen Journalismus westlicher Prägung eine sekundäre Stellung hinter dem Neutralitätsgebot einnimmt, ist in der Regel nicht zu
erwarten, daß Mitgestaltungsversuche im Widerspruch zu individuellen Orientierungen erfolgen.
Bei Cohen ist die politische Mitgestaltung des Journalisten in mehrere Unterrollen unterteilt, die alternativ oder komplementär zum Tragen kommen können:
-
Repräsentant der Öffentlichkeit: Politiker erhalten bei internationalen Fragen
in der Regel nur sehr wenig Rückmeldung aus der Bevölkerung. Stärker als
bei innenpolitischen Fragen sind es kleine Eliten und eine vergleichsweise
schwach ausgebildete Organisationslandschaft, die sich – mit Ausnahme von
Krisenzeiten – in den außenpolitischen Diskurs einschalten. Die Medienreak-
175 Ebenda, S. 22-30.
176 Ebenda, S. 31-47.
79
-
-
tion auf Außenpolitik, insbesondere die der großen überregionalen Zeitungen,
ist daher für die Politiker von besonderem Interesse (vgl. Kap. 3.2.4.1.3). Für
den Auslandsjournalismus bedeutet dies, daß die relative Konkurrenzlosigkeit
der Auslandsberichterstattung bei der Konstituierung öffentlicher Meinung
als Aufforderung einer tendenziellen Verlagerung von der neutralen Informations- zur politischen Mitgestaltungsrolle verstanden werden kann, wobei insbesondere die internationalen Themen, Ansichten und Interessen der Bevölkerung bzw. der interessierten Öffentlichkeiten aufgegriffen werden müßten.
Diese Verlagerung ist auch im amerikanischen Kontext nicht unumstritten.
Dennis: „(S)ome of our most able journalistic talents come to see themselves
not so much as reporters and observers but as foreign policy experts, writing
not for the public at large but for policymakers in Washington and elsewhere.“177 Alle anderen Teilrollen des Mitgestaltungsdenkens (s.u.) basieren
auf dieser demokratischen Repräsentationsvorstellung der Auslandsberichterstattung.
Kritiker der Außenpolitik: Ein Verständnis der Medien als „vierte Gewalt“
und Kritiker der nationalen Außenpolitik ist insbesondere in den USA ausgeprägt.178 Diese Rollenvorstellung ist allerdings nach Untersuchungen Robert
M. Batschas unter Radio- und Fernsehjournalisten umstrittener als im Bereich
der von Cohen untersuchten Presse. Batscha meint, daß etwa die Hälfte der
Journalisten der Kritikrolle zuneigen, während Cohen noch behauptet hatte,
diese sei ebenso konsensual wie die Informationsrolle.179 Die Adaptation des
Rollenbildes eines Kritikers der Außenpolitik durch den Journalisten fördert
die Darstellung von Fehlentwicklungen der internationalen Politik, insbesondere der nationalen Außenpolitik.
Advokat der Außenpolitik: Kehrseite der Kritik ist die Anregung alternativer
Politikrichtungen. Batscha hat darauf hingewiesen, daß anders als in dem von
Cohen untersuchten Bereich der privaten Presse die bewußte Initiierung von
Außenpolitik im Rundfunk- und Fernsehbereich von weniger Journalisten als
Rollenmodell anerkannt wird als die Kritikfunktion.180
Bereits ein kursorischer Einblick in einige Selbstdarstellungen deutscher Auslandsjournalisten – wie die politischen Einstellungen ist dies noch nicht systematisch
erforscht – zeigt, daß diese im amerikanischen Journalismus entstandenen Rollenkonzepte zwar teilidentisch mit deutschen Rollenvorstellungen sind, daß jedoch die
Liste unvollständig ist:
• Heinrich von Jaenecke (stern) kennzeichnet seine Berichterstattung über Länder
wie China, Spanien und Rußland als Bestandteil eines erweiterten politischen
Handlungsprozesses („‘Politik ist wie eine Droge – man kann nicht wieder aus177 Everette E. Dennis, Of Media and People, Newbury Park 1992, S. 42.
178 Cohen, The Press, S. 33-36.
179 Robert M. Batscha, Foreign Affairs News and the Broadcast Journalist, New York u.a. 1975,
S. 38-43.
180 Ebenda, S. 44.
80
steigen, wenn man einmal drin ist.’ Der alte Spruch gilt für den Reporter nicht
weniger als für den Akteur auf der Bühne. Sie brauchen sich gegenseitig: Was
wäre der Politiker ohne den Spiegel des Reporters – ein armseliges Nichts.“181)
Dieses Verständnis geht über das neutrale Informationsmodell hinaus und impliziert eine Mitgestaltung der Auslandsberichterstattung in der Politik, ohne allerdings Rollenfacetten wie Repräsentanz, Kritik und Advokatismus zu spezifizieren.
• Peter Scholl-Latour (u.a. Sonderkorrespondent ZDF) weist darauf hin, daß seine
politischen Voraussagen sowohl in bezug auf die Politik de Gaulles wie auch auf
das Scheitern der Amerikaner in Vietnam sich als richtig erwiesen hätten und beklagt, daß junge Journalisten im westdeutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem zu wenig Freiräume zur politischen Kommentierung besäßen.182 Auch
Haltungen, die wie die Scholl-Latours, dem politischen Mitgestaltungsgedanken
zuneigen, richten sich jedoch nicht speziell auf die deutsche Außenpolitik, sondern vielmehr auf die kritische Begleitung der internationalen Politik und Kommentierung von Außenpolitik, die in hohem Maß in den USA, Frankreich usw.
gemacht wird, während der deutschen, lange Jahrzehnte weniger bedeutsamen
Außenpolitik nicht das Hauptaugenmerk gilt – was einen Mitgestaltungswillen im
Einzelfall nicht ausschließt.
• Rudolf Radke (ZDF) äußert sich kritisch gegenüber einer durch politische Gestaltungsinteressen gelenkten Auslandsberichterstattung und verweist auf „autonome
Strukturen“ in den Bericherstattungsländern, die im Zentrum journalistischer Arbeit stehen müßten.183 Radke bestätigt exemplarisch Batschas Hinweis darauf,
daß Rundfunkjournalisten häufig ein stärker an der neutralen Informationsfunktion der Medien orientiertes Rollenbild vertreten als Pressejournalisten.
Politisches Gestaltungsinteresse oder dessen Ablehnung spiegeln sich ebenso in der
berufsbegleitenden Fachliteratur. Hinsichtlich der politischen Gestaltungsrolle der
Auslandsjournalisten läßt sich in der Literatur ein Trend von Zustimmung in Werken
der Nachkriegszeit zu stärkerer Ablehnung in späteren Zeiten erkennen:
• Walter Hagemann hat die klassische Position des Auslandskorrespondenten als
„inoffizieller Botschafter“ des eigenen Landes formuliert. In Hagemanns Rollenbeschreibung tritt zum einen die neutrale Informationsfunktion hinter die politische Mitgestaltung zurück, und zum anderen wird die politische Gestaltung in erster Linie als Advokatismus nationaler Interessen des Heimatstaates gedeutet:
Man hat den Auslandskorrespondenten einen inoffiziellen Botschafter seines
Landes genannt. Dieser anspruchsvolle Vergleich ist durchaus zutreffend (...).
181 Der Stern – Das Medium, Gruner + Jahr AG und Co., Hamburg 1992, S. 66.
182 Peter Scholl-Latour, Leistung, zum Prinzip erhoben. Konzepte für die Zukunft der Auslandsberichterstattung, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977, S. 57.
183 Rudolf Radke, Kontinuität als Hauptproblem. Wachsende Interdependenz des Weltgeschehens und
abnehmende Möglichkeiten der Berichterstattung, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel ins
Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977, S. 44.
81
Bedenkt man, daß ihre Berichte die Vorstellungen von Millionen über ein
fremdes Land beeinflussen und formen, daß ihre politischen Urteile häufig
wie diplomatische Erklärungen bewertet werden, daß sie nicht selten vertrauliche Aufträge ihrer Regierungen und Botschaften ausführen, daß sie hinter
den Kulissen der Politik des fremden Landes oft besser Bescheid wissen als
die amtlichen Missionschefs, so kann man ermessen, welche Bedeutung die
richtige Auswahl und die verantwortungsbewußte Arbeit dieser Korrespondenten besitzt! (...) Inmitten von widerspruchsvollen Informationen, von Intrigen, Interessen, Beeinflussungsversuchen, muß das höchste Streben des
Korrespondenten darauf gerichtet sein, der Wahrheit und den Interessen seines Landes zu dienen, die Beziehungen von Volk zu Volk zu fördern und zu
entgiften (...).184
• H.G. von Studnitz argumentiert ebenfalls im Jahr 1950 im selben Tenor über die
beruflichen Pflichten des Auslandsredakteurs. Aus der Tatsache, daß im Verlauf
des 19. und 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Presse und Medien für die Außenpolitik gestiegen sei, leitet er die Notwendigkeit ab, von seiten der Politik die
Medien als Mitgestalter der Außenpolitik zu akzeptieren und von seiten der Medien, sich für nationale außenpolitische Interessen einzusetzen.185
• Das normative Konzept des Journalisten als eines „Botschafters“ wird spätestens
seit den siebziger Jahren von verschiedenen Journalisten und Autoren als „Botschafterkomplex“ kritisiert. Die Vorstellung, der Auslandsberichterstatter sei den
nationalen Interessen des Heimatlandes verpflichtet, wird als eurozentrische Position abgelehnt.186 Die Kritiker des Mitgestaltungskonzeptes haben es jedoch versäumt, die Frage zu diskutieren, ob und wie sich ein Mitgestaltungsverständnis
der Auslandsberichterstattung mit der Grundverpflichtung zur Neutralität verbinden läßt, d.h. wie man eine normative Verpflichtung zur politischen Mitwirkung
(etwa zum Abbau internationaler Krisen) übernehmen kann, ohne dabei national
oder bündnispolitisch gebunden zu sein. Wo ein solches Rollenverständnis des
Journalisten als internationalem Vermittler – wie sie gerade die Krisenforschung
gefordert hat (vgl. Kap. 3.2.4.4.2) – nicht existiert, ist nicht verwunderlich, daß in
den neunziger Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung ein nationales Be-
184 Walter Hagemann, Die Zeitung als Organismus, Heidelberg 1950, S. 92.
185 H.G. von Studnitz, Presse und auswärtige Politik, in: Aussenpolitik 1 (1950) 4, S. 292-299.
186 Georg Jürgens, Politische Auslandsberichterstattung im deutschen Fernsehen, am Beispiel der
Korrespondentenberichterstattung über die USA, Berlin 1974, S. 39 f.; Ekkehard Launer, Das Weltbild der Fernsehredakteure. Über die Schwierigkeiten, „objektiv“ zu recherchieren, in: Fritz Michael
(Hrsg.), Die tägliche Mobilmachung oder: Die unfriedlichen Strukturen der Massenmedien,
Göttingen 1984, S. 85 ff. Herbert von Borch charakterisiert im Jahr 1963 die Beziehung zwischen
Korrespondenten und der nationalen Diplomatie einerseits als ein Vertrauensverhältnis, andererseits
betrachtete er den Korrespondenten als „von nationalpolitischen Weisungen freier“ als den
Diplomaten. Herbert von Borch, Der Auslandskorrespondent, in: Merkur 17 (1963) 179, S. 386 f.
82
rufsverständnis erneut Einzug in die beruflichen Selbstdefinitionen deutscher
Journalisten gefunden hat.187
Neben dem auf staatliche Außenpolitik bezogenen Rollenverständnis kommen im
deutschen Auslandsjournalismus Vorstellungen zum Tragen, die nach einer Positionierung des Journalisten im kulturellen Umfeld seiner Tätigkeit verlangen:
• Robert Hetkämper (ARD) beschreibt die Aufgabe des Auslandskorrespondenten
als die eines Vermittlers zwischen den Kulturen und „Übersetzers“ fremder Phänomene für das heimische Publikum.188 Während sich Cohens Interesse an Rollenkonzepten auf die Haltung der Journalisten zur staatlichen Außen- und internationalen Politik beschränkt, ist Hetkämpers Rollenmodell eine Reaktion auf die
Kritik am Bild der „Dritten Welt“ im Rahmen der Debatte über die Neue Weltinformationsordnung der siebziger und achtziger Jahre. Dort angesprochene Mängel wie die Dekontextualisierung der Ereignisberichterstattung werden bei Hetkämper zu einer Forderung nach journalistischer Aufarbeitung des kulturellen
Kontextes umgesetzt. Bisher fehlt allerdings eine stringente Untersuchung, die
der Fragestellung nachgeht, inwieweit Defizite des Strukturbildes der internationalen Medienberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.1) auf breiter Basis in positive berufliche Rollenbilder umgewandelt worden sind.
• Gerhard Friedl (ARD) begründet die Tatsache, daß Korrespondenten der ARD
für drei oder maximal fünf Jahre an einen Korrespondentenplatz entsandt werden,
damit, daß andernfalls die nötige „Distanz“ zum Berichterstattungsland verloren
gehe.189 Wie für Hetkämper und viele andere deutsche Korrespondenten ist der
kulturelle Transfer für Friedl ein wesentlicher Teil der normativen Berufsauffassung, wird jedoch als Transfer zwischen wesensmäßig ungleichen Polen – ganz
im Sinne kultureller Differenz- und Essentialisierungsannahmen (vgl. Kap.
3.2.2.1) – betrachtet.
Zur Bestimmung von Mikroeinflüssen (des Journalisten) auf den Inhalt der Auslandsberichterstattung ist es nicht allein erforderlich, Vergleichsuntersuchungen von
a) individuellen politischen Orientierungen und Inhaltsanalysen sowie b) beruflichen
Rollenbildern und Inhaltsanalysen durchzuführen. Es ist darüber hinaus erforderlich,
das Zusammenwirken von individuellen und beruflichen Sozialisationseinflüssen zu
ergründen. Mikroeinflüsse (politische Orientierungen oder Rollenbilder) konkurrieren in ihrem Einfluß auf den Textinhalt nicht allein mit Meso- und Makrofaktoren
des Darstellungsprozesses. Auch auf der Mikroebene selbst können Konflikte zwischen individuellen und beruflichen Sozialisationsanforderungen zum Tragen kommen, etwa zwischen individuellen Werten und beruflichen Rollenimperativen.
187 Robert Hetkämper, Der fremde Blick. Auslandskorrespondenten in einer sich wandelnden Welt, in:
ARD Jahrbuch 95, Hamburg 1995, S. 131.
188 Ebenda, S. 125.
189 Gerhard Friedl, Rund um die Uhr aus aller Welt. Hörfunkkorrespondenten der ARD, in: ARDJahrbuch 1995, Hamburg 1995, S. 48.
83
Zwar wird man in der Regel erwarten können, daß die Freiräume, die die Meso- und
Makroeinflüsse dem Journalisten lassen, von diesem dazu genutzt werden, die ohnehin sehr diffusen Rollenkonzepte des Journalismus im Sinne seiner individuellen
Neigungen zu interpretieren, also im Sinne Festingers „kognitive Dissonanz“ (vgl.
Kap. 3.2.1) zu vermeiden. Individuelle politische Orientierungen werden früher
erworben als die professionellen Rollen, die auf diese Weise selektiv angepaßt werden, so daß sie als operationale Fortsetzung kognitiver und affektiver Einstellungen
interpretiert werden können. Dennoch ist ein Konflikt zwischen individueller und
beruflicher Sozialisationserfahrung nicht auszuschließen, beispielsweise wenn das
journalistische Neutralitätsgebot die eigene politische Meinung, die im Sinne des
außenpolitischen Mitgestaltungsdenkens ventiliert werden könnte, kontrolliert.
Zugleich werden in der beruflichen Sozialisation auch journalistische Normen
mit dem Ziel vermittelt, die individuelle Ethik des Journalisten in ein produktives
Spannungsverhältnis zur Berufsethik zu überführen. Berufsethik und weltanschauliche Orientierung müssen nicht harmonieren, sondern können als Dissonanz und als
Rollenkonflikt erlebt werden (vgl. den Kreislauf in Abb. 3.8). Ein solcher Konflikt
kann etwa im Fall Hetkämpers entstehen. Er geht vom Grundsatz kultureller Differenz, also von der Unmöglichkeit eines letztlichen Verstehens „fremder“ Kulturen
durch den Journalisten aus; eine Haltung, wie sie oben auch bei anderen Auslandsjournalisten als ideologischer Eckwert ermittelt worden ist.190 Hetkämper weist also
dem Auslandskorrespondenten die „Übersetzung“ kultureller Phänomene (Berufsrolle) zu, von denen er auf Grund seiner individuellen Einstellung annimmt, daß sie in
letzter Instanz wegen mangelnder Akkulturationsfähigkeit des Journalisten nicht
verstanden werden können.
190 Hetkämper, Der fremde Blick, S. 124.
84
85
3.2.2.3 Journalistische Verhaltenskodizes und internationale Berichterstattung
Ob es gelingt, berufliche und individuelle Verhaltensnormen, die Einfluß auf die
Auslandsberichterstattung ausüben können, in Übereinstimmung zu bringen, hängt
auch davon ab, inwieweit eine berufsethische Normierung als Professionalitätsnorm
institutionalisiert werden kann. Vergleichende Analysen europäischer Medienkodizes haben ergeben, daß in Deutschland und den meisten anderen westeuropäischen
Ländern internationale Fragen weniger Beachtung finden als in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas. „Respekt vor anderen Staaten und Nationen“ ist demnach in den neunziger Jahren in 9 von 31 untersuchten Verhaltenskodizes (29%)
erwähnt worden, nämlich in Finnland, Frankreich, Griechenland, Kroatien, Litauen,
Portugal, der Slowakei, Ungarn und der Türkei. Nicht erwähnt wird diese Norm in
Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Irland, Island, Italien,
Katalonien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Rußland,
Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz und Tschechien.191 Da die Kodizes der
sozialistischen Ära in der Regel Aspekte der internationalen Verständigung, des
Friedens, der Völkerfreundschaft und der Kooperation stärker hervorhoben als die
meisten westeuropäischen Normenkataloge,192 kann die gegenwärtige stärkere Beachtung internationaler Fragen in osteuropäischen Ländern als Nachklang der sozialistischen Ära betrachtet werden. Westliche Normenkataloge hingegen legen den
Schwerpunkt auf individuelle Pflichten (faktische Richtigkeit der Nachricht usw.)
und den Schutz individueller Rechte bis hin zum Schutz der Privatheit. Allerdings
wenden sich 87 Prozent aller untersuchten Normenkataloge – also auch die meisten
westeuropäischen – gegen Rassenhaß und religiöse Diskriminierung.193
Der Entwurf einer internationalen Medienethik-Charta der Vereinten Nationen
schrieb bereits 1952 das Prinzip der auf dem notwendigen Sachwissen beruhenden
ausgewogenen Berichterstattung über andere Staaten und Nationen fest.194 Die „International Principles of Professional Ethics in Journalism“ von 1983 heben unter
anderem den Respekt vor universellen Werten wie vor der Diversität der Kulturen
hervor.195 Seit Anfang der neunziger Jahre hat vor allem die Kritik an der internationalen Berichterstattung über den Golfkrieg von 1991 Forderungen nach einer gemeinsamen europäischen Mediencharta im Europäischen Parlament und auf Ministerkonferenzen forciert.196 Eines der Hauptargumente für eine europäische oder
191 Tiina Laitila, Codes of Ethics in Europe, in: Kaarle Nordenstreng (Hrsg.), Reports on Media Ethics
in Europe, Tampere 1995, S. 45. Die Angaben auf S. 62, wonach 13 Prozent der Kodizes die genannte Norm enthalten, sind falsch. Kategorie IV.F (Nr. 52, S. 62) ist bei der Umrechnung in Prozentangaben offensichtlich mit Kategorie IV.G (Nr. 37, S. 61) verwechselt worden.
192 Walery Pisarek, Overview, in: Kaarle Nordenstreng/Hifzi Topuz (Hrsg.), Journalist: Status, Rights
and Responsibilities, Prag 1989, S. 105 f.
193 Laitila, Codes, S. 60.
194 Clement J. Jones, Mass Media Codes of Ethics and Councils, Paris 1980, S. 14.
195 Kaarle Nordenstreng/Hifzi Topuz (Hrsg.), Journalist: Status, Rights and Responsibilities, Prag
1989, S. 311 f.
196 Laitila, Codes, S. 68 f.
86
erweiterte internationale197 Charta ist die zunehmende Internationalisierung/Globalisierung der Medien.198 Internationale und interkulturelle Aspekte, die in nationalen
Normenkatalogen häufig wenig Beachtung finden, sollen in multinationalen Kodizes
aufgewertet werden.
Die Absenz internationaler und interkultureller Normen in den meisten europäischen Normenkatalogen hat zur Folge, daß Auslandsberichterstattung faktisch unter
einem Gesinnungsvorbehalt steht. Zwar existieren, wie gesehen, vereinzelt Rollenvorstellungen der internationalen Berichterstattung, die diese zu einer demokratisch
neutralen (neutraler Informant, kultureller Übersetzer) oder auch partizipierenden
(Mitgestalter der Außenpolitik) Berichterstattung verpflichten. Hier ist der Übergang
von einer Gesinnungspublizistik, die den Einfluß individueller Wahrnehmungen,
politischer Orientierungen und Ideologien auf die Auslandsberichterstattung fördert,
zu einer demokratisch-repräsentativen Publizistik (etwa nach H. Prakke199), die den
Journalisten als Repräsentanten der Gesellschaft betrachtet, vollzogen. Gleichwohl
ist das eher sporadische Auftreten spezifischer Berufsrollenvorstellungen über internationale Berichterstattung, wobei Hinweise auf Neutralität, politische Gestaltungsansprüche und Kulturvermittlungsinteressen nach individueller Neigung oder gemäß
bestimmter Interessen etwa von Kirchen oder NGO-Zusammenschlüssen formuliert
werden,200 ein Hinweis auf die schwache Institutionalisierung international und interkulturell ausgerichteter journalistischer Verhaltensnormen, auf geringe Impulse
zur Initiation gesinnungskorrigierender Rollenkonflikte und auf eine letztliche Unterordnung beruflicher unter individuelle Sozialisationsanforderungen.
197 Im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft infolge der Mittelmeerkonferenz von Barcelona
von 1995 wird zudem die Abfassung eines „White Paper on the Media in the Mediterranean“ angestrebt, in dem unter anderem ein Hinweis auf die Notwendigkeit zur Vermeidung von Stereotypen
verankert werden soll. Fòrum Civil Euromed/Barcelona 1995, S. 203 f.
198 Laitila, Codes, S. 71.
199 Vgl. Klaus Klenke, Das journalistische Selbstverständnis in seinem soziologischen
Bedeutungszusammenhang. Dargestellt an einer Abteilung des Westdeutschen Rundfunks Köln,
Diss. Universität Bochum 1970, S. 73.
200 Einen umfangreichen Katalog zur Schaffung einer europäischen Rundfunkordnung, die analog auch
auf erweiterter internationaler Ebene verabschiedet werden soll, hat die Evangelische Kirche in einer Stellungnahme von 1987 entworfen: 1.) Wahrung und Förderung der Kultur unter nationalen
und transnationalen Gesichtspunkten; 2.) Abrücken vom Markt als Steuerungsinstrument; 3.) staatsferne Organisation gesellschaftlicher Kontrolle; 4.) Sicherung eines Höchstmasses an Vielfalt,
5.) Sicherung der Freiheit der Berichterstattung; 6.) Werberegulierung nach kulturellen und gesellschaftlichen Interessen; 7.) Schutz von Kindern und Jugendlichen; 8.) Schutz von Minderheiten;
9.) Sicherung von Menschenrechten, Frieden und Völkerverständigung; 10.) Achtung religiöser Gefühle unter nationalen und transnationalen Gesichtspunkten und Anprangerung ihres ideologischen
Mißbrauchs; 11.) Repräsentanz weltanschaulicher Gruppierungen unterschiedlicher Kulturtraditionen im Mediendiskurs. Vgl. Hans-Wolfgang Heßler, Über die Mühsal einer globalen Verständigung. Zum Stand der Diskussion über eine neue Welt-Informations- und Kommunikationsordnung,
in: Wolfgang Wunden (Hrsg.), Medien zwischen Markt und Moral. Beiträge zur Medienethik,
Frankfurt 1989, S. 243; Bilder und Botschaften, Praktische Leitlinien, Hrsg. von dem Bensheimer
Kreis, einem Zusammenschluß verschiedener Nichtregierungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit, Bensheim 1991.
87
3.2.3 Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
(theoretische Mesoebene): Die Medienorganisation im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß
Auf der theoretischen Mesoebene internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse in Massenmedien werden organisatorische und soziale Einflüsse innerhalb
des darstellenden Mediums und des erweiterten Medien- und journalistischen Systems konzeptionalisiert. Eine allein auf der Nachrichtenwerttheorie und anderen
Theoremen der Struktur medialer Auslandsbilder beruhende Theorie müßte auf der
Annahme basieren, daß es die Weltereignisse selbst sind, denen eine bestimmte
Qualität anhaftet, die sie entweder zur Nachricht werden lassen oder auch nicht.
Hierbei würde ein abstrakter Journalist konzipiert, der als black box den Informationsstrom filtert und kanalisiert, ohne daß die black box selbst – also etwa die Persönlichkeits- und Wahrnehmungseinflüsse – untersucht würde. Strukturanalysen des
Auslandsbildes in Massenmedien leisten im wesentlichen Kategorisierungen des
Nachrichten-Outputs. Auf der theoretischen Mikroebene werden persönliche Ideologien und journalistische Rollenmodelle als Einflußfaktoren auf die Textgestaltung
untersucht.
Die Mesotheorie untersucht die organisatorischen und sozialen Einflüsse auf die
Input-Output-Relation. Ihr Fundament bezieht die Mesotheorie von sehr unterschiedlichen theoretischen Forschungsrichtungen. Der ausgeprägten allgemeinen organisatorischen Journalismus- bzw. Redaktionsforschung201 sowie der Nachrichtenagenturforschung202 stehen nur sehr wenige Versuche einer systematischen Untersuchung
organisatorisch-sozialer Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung in Massenmedien, Redaktionen und bei Auslandskorrespondenten gegenüber.203 Gerade in letzterem
201 Leon V. Sigal, Reporters and Officials. The Organization and Politics of Newsmaking, Lexington
u.a. 1973; Manfred Rühl, Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System, Freiburg 1979
(überarb. u. erw. 2. Aufl.); Lars Engwall, Newspapers as Organizations, Hampshire 1986. Einen
Überblick über die allgemeine Organisationsliteratur im Bereich der Massenmedien geben: Manfred
Rühl, Organisatorischer Journalismus. Tendenzen der Redaktionsforschung, in: Max Kaase/Winfried Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde, Opladen 1989,
S. 253-269; Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 139-174; vgl. a. Herbert J. Gans, Deciding What’s News. A Study of CBS Evening News, NBC Nightly News, Newsweek, and Time, New
York 1979, S. 78-115; Siegfried Weischenberg, Journalismus als soziales System, in: Klaus
Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine
Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 427-454.
202 Vgl. u.a. Jürgen Wilke/Bernhard Rosenberger, Die Nachrichtenmacher. Zu Strukturen und
Arbeitsweisen von Nachrichtenagenturen am Beispiel von AP und dpa, Köln u.a. 1991; Jürgen
Wilke (Hrsg.), Agenturen im Nachrichtenmarkt. Reuters, AFP, VWD/dpa, dpa-fwt, KNA, epd,
Reuters Television, Worldwide Television News, Dritte-Welt-Agenturen, Köln u.a. 1993; Oliver
Boyd-Barrett, The International News Agencies, London/Beverly Hills 1980.
203 Alfred C. Lugert, Auslandskorrespondenten im internationalen Kommunikationssystem. Eine
Kommunikator-Studie, Pullach 1974; John T. McNelly, Intermediary Communicators in the International Flow of News, in: Journalism Quarterly 36 (1959) 1, S. 23-26; Sophia Peterson, Foreign
News Gatekeepers and Criteria of Newsworthiness, in: Journalism Quarterly 56 (1979) 1, S. 116125; Gertrude J. Robinson, Foreign News Selection is Non-Linear in Yugoslavia’s Tanjug Agency,
in: Journalism Quarterly 47 (1970) 2, S. 340-351.
88
Bereich überragt die Zahl der erzählenden Insider-Berichte systematische Theorieentwürfe um ein vielfaches.
Ältere Versuche, organisatorische Prozesse der Auslandsberichterstattung etwa
durch die Distanztheorie zu erklären, wonach sich die Selektionsleistungen, Nachrichtenverdichtungen, aber auch Störeinflüsse auf die Nachrichten mit größerer Distanz und der im Vergleich zur Inlandsberichterstattung größeren Zahl an „Schleusenwärtern“ (gatekeepers), die jeweils ihre individuellen Kanalisierungspräferenzen
einbringen, vergrößern,204 verharren im Grunde bei einem Individualmodell der
Informationskanalisation: der in seinen individuellen Normen und Funktionen beschriebene Journalist (der mikrotheoretischen Forschung) wird dabei lediglich durch
die Vorstellung einer Addition individueller Nachrichteneinflüsse ersetzt. Dieses
Kumulationsmodell von Mikroeinflüssen ist jedoch zu vereinfachend, denn es blendet die sozialen Interaktions-, Konflikt- und Verhandlungsprozesse innerhalb der
Medien und des Journalismus aus, ohne deren Analyse nicht beurteilt werden kann,
welche individuellen Neigungen sich in der Kette des Informationsflusses letztlich
durchsetzen und inwieweit diese Neigungen erst im sozialen Kontakt entstehen oder
beeinflußt werden. Die Struktur des Auslandsbildes und der Auslandsberichterstattung ist nicht allein ein Ergebnis individuellen Handelns, sondern zum Teil auch
Resultat eines sozialen Prozesses, in dessen Verlauf die Organisation als solche oder
Teile der sozialen Organisation die nachrichtenwertliche Interpretation gesammelter
oder zu sammelnder Informationen steuern. Das „Ganze“ der Auslandsberichterstattung ist häufig mehr als die „Summe der Einzelteile“ individueller journalistischer
Auslandsbilder.
Abbildung 3.9 erfaßt einige der sozialen Einflußgrößen:
• die Beziehung zwischen Verlag und Redaktion, die vor allem durch die Frage der
informationellen und inhaltlichen Rahmenbedingungen und deren bedeutsamen
Einfluß auf die Qualität der Berichterstattung geprägt ist
• die Stellung der Medienorganisation im Informationsfluß und die (Un-)Abhängigkeit von vorgeordneten Informationsgebern (wie den Nachrichtenagenturen)
• „programmierte“ Entscheidungen, d.h. durch eine spezifische Routine, die sich in
jeder Organisation als Ergebnis verlegerischer Leitlinien oder redaktioneller
Erfahrungswerte herausbildet
• formale Hierarchien und Funktionsteilungen sowie informelle soziale Beziehungen innerhalb der Zentralredaktion und zwischen Zentrale und Auslandsmitarbeitern sowie informelle innerjournalistische Meinungsführerschaften, die oft über
das einzelne Medium hinaus weitere Teile des Mediensystems einbeziehen.
204 Vgl. Malcolm MacLean/Luca Pinna, Distance and News Interest: Scarperia, Italy, in: Journalism
Quarterly 36 (1959) 1, S. 36-48; Susan Welch, The American Press and Indochina, 1950-1956, in:
Richard L. Merritt (Hrsg.), Communication in International Politics, Urbana 1972, S. 227 f.
89
90
3.2.3.1 Informationelle Rahmenbedingungen der Auslandsberichterstattung
Die informationellen Rahmenbedingungen journalistischen Arbeitens charakterisiert
Leon V. Sigal mit den Kernbegriffen time, space und staff.205 Das Arbeiten unter
begrenzten Zeit-, Platz- und Personalvorgaben wirkt sich auf die Auslands- ebenso
wie auf die Inlandsberichterstattung aus. Die vom Verleger oder der Leitung einer
Medienorganisation festgelegten Rahmenbedingungen sind derartig bedeutsam für
den internationalen Darstellungsprozeß, daß eine Reihe von Nachrichtenfaktoren und
strukturellen Kennzeichen der Auslandsberichterstattung wie auch weite Teile der
Kritik an dieser (etwa im Rahmen der Debatte über die Neue Weltinformationsordnung) mit ihrer Hilfe begründet werden können. Eliten- oder Konfliktkonzentration
oder ein Mangel an Hintergrundkontexten im Auslandsjournalismus, in verschiedenen Untersuchungen konzediert, wären demnach keine individuell-journalistischen
Bestimmungsgrößen, sondern entsprängen professionellen Optimierungsversuchen
unter den Bedingungen knapper Ressourcen,206 wobei eine Ausweitung derselben
existierende Ungleichgewichte beseitigen würde. Der Versuch, Medieninhalte allein
vor dem Hintergrund informationeller Rahmenbedingungen zu erklären, muß jedoch
insofern unzureichend bleiben, als eine Reihe der Medieninhaltsanalysen für sehr
unterschiedliche Medien mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen – z.B. stehen
dem Fernsehen in der Regel weitaus geringere Platzkapazitäten für die Auslandsberichterstattung zur Verfügung als der überregionalen Presse – durchaus ähnliche
Inhaltstendenzen ermittelt hat. Eine vollständige Verschiebung standardisierter
Nachrichtenwerte ist demzufolge auch unter verbesserten Ressourcenbedingungen
nicht wahrscheinlicher als die Multiplikation bereits vorhandener Inhaltstendenzen
(der sogenannte more-of-the-same-Effekt).
Die informationellen Rahmenbedingungen stellen gleichwohl eine Grenzbedingung insofern dar, als unterhalb eines Mindestniveaus der Ressourcenausstattung und
des Publikationsraums eine Berichterstattung über zahlreiche Aspekte des gesellschaftlichen Lebens unmöglich wird und insofern die Frage des „wie“ der Berichterstattung hinter das „ob“ zurücktritt. Pamela J. Shoemaker und Stephen D. Reese
haben in diesem Zusammenhang zwischen „Beschränkungen“ (constraints) und
„Zwängen“ (dictates) unterschieden. Während Beschränkungen der journalistischen
Rahmenbedingungen journalistische Entscheidungsfreiheit (bei der Themensetzung
und -gestaltung) nicht ausschließen, sind Zwänge definiert als Rahmenbedingungen,
die ebenfalls im ökonomischen Interesse des Verlags liegen, jedoch zwangsläufig
mit Folgen für den Medieninhalt behaftet sind.207 Im Kontext der Auslandsberichterstattung könnte der Unterschied zwischen Zwängen und Beschränkungen beispielsweise in folgende Hypothese gekleidet werden: Zu den Beschränkungen zählen bei
den meisten Massenmedien die begrenzten Platzkapazitäten (Seitenzahlen, Sendeplätze usw.) oder die Ausstattung der Redaktionen mit Nachrichtenagenturdiensten
205 Sigal, Reporters, S. 10-13.
206 Susanne Bassewitz weist etwa darauf hin, daß der Arbeitsprozeß der Medien die Verwendung von
Stereotypen im Journalismus begünstigt. Bassewitz, Stereotypen, S. 3.
207 Shoemaker/Reese, Mediating the Message, S. 146.
91
und Korrespondenten, wobei es im Ermessen des Journalismus liegt, die vorhandenen Kapazitäten für die Berichterstattung über einzelne Länder, Ereignisse und
Themen flexibel zu nutzen. Diese Nutzungsspielräume finden ihre Grenzen („Zwänge“) dort, wo etwa ein deutsches Massenmedium, das sich dem Regionalismusprinzip (vgl. Kap. 3.2.1.2) entzöge und seine Berichterstattung statt auf die europäischen
und nordamerikanischen Elite-Nationen auf Asien, Afrika und Lateinamerika konzentrieren würde, unter rapide nachlassendem Konsuminteresse zu leiden hätte und
hierdurch in Existenzschwierigkeiten geriete. Grundsätzlich können sich Verleger,
Eigentümer oder Leiter einer Medienorganisation über „Beschränkungen“ hinwegsetzen und auch einen Teil der „Zwänge“ ignorieren. Auch ihnen sind jedoch durch
die Bedingungen des Marktes und die Interessen der Medienkonsumenten Grenzen
gesetzt.
Eine Reihe von Indikatoren weist darauf hin, daß sich die informationellen Rahmenbedingungen der westlichen Auslandsberichterstattung spätestens seit den achtziger Jahren verschlechtert und die auf den Prozeß der internationalen Mediendarstellung wirkenden ökonomischen „Beschränkungen“ und „Zwänge“ im allgemeinen
zugenommen haben:
• Platzkapazitäten: Die relative Kostenintensität der Auslandsberichterstattung bei
gleichzeitig sinkender Nachfrage (s.u.) hat in den Medien westlicher Staaten in
unterschiedlicher Weise zu einer Verringerung der Platzkapazitäten im Bereich
der Auslandsnachrichten geführt. Die großen Fernsehnetworks der USA (ABC,
CBS, NBC) haben den Umfang ihrer Auslandsberichte zwischen den achtziger
und neunziger Jahren um ein bis zwei Drittel verringert, von den Jahren 1990/91
abgesehen, als das Interesse am Zusammenbruch des Ostblocks kurzfristig das
Interesse am Ausland steigen ließ.208 In der Bundesrepublik Deutschland haben
sich kommerzielle Gesichtspunkte vor allem beim privaten Fernsehen durch das
weitgehende Fehlen spezifischer Programmplätze für Auslandssendungen bemerkbar gemacht, während solche Angebote im öffentlich-rechtlichen System
stabil geblieben sind. Auch hier jedoch kam es zu Sendungskürzungen und Programmplatzverlegungen, denn auch im dualen Rundfunksystem wirkt sich der
hohe Kostenfaktor der Auslandsberichterstattung aus.209
• Nachfrage- und Konsumstrukturen: Die Verschlechterung der Rahmenbedingungen bei den Platzkapazitäten steht in engem Zusammenhang mit der in den USA
wie auch in der Bundesrepublik Deutschland scheinbar gleichermaßen nachlassenden Publikumsnachfrage nach Auslandsberichterstattung. Da Medien in Beziehung zu sogenannten Systemumwelten stehen (vgl. Kap. 3.2.4.2.1), würde eine
Verschlechterung von Nachfragebedingungen als makrotheoretische Größe in
den (mesotheoretischen) Bereich der Organisations- und Eigentümergewalt bei
der Festlegung informationeller Rahmenbedingungen wirken und zu deren Ver208 Pippa Norris, The Restless Searchlight: Network News Framing of the Cold War World. Cambridge
1995; Garrick Utley, The Shrinking of Foreign News. From Broadcast to Narrowcast, in: Foreign
Affairs 75 (1997) 3-4, S. 2-10.
209 Meckel, Internationales als Restgröße?
92
schlechterung führen. Über das Konsumverhalten hinsichtlich der Auslandsberichterstattung lassen sich widerstreitende Annahmen in der Literatur finden.
Auslands- und insbesondere Entwicklungsländerberichte fänden nur geringes Interesse beim Publikum,210 besagt die eine Position, der die Gegenthese gegenübersteht, das Interessenpotential werde unterschätzt und nicht ausgeschöpft.211
Tatsächlich sind beide Thesen vertretbar, denn das Konsumverhalten des Publikums bei Auslandsfragen ist keine statische Größe, sondern entwickelt sich
scheinbar im Einklang mit bestimmten weltpolitischen Zäsuren. Zwar kann generell gesagt werden, daß Inlandsberichterstattung auf größeres Interesse trifft als
Auslandsberichterstattung.212 Ein Vergleich der historischen Entwicklung des
Publikumsinteresses an verschiedenen Ressorts deutscher Tageszeitungen seit
den fünfziger Jahren zeigt gleichwohl Schwankungen im Publikumsinteresse.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich gegen Ende der neunziger Jahre
das Interesse an internationalen Fragen auf das Niveau der fünfziger Jahre zurückentwickelt (Abb. 3.10).
210 Tapio Varis/Kurt Luger, Der Handel mit Fernsehprogrammen: Die Zementierung der Einbahnstraße. Ergebnisse einer Studie über internationalen Informations- und Kommunikationsaustausch, in:
Die Dritte Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
der Universität Salzburg, Salzburg 1985, S. 18.
211 Daniel Glass, „Die Pygmäen sind ein hartgesottenes Völkchen.“ Das Bild der Dritten Welt in
bundesdeutschen Zeitungen, in: medium 10 (1980) 6, S. 13.
212 Akiba A. Cohen/Mark R. Levy/Itzhak Roeh/Michael Gurevitch, Global Newsroom, Local Audiences. A Study of the Eurovision News Exchange, London u.a. 1996. Vgl. a. Abb. 3.10.
93
Sämtliche in einer Medienorganisation existierenden Einflußgrößen, die im folgenden zu beschreiben sein werden – Nachrichtenagenturen, Entscheidungsprogramme,
soziale Beziehungen und Meinungsführerschaften – müssen die „Zwänge“ der informationellen Rahmenbedingungen berücksichtigen und ihre „Beschränkungen“
umgehen. Sowohl funktionale Aspekte des Informationsflusses als auch organisatorisch-soziale Parameter der Auslandsberichterstattung sind unter dem Gesichtspunkt
der notwendigen Sicherung möglichst großer und stabiler Anteile grundsätzlich
knapper Ressourcen zu betrachten.
3.2.3.2 Entscheidungshandeln und Steuerung der Auslandsberichterstattung
durch externe Informationsgeber
Die Informationsbeschaffung durch die Sicherung von Informationsquellen gehört zu
denjenigen Teilen des medialen Darstellungsprozesses, die nicht allein von individuellen Präferenzen des Journalisten, sondern von organisatorischen Bedingungen
geprägt werden. Vor dem Hintergrund der gerade im kostenintensiven Bereich der
Auslandsberichterstattung in der Regel knappen Ressourcen, gewinnen Quellen, die
organisationsextern erstellt werden – insbesondere die Dienste der Nachrichtenagenturen und die Produkte der Öffentlichkeitsarbeit von Staaten und Organisationen –
an Bedeutung.
94
Im Blick auf die Beziehung Medienredaktion-Nachrichtenagenturen geht eine Reihe
von Autoren von einer tendenziell passiven Stellung der Redaktion aus, wobei der
Informationsgeber, d.h. die Nachrichtenagentur, als die ausschlaggebende Instanz
weiter Teile (s.u.) der Auslandsberichterstattung betrachtet wird. Das grundsätzliche
Urteil, daß das Verhalten der Nachrichtenurheber für den Kommunikationsprozeß
bedeutsamer ist als das der Redakteure in den Massenmedien, insoweit diese in
schriftlicher Form aufbereitete externe Quellen wie Nachrichtenagenturen nutzen,
hat sich in der Forschungsliteratur der letzten zwanzig Jahre konstant gehalten.213
Der Medieninstitution selbst wird in bezug auf das Material der Nachrichtenagenturen vor allem die Rolle eines sekundären gatekeepers zugewiesen, wobei die Hauptaufgabe in einer an die jeweiligen informationellen Rahmenbedingungen angepaßten
Mengeneingrenzung und Textkürzung besteht.
Der inhaltlich prägende Einfluß der Nachrichtenagenturen basiert vor allem auf
zwei Einflußgrößen:
• Vorstrukturierung von Ereignissen und Themen: Nachrichtenagenturen üben in
hohem Maß eine Themenstrukturierungsfunktion (agenda setting; vgl. Kap.
3.2.4.1) aus, und da ihre Dienste von zahlreichen Medien simultan bezogen werden, bedeutet Strukturierung zugleich eine Eingrenzung von Berichterstattungsvielfalt;
• Einflußnahme auf die Textgestaltung: Der inhaltlich prägende Einfluß der Nachrichtenagenturen geht über die Vorauswahl von Ereignissen und Themen hinaus
und schlägt sich auch in der Textgestaltung nieder.214
Zu erklären ist die „Passivität“ der Redaktionen in Anbetracht des Agenturmaterials
insbesondere damit, daß das von Nachrichtenagenturen übermittelte Material an die
bekannten Nachrichtenfaktoren vorangepaßt ist. Im Fall des Bezugs von nationalen
Diensten der großen Weltagenturen findet sogar eine zweistufige Vorselektion statt.
Winfried Schulz hat ermitteln können, daß sowohl bei der deutschen nationalen wie
bei der internationalen Berichterstattung Massenmedien und Nachrichtenagenturen
ein hohes Maß an Übereinstimmung aufweisen.215 Die Passivität der Redaktionen
wäre dann eine Passivität in bezug auf Routinevorgänge, die auch in den Redaktionen bei direktem Zugriff auf Quellen (durch Interviews, Eigenrecherche usw.) ähnli213 Peter Nissen/Walter Menningen, Der Einfluß der Gatekeeper auf die Themenstruktur der Öffentlichkeit, in: Publizistik 22 (1977) 2, S. 173; vgl. a. Wilke/Rosenberger, Die Nachrichtenmacher,
S. 12 f.; Hagen, Informationsqualität, S. 18-22.
214 Christian Kristen: „In unserem strukturellen Ansatz sprechen die Resultate dafür, daß – sei es
unbewußt oder bewußt, willentlich oder zufällig – die Agenturen nicht nur die Arbeitsbereiche,
sondern auch die Arbeitsformen und schließlich sogar die als eigenständig journalistisch angesehene Redaktionsarbeit (Schreiben von Artikeln, Einrichten) weitgehend steuern.“ Christian Kristen,
Nachrichtenangebot und Nachrichtenverwendung. Ausgewählte Aspekte aus einer empirischen gate-keeper-Studie über die Verhältnisse in Österreich, in: Publizistik 14 (1969) 4, S. 430; vgl. a. Walter Sturm/Roland Angerer/Hans Bachinger, Lateinamerika in der Tagespresse. Eine ideologiekritische Fallstudie, in: Die Dritte Welt in den Massenmedien, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg, Salzburg 1985, S. 45 f.
215 Schulze, Die Konstruktion, S. 107-114.
95
che Resultate zeitigen würden. Natürlich darf diese Interpretation nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade auf Grund der begrenzten Ressourcen und informationellen
Rahmenbedingungen der Journalismus in der Regel gezwungen ist, einen mehr oder
weniger großen Teil seiner Quellen von den Agenturen zu beziehen und daß insofern
die heutige Ähnlichkeit journalistischer Standards auch ein Resultat eines historischen Prozesses der jüngeren Entwicklung der modernen Massenmedien ist, in der
durchaus nicht von vornherein eine Ähnlichkeit der Nachrichtenstandards vorhanden
gewesen sein muß, sondern die Nachrichtenagenturen vermittels ihrer für die Ökonomie der Medien wichtigen Stellung im Nachrichtenfluß die Medienredaktionen zu
einem Lernprozeß und zur Anpassung bewogen haben, der mittlerweile zu einer
Situation der weitgehenden Angebots-Nachfrage-Angepaßtheit geführt hat.
Untersuchungen über die Bedeutung von Agenturquellen in der Auslandsberichterstattung konsolidieren sich bei Werten von mindestens 50 Prozent Anteil der
Nachrichtenagenturen an den Quellen der Auslandsberichterstattung. Werner Meier
und Michael Schanne urteilen 1989: „In der globalen Beschaffung, Bearbeitung und
Vermittlung von Auslandsnachrichten sind die fünf großen internationalen Nachrichtenagenturen (AP, UPI, Reuter, AFP, TASS) die zentralen und dominanten Akteure.
Die Abhängigkeit von diesen Agenturen ist global ausgeprägt.“216 Sie stützten sich
dabei auf Untersuchungen, wonach die Zeitungen in den USA in der Auslandsberichterstattung zu durchschnittlich etwa 80 Prozent,217 in Schweden wie in der
Schweiz zwischen 50 und 70 Prozent218 und in Asien zu 75 Prozent219 auf Agenturmaterial zurückgreifen.220 Die „Foreign News“-Studie der UNESCO, die nicht zuletzt auf Grund eingeräumter methodischer Probleme enorme Schwankungen zwischen einzelnen Mediensystemen suggeriert (zwischen < 10% und > 80%), veranschlagt für die Bundesrepublik Deutschland einen Wert von 49,6 Prozent221 Anteil
des Agenturmaterials an der Auslandsberichterstattung. Der Anteil der lange Jahre
dominierenden „großen Vier“ (AP, AFP, Reuters, UPI) wird im Durchschnitt der
untersuchten Länder mit 20 bis 50 Prozent angegeben.222 Auch für Deutschland ist
anzunehmen, daß der Anteil der Agenturquellen in vielen elektronischen und Printmedien eher über 50 Prozent liegt und sich insofern den Daten für die USA, Schwe216 Werner Meier/Michael Schanne, Nachrichtenagenturen im internationalen System, Zürich 1981,
S. 94.
217 Jim A. Hart, The Flow of News between the United States and Canada, in: Journalism Quaterly 40
(1963) 1, S. 70-74; James W. Markham, Foreign News in the United States and South American
Press, in: Public Opinion Quarterly 25 (1961) 2, S. 249-262; Petra E. Dorsch, Isolationismus oder
Weltoffenheit? Zur Auslandsberichterstattung von „Boston Globe“ und „Süddeutscher Zeitung“, in:
Publizistik 20 (1975) 4, S. 901-924.
218 Karl Erik Rosengren/Gunnel Rikardsson, Middle East News in Sweden, in: Gazette 20 (1974) 2,
S. 99-116; Roland Burkhardt, Die Tessiner Presse – eine publizistikwissenschaftliche Struktur- und
Problemanalyse, Diss. Universität St. Gallen 1977.
219 Wilbur Schramm u.a., International News Wires and Third World News in Asia, Edward R. Murrow Center of Public Diplomacy, The Fletcher School of Law and Diplomacy, Tufts University, Oxford 1978.
220 Vgl. Meier/Schanne, Nachrichtenagenturen, S. 80 ff.
221 Errechnet aus Tabelle 10: Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign News in the Media, S. 49.
222 Ebenda, S. 50.
96
den und die Schweiz annähert, da in der Untersuchung der UNESCO die Frankfurter
Allgemeine Zeitung, die über sehr ungewöhnlich niedrige Agenturwerte verfügt (vgl.
Kap. 5.1.7), den Durchschnittswert gesenkt hat.
In einer nicht-repräsentativen Auswertung der Berichterstattung der tageszeitung
aus Berlin im Zeitraum 1994-97 deutet sich an, daß diese Annahme auch für die
neunziger Jahre Gültigkeit besitzt (Tabelle 3.5). Zu erkennen ist zudem, daß Nachrichtenagenturen in der Auslandsberichterstattung eine etwas größere Rolle spielen
als in der Inlandsberichterstattung:223
Tabelle 3.5 – Nachrichtenagenturen in der In- und Auslandsberichterstattung: die tageszeitung, 1994-97*
Agenturberichte
Eigenberichte
Dokumentationen
Interviews
Kommentare
Portraits
Ressort „Inland“
Artikel
Prozent
8508
58,4%
5439
37,4%
120
0,8%
420
2,9%
41
0,3%
30
0,2%
14432
100%
Ressort „Ausland“
Artikel
Prozent
10432
67,2%
4856
31,3%
42
0,3%
115
0,7%
40
0,3%
43
0,3%
15528
100%
* 1. April 1994 bis 31. August 1997
Quelle: Volltextdatenbank „taz compact: 11 Jahre taz auf CD-Rom,“ 2.9.1986 bis 31.8.1997,
Le Monde Diplomatique / taz, die tageszeitung
Die Annahme einer relativ starken Steuerung der Inhalte der Auslandsberichterstattung durch Nachrichtenagenturen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich
auch bei den Nachrichtenagenturen um Medienorganisationen handelt, die ihrerseits
einer Reihe von autonomiebegrenzenden Einflüssen unterliegen. Die meisten Mikro-,
Meso- und Makroeinflüsse wirken auf die Agenturen in analoger Weise wie auf die
Massenmedien. Einflüsse auf die Auslandsberichterstattung über die Nachrichtenagenturen schlagen sich also in einem mehrstufigen und jeweils mehrdimensionalen
Prozeß nieder:
• mikrotheoretisch werden individuelle Einflüsse bei den für die Agenturen arbeitenden Journalisten wirksam;
• mesotheoretisch machen sich soziale und organisatorische Einflüsse in den Redaktionen und der Gesamtorganisation der Agenturen geltend, etwa wenn Agenturen bei der Quellenbeschaffung ähnlich wie die Massenmedien auf ungünstige
223 Die in Tabelle 3.5 angeführten Artikelzahlen lassen keine gültigen Rückschlüsse auf den Umfang
von In- und Auslandsberichterstattung zu, da gerade die Inlandsberichterstattung in einer Reihe anderer Spezialressorts – von „Wirtschaft/Umwelt“ bis zu „Leibesübungen“ – stark vertreten ist. Die
Zahl der Kommentare zum In- wie zum Auslandsgeschehen liegt real höher, da hierfür eine eigene
Meinungsseite vorhanden ist.
97
informationelle Rahmenbedingungen stoßen, die sie letztlich vom Informationsgeber abhängig machen (s.u.);
• makrotheoretisch müssen die Nachrichtenagenturen sich mit dem politischwirtschaftlichen System ihrer jeweiligen Heimatbasis und den inhaltlichen Anforderungen ihrer Absatzmärkte auseinandersetzen.
Was letztere Ebene betrifft, so haben eine Reihe von Autoren darauf hingewiesen,
daß bei einem Teil der vier großen internationalen Nachrichtenagenturen, insbesondere bei AFP und Reuters, finanzielle Subventionen den Einfluß der jeweiligen nationalen Regierungen nachhaltig gestärkt und die Unabhängigkeit der Agenturen
gefährdet haben.224 Bei den amerikanischen Agenturen AP und UPI wird die Abhängigkeit vom amerikanischen Markt – 75 Prozent der Einnahmen von AP und UPI
stammten Anfang der achtziger Jahre von dort – ein nachhaltig nationales Element
darstellen.225 Sowohl Oliver Boyd-Barrett als auch Jeremy Tunstall sprechen daher
auch davon, daß die internationalen Nachrichtenagenturen aus organisationstheoretischer Sicht im Grunde als nationale Einrichtungen anzusehen seien.226 Diese Annahme ist jedoch insofern zu relativieren, als sowohl die amerikanischen Agenturen
mit 25 Prozent nicht-amerikanischen Kunden als auch eine regierungsnahe Agentur
wie Reuters mit ihrem internationalisierten Markt, wobei der britische Markt nur
eine untergeordnete Rolle spielt, stärker in das internationale System integriert sind
als die meisten nationalen Print- und elektronischen Medien, die staatliche Eigentumsstrukturen aufweisen oder nahezu ausschließlich vom heimischen Markt leben.
Diese besondere Stellung internationaler Agenturen hat sich auch inhaltlich niedergeschlagen. Verschiedene Autoren gehen davon aus, daß sich Einflüsse nationaler
Politik und des nationalen Marktes auf Nachrichteninhalte nur schwer nachweisen
lassen.227 Andere hingegen sprechen von einem „nationalistische(n) Bias“ der Nach224 Oliver Boyd-Barrett korrigiert in diesem Zusammenhang Mitte der neunziger Jahre seine fünfzehn
Jahre früher getroffene Aussage, die Agenturen seien regierungsunabhängig. Oliver Boyd-Barrett,
Global News Wholesalers as Agents of Globalization, in: Annabelle Sreberny-Mohammadi/Dwayne
Winseck/Jim McKenna/Oliver Boyd-Barrett (Hrsg.), Media in Global Context. A Reader, London
1997, S. 138 ff. Vgl. a. Jim Richstad, Transnational News Agencies: Issues and Policies, in: Jim
Richstad/Michael H. Anderson (Hrsg.), Crisis in International News: Policies and Prospects, New
York 1981, S. 248.
225 Jeremy Tunstall, Worldwide News Agencies – Private Wholesalers of Public Information, in: Jim
Richstad/Michael H. Anderson (Hrsg.), Crisis in International News: Policies and Prospects, New
York 1981, S. 260.
226 Tunstall: „The four Western news agencies are ‘international’ only in their sphere of operations;
each is securely based in, and controlled from, a single country“ (Ebenda, S. 260; Boyd-Barrett, The
international News Agencies, S. 31). Auch infolge der Kritik an den großen westlichen Nachrichtenagenturen entstandenen Agenturen und Nachrichtenpools der Entwicklungsländer können sich in
der Regel aus solchen nationalen Bindungen nicht befreien. Oliver Boyd-Barrett/Daya Kishan
Thussu, Contra-Flow in Global News. International and Regional News Exchange Mechanisms,
London u.a. 1992.
227 Boyd-Barrett, The International News Agencies, S. 35; Sigrun Schmid, Weltagentur auf dem deutschen Nachrichtenmarkt: Agence France-Presse, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Agenturen im Nachrichtenmarkt. Reuters, AFP, VWD/dpa, dpa-fwt, KNA, epd, Reuters Television, Worldwide Television
News, Dritte Welt-Agenturen, Köln 1993, S. 65.
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richtenagenturen (Meier/ Schanne)228 oder weisen den nationalen Diensten der Agenturen eine entsprechende nationale Tendenz zu.229 Zwar haben internationale Nachrichtenagenturen ihre Kapazität zur kritischen Berichterstattung auch über die Heimatstaaten demonstriert.230 Zum einen ist diese Kapazität aber sehr unterschiedlich
ausgeprägt, und zum Beispiel AFP wird von vielen Kritikern als pro-französisch
eingestuft.231 Zum anderen bezieht sich diese Kritikfähigkeit auf die jeweilige Innenpolitik, nicht jedoch zwangsläufig auch auf die Außenpolitik des Heimatlandes, für
die ganz andere makrotheoretische Systembedingungen zu veranschlagen sind. Inhaltsanalysen haben gezeigt, daß etwa AP weniger Kritik an der Lateinamerikapolitik der USA verbreitet hat als andere Agenturen.232 Reuters veröffentlichte zum Teil
einen höheren Anteil negativer Berichte über die Irisch-Republikanische Armee
(IRA) als andere Agenturen.233 Als Grund für diese Befunde könnte angeführt werden, daß es zu den Systembedingungen der nationalen Außenpolitik gehört, daß der
gesellschaftliche Konsens hier zumindest in Krisenzeiten höher ist als bei innergesellschaftlichen Fragen (die organisierte öffentliche Meinung ist in der Regel schwächer ausgebildet als bei der Innenpolitik; vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Dies bedeutet, daß
sowohl von der Seite des Marktes als auch vom politisch-wirtschaftlichen System der
Anpassungsdruck für die Nachrichtenagenturen bei außenpolitischen Fragen besonders hoch ist und die Tendenz zur Verbreitung nationaler Sichtweisen stärker ist als
bei allen anderen innergesellschaftlichen oder internationalen Fragen.
Verbindet man die semi-nationale Grundstruktur etwa der großen internationalen
Agenturen mit ihren informationellen Rahmenbedingungen, so wird erkennbar, daß
die Nachrichtenagenturen ein großes strukturelles Potential der Permeabilität gegenüber nationalen Positionen und offizieller westlicher Informationspolitik im Bereich
der jeweiligen nationalen Außenpolitik der Heimatbasis der Agenturen, in vielen
Fällen auch allgemein gegenüber westlicher Politik, aufweisen; eine Permeabilität,
die sich auf Grund der oben beschriebenen bedeutsamen Stellung der Agenturen als
Informationsgeber des Journalismus („Passivität“ der Redaktionen) unmittelbar auf
internationale Darstellungsprozesse der Massenmedien auswirken kann.
Wenn einerseits das Potential der inhaltlichen Beeinflußbarkeit der Nachrichtenagenturen auf dem Gebiet der heimatlichen Außenpolitik relativ groß ist, und wenn
228 Meier/Schanne, Nachrichtenagenturen, S. 100. Mark D. Alleyne: „The agencies have patterned their
international reporting very closely to the contours of power of their governments (...) (T)he European agencies and UPI have at various times in their histories not had the adversarial relationship
with their governments that is the liberal-democratic ideal.“ Mark D. Alleyne, International Power
and International Communication, New York 1995, S. 80.
229 Robert Peck, Nachrichtenagenturen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine vergleichende Analyse von Associated Press, Deutsche Presse-Agentur und United Press International anhand ihrer die
Berlin-Krise betreffenden Meldungen im August/September 1961, Diss. Berlin 1967.
230 Tunstall, Worldwide News, S. 262.
231 Mort Rosenblum sagt über AFP: „However, some editors say they prefer to rely on the other three
main agencies in some cases, particularly when French interests are involved.“ Mort Rosenblum,
Reporting from the Third World, in: Jim Richstadt/Michael H. Anderson (Hrsg.), Crisis and International News: Policies and Prospects, New York 1981, S. 225.
232 Hagen, Informationsqualität, S. 252-264.
233 Ebenda, S. 151.
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andererseits die Agenturen heute nur zum geringeren Teil mit eigenen Korrespondenten und durch eigene Recherche Quellen erschließen, sondern größtenteils Produkte der Öffentlichkeitsarbeit in- wie ausländischer Regierungen und Organisationen in ihren Zentralen weiterverarbeiten, dann ist insbesondere die Durchlässigkeit
der Agenturen für die „öffentliche Diplomatie“ der eigenen Regierungen als sehr
groß einzustufen. Interne Erfahrungsberichte aus Nachrichtenagenturen zeigen, daß
auch diese sich gegenüber offiziellen/offiziösen Quellen ähnlich passiv verhalten wie
die Medien gegenüber den Nachrichtenagenturen. Peter Zschunke, der Leiter der
Auslandsabteilung von AP-Deutschland, weist darauf hin, daß es zwei Basiskriterien
zur Weitergabe entsprechender Informationen gebe: Qualifikation der Quelle – die
Pflicht zur Weitergabe von Informationen von „anerkannten“ Institutionen wie etwa
dem Außenministerium des eigenen Landes wird hervorgehoben – und die Kennzeichnung der Quelle, so daß Medien und Konsumenten sich ein eigenes Urteil über
den Nachrichtenwert der Information bilden können.234 Da in dieser Form definiert
Agenturen für große Mengen offizieller Quellen transparent sind, die lediglich mit
Quellenhinweisen versehen (z.B. „Wie der Regierungssprecher verlauten ließ, ...“)
weitergegeben werden, sind die gatekeeper-Mechanismen insbesondere gegenüber
offiziellen Quellen schwach ausgebildet. Diese Tatsache ist von seiten der Medien
kritisiert worden.235 Es besteht die Gefahr, daß insbesondere Exekutivkräfte, und vor
allem die Heimatregierungen der Agenturen, sich der Nachrichtenagenturen zur
Verbreitung offizieller Standpunkte bedienen, während auf der anderen Seite die
Möglichkeiten des Medienkonsumenten zur kritischen Einordnung entsprechender
Nachrichten auf Grund ihrer Distanz zu den Ereignissen im Vergleich zur Inlandsberichterstattung begrenzt sind.
Letztlich besteht aus theoretischer Sicht eine deutlich erkennbare Tendenz, daß
sich Steuerungsimpulse der staatlichen und öffentlichen Public Relations236 (insbesondere im Bereich der nationalen Außenpolitik der Heimatstaaten der Nachrichtenagenturen) über die hohe Steuerungskapazität der Agenturen im Mediensystem auf
den Inhalt der Auslandsberichterstattung auswirken.
„Andere Quellen“ erreichen die Medien direkt oder aber, wie oben geschildert,
indirekt über die Nachrichtenagenturen. Eine Verteilung über Nachrichtenagenturen
ist für die Instanzen der „öffentlichen Diplomatie“ weitaus effektiver, da mit geringem Aufwand große Teile der Weltöffentlichkeit erreicht werden können. Allerdings
stellt auch hier die nationale Außenpolitik des Stammlandes der Agentur eine Ausnahme dar, denn zumindest den großen nationalen Medien werden von Regierung
und nationalen Organisationen ihres Landes auf direktem Weg Quellen übermittelt.
234 Peter Zschunke, Agenturjournalismus. Nachrichtenschreiben im Sekundentakt, München 1994,
S. 124 ff. zu „Vertrauenswürdigkeit“ und „Autorität“ als Merkmale der Quellensicherung vgl. a.
Herbert J. Gans, Deciding What’s News, in: Howard Tumber (Hrsg.), News. A Reader, Oxford
1999, S. 246.
235 Gerhard Schwinghammer, Nachrichtenagenturen – Was erwarten wir von ihnen? in: Zeitungstechnik 1992/April, S. 11-16.
236 Vgl. Michael Kunczik, Images of Nations and International Public Relations, Bonn 1990.
100
Damit ergibt sich insgesamt, daß die Quellen der medialen Auslandsberichterstattung, sofern sie nicht durch journalistische Eigenleistungen zustande kommen, sondern von Nachrichtenagenturen und/oder PR-Stellen empfangen werden, je nach
dem betroffenen Problem der Auslandsberichterstattung (nationale Außenpolitik
oder andere Fragen internationaler Politik) mit verschiedenen quellenkritischen Akzenten versehen werden müssen. Aus der Häufigkeit und Art der Verwendung von
Nachrichtenagenturen lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, in welchem Ausmaß
die Maßstäbe der Quellenkritik in der internationalen Berichterstattung der Medien
Berücksichtigung finden.
3.2.3.3 Redaktionelle Entscheidungsprogramme und Auslandsberichterstattung
Entscheidungsprozesse innerhalb der Massenmedienorganisation spielen weniger bei
der Verarbeitung der von Nachrichtenagenturen und Öffentlichkeitsarbeit erhaltenen
Quellen eine Rolle, sondern vor allem bei journalistischen Eigenleistungen eines
Mediums. Während beim Agenturmaterial die relative Passivität der Medienredaktionen die Ähnlichkeit inhaltlicher Standards fördert, entsteht bei den Eigenleistungen Raum für ein spezifisches Profil der Medien im Bereich der Auslandsberichterstattung.
Redaktionelle Entscheidungsprogramme werden von Manfred Rühl wie folgt beschrieben: „Verglichen mit den ständig ausgeübten Einzelentscheidungen im Redaktionsalltag stellt die Herstellung des Entscheidungsprogramms selbst ein vorweggenommenes Entscheidungshandeln dar. Das Entscheidungsprogramm wird sozusagen
auf einer Vorstufe der Alltagsentscheidungen festgelegt. Entscheidungsprogramme
sind redaktionelle Selbstprogramme, d.h., sie werden von der Redaktion selbst hervorgebracht, haben jedoch gegenüber der Einzelentscheidung als Prämissen allgemeine Gültigkeit.“237 Entscheidungsprogramme werden in der Regel nicht schriftlich
fixiert, sondern sind medien- und redaktionsspezifische Erfahrungswerte der jeweiligen Redaktionen – routines in der englischsprachigen Wissenschaft –, nach denen
Informationen beschafft und verarbeitet werden. Diese Erfahrungswerte können sich
von denen anderer Redaktionen unterscheiden und einen spezifischen Einfluß auf
das Medienbild ausüben. Differenziert werden muß zwischen allgemeinen Redaktionsprogrammen und redaktionellen Teilprogrammen, die für jedes Ressort bestehen
können,238 sowie für einzelne Ressortteile wie den Bereich „Ausland“.
Grundsätzlich lassen sich verschiedene Typen von Entscheidungsprogrammen
unterscheiden, die eine integrierte Wirkung entfalten:
• Zweck- und Ideologiekomponente von Entscheidungsprogrammen in der Auslandsberichterstattung: Die Zweckprogrammierung einer Redaktion oder Abteilung wie dem „Ausland“ ist an der Ausrichtung der Berichterstattung an bestimmten von der Redaktion gewünschten Wirkungen ihrer internationalen Be237 Rühl, Die Zeitungsredaktion, S. 280.
238 Ebenda, S. 278.
101
richterstattung orientiert.239 Die Redaktion verfolgt einen Selbstzweck, der ihrer
Arbeit ein spezifisches Profil verleiht, das über die einfache Weitergabe von
Agentur- und anderem Material hinausreicht. Zielsetzungen der Zweckprogrammierung sind im Kern normativ und ideologisch und können innerhalb des Mediums verschiedenen Quellen entspringen. Zur ideologischen Komponente überindividuellen Entscheidungshandelns gehören zum einen entsprechende Vorgaben
des Verlags hinsichtlich der Rechts-Links-Ausrichtung („liberal“, „links“, „linksliberal“, „konservativ“ usw.) oder anderer weltanschaulicher Eckwerte wie national vs. internationalistisch/multikulturell, religiös orientiert vs. religionskritisch
usw.240 Ein bezeichnendes, wenngleich in seiner ausdrücklichen und schriftlichen
Fixierung seltenes Zweckprogramm waren und sind die Maßgaben des Verlagshauses Axel Springer für die internationale Berichterstattung, wobei unter anderem die Einheit Deutschlands und die besondere Beziehung Deutschlands zu Israel zu berücksichtigen sind.241 Weder der einzelne Redakteur noch eine einzelne
Redaktion des Verlags sind in der Regel in der Lage, diese Prämissen Springers
in der Auslandsberichterstattung zu ignorieren. Die Wirkung weltanschaulicher
Zweckprogramme auf die Auslandsberichterstattung hängt eng mit anderen
Komponenten der Theorie der Auslandsberichterstattung zusammen: a) hinsichtlich der Struktur der Auslandsbilder sind es vor allem bestimmte Frames, aber
auch Stereotype und Feindbilder die durch Zweckprogramme vorgeprägt werden
können; b) ideologische Programme stehen eng mit der redaktionellen Konsensfähigkeit individueller Rollenkonzepte (Auslandskorrespondenten als „Mitgestalter der Außenpolitik“ usw.; vgl. Kap. 3.2.2.2) in Beziehung, in deren Rahmen
sich weltanschauliche Programme in unterschiedlicher Intensität entfalten.
• konditionale und Erfahrungskomponente von Entscheidungsprogrammen in der
Auslandsberichterstattung: Rühl hat darauf hingewiesen, daß Zweckprogramme
lediglich generelle Verhaltensschemata für Mitglieder der Redaktion darstellen,
die nur einige Grundzüge der Berichterstattung prägen.242 Um die Steuerungsfähigkeit nicht gänzlich dem einzelnen Redaktionsmitglied (Mikrotheorie), dem
täglichen sozialen Verhandlungsprozeß (s.u.) oder externen Einflüssen (Makrotheorie) zu überlassen, müssen daher zusätzlich zu den Zweck- auch Konditionalprogramme entwickelt werden.243 Diese bezeichnen informelle und elastische
Entscheidungsprämissen einer Redaktion, auf bestimmte Ereignisse der Umwelt
in bestimmter Weise zu reagieren. Durch Umweltstimuli wird eine Verhaltensroutine ausgelöst. Wesentlicher Bestandteil dieser Konditionierung sind erlernte
Nachrichtenfaktoren und andere Strukturmerkmale des Medienbildes, und zwar
239 Ebenda, S. 279-281.
240 Zum politischen Einfluß von Verlegern und Herausgebern im deutsch-amerikanischen Vergleich
vgl. Hans J. Kleinsteuber, Deutsch-amerikanische Wechselwirkungen in den Massenmedien, in: Sebastian Lorenz/Marcell Machill (Hrsg.), Transatlantik. Transfer von Politik, Wirtschaft und Kultur,
Opladen 1999, S. 199-201.
241 Vgl. u.a. Claus Jacobi, 50 Jahre Axel Springer Verlag, 1946-1996, Broschüre des Axel Springer
Verlags, Hamburg o.J., S. 121 ff.
242 Rühl, Die Zeitungsredaktion, S. 279.
243 Ebenda, S. 276-278.
102
nicht in individueller Ausprägung, sondern als Redaktionsroutine. Ob ein mit
Menschenrechtsfragen in China in Zusammenhang stehendes Ereignis thematisiert wird und auf welche Weise dies geschieht, ist nicht allein eine Folge individueller Einschätzungen, die im Alltag häufig vorkommen, noch sind ideologische
Entscheidungsprogramme unbedingt ausschlaggebend, denn die Menschenrechtsthematik ist ein Anliegen vieler weltanschaulicher Ausrichtungen, konservativer
ebenso wie linker und liberaler. Ob und wie über das Ereignis berichtet wird,
hängt auch mit den Erfahrungen einer Redaktion in bezug auf Ereignisse dieser
Art zusammen und ob es eine „Tradition“ innerhalb der jeweiligen Redaktion
gibt, Menschenrechtsfragen in China zu thematisieren oder nicht. Man könnte
Konditionalprogramme auch als überindividuelle und durch spezifische Organisationserfahrungen verdichtete und konkretisierte Nachrichtenfaktorenkataloge
bezeichnen. Auch wenn die Ausprägung von Nachrichtenfaktoren eine ähnliche
Grobstruktur in vielen (westlichen) Medien in bezug auf das Auslandsbild aufweist, wie viele Ergebnisse von Inhaltsanalysen belegen, bestehen gerade im Bereich der journalistischen Eigenleistungen auch redaktionstypische Unterschiede,
die gleichwohl nicht hinreichend mit ideologischen oder anderen Zweckdeutungen zu erklären sind, sondern im Laufe der Jahre kumulierte Reaktionswerte eines Mediums darstellen, die unter anderem durch hausinterne Archive und das
Rekurrieren auf Texte und Sendungen, die eine Redaktion in der Vergangenheit
zu einem Thema verfaßt hat, in ein „redaktionelles Gedächtnis“ eingehen.
Trotz der Entscheidungsprogramme bleiben soziale Verhandlungsspielräume bestehen, wo verschiedene Mitglieder der Redaktion oder Korrespondenten das informelle Entscheidungsprogramm unterschiedlich deuten oder wenn die zu deutende internationale Problematik sich nicht oder schwerlich mit den programmierten Kategorien
erklären läßt (vgl. Kap. 3.2.3.4). Dabei ist allerdings Herbert J. Gans’ Prämisse, daß
„die Nachricht die Nachrichtenorganisation stärker beeinflußt als die Nachrichtenorganisation die Nachricht“244 zu allgemein und zu wenig empirisch gestützt, um als
theoretische Maxime zu dienen, wonach die Aufrechterhaltung des Nachrichtenstroms an sich für den Prozeß der medialen Informationsverarbeitung bedeutsamer
ist als die Interessen und Ziele der Medienorganisation. Gans’ Leitsatz läßt sich nach
den Ergebnissen des vorstehenden Kapitels für den (großen) Bereich von Nachrichtenagenturen oder andere offizielle bzw. etablierte Standardquellen in Anwendung
bringen, wo die Informationsgeber dominieren. Im Bereich der journalistischen Eigenleistungen eines Mediums – beginnend mit Kommentaren des über Agenturen
bezogenen Materials bis zu eigenrecherchierten journalistischen Berichten, Features
oder Reportagen – können Medienorganisationen einen prägenden Effekt auf die
Auslandsberichterstattung erzielen.
244 Gans, Deciding What’s News, S. 93.
103
3.2.3.4 Entscheidungshandeln und soziale Beziehungen in der Auslandsberichterstattung
Die Redaktion eines Massenmediums ist für die Umsetzung der Entscheidungsprogramme zuständig, fungiert als Bindeglied zum Verlag und ist insofern verantwortlich für die Sicherung informationeller Rahmenbedingungen, gewichtet den Einsatz
von Nachrichtenagenturen und sonstigen Quellen und muß zugleich eine Balance
zwischen den individuellen inhaltlichen Darstellungspräferenzen innerhalb der Zentral- sowie zwischen Zentral- und externen Redaktionen (Auslandskorrespondenten)
herstellen. Kompromiß- und Konsensbildung in der Redaktion ist neben den existierenden formalen Hierarchien ein zentrales Moment der Durchsetzung von Interessen,245 ist aber auch ein Sicherungselement für den einzelnen Journalisten.246 Dies
betrifft weniger diejenigen Fälle, die im Rahmen der vorhandenen Entscheidungsprogramme eindeutig geklärt sind, als vielmehr diejenigen, die diskursiver Deutung
bedürfen, da sie weder von ideologischen Grundpositionen abgedeckt sind noch zum
Erfahrungsschatz der Redaktion gehören.
McNelly hat eines der sehr wenigen Modelle über Entscheidungshandlungen
konzipiert, das Modell der „vermittelnden Kommunikatoren“ im internationalen
Nachrichtenfluß. Dabei beschäftigen sich vom Ereignis bis zum publizistischen Produkt (und darüber hinaus bis zum Konsumenten) eine Kette von „Schleusenwärtern“
mit der Informationsverarbeitung, wobei unter anderem mehrere Redaktionsstufen
vom Auslandskorrespondenten über den Nachrichtenredakteur bis zur Schlußredaktion und zum Blattmacher zu überwinden sind.247 McNelly sieht zwar soziale Rückkopplungen, also Kompromiß- und Konsensbildungsprozesse im Sinne Sigals vor,
erwähnt diese jedoch nur am Rande. Er ist damit ein Vertreter der Distanztheorie –
er weist auf MacLean und Pinna (s.o.) hin –, so daß auch hier die Vorstellung von
einer Addition individueller gatekeeper-Mechanismen an die Stelle der in der Mesotheorie gleichfalls bedeutsamen sozialen Verhandlungsprozesse tritt.
Auf der anderen Seite muß eingeräumt werden, daß sich gerade die Auslandsberichterstattung bei allgemeinen Massenmedien im Rundfunk- wie im Printmedienbereich in der Regel durch eine striktere journalistische Arbeitsteilung auszeichnet als
die Inlandsberichterstattung und daß dadurch soziale Interaktionsprozesse innerhalb
der Redaktion, d.h. sich in den Medieninhalten niederschlagende Diskussionen,
wahrscheinlich eher die Ausnahme als die Regel darstellen, zumindest innerhalb der
Zentralredaktionen. Sieht man von Spezialzeitschriften und anderen Spezialmedien
ab, für die viele theoretische Erkenntnisse ohnehin anders formuliert werden müßten,
245 Leon V. Sigal: „Newsmaking is a consensual process. The forming of consensus takes place within
a context of shared values – conventions about news as well as conceptions for the newsman’s role.
The organization of newspapers and the location of newsmen structure the process. Hierarchical
lines along which men communicate and action channels along which news copy flows within the
organization determine who is in a position to make choices and to intervene and reverse them, and
thereby to influence the content of the paper.“ Sigal, Reporters, S. 180; vgl. a. Rühl, Die Zeitungsredaktion, 292-295.
246 Zur Frage der Sicherung vgl. Sigal, Reporters, S. 39.
247 McNelly, Intermediary Communicators, S. 25; vgl. a. Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 19.
104
und konzentriert sich auf den allgemeinen Medienmarkt, so ist festzustellen, daß
selbst in großen überregionalen Zeitungen, die – wie die deutschen Zeitungen – dem
Ausland mehr Raum geben als regionale Abonnementsmedien, in der Regel Zuständigkeitsbereiche für Länder- und/oder Themenkomplexe definiert werden, die jeweils auf einen einzelnen Nachrichtenredakteur zugeschnitten sind. Dabei werden
verantwortliche Redakteure etwa für „Nahost“ oder für „Großbritannien“ eingesetzt,
die häufig mit Auslandskorrespondenten, Fremdautoren und den Kollegen anderer
Medien mit ähnlicher Zuständigkeit in engerer Austauschbeziehung stehen als mit
anderen Angehörigen der eigenen Redaktion. Mit Kollegen anderer Medien wird
häufig nicht auf direktem Wege, sondern indirekt durch die Rezeption ihrer Publikationen kommuniziert, was für jeden Journalisten zum Eröffnungsritual der täglichen
Arbeit gehört. Kollegen von außerhalb der Medienorganisation werden auf diese
Weise zu innerjournalistischen Meinungsführern.248 Meinungsführerimpulse von
außerhalb des Mediensystems, etwa durch das politische System oder die organisierte Öffentlichkeit, existieren ebenfalls, sind aber Gegenstand der Makrotheorie (vgl.
Kap. 3.2.4.1 und 3.2.4.2).
Von Bedeutung ist zudem die Beziehung Redakteur-Auslandskorrespondent,
denn zwischen beiden Redaktionsteilen kann es auf Grund der speziellen Arbeitsteilungsbeziehungen zu Abstimmungsprozessen kommen. Auslandsredakteur und
-korrespondent verfügen über teilkongruente Länder-, Regionen und Themenorientierungen, die in verschiedenen Wirkungsbereichen (Heimatredaktion bzw. externe
Redaktion) zum Tragen kommen. Das Verhältnis von Redaktion und Auslandskorrespondenten ist dabei a) hinsichtlich Entscheidungs- und Steuerungsmöglichkeiten der
Redaktion anders einzuschätzen als die Beziehung Redaktion-Nachrichten-agentur,
und es existieren b) spezifische Bindungen an zumindest teilweise unterschiedliche
Meinungsführermilieus.
Zu a): Das normative Rollenkonzept des Auslandskorrespondenten, zumindest im
Journalismus westlicher Prägung, basiert auf dem Prinzip der externen Selbstkontrolle. Mit der räumlichen Nähe des Journalisten (Korrespondenten) zum Gegenstand
der Auslandsberichterstattung wächst demnach dessen Fähigkeit und Verpflichtung
zur eigenverantwortlichen Themenwahl und -darstellung. Die externe Redaktion soll
nach den Prinzipien der Selbststeuerung funktionieren und dadurch innovative Impulse an das heimatliche Mediensystem weiterleiten. Stimmt diese normative Sicht
mit der theoretisch bestimmbaren Funktion des Auslandskorrespondenten überein?
Zunächst ist grundsätzlich festzustellen, daß sich der Auslandskorrespondent von
den Nachrichtenagenturen dadurch unterscheidet, daß er auch als Repräsentant einer
externen Redaktion an das Entscheidungsprogramm seines Mediums vorangepaßt
sein muß. Abbildung 3.9 weist Auslandskorrespondenten daher auch nicht als eigenes Subsystem des Mediensystems, sondern als Teil des Redaktionssystems aus. Die
Aushandlung von Programminterpretationen verschafft der Redaktion prinzipiell
größere Steuerungsmöglichkeiten in bezug auf die Inhalte der Korrespondentenlei248 Siegfried Weischenberg/Martin Löffelholz/Armin Scholl, Merkmale und Einstellungen; vgl. a. die
Darstellung in Kapitel 4.2.
105
stungen (Berichte zu bestimmten Ereignissen und Themen können angefordert werden, inhaltliche Leitlinien angedeutet werden usw.) als dies gegenüber den Nachrichten der Agenturen der Fall ist, wo, wie oben geschildert, Steuerungsimpulse vor
allem von außen auf die Redaktion einwirken. Zwischen den Beiträgen der Korrespondenten und den Erwartungshaltungen der Zentralredaktion muß Übereinstimmung bestehen, zumindest jedoch ein inhaltlicher Mindestkonsens formuliert werden
können, der sich zum einen auf die Entscheidungsprogramme („Was will unser Medium berichten?“/Zweckprogramme bzw. „Was muß unser Medium berichten?“/
Konditionalprogramme) und zum anderen auf die Aushandlung einer Meinungs- und
Interessenbalance zwischen individuellen Präferenzen des Redakteurs und des Korrespondenten bezieht.249 Wie diese Steuerungsmöglichkeiten genutzt werden, hängt
nicht zuletzt von den informellen Verhandlungspositionen von Redakteuren und
Korrespondenten und deren Initiative und Durchsetzungsfähigkeit ab. In der Beziehung Redaktion-Korrespondenten bestehen Verhandlungsspielräume, d.h. soziale
Konflikte sind Bestandteil der Auslandsberichterstattung. Eine auf Umfragen basierende Untersuchung von Alfred C. Lugert weist aus, daß etwa 70 Prozent der Beiträge von Auslandskorrespondenten von den untersuchten (österreichischen) Redaktionen akzeptiert werden.250 Lugert deutet dieses Ergebnis als Hinweis darauf, daß die
potentiell vorhandenen Steuerungsmöglichkeiten der Redaktion in bezug auf Korrespondenten in der Praxis wenig genutzt werden und daß Korrespondenten bei der
Themenauswahl und -gestaltung über weitgehende Freiheit verfügen. Aus Sicht Lugerts ließe sich also das oben genannte normative Rollenkonzept des Auslandskorrespondenten funktional bestätigen. Ansgar Skriver geht ebenfalls von dem Primat des
Informationsgebers aus, der bei Nachrichtenagenturen wie im Fall der Beziehung
Redaktion-Korrespondenten den nachgeordneten Instanzen eine tendenziell passive
Rolle zuweist. Skriver plädiert jedoch, anders als Lugert, für eine Korrektur der
Freiheitsnorm des Korrespondenten. Er votiert für eine Intensivierung der Redaktions-Korrespondenten-Bindung zur verbesserten Kontrolle der Wahrnehmungen des
Korrespondenten und für eine Kollektivierung der Informationsverarbeitung im
Bereich der Auslandsberichterstattung.251
Ungeachtet dieses normativen Dissenses, ist zu fragen, ob Lugerts Dateninterpretationen über den Ist-Zustand der Unabhängigkeit des Korrespondenten zutreffend
sind. 30 Prozent von der Redaktion abgelehnter Beiträge in Lugerts Untersuchung
weisen auf ein nicht zu übersehendes Interventionspotential von Redaktionen im
Bereich der Auslandsberichterstattung. Zudem wird nicht bedacht, daß Korrespondenten Erwartungshaltungen des Mediums und der Redaktion antizipieren und ihre
Produkte insofern zumindest im Hinblick auf programmierte Entscheidungen präadaptiert sein können. Aus arbeitsökonomischen Gründen und im Hinblick auf die
knappen Zeitressourcen werden in der Regel alle Seiten begrüßen, wenn erforderli249 Dies trifft vor allem auf festangestellte Korrespondenten, in analoger Weise jedoch auch auf freie
oder sogenannte „feste freie“ Korrespondenten zu.
250 Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 150.
251 Ansgar Skriver, Vorwort, in: Klemens Ludwig, Augenzeugen lügen nicht. Journalistenberichte:
Anspruch und Wirklichkeit, München 1992, S. 14.
106
che soziale Verhandlungen auf ein die informationellen Rahmenbedingungen nicht
belastendes Minimum beschränkt bleiben. Der Auslandskorrespondent muß „seine
Informationsangebote so planen, dosieren und verpacken, daß sie die Zensurorgane
des Mutterorganismus passieren“ (Dill).252 Letztlich ist also zu konzedieren, daß die
normativ angestrebten Gestaltungsmöglichkeiten des Auslandskorrespondenten, aber
ebenso eine Steuerung der Redaktion und eine vorweggenommene Anpassung an
Entscheidungsprogramme und andere inhaltliche Präferenzen der Zentralredaktion
zum Tragen kommen können.
Zu b): Auf die Berichterstattung von Korrespondenten wirken sich neben möglichen Steuerungsmomenten seitens seiner Medienorganisation noch weitere Faktoren
aus. Auch Korrespondenten sind, wie die Zentralredaktionen und die Nachrichtenagenturen, auf Quellen angewiesen. Wie die Redaktionen, so sind auch Korrespondenten sekundäre gatekeeper im Hinblick auf das ihnen zugängliche Material von
Nachrichtenagenturen, wobei in vielen Fällen solche Quellen nicht ausgewiesen
werden. Sie nutzen zudem neben direkten persönlichen Kontaktquellen und der eigenen Anschauung von Ereignissen, die den eigentlichen Kern normativer Konzepte
des Korrespondenten „in Tuchfühlung“ mit den Ereignissen darstellt, vor Ort erhältliche Medien, die ihnen nicht allein Fakten vermitteln, sondern auch Argumentations- und Interpretationshilfe leisten.253
Die Position des Auslandskorrespondenten gegenüber den verschiedenen Quellen
schafft ein komplexes, in verschiedene Richtungen wirkendes Netz von Spielräumen
und Abhängigkeiten:
• Die Steuerungskapazität der Nachrichtenagenturen (s.o.) reicht zum Teil bis zum
Korrespondenten und wirkt sich indirekt auf die Auslandsberichterstattung aus.
Meier und Schanne gehen sogar davon aus, daß die thematische Vorstrukturierung eines großen Teils der Berichterstattung eines Mediums durch Agenturen
dazu führt, daß selbst von den von Korrespondenten verfaßten Berichten keine
Relativierung der agenturgeprägten Auslandsberichterstattung ausgeht,254 da, so
könnte ausgeführt werden, Korrespondenten weitgehend den thematischen Vorgaben der Agenturen sowie den dort dominierenden Frames verpflichtet sind.
Demnach ist nicht allein die Freiheit des Korrespondenten in bezug auf seine
Medienorganisation begrenzt (s.o.). Meier und Schanne gehen davon aus, daß
auch der Agentureinfluß die Steuerungskapazität des Korrespondenten beschränkt. Sie bestätigen für die Auslandsberichterstattung im Grunde die allgemeine Annahme Kristens, daß Agenturen sowohl Themenvorgaben leisten als
auch Textinhalte des Journalismus prägen (s.o.).
252 Richard W. Dill, Wieviel Welt braucht der Mensch?, in: Rupert Neudeck (Hrsg.), Den Dschungel
ins Wohnzimmer. Auslandsberichterstattung im bundesdeutschen Fernsehen, Frankfurt 1977,
S. 146.
253 Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 137.
254 Meier/Schanne, Nachrichtenagenturen, S. 99.
107
• Als Beschränkungen wirken auch lokale Medien und Meinungsführer; aber sie
haben zugleich auch eine gegenteilige Wirkung, indem sie den Prozeß der Meinungsprofilierung des Korrespondenten gegenüber der Redaktion stärken.
Was letzteren Punkt betrifft: Auslandskorrespondenten bewegen sich in einem teilweise anderen Meinungsführermilieu als die Redakteure ihrer Zentralredaktionen.
Abbildung 3.9 weist aus, daß die Art der Interaktion zwischen Redaktion und Korrespondenten nicht zuletzt davon abhängig ist, an welchen Meinungsführern sie sich
orientieren. Ungeachtet der identischen Binnenprogrammierung verfügen Zentralredaktion und Auslandskorrespondenten über fundamental verschiedene Außenbeziehungen. Zumindest feste Korrespondenten nutzen in der Regel lokale, ihnen sprachlich zugängliche Medien, in denen ein wesentlich breiteres Themenspektrum über ihr
Berichterstattungsland behandelt wird als dies in der Auslandsberichterstattung des
Heimatlandes oder der internationalen Medien möglich ist.255 Zu den Meinungsführerschaften gehört unter anderem die Bildung von Gruppen von Auslandskorrespondenten verschiedener Medien und häufig auch verschiedener Herkunftsländer, die
von den meisten Korrespondenten gepflegt werden und eine Form der „Kooperation“
und sogar der „Abstimmung“ darstellen, die neben der Informationsabsicherung und
-kontrolle auch der thematischen Anregung und der Prägung von Argumenten
dient.256 Solche dezentralen Meinungsführerschaften können für die Korrespondenten bedeutsamer sein als innerjournalistische Meinungsführerschaften, die auf die
Zentralredaktion im Heimatland wirken; zwischen den Meinungsführereinflüssen
können auch Konflikte entstehen, die dann zwischen Redaktion und Korrespondenten sozial verhandelt werden müssen. In der Gleichzeitigkeit von identischen Organisationsprogrammen von Redaktion und Korrespondenten einerseits und teilweise
disparaten Meinungsführermilieus andererseits liegt ein großes Potential für Korrespondenten, ungeachtet der auf sie wirkenden Einflüsse der Agenturen und des Mediums eigenständige Impulse in der Auslandsberichterstattung geltend zu machen.
3.2.4 Entstehung und Wirkung der Auslandsberichterstattung
(theoretische Makroebene): Medien, Politik und Gesellschaft im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß der Medien
Eine Theoriematrix der medialen Auslandsberichterstattung bleibt unvollständig,
sofern die individuellen und institutionellen Rahmenbedingungen des Mediensystems nicht in einen Kontext gesellschaftlicher Entstehungs- und Wirkungsbedin255 Eine Umfrage unter in Deutschland arbeitenden Auslandskorrespondenten kam zu dem Ergebnis,
daß 81 Prozent der Befragten deutsche Zeitungen nutzen. Marion Wittmann, Auslandskorrespondenten aus der Dritten Welt in der Bundesrepublik Deutschland im Blickfeld internationaler Kommunikationspolitik, in: Publizistik 27 (1982) 3, S. 518.
256 Gemäß Wittmann pflegen 58 Prozent der Korrespondenten Kontakte zu anderen Auslandskorrespondenten. Ebenda; vgl. a. Lugert, Auslandskorrespondenten, S. 145 ff.
108
gungen gefügt werden. Die vorliegende Makrotheorie geht schrittweise vom nationalen zum internationalen und interkulturellen Funktionsgefüge der Auslandsberichterstattung vor und konzeptionalisiert die folgenden Bereiche: Auslandsberichterstattung als Prozeß der Bereitstellung auswärtiger und internationaler Themen für die
Öffentlichkeit (Kap. 3.2.4.1); Auslandsberichterstattung im Einflußbereich gesellschaftlicher Kräfte und des politischen Systems (Kap. 3.2.4.2); Auslandsberichterstattung als Resonanzfeld der Innenpolitik und der politischen Kultur (Kap. 3.2.4.3);
Auslandsberichterstattung und internationale Krisen- und Konfliktkommunikation
(Kap. 3.2.4.4); und Auslandsberichterstattung als Instanz der transkulturellen Kommunikation (Kap. 3.2.4.5).
3.2.4.1 Mediale Thematisierung und öffentliche Themenstrukturierung in der
Auslandsberichterstattung
Die theoretische Beschreibung der Wirkungen von Medienberichterstattung auf die
Gesellschaft gehört zu den schwierigsten Problemen der Kommunikationsforschung.
Das Forschungsfeld ist gekennzeichnet von gravierenden methodischen Unsicherheiten, die primär auf der Schwierigkeit basieren, die Einflüsse von Medien experimentell so zu isolieren und zu messen, daß sie von Nutzungsstrategien der Medienkonsumenten, dem Einfluß sozialer Meinungsführer und anderen intervenierenden Variablen abgegrenzt werden können. In der Wirkungsforschung gibt es keinen Konsens über die gesellschaftliche Wirkung der Medien, da hier teils die Manipulationsfähigkeit der Medien,257 teils andere soziale Einflüsse258 hervorgehoben werden. Das
Feld der Wirkungs- und Nutzenansätze ist zu vielgestaltig,259 um als homogenes
theoretisches Fundament der Wirkung der Auslandsberichterstattung verwendet
werden zu können. Der vorliegende Theorieentwurf soll daher auf eine der am wenigsten umstrittenen Hauptfunktionen der Medien beschränkt bleiben: die Befähigung der Medien, Einfluß auf eine der basalen sinnstiftenden Einheiten des öffentlichen Diskurses – das „Thema“ (vgl. Kap. 3.1.2) – zu nehmen und den öffentlichen
Themenhaushalt zu strukturieren (agenda setting).
Die Agenda-Setting-Hypothese schreibt den Medien eine moderate Wirkung auf
die Öffentlichkeit zu, die in der Regel durch folgenden Satz von Bernard C. Cohen
beschrieben wird: „It [the press/ K.H.] may not be successful much of the time in
telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what
to think about.“260 Die These beinhaltet, daß Medien zwar keine Einstellungen und
Meinungen – also kognitive Bildkonstrukte im Sinne der Sozialpsychologie – beein257 Vgl. zur Einführung: Fernstudium Kommunikationswissenschaft, T. 2, Hrsg. Modellversuch Journalisten-Weiterbildung, München 1984, S. 91-158.
258 Vgl. exemplarisch die klassische Studie zum Einfluß sozialer Kleingruppen und gesellschaftlicher
Meinungsführer: Paul F. Lazarsfeld/Bernard Berelson/Hazel Gaudet, The People’s Choice, New
York 1944.
259 Vgl. Winfried Schulz, Ausblick am Ende des Holzweges. Eine Übersicht über die Ansätze der
neuen Wirkungsforschung, in: Publizistik 27 (1982) 1, S. 49-73.
260 Cohen, The Press, S. 13.
109
flussen, daß sie jedoch in der Lage sind, thematische Aufmerksamkeit zu erzeugen,
die Tagesordnung (Agenda) öffentlicher Diskurse zu beeinflussen und damit die
Blickrichtung des Bildformationsprozesses vorgeben. Michael Schenk beschreibt
Agenda-Setting als einen Prozeß der Erzeugung von „Aufmerksamkeit“, „Wissen“
und „Problembewußtsein“ über Vorgänge, die sich primär außerhalb des durch die
Sinnesorgane erfaßbaren Nahbereichs der menschlichen Wahrnehmung ereignen.261
Agenda-Setting ist im Bereich der Auslandsberichterstattung durch drei Problemkomplexe gekennzeichnet:
• Themenagenden als Strukturelemente des medialen Auslandsbildes
• Entstehungsbedingungen medialer Themenagenden im Kontext gesellschaftlicher
Diskursformierung über außenpolitische und internationale Fragen
• gesellschaftliche Wirkungspotentiale der Auslandsberichterstattung.
3.2.4.1.1 Themenagenden als Strukturelemente des medialen Auslandsbildes
Hinsichtlich der Struktur des medialen Auslandsbildes ist das „Thema“ oben als das
zentrale und wichtigste Konzept eines Textes oder Textteils bezeichnet worden (vgl.
Kap. 3.1.2). Es umfaßt seinerseits semantische Mikrostrukturen wie Frames und ist
selbst Teil von übergeordneten Diskursen. Ein Thema entsteht auf Grund einer binären Entscheidungssituation von Thematisierung oder Nicht-Thematisierung. Themen
sind als potentielle Diskussionsgegenstände zu definieren, die a) von überindividueller Relevanz sind und sich b) durch „Soll-Ist-Diskrepanzen“, d.h. durch von dem
Thematisierenden erkannte Ereigniskomplexe mit Handlungs- und Veränderungsbedarf auszeichnen.262 Überindividuelle Relevanz besteht schon dann, wenn spezialisierte Teilöffentlichkeiten, etwa diejenigen Teile einer Öffentlichkeit, die an internationalen Menschenrechtsfragen interessiert sind,263 ein Soll-Ist-Problem erkennen
und organisierte Teile dieser Teilöffentlichkeiten, wie etwa amnesty international, es
der Gesamtöffentlichkeit zur Lösung anheimstellen wollen. Da jedoch die Aufmerksamkeit spezieller Öffentlichkeiten allein noch nicht als Kriterium dafür angesehen
werden kann, daß ein Thema tatsächlich auf breiter öffentlicher Basis thematisiert
wird, gilt ein Thema gemäß Edwin Czerwick als öffentlich nicht-thematisiert, wenn
die Massenmedien nicht oder nur am Rande darüber berichten und wenn weder Parlament, Parteien oder die großen Interessenverbände noch die öffentlichen Verwaltungen darüber diskutieren.
Nicht-Thematisierung ist in den seltensten Fällen auf bewußte Themenunterdrükkung, etwa durch rechtliche Einschränkungen, zurückzuführen, sondern sie erfolgt in
der Regel im Prozeß der journalistischen Arbeit selbst und basiert auf Annahmen des
261 Michael Schenk, Medienwirkungsforschung, Tübingen 1987, S. 194.
262 Edwin Czerwick, Zur Nicht-Thematisierung streitwürdiger Themen. Eine Bestandsaufnahme, in:
Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Demokratische Streitkultur. Theoretische Grundpositionen und Handlungsalternativen in Politikfeldern, Opladen 1990, S. 179.
263 Im Englischen werden solche Teilöffentlichkeiten auch als „Themen-Öffentlichkeiten“ (issue publics) bezeichnet.
110
Journalisten bzw. des Mediums hinsichtlich der öffentlichen Streitwürdigkeit eines
Themas.264 Dabei ist es problematisch, Kriterien für die öffentliche Streitwürdigkeit
von Themen zu finden, denn etwa das Beispiel der Umwelt und des Umweltschutzes
hat gezeigt, daß sich zumeist erst nach einer langfristig erfolgreichen Thematisierung
erkennen läßt, welche der beliebig zahlreich vorhandenen Themen als streitwürdig
empfunden werden. Selbst das (subjektive) Streitwürdigkeitsempfinden einer Gesellschaft sagt wenig über die möglicherweise erst langfristig erkennbare (objektive)
gesellschaftliche Relevanz eines Themas aus. Das Kriterium der öffentlichen Streitwürdigkeit läßt also zumindest vor Beginn eines Thematisierungsvorgangs viel
Raum für individuelle (Mikro-), organisatorische (Meso-) oder gesellschaftliche
(Makro-) Einflüsse auf die Entscheidung über Thematisierung und NichtThematisierung.
3.2.4.1.2 Entstehungsbedingungen medialer Themenagenden im Kontext des gesellschaftlichen Auslandsdiskurses
Hier gelangt man zum zweiten Problemkomplex des Agenda-Setting: Welchen gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt die Entstehung und Entwicklung medialer
Themenagenden in der Auslandsberichterstattung? Gemäß Czerwick erfolgt die
Themenselektion auf unterschiedlichen Ebenen, durch Journalisten, durch die Medien als Gesamtorganisation sowie im Zusammenspiel zwischen Medien und Gesellschaft, d.h. die Themenbildung erfolgt auf jeder Ebene des Prozesses der Entstehung
von Auslandsberichterstattung, wie er auch in der vorliegenden Theorie definiert
wird. Was die Mikroebene betrifft, so begünstigt laut Czerwick ein Rollenverständnis als objektiver Berichterstatter Themen gesellschaftlicher Gruppierungen, die mit
einer wirksamen Öffentlichkeitsarbeit ausgestattet sind; ein advokatives Verständnis
des Journalistenberufs fördert die Plazierung von Minderheitenthemen auf der öffentlichen Agenda;265 und die Betonung der Kritikfunktion des Journalismus stärkt
Eigenrecherche und die selbständige Suche des Journalisten nach streitwürdigen
Themen. Auf der Mesoebene können Verlags- und Verkaufsinteressen in einer Bevorzugung oder Vermeidung von Themen münden.266 Auf der Ebene der Makrotheorie schließlich ist aus demokratietheoretischer Sicht ein Rückverweis auf Rollenkonzepte der Mikroebene erforderlich; aus machttheoretischer Perspektive sind herrschende Eliten in der Lage, entweder die Thematisierung etwa durch Öffentlichkeitsarbeit zu fördern oder durch rechtliche oder andere strukturelle Hemmnisse (z.B.
Archivgesetze) den Medien die Nicht-Thematisierung vorzuschreiben; staats- und
parteipolitische Ansätze schließlich lassen erkennen, daß auch höhere Partei- oder
Staatsinteressen auf die Thematisierung Einfluß nehmen können.267 Insgesamt
kommt Czerwick zu dem Ergebnis: „Aus einer nicht mehr zu überschauenden Anzahl
264
265
266
267
Czerwick, Zur Nicht-Thematisierung, S. 180.
Ebenda, S. 181.
Ebenda, S. 183.
Ebenda, S. 184-187.
111
von Themen wählen die einzelnen Akteure diejenigen Themen aus, die ihnen auf der
Grundlage ihrer Aufmerksamkeitsregeln und Interessen als die wichtigsten erscheinen.“268
Diese Beschreibung der Makroebene aus der Perspektive übergeordneter Theorieansätze eröffnet allgemeine Perspektiven zur Beantwortung der Frage, wie Themen der Auslandsberichterstattung entstehen, ist jedoch zu undifferenziert, um die
Frage nach den gesellschaftlichen Einflüssen auf die Auslandsberichterstattung zu
beantworten. Medien sind zwei externen Einflußgrößen ausgesetzt: dem Staat bzw.
dem politischen System und der außermedialen Öffentlichkeit, definiert als zwischen
Staat und Gesellschaft angesiedelter Diskurssphäre. Zwischen Medien, Politik und
Gesellschaft besteht eine komplexe systemtheoretische Beziehung (vgl. Kap.
3.2.4.2). Da Einflüsse der Politik im Zusammenhang mit der Transparenz der Nachrichtenagenturen für politische Themensetzungen bereits als solche benannt worden
sind (vgl. Kap. 3.2.3), sollen an dieser Stelle nicht-staatliche gesellschaftliche Einflüsse auf die internationale Medienagenda untersucht werden.
Zu unterscheiden sind zwei Bereiche:
• gesellschaftliche Einstellungen (attitudes)
• organisierte Öffentlichkeiten.
Einige grundlegende Fragen der Einstellungsforschung, die sich bislang überwiegend
mit der Außenpolitik als einem Teilbereich internationaler Fragen beschäftigt hat,
lauten: Welche außenpolitischen Einstellungen sind in der Öffentlichkeit vorhanden?
Inwieweit sind die Einstellungen durch Ideologien oder politische Gruppeninteressen
geformt? Wie stabil sind außenpolitische Einstellungen und Ideologeme über längere
Zeiträume?269 Weder individuellen Einstellungen noch ideologisch-parteilichen
Thematisierungsprozessen wird in der Regel eine mit innenpolitischen Fragen vergleichbare Intensität, Differenziertheit und Kontinuität zugebilligt. Eine verbreitete
Klassifizierung außenpolitischer Einstellungen geht von einer in etwa gleichmäßigen
Dreiteilung der Öffentlicheit aus, bestehend aus einem „Massenpublikum“ (mass
public), das abgesehen von den bedeutsamsten internationalen Ereignissen (etwa
dem Fall der Berliner Mauer 1989) über wenig außenpolitisches Wissen verfügt,
einem „interessierten Publikum“ (attentive public), das viele Ereignisse und Entwicklungen rezipiert, dabei jedoch keine differenzierten Einstellungen, sondern
inkonsistente Meinungen vertritt und starke Meinungsfluktuationen in Abhängigkeit
von der aktuellen Informationslage aufweist, und einem Segment der „Meinungsführer“ (opinion leader), das sich durch ausgeprägte und stabile Anschauungen auszeichnet, die sozial kommuniziert werden.270 Aus diesem Schema läßt sich ableiten,
268 Ebenda, S. 189 f.
269 Barbara A. Bardes/Robert W. Oldendick, Public Opinion and Foreign Policy: A Field in Search of
Theory, in: Samuel Long (Hrsg.), Research in Micropolitics. A Research Annual 3/1990, S. 228.
270 Barry B. Hughes, The Domestic Context of American Foreign Policy, San Francisco 1978, S. 23.
Vgl. ähnliche Unterteilungen bei: Michael Mandelbaum/William Schneider, The New Internationalism: Public Opinion and American Foreign Policy, in: Kenneth Oye/Donald Rothchild/Robert J.
Lieber (Hrsg.), Eagle Entangled: U.S. Foreign Policy in a Complex World, New York 1979, S. 34-
112
daß etwa zwei Drittel der Bevölkerung westlicher Industriestaaten, vor allem in den
USA, wo die meisten Untersuchungen durchgeführt worden sind, über zu wenig
Wissen und zu undifferenzierte Ansichten über Außenpolitik verfügen, um die Massenmedien aktiv bei der außenpolitischen Thematisierung zu unterstützen, wie dies
im demokratietheoretisch-egalitären Idealtyp einer aus verschiedenen Kräften bestehenden und um die Medienagenden konkurrierenden Öffentlichkeit271 vorgesehen ist.
Gabriel Almonds Ergebnisse einer kaum definierten und wenig strukturierten außenpolitischen Öffentlichkeit in den USA sind noch am Ende der achtziger Jahre
auch für die Bundesrepublik Deutschland weitgehend bestätigt worden.272 Demnach
beschäftigen sich Massen- und interessierte Publika weit mehr mit Wirtschafts – und
sozialpolitischen als mit außenpolitischen Themen, so daß „ein Teil der Bevölkerung
gar keine ‘echten’ außenpolitischen Einstellungen besitzt“, sondern in Umfragen
lediglich sogenannte Nicht-Einstellungen durch eine Zufallsauswahl von Antworten
gemessen werden.273 Almond hat seine Erkenntnisse in der „Stimmungstheorie“
(mood theory) formuliert, wonach außenpolitische Fragen in der breiten Öffentlichkeit zwar kurzfristig große Aufmerksamkeit erzeugen können, aber abhängig von
öffentlichen Stimmungen auch ebenso schnell wieder ignoriert werden, so daß weder
ein konstantes Informationsbedürfnis noch ausgeprägte generelle außenpolitische
Einstellungen oder Meinungen zu konkreten außenpolitischen Sachverhalten erkennbar werden. Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung ist an außenpolitischen Fragen nicht interessiert oder aber erachtet diese für zu kompliziert, um verstanden zu
werden (vgl. Kap. 3.2.3.1).274
271
272
273
274
90; Eugene Wittkopf, Faces of Internationalism: Public Opinion and American Foreign Policy, Durham 1990.
Wolfgang Eichhorn, Agenda-Setting-Prozesse. Eine theoretische Analyse individueller und
gesellschaftlicher Themenstrukturierung, München 1996, S. 165.
Gabriel Almond, The American People and Foreign Policy, New York 1950.
Wolfgang Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung. Determinanten und politische Wirkungen
außenpolitischer Einstellungen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1989,
S. 175.
Ebenda, S. 19 f. Mit Philip Converse läßt sich argumentieren, daß diese Orientierungsdefizite auch
deshalb entstehen, weil außenpolitische Einstellungen und Meinungen bei einem großen Teil der
Bevölkerung einen nur unbedeutenden Bestandteil ideologisch-parteilicher Orientierungen darstellen (Philip E. Converse, The Nature of Belief Systems in Mass Publics, in: David E. Apter (Hrsg.),
Ideology and Discontent, New York 1964, S. 206-261). Außenpolitische Positionen fügen sich nur
selten konsistent in ideologische Konzepte, die aufgrund ihres prinzipiell in alle politischen Bereiche hineinragenden Erklärungsanspruchs auch als „horizontale Einstellungssysteme“ bezeichnet
werden. – Informations-, Meinungs-, Orientierungs- und ideologische Verankerungsdefizite münden gemäß Almond in außenpolitischen Krisen- und Konfliktzeiten häufig in Überreaktionen der
Öffentlichkeit und in einem Bestreben der nachholenden Information und Meinungsbildung unter
den Bedingungen suggerierter oder tatsächlicher Zeitknappheit. Nach John E. Mueller sind in solchen Situationen deutliche rally-round-the-flag-Momente erkennbar. In Krisenzeiten neigt demnach
ein großer Teil der Massen- und interessierten Publika, aber auch der Meinungsführersegmente der
außenpolitischen Öffentlichkeit, nicht nur zu kurzfristig überdurchschnittlicher außenpolitischer
Aufmerksamkeit und emotionalen, aus der ideologischen und anderen Orientierungsdefiziten resultierenden Reaktionen, sondern auch zu einer konsenshaften Anpassung an den von den politischen
Führungseliten, insbesondere der Regierung vorgegebenen außenpolitischen Kurs (John E. Mueller,
War, Presidents, and Public Opinion, New York 1973). Aus der Perspektive der Theoriebildung im
113
Die Annahme undifferenzierter und instabiler außenpolitischer Einstellungen vor
allem in der sogenannten Massen- oder interessierten Öffentlichkeit ist in der jüngeren Forschung in Teilen relativiert worden. Bereits in den siebziger Jahren entstand
eine revisionistische Richtung innerhalb der außenpolitisch orientierten Öffentlichkeitsforschung, wobei etwa William R. Caspary gegen die Stimmungstheorie Almonds vorbrachte, daß sich Einstellungen wie der Internationalismus nach dem
Zweiten Weltkrieg in den USA – im Gegensatz zu dem in früheren Zeiten starken
Isolationismus – tatsächlich stabilisiert hatten.275 Erkennbar werden in der neueren
Forschung Konstanten in der Einstellung der breiten Öffentlichkeit gegenüber der
Außenpolitik, die vor allem auf vertikale Einstellungssysteme zurückgeführt werden,
in denen im Unterschied zu („horizontalen“) politischen Ideologien außenpolitische
Fragen in logischer Form individuellen Moralprinzipien untergeordnet werden. Vertikale außenpolitische Einstellungen können sich etwa in Unterscheidungen wie
Taube/Falke oder Militarismus/Antimilitarismus bemerkbar machen, die quer zu
horizontalen Ideologien verlaufen und sich nahezu in allen ideologischen Strömungen erkennen lassen.276 Jon Hurwitz und Mark Peffley haben beobachtet, daß tiefsitzende „Kernwerte“ (core values) wie das Verhältnis zum Leben und zum Töten mit
entsprechenden „Haltungen“ (postures) zu außenpolitischen Themen verbunden
sind, die im nächsten Schritt dann politische Präferenzen beeinflussen (z.B. für oder
gegen eine militärische Intervention des eigenen Landes).277 Unverkennbar ist die
Ähnlichkeit zwischen dem Konzept der „vertikalen Einstellungen“ und dem diskursanalytischen Framing-Konzept.
Insgesamt muß also von einer partiellen Stabilität von öffentlichen Einstellungsstrukturen bei außenpolitischen und internationalen Fragen ausgegangen werden. Ob
Bereich der medialen Auslandsberichterstattung muß dieser Ansatz gleichwohl differenziert werden,
da Krisen und Konflikte hinsichtlich der Involvierung des angestammten gesellschaftlichen Systems
der Medien wie auch hinsichtlich ihrer Dramaturgie unterschiedlich charakterisiert werden müssen.
Vgl. Kap. 3.2.4.4.2.
275 William R. Caspary, The „Mood Theory:“ A Study of Public Opinion and Foreign Policy, in: The
American Political Science Review 64 (1970) 2, S. 536-547; vgl. a. John C. Pierce/Douglas D.
Rose, Non-Attitudes and American Public Opinion: The Examination of a Thesis, in: American Political Science Review 68 (1974) 2, S. 626-649. Verschiedene Forscher vertreten die Ansicht, daß
der Revisionismus der außenpolitischen Einstellungsforschung nur durch zweifelhafte Meßmethoden entstanden ist: John L. Sullivan/James E. Piereson/George E. Marcus, Ideological Constraint in
the Mass Public: A Methodological Critique and Some New Findings, in: American Journal of Political Science 22 (1978) 2, S. 233-249.
276 Bardes/Oldendick, Public Opinion and Foreign Policy, S. 234 f.; Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung, S. 62 f.
277 Jon Hurwitz/Mark Peffley, How are Foreign Policy Attitudes Structured? A Hierarchical Model, in:
American Political Science Review 81 (1987) 4, S. 1099-1120. Aufschlußreich wäre an dieser Stelle die Untersuchung der Frage, ob die scheinbar stabilen vertikalen Einstellungssysteme in Zeiten
extremer Krisen und Konflikte standhalten. Dabei hat beispielsweise der Einstieg der USA in den
Zweiten Weltkrieg zu einer Teilrevision pazifistischer Haltungen geführt, und zwar nicht nur im Bereich des außenpolitischen Massenpublikums oder der interessierten Öffentlichkeit, sondern auch in
den um vertikale wie horizontale Einstellungssysteme gruppierten Eliten der organisierten Friedensbewegung (vgl. Charles DeBenedetti, The Peace Reform in American History, Bloomington 1980,
S. 129), was bedeutet, daß ungeachtet differenzierter außenpolitischer Einstellungsmuster deren
Stabilität durch den rally-round-the-flag-Effekt beeinträchtigt werden kann.
114
die neueren Untersuchungen über vertikale Einstellungsmuster im Zusammenhang
mit einer in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Zunahme der bottom-top-Einflüsse
der Öffentlichkeit auf die staatliche Außenpolitik zu werten sind, kann hier nicht
abschließend beurteilt werden.278 Im Rahmen einer Medientheorie ist vielmehr zu
fragen, welchen Einfluß außenpolitische Einstellungen auf die Auslandsberichterstattung haben. Vertikale Einstellungssysteme der Medienrezipienten bedeuten für die
Medien keine Beschränkung der Thematisierungsfreiheit, da in ihnen keine Themen-,
sondern vielmehr Framing-Präferenzen zum Ausdruck kommen; Themenpräferenzen
sind allenfalls bei dem kleineren Öffentlichkeitssegment der „Meinungsführer“ (opinion leader, auch als Themen-Öffentlichkeiten/issue publics) zu erwarten. Es ist
nicht davon auszugehen, daß das Vorhandensein vertikaler Einstellungssysteme auf
eine generelle Wechselbeziehung zwischen Medien und Öffentlichkeit bei der Themenbildung verweist, da auch diese Systeme keine Grundlage für eine aktive Thematisierung bilden, sondern extern, d.h. vor allem über den Umweg der Massenkommunikation aktiviert werden müssen. Die Thematisierung/Nicht-Thematisierung
außenpolitischer und internationaler Vorgänge erfolgt damit in hohem Maß von den
Medien in Richtung auf das Massen- oder interessierte Publikum, dessen Einstellungspräferenzen die Themenwahl jedoch kaum beeinflussen können.
Wenn Einstellungen der Öffentlichkeit in internationalen Fragen die Thematisierungsfreiheit – anders als die Framing-Freiheit – der Auslandsberichterstattung nicht
einschränken, so bleibt die Frage zu klären, inwieweit die organisierte Öffentlichkeit
Einfluß auf die Medienagenda auszuüben in der Lage ist. Ein Teil des Meinungsführersegments für außenpolitische und internationale Fragen ist politisch organisiert
oder sympathisiert mit politischen und gesellschaftlichen Organisationen. Hier besteht ein Potential zur Umsetzung von Themenpräferenzen der Teil-Öffentlichkeiten
in aktive öffentliche Thematisierung, wobei Meinungen zum Teil in das politische
System kanalisiert werden, etwa über Interessenverbände ins Umfeld der Parlamente,
oder aber über die Massenmedien dem öffentlichen Diskurs anheim gestellt werden.
Die Kapazitäten der organisierten Öffentlichkeit in außenpolitischen Fragen sind
gleichwohl in den westlichen Industriestaaten unterschiedlich ausgeprägt. Die USA
gelten als schwacher Staat mit starken außenpolitischen Interessengruppen, Frankreich im Vergleich als starker Staat, wo die Außenpolitik ein domaine réservé des
Staatspräsidenten darstellt. Auch die Bundesrepublik Deutschland gilt als Land mit
ausgeprägterer exekutiver Kontrolle über die Außenpolitik als in den USA.279 Ent278 Zwar spricht Elisabeth Noelle-Neumann von einem seit Mitte der sechziger Jahre, also seit der
Einführung des Fernsehens, sichtbaren „Machtcharakter der öffentlichen Meinung“ auch in der Außenpolitik, der schlaglichtartig etwa bei der Frage der Tiefflüge oder der beabsichtigten Versenkung
der Ölplattform „Brent Spar“ politisch wirksam wurde. Dennoch konzediert auch Noelle-Neumann,
daß die Debattenkultur der Öffentlichkeit in außenpolitischen Fragen im allgemeinen durch fehlende „Maturation“ und Differenzierungen außenpolitischer Einstellungen gekennzeichnet ist, wobei
sich ihr Urteil auf der Grundlage demoskopischer Erhebungen auf die außermediale Öffentlichkeit
bezieht. Elisabeth Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung und Außenpolitik. Die fehlende Debatte
in Deutschland, in: Internationale Politik/Europa-Archiv 50 (1995) 8, S. 12.
279 Thomas Risse-Kappen, Public Opinion, Domestic Structure, and Foreign Policy in Liberal Democracies, in: World Politics 43 (1991) July, S. 487 f.
115
sprechend muß allgemein davon ausgegangen werden, daß die Kapazitäten von sich
öffentlich artikulierenden Interessengruppen (sog. issue publics) im Bereich der
außenpolitischen und internationalen Öffentlichkeit in den USA stärker ausgeprägt
sind als in Frankreich, während in Deutschland Außenwirtschaft, Gewerkschaften,
Kirchen und vor allem die politischen Parteien als die im Bereich der Außenpolitik
und internationalen Fragen aktivsten Kräfte und Institutionen anzusehen sind.280
Für die Einschätzung der Thematisierungskapazitäten der organisierten Öffentlichkeit als Einflußfaktor der Auslandsberichterstattung bleiben allerdings noch zahlreiche Fragen ungeklärt und sind weithin unerforscht. Die Einschätzung Klaus von
Beymes aus dem Jahr 1974, die Forschung über deutsche Interessengruppen in internationalen Beziehungen sei stark vernachläßigt worden, ist weitgehend noch heute
zutreffend:281
• Die genannten Organisationen, wie die deutschen Parteien und Gewerkschaften,
befassen sich nur in einem Ausschnitt ihrer Arbeit mit Auslandsfragen, der
grundsätzlich wesentlich kleiner ist als ihr Engagement bei Inlandsfragen. Ungeachtet der bestehenden Auslandsprogramme, Arbeitskreise usw. ist das öffentliche Artikulationsinteresse der großen gesellschaftlichen Organisationen in internationalen und interkulturellen Fragen nicht thematisch flächendeckend und permanent, sondern hochselektiv und sporadisch.282
• Die Definition der mit Auslandsgeschehen befaßten organisierten Öffentlichkeit
muß so weit gefaßt werden, daß damit das gesamte Vereins- und Initiativwesen
und nicht allein die großen Organisationen abgedeckt werden. Auch mit diesem
erweiterten Organisationsbegriff muß allerdings festgestellt werden, daß die auslandsorientierten Vereine und Initiativen in der Regel mitglieder- und finanzschwächer sind als die inländisch orientierten.283
• Wohl nur im empirischen Einzelfall erfaßbar sind kurzfristige Kooperationen und
Allianzen zwischen verschiedenen Teilen der Auslandsöffentlichkeit untereinan280 Ebenda, S. 488 ff.
281 Klaus von Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, München 1974 (4., umgearb. u. erg.
Aufl.), S. 89.
282 Als Beispiel: Von wenigen Kernbereichen abgesehen, etwa dem deutschen Engagement im Rahmen
der NATO, werden Haltungen der Parteien zu anderen Fragen des Weltgeschehens kaum stringent
formuliert. Regionenorientierte Grundsatzpapiere, etwa den Nahen und Mittleren Osten betreffend,
werden nur sporadisch von den Parteiführungen oder Bundestagsfraktionen erstellt und tragen in
der Regel die Handschrift einzelner Parteifunktionäre oder Abgeordneten, ohne daß hiervon signifikante Impulse für die Öffentlichkeit als solche oder die Medienagenda der Auslandsberichterstattung ausgehen. Vgl. u.a. Europa und der Nahe und Mittlere Osten. Grundsätze sozialdemokratischer
Nah- und Mittelostpolitik 1997, Hrsg. SPD-Bundestagsfraktion, Bonn 1997.
283 Selbst Vereine wie amnesty international, die vor allem deswegen relativ erfolgreich bei der Zuführung von Themen für die Medien sind, da sie transnational organisiert sind, sind nicht in der Lage,
eine thematische Mobilisierung zu erzeugen, wie dies etwa die deutschen Gewerkschaften können.
Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, die Mira Beham als „außerordentlich potente Informationsagentur“ bezeichnet, besitzt nur eine geringe thematische Mobilisierungskapazität, sofern die
großen deutschen Massenmedien nicht in Ausnahmefällen – wie während des Bosnienkriegs – die
Themenangebote der Organisation aus eigener Regie aufgreifen. Mira Beham, Kriegstrommeln.
Medien, Krieg und Politik, Mit einem Vorwort von Peter Glotz, München 1996, S. 182 ff.
116
der sowie mit Teilen der Massenmedien. Dabei können etwa die dispersen Teile
der Öffentlichkeit so zusammengefügt werden, daß durch Koalitionen von großen
allgemeinen Institutionen (wie den Parteien) mit kleineren auf Auslandsthemen
konzentrierten Organisationen der Thematisierungsdruck auf die Medien unübersehbar wird, wobei auch umgekehrt die Medien als Kommunikationsplattform
zur Bildung solcher Koalitionen dienen können. Dies setzt allerdings in der Regel
voraus, daß von außerhalb der organisierten Öffentlichkeit – etwa vom Staat und
der staatlichen Außenpolitik oder durch Ereignisse, die die Nachrichtenwertschwelle der Auslandsberichterstattung durch starke Konflikthaftigkeit oder bevorzugte Nachrichtenfaktoren überwinden – ein Thematisierungsanreiz für die
Medien erfolgt. Der Protest gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen
in der Bundesrepublik Deutschland am Anfang der achtziger Jahre beispielsweise
ist von Hans Rattinger und Petra Heinlein als eine „Kombination von Minderheitenprotest mit der Dynamik der politischen Massenkommunikation“ bezeichnet
worden.284 Die relative Strukturschwäche der außermedialen Auslandsöffentlichkeit kann also zumindest vorübergehend ausgeglichen werden, wenn bestimmte
Teile der organisierten Meinungsführer sich zu formalen oder informellen Allianzen der strategischen Öffentlichkeitskommunikation zusammenschließen.
• Öffentliche Einstellungsbildung, die Artikulation der organisierten Öffentlichkeit
und die Wirkung beider Faktoren auf den Medieninhalt sind prozessuale Größen,
wobei insbesondere im Verlauf einmal in Gang gesetzter publizistischer Auseinandersetzungen latente Werte- und Interessenbeziehungen vieler am öffentlichen
Diskurs Beteiligten erst langsam geweckt, konturiert, diffenziert und polarisiert
werden.285
Für die Theorie der Auslandsberichterstattung ergibt sich die tautologische Erkenntnis: Ob die organisierte Öffentlichkeit ein internationales Thema besetzt und Einfluß
auf die Medienagenda zu nehmen versucht, hängt in hohem Maß vom Thema ab.
Anders als die in der Regel kleineren Vereine und Initiativen, die sich bestimmter
Auslandsbereiche und -themen permanent annehmen, werden die großen gesellschaftlichen Organisationen bei Außenpolitik und internationalen Fragen nur sporadisch aktiv. Eine relative Stärke der außermedialen organisierten Öffentlichkeit entsteht vorwiegend durch punktuelle Allianzen. Generell agiert die Auslandsberichterstattung in einem Öffentlichkeitskontext, der im Vergleich zur Innenpolitik durch
eine Reihe von Strukturschwächen gekennzeichnet ist, die – abhängig von der politischen Kultur eines Landes – mehr oder weniger stark ausgeprägt sind.286 Dadurch
284 Hans Rattinger/Petra Heinlein, Sicherheitspolitik in der öffentlichen Meinung. Umfrageergebnisse
für die Bundesrepublik Deutschland bis zum „heißen Herbst“, Berlin 1983, S. 277.
285 Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung, S. 96. Zu publizistischen Auseinandersetzung vgl.
a. Hans Matthias Kepplinger, Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Koinflikte, in: Winfried Schulz/Max Kaase (Hrsg.), Massenkommunikation. Themen, Methoden, Befunde, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 30/1989,
S. 199-220.
286 Die Auslandsberichterstattung ist hierbei im Prinzip vergleichbar mit der Außenpolitik selbst, von
der Paul Noack sagt: „Außenpolitik ist ein Feld, in dem sich, im Verhältnis zu seiner Ausdehnung
117
steigt die Bedeutung der Eigenthematisierung durch den Journalismus in der Auslands- im Vergleich zur Inlandsberichterstattung. Wolfgang Doblers auf Deutschland
bezogene Annahme, daß der Prozeß der außenpolitischen Meinungsbildung „weniger von der allgemeinen Bevölkerung als von den politischen Eliten“287 ausgeht, muß
im vorliegenden Kontext erweitert werden: außenpolitische und internationale Meinungsbildung geht vor allem von den politischen und anderen Eliten sowie von der
medialen Auslandsberichterstattung aus.
3.2.4.1.3 Gesellschaftliches Wirkungspotential der Auslandsberichterstattung
Hier allerdings eröffnet sich ein drittes Theoriefeld des auswärtigen Agenda-Setting,
in dem die tatsächlichen Wirkungen der Medien auf das gesellschaftliche Meinungsbild untersucht werden. Denis McQuail hat darauf hingewiesen, daß eine Analyse
der Inhaltsstrukturen der Medienberichterstattung noch nichts über deren Wirkungen
aussagt.288 Für die Agenda-Setting-Forschung ist charakteristisch, daß im Unterschied zu den Pionierstudien von Maxwell E. McCombs und Donald F. Shaw, in
denen von einer linearen Kausalitätsbeziehung der Gestaltung der Publikums- durch
die Medienagenda ausgegangen worden ist,289 die Themenstrukturierung durch Massenmedien in der aktuellen Forschung lediglich noch als einer von mehreren Faktoren der öffentlichen Themengenerierung betrachtet wird. Dabei wird zum einen hervorgehoben, daß auch die Medienagenden nicht allein im Mediensystem selbst erzeugt werden, sondern Einflüssen der verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme
(z.B. des politischen Systems) ausgesetzt sind (vgl. Kap. 3.2.4.2). Zum anderen sind
im Prozeß der öffentlichen Wirkung von Medienagenden eine Reihe intervenierender Variablen auszumachen, die den Einfluß der Massenmedien auf die Publikumsagenda relativieren und die geschilderte Grundproblematik der Wirkungsforschung
kennzeichnen. Intervenierende Variablen sind: der Orientierungsbedarf des Individuums, das Mediennutzungsverhalten, die interpersonale Kommunikation, die Existenz von sozialen Gruppenagenden (community agendas), die Art des Mediums
(Presse oder Rundfunk) sowie der persönliche Kontakt des Publikums zum Thema.290
287
288
289
290
118
und Mannigfaltigkeit, am schwierigsten eine öffentliche Meinung bildet. Damit bleibt auch der
Druck der Öffentlichkeit im Normalfall gering.“ Paul Noack, Außenpolitik und öffentliche Meinung, in: Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch internationale Politik, Bonn 1986, S. 47.
Dobler, Außenpolitik und öffentliche Meinung, S. 191.
Denis McQuail, The Influence and Effects of Mass Media, in: Morris Janowitz/Paul Hirsch (Hrsg.),
Reader in Public Opinion and Mass Communication, New York 1981, S. 267, 272 f.
Maxwell E. McCombs/Donald F. Shaw, The Agenda-Setting Function of Mass Media, in: Public
Opinion Quarterly 36 (1972) 2, S. 176-187.
Vgl. Kevin Carragee/Mark Rosenblatt/Gene Michaud, Agenda-Setting Research: A Critique and
Theoretical Alternative, in: Sari Thomas (Hrsg.), Culture and Communication: Methodology, Behavior, Artifacts, and Institutions: Selected Proceedings from the Fifth International Conference on
Culture and Communication, Temple University, 1983, Norwood 1987, S. 35-49; Frank Brettschneider, Agenda-Setting. Forschungsstand und politische Konsequenzen, in: Michael Jäckel/Peter
Winterhoff-Spurk (Hrsg.), Politik und Medien. Analysen zu Entwicklung der politischen Kommu-
Wirkungsfragen sind im Bereich der Thematisierungsforschung nur in sehr begrenztem Umfang für den Bereich der Auslandsberichterstattung erforscht worden. Grundsätzlich müssen verschiedene Wirkungskreise unterschieden werden, die in bezug
auf die vorstehenden intervenierenden Variablen sehr unterschiedlich zu charakterisieren sind:
• Wirkungspotentiale der Auslandsberichterstattung auf die Politik (nationale Außenpolitik und die internationale Politik)
• Wirkungspotentiale der Auslandsberichterstattung auf die Öffentlichkeit.
Hinsichtlich der Wirkung auf die Politik gaben in einer Umfrage mit amerikanischen
außenpolitischen Beratern zwei Drittel der Befragten an, daß Medien die Themenagenda der Administration und das Verständnis der Regierung von der Bedeutung
eines Themas beeinflussen können.291 Diese Befähigung zur Herabsetzung der
Streitwürdigkeitsschwelle eines Themas im außenpolitischen Raum ist nicht gleichzusetzen mit einem direkten Einfluß auf die Richtung der Politik, denn sie bedeutet
zunächst einmal lediglich, daß die Politik von den Medien bewegt werden kann, sich
mit bestimmten Themen öffentlich auseinanderzusetzen. Agenda-Setting bedeutet im
Grundsatz – und dies gilt auch für die Wirkung der Medien auf die Außenpolitik und
auf andere politische Akteure in den internationalen Beziehungen –, daß eine Wirkung auf die Art der Thematisierung (Auswahl der Frames, Bilder, Ideologien usw.)
nicht generell angenommen werden kann. Gerade im Verhältnis Medien/internationale Politik wirken sich eine Reihe der genannten intervenierenden Variablen
zuungunsten eines starken Medieneinflusses aus: Politiker weisen einen eher geringen Orientierungsbedarf auf und sind durch eigene (diplomatische o.Ä.) Kanäle in
der Regel gut informiert; sie besitzen zumindest im Teilbereich Außenpolitik eigene
Zielvorstellungen und Agenden; und sie verfügen über direkten Kontakt und eigene
Anschauung in bezug auf das Auslandsgeschehen.292
Die Akteure der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen sind daher
nicht ohnmächtig gegenüber Medien, zumal sie selbst über Möglichkeiten der Medienbeeinflussung etwa über die staatliche Öffentlichkeitsarbeit und die Nachrichtenagenturen verfügen (vgl. Kap. 3.2.3.2); die Politik kann Medien für politische „Testnikation, Berlin 1994, S. 211-229; Renate Ehlers, Themenstrukturierung durch Massenmedien.
Zum Stand der empirischen Agenda-Setting-Forschung, in: Roland Burkart (Hrsg.), Wirkungen der
Massenkommunikation. Theoretische Ansätze und empirische Ergebnisse, Wien 1992 (2. Aufl.), S.
106-126; Donald L. Shaw (Hrsg.), Agenda-Setting-Research – 20 Year Birthday, Schwerpunktheft
Journalism Quarterly 69 (1992) 4.
291 Patrick O’Heffernan, Mass Media and American Foreign Policy. Insider Perspectives on Global
Journalism and the Foreign Policy Process, Norwood 1991, S. 47.
292 James F. Larsons Vorstellung, die Medien seien „Augen und Ohren“ der Außenpolitik ist in dieser
Allgemeinheit kaum vermittelbar (Larson, James F., Global Television and Foreign Policy, New
York 1988, S. 43). Zwar dienen Medien als Informationsgrundlage für die Außenpolitik. Ihre
Hauptfunktion besteht dabei jedoch weniger in der Weitergabe von Informationen über Sachverhalte der Außenpolitik als vielmehr in der Vermittlung außenpolitischer Stimmungen und Themenpräferenzen der Öffentlichkeit. Vgl. u. die Ausführungen zu Ressourcen- und Innovationsfunktionen
der Medien.
119
ballons“ nutzen, um Handlungsspielräume für geplante politische Optionen der Außenpolitik zu erkunden;293 und sie kann Krisenstimmungen in den internationalen
Beziehungen durch die Medien generieren und politische Gefolgschaft mobilisieren
(s.o.: Stimmungstheorie). Medien fügen dem international orientierten Entscheidungsprozeß jedoch einen Unsicherheitsfaktor hinzu, was bedeutet, daß Auslandsberichterstattung a) einen Thematisierungsdruck auf die Politik entfalten kann, der
zugleich ein Entscheidungs- und Handlungsdruck ist, und b) das Tempo der Politik
beeinflussen kann, indem sie sofortige Reaktionen von der Politik einklagt.294 Hier
ist ein funktionales Pendant zum mikrotheoretisch beschriebenen journalistischen
Rollenverständnis als „Mitgestalter der Außenpolitik“ zu erkennen (vgl. Kap.
3.2.2.2). Von Bedeutung kann dieses Druckpotential der Medien beispielsweise in
politischen Verhandlungsprozessen werden; es verändert den Charakter der Verhandlungen, die nicht mehr „stille“ sondern „öffentliche Diplomatie“ sind.295
Allerdings liegt das Potential der Medien als Unsicherheitsfaktor der Außenpolitik zu fungieren wohl stärker in einem anderen Bereich. Weniger die inhaltliche
Gestaltung und Einflußnahme, d.h. die Information über den Sachgegenstand der
Verhandlungen, als vielmehr die Aufklärung der Politik über außenpolitische Stimmungen und Meinungen der eigenen Bevölkerung ist geeignet, den Medien einen
handlungsveränderden Einfluß auf die Politik zu verschaffen. Gerhard Wittkämper,
Jürgen Bellers, Klaus Wehmeier und andere haben gezeigt, daß es die „Ressourcenfunktion“ (Aufklärung über Präferenzen der Öffentlichkeit für bestimmte politische
Handlungsalternativen), weniger jedoch die „Innovationsfunktion“ einer inhaltlichen
Gestaltung und Anregung ist, die im Verhältnis Medien-Außenpolitik am häufigsten
zum Tragen kommt.296 In die Dreiteilung der Mitgestaltungsrolle nach Bernhard C.
Cohen übersetzt (Medien als Repräsentanten, Kritiker und Advokaten; vgl. Kap.
3.2.2.2) bedeutet dies, daß weniger Advokatismus als vielmehr Repräsentanz die
Hauptfunktion der Medien charakterisiert. Allerdings kann aus dieser (nichtmandatierten) Repräsentation der Öffentlichkeit auch Druck auf die Außenpolitik,
also Kritik und Advokatismus, entstehen.297 Für die mediale Einflußnahme spielt es
auch eine Rolle, ob ihre „Ressourcenfunktion“ während einer Redefinitionsphase
293 O’Heffernan, Mass Media, S. 105 f.
294 Ebenda, S. 99 f. Vgl. a. W. Lance Bennett, The Media and the Foreign Policy Process, in: David A.
Deese (Hrsg.), The New Politics of American Foreign Policy, New York 1994, S. 171 f.
295 In Kap. 5.2.1.2 wird zu zeigen sein, daß es Unterschiede in den Darstellungsstilen von Konfliktgeschehen gibt; eine differenzierte, kontinuierliche und langfristige Begleitung eines Verhandlungsgeschehens, die Voraussetzung dafür ist, daß Medien Einfluß auf das Verhandlungsgeschehen ausüben, findet nur in den wenigsten Fällen in der deutschen Presseberichterstattung über Nordafrika
und den Nahen- und Mittleren Osten statt.
296 Gerhard W. Wittkämper u.a., Medienwirkungen in der internationalen Politik, T. 2: Das Beziehungsgeflecht von Außenpolitik und Presse, Münster 1986, S. 431 f., 722; vgl. a. Jürgen Bellers/Klaus Wehmeier, Medienberichterstattung als Faktor im außenpolitischen Entscheidungsprozeß, in: Politische Vierteljahresschrift 21 (1980) 4, S. 331-333.
297 John Wallach sieht die Hauptrolle der Medien in Kritik und Kontrolle der staatlichen außenpolitischen Information, weniger hingegen in der Repräsentation oder der advokativen Verfechtung außenpolitischer Ideen. John Wallach, Leakers, Terrorists, Policy Makers and the Press, in: Simon Sefarty (Hrsg.), The Media and Foreign Policy, Houndmills/London 1990, S. 81-93.
120
außenpolitischer Entscheidung zur Entfaltung kommt, in der die Politik selbst Alternativen abwägt und durch die öffentliche Meinung in der ein oder anderen Weise
beeinflußt werden kann.298 Das größte Wirkungspotential der Medien besteht daher
insgesamt weniger in der außenpolitischen Expertise als vielmehr in der Verstärkung
des innenpolitischen Moments der Außenpolitik (vgl. a. Kap. 3.2.4.3).
Die Wirkung der Auslandsberichterstattung auf die Öffentlichkeit ist vor allem
von der Wirkung der intervenierenden Variablen „Orientierungsbedarf“ und „persönlicher Kontakt zum Thema“ abhängig. Grundsätzlich muß davon ausgegangen werden, daß weder die allgemeinen Publikumssegmente noch die PublikumsMeinungsführer bei internationalen Fragen in der Regel über direkten Kontakt zum
Auslandsgeschehen oder alternative Quellen zu den Massenmedien verfügen. Die
mediale Informationsabhängigkeit im Bereich der Auslandsinformation ist ein fundamentales Unterscheidungskriterium zwischen weiten Teilen der Medienkonsumenten und den politischen Akteuren. Auswärtige Themen sind sogenannte unaufdringliche Themen,299 die sich dem Erfahrungsnahbereich der Medienkonsumenten entziehen und bei denen daher die Medien ein hohes Maß an Thematisierungsfreiheit
und eine große Kapazität zur Strukturierung der öffentlichen Agenda besitzen. Elisabeth Noelle-Neumann: „Für das Fernbild – das Bild über die allgemeinen Verhältnisse und über Länder und Personen und Einrichtungen, die die Bevölkerung nicht
aus eigener Erfahrung kennt – nimmt die Bevölkerung die Informationen aus den
Inhalten der Massenmedien.“300 Aufdringlichkeit oder Nichtaufdringlichkeit eines
Themas hängen eng mit der Verhaftung in der lokalen, regionalen, nationalen oder
internationalen Sphäre zusammen, wobei Unaufdringlichkeit und Wirkungshaftigkeit
der Medien auf öffentliche Agenden in nationalen und internationalen Sphären stärker ausgeprägt sind als in lokalen und regionalen Sphären. In einer Reihe von Studien ist ermittelt worden, daß öffentliches Themenbewußtsein bei nationalen oder
internationalen Fragen in höherem Maß von der Auslandsberichterstattung abhängt
als bei lokalen Fragen.301
298 Gerhard W. Wittkämper u.a., Medienwirkungen in der internationalen Politik, T. 1: Theoretische
Grundlagen und exemplarische Entscheidungsprozessanalyse der Ostpolitik der SPD/FDPKoalition, Münster 1986, S. 28 ff., 102.
299 Zur Unterscheidung zwischen „aufdringlichen“ (obtrusive) und „unaufdringlichen“ (unobtrusive)
Themen vgl. Chaim H. Eyal, Time Frame in Agenda-Setting Research: A Study of the Conceptual
and Methodological Factors Affecting the Time Frame of the Agenda-Setting Process, Diss. Syracuse 1980; Harold G. Zucker, The Variable Nature of News Media Influence, in: Communication
Yearbook 2, Hrsg. International Communication Association, New Brunswick 1978, S. 225-240;
Richard Warwick Blood, Unobtrusive Issues and the Agenda-Setting Role of the Press, Diss. Syracuse 1981.
300 Elisabeth Noelle-Neumann, Die öffentliche Meinung und die Wirkung der Massenmedien, in:
Jürgen Wilke (Hrsg.), Fortschritte der Publizistikwissenschaft, Freiburg 1990, S. 14.
301 Philip Palmgren/Peter Clarke, Agenda-Setting with Local and National Issues, in: Communication
Research 4 (1977) 10, S. 435-452; John T. McNelly, International News for Latin America, in:
Journal of Communication 29 (1979) 2, S. 156-163. Rolf Hügel, Werner Degenhardt und HansJürgen Weiß haben ermittelt, daß bei der Thematisierung der „unaufdringlichen“ Themen der Außenpolitik die Pressewirkung vor allem bei Öffentlichkeitseliten meßbar ist, die aktiv über Außenpolitik kommunizieren, während sich in anderen Öffentlichkeitssegmenten vor allem Fernsehwirkungen nachweisen lassen. Rolf Hügel/Werner Degenhardt/Hans-Jürgen Weiß, Strukturglei-
121
Andererseits weist die Tatsache, daß weite Teile des Publikums, wie oben gezeigt,
zwar Einstellungs-, aber keine permanenten Themenpräferenzen ausbilden, darauf
hin, daß die Thematisierungswirkung der Medien in der Regel nur kurzfristig ist.
Dies wiederum steht in Zusammenhang mit der häufig kurzfristigen und diskontinuierlichen Thematisierung auf seiten der Medien, was seinerseits auf die Definition
der Nachricht als Abweichung von der Normalität, auf die Konfliktorientierung und
andere Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung zurückzuführen ist (vgl.
Kap. 3.2.1.1). Dort, wo, wie beispielsweise beim Thema Nahostkonflikt, eine langfristige Medienthematisierung stattgefunden hat, sind auch langfristige Themeninteressen des Publikums zu entdecken. In solchen Fällen müßte, im Umkehrschluß zu
der These der starken Medienwirkung, der Orientierungsbedarf des Publikums sinken, da hier eine Verselbständigung des Informationsangebots beim Publikum stattfindet und das Thema in Schulen, auf dem Buchmarkt, kurz: auch in anderen Öffentlichkeitssegmenten außerhalb der Medien in hohem Maße Zulauf findet.302 Aufdringlichkeit/Unaufdringlichkeit eines Themas ist daher nicht zuletzt von der Berichterstattungs- und Nutzungsgeschichte der jeweiligen Nachrichtenbereiche abhängig.
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen über den Zusammenhang von
Auslandsberichterstattung und Öffentlichkeit ist deutlich, daß „Unaufdringlichkeit“
und die damit erklärte relative Wirkungsmacht der Auslandsberichterstattung nur
eine theoretische Hilfskonstruktion sein kann. Die strukturelle Schwäche der international orientierten nichtmedialen Öffentlichkeit ist eine wesentliche Ursache der
„Unaufdringlichkeit“ internationaler Themen, ihrer häufigen Nicht-Thematisierung
ebenso wie ihrer relativ wirkungsmächtigen Thematisierung. Unaufdringlichkeit ist
kein Wesensmerkmal des Auslandsgeschehens, sondern das Ende einer Kette von
Nicht- oder nur sehr kurzfristigen Thematisierungen sowohl durch die Medien als
auch die außermediale Öffentlichkeit.
Unabhängig von der Frage, wie diese verursacht wird: die Wirkungsmacht der
Auslandsberichterstattung bei der öffentlichen Themengestaltung und der Schaffung
von Themenbewußtsein ist empirisch in hohem Maß gesichert. Ohne den Einsatz der
Medien ist ein öffentliches Themeninteresse für internationale Fragen kaum zu wekken. Weniger deutlich ist hingegen, inwieweit die Medien mehr als ein solches Themenbewußtsein zu wecken in der Lage sind, also etwa auch Einstellungen, Nationenstereotype usw. verändern können. Untersuchungen haben gezeigt, daß Auslandsberichterstattung zum Beispiel keinen signifikanten Einfluß auf Geographiekenntnisse
und anderes Grundwissen über andere Länder ausübt, was unter anderem auf die
starke Politikorientierung der Auslandsberichterstattung zurückzuführen ist, in der
chungsmodelle für die Analyse des Agenda Setting-Prozesses, in: Winfried Schulz (Hrsg.), Medienwirkungen: Einflüsse von Presse, Radio und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft. Untersuchungen im Schwerpunktprogramm „Publizistische Medienwirkungen“, Weinheim 1992, S. 152.
302 Ähnliche Überlegungen liegen, wenngleich ohne Bezug auf die Nachrichtenwertforschung oder
Auslandsberichterstattung, dem „Schwellenmodell“ Hans Mathias Kepplingers zugrunde, wonach
bereits langfristig eingeführte Themen nur durch eine nachhaltige Veränderung der Berichterstattung auch zu zu- oder abnehmendem Themenbewußtsein führt. Hans Mathias Kepplinger/Klaus
Gotto/Hans-Bernd Brosius/Dietmar Haak, Der Einfluß der Fernsehnachrichten auf die politische
Meinungsbildung, Freiburg/München 1989.
122
solches Wissen wenig vermittelt wird (vgl. Kap. 3.2.1.2). Andererseits besteht eine
Beziehung zwischen positiven/negativen affektiven Nationenbildern des Publikums
und der Medienberichterstattung,303 d.h. Konfliktperspektive und Negativismus als
häufige Strukturmerkmale der Auslandsberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.1.2) verfügen
über ein hohes Wirkungspotential hinsichtlich der affektiven Dimension von Auslandsbildern. Hier deutet sich an, daß der Agenda-Setting-Ansatz allein nicht zureichend ist, um das Wirkungspotential der Auslandsberichterstattung zu beschreiben,
denn diese wirkt möglicherweise nicht allein auf das Themenbewußtsein (worüber
nachgedacht wird) des Publikums, sondern ebenso auf bestimmte Einstellungskomplexe (wie und was gedacht wird). Zu klären wäre, inwieweit die Auslandsberichterstattung Einfluß auf die auch im außenpolitischen Bereich zum Teil beharrlichen
Einstellungsysteme der Öffentlichkeit zu nehmen in der Lage ist. Die Frage wird an
dieser Stelle nicht weiter verfolgt, um keinen theoretisch unsicheren, weil empirisch
kaum erforschten Boden zu betreten.
3.2.4.2 Auslandsberichterstattung, Politik und Gesellschaft: nationale und
internationale Systembedingungen
Massenmedien bestimmen ihre Themen und andere Diskurseinheiten nicht alleine,
sondern im Zusammenspiel mit anderen Kräften der Gesellschaft in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Die Thematisierungsfunktion der Massenmedien läßt sich
sinnvoll nur vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Machtverhältnisse
ergründen.304 Versuche, die Thematisierungsfunktion der Medien in einen systemtheoretischen Rahmen einzufügen, sind dabei bereits seit langem nachweisbar.305 Die
Systemtheorie ist als ein übergreifendes Paradigma für eine Reihe von Theoriegattungen von der Demokratietheorie, über staats- und machtpolitische Ansätze bis zur
politischen Ökonomie bezeichnet worden und soll auch an dieser Stelle nicht die
Bedeutung anderer Theorien schmälern, sondern vor allem ein ganzheitliches Herangehen an den Zusammenhang zwischen Massenmedien und Gesellschaftskräften im
Prozeß der internationalen Medienberichterstattung fördern. Systemtheorie dient
dazu, journalistische Problemstellungen nicht nur als „Derivate eines disziplinär
isolierten Medienzentrismus“ (Rühl) zu betrachten, sondern ihre Wechselbeziehungen mit der Gesellschaft zu erkennen.306
303 John T. McNelly/Fausto Izcaray, International News Exposure and Images of Nations, in: Journalism Quarterly 63 (1986) 3, S. 553.
304 Carragee/Rosenblatt/Michaud, Agenda-Setting Research, S. 47; vgl. a. Schenk, Medienwirkungsforschung, S. 227 f.
305 Frank Böckelmann, Theorie der Massenkommunikation, Frankfurt 1975; Manfred Rühl, Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorieentwurf, Mainz 1980, S. 323 ff.
306 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 319; vgl. a. Michael Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft. Theorien der Massenkommunikation, Köln/Wien 1984, S. 144. Zur Einführung in systemtheoretische Medientheorien vgl. Werner Faulstich, Medientheorien. Einführung und Überblick,
Göttingen 1991.
123
3.2.4.2.1 Medien und Gesellschaftssystem: eine systemtheoretische Betrachtung
Medien erfüllen die für die Gesellschaft bedeutsame Funktion, die Umweltinformationen durch Thematisierung und Themenstrukturierung sinnvoll zu ordnen, Umweltkomplexität zu reduzieren und damit Grundlagen für die strukturierte Massenkommunikation zu schaffen. Die systemtheoretisch orientierte Medientheorie gibt
dabei zunächst keine Auskunft über Normen und Zielvorstellungen der Thematisierung, worin sie sich von den Theorieansätzen aus dem Bereich der Demokratietheorie, der politischen Ökonomie oder der von staats- und parteipolitischen Ansätzen
unterscheidet. Das Schwergewicht der Systemtheorie liegt vielmehr auf der Erkenntnis, daß die Medien zur Erfüllung ihrer Aufgaben Einflußgrößen unterliegen, die im
Rahmen der System-Umwelt-Konfiguration oder der Autonomie-GleichgewichtsDichotomie begrifflich erfaßt werden können. Die spezielle autopoietische Systemtheorie307 geht zwar – nicht zuletzt auf Grund ihrer Nähe zum radikalen Konstruktivismus – von der Annahme aus, daß externe Einflüsse zu Selbstbeobachtungen des
Systems führen und Medien deshalb nicht extern gesteuert werden können. Dennoch
zeigen auch diese indirekten Reaktionen des Mediensystems, daß das Funktionieren
der Massenmedien nicht allein intern bestimmt wird, sondern diese zum einen mit
anderen Subsystemen der Gesellschaft, wie dem politischen und wirtschaftlichen
System, und zum anderen mit der nicht-organisierten gesellschaftlichen Umwelt
Austauschbeziehungen pflegen, die ihre Handlungsweise beeinflussen.308
Organisierte Subsysteme und disperse Umwelteinflüsse zusammen können als
„Systemumwelt“ bezeichnet werden, die gemäß Manfred Rühl vor allem aus folgenden drei Bereichen besteht:
307 Um diese vereinheitlichende Funktion zu erhalten und allgemeine systemtheoretische Überlegungen
im Bereich der internationalen Medienberichterstattung weiterzuentwickeln, wird im folgenden
weitgehend darauf verzichtet, verschiedene Spielarten der Systemtheorie voneinander abzugrenzen.
Funktional-strukturalistische Medientheorien (Rühl, Kunczik) und autopoietische Medientheorien
(Marcinkowski), mit ihren jeweils starken Bezügen zu den Arbeiten Niklas Luhmanns, werden
ebenso einbezogen wie kybernetische Modelle (Deutsch).
308 Die Annahme von Alexander Görke und Johannes Kollbeck, daß eine Steuerung der Medien durch
systemexterne Interessen, durch nationale wie internationale Akteure auszuschließen ist, ist auch im
Sinn der autopoietischen Theorie zu vereinfachend, da ungeachtet der fehlenden externen Steuerbarkeit zahlreiche Einflüsse auf das offen-geschlossene, autopoietische System wirken, deren Verarbeitung einer theoretischen Betrachtung bedürfen (Alexander Görke/Johannes Kollbeck, (Welt-)
Gesellschaft und Mediensystem. Zur Funktion und Evolution internationaler Medienkommunikation, in: Miriam Meckel/Markus Kriener (Hrsg.), Internationale Kommunikation. Eine Einführung,
Opladen 1996, S. 266). Folgt man Niklas Luhmann oder Frank Marcinkowski, so ist der „Bedarf an
Intersystembeziehungen“ gerade in differenzierten Gesellschaften – im Vergleich zu stratifikatorischen Gesellschaften – sehr hoch. Frank Marcinkowski: „Folglich sind moderne Gesellschaften (...)
von dem permanenten Spannungsverhältnis zwischen partieller Autonomie gesellschaftlicher Teilbereiche einerseits und der Notwendigkeit ihres Zusammenspiels andererseits gekennzeichnet.“
Frank Marcinkowski, Publizistik als autopoietisches System, S. 133 f., 135.
124
• Personen des Journalismus
• Publikum
• politisch-wirtschaftlicher Komplex.309
Die Vorstellung vom Journalisten, der zugleich Teil des Mediensystems und der
Medienumwelt ist, ist ein Modell, wonach einerseits der moderne Journalist im Zeitalter der Massenpresse und des Agenturjournalismus – anders als zur Zeit des Persönlichkeits- und Meinungsjournalismus eines Karl Kraus und abgesehen von einigen Ausnahmeerscheinungen des Journalismus wie Günter Wallraff – die von seiner
Persönlichkeit abstrahierenden Interessen des Mediensystems und bestimmte, ihm
zugewiesene Funktionen wahrnimmt. Andererseits aber fließen unvermeidlich auch
Persönlichkeitsfaktoren, im vorliegenden Theorieentwurf als mikrotheoretische Einflußfaktoren ausgewiesen, in die Medienarbeit ein.310 Der Journalist ist damit in
seiner Systemrolle Teil des Systems der Massenmedien und in seinen Persönlichkeitsstrukturen konstituiert er zugleich seine eigene Umwelt: eine Trennung von
Funktion und Person des Journalisten, die überwiegend heuristische Zwecke verfolgt.311
Publika betrachtet Rühl als eine Größe, die nicht aus Organisations- und Systemstrukturen, sondern aus Erwartungs- und Bedürfnisstrukturen bestehen, die nur sehr
ungenau zu bestimmen sind, wenngleich sich der Journalismus generell um die Anpassung an Bedürfnisstrukturen bemühen muß.312 Von der Annahme einer einseitigen Manipulierbarkeit des Publikums durch Massenmedien ist nach zahlreichen
Erkenntnissen der Nutzungsforschung abzusehen. Das Publikum ist in der Lage,
Medienangebote selektiv zu nutzen, vorgeprägte Programmstrukturen zu konterkarieren und seine Kommunikationspartner zu wählen. Zwischen Publikum und Medien besteht daher gemäß Rühl ein „Tausch- und Wettbewerbsverhältnis.“313
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fungieren in vielfacher Hinsicht als „Umwelten“ der Massenmedien. Das Mediensystem und politisch-wirtschaftliche Subsysteme wachsen an „zahlreichen Berührungsflächen zusammen“, und die Medien sind
„integraler Bestandteil in einem interdependenten Prozeß, in dem zwischen Politikgenerierung und Politikvermittlung nicht mehr klar zu unterscheiden ist“ (Sarcinelli).314 Die „gegenseitigen Einfluß- und Abhängigkeitsverhältnisse“ (Rühl)315 sind
beispielsweise geprägt durch die notwendige Versorgung der Medien mit Informa309 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, Mainz 1980, S. 346.
310 Ebenda, S. 346-360.
311 Manfred Rühl: „Eine systemrationale Trennung bedeutet (...) keine dinglich-materielle Isolierung.
Die wechselseitige Beeinflussung zwischen Journalismus und Persönlichkeit bleibt ausdrücklich berücksichtigt. Aber angesichts der hohen Komplexität öffentlicher Kommunikation kann Journalismus keine sozialen Funktionen erfüllen, wenn diese nicht durch die Herausbildung ‘unpersönlicher’
Erwartungskomplexe, ja durch ‘institutionalisierte Unpersönlichkeit’ abgesichert werden.“ Ebenda,
S. 356.
312 Ebenda, S. 360-369.
313 Ebenda, S. 368.
314 Ulrich Sarcinelli, Massenmedien und Politikvermittlung: Eine Problem- und Forschungsskizze, in:
Gerhard W. Wittkämper (Hrsg.), Medien und Politik, Darmstadt 1992, S. 46 f.
315 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 369 f.
125
tionen aus Politik und Wirtschaft auf der einen und die gleichfalls essentielle Repräsentation von Politik und Wirtschaft in den Medien auf der anderen Seite. Die Austauschbeziehungen sind dabei nicht gleichförmig. Hans Mathias Kepplinger hat
geltend gemacht, daß – anders als im Fall des öffentlich-rechtlichen Rundfunks –
zwischen der privaten Presse und dem politisch-wirtschaftlichen System keine Beziehungen der gleichrangigen Interdependenz bestehen, da hier etwa das Instrument
der Stellenbesetzung entfällt, sondern daß Politik und Wirtschaft auf die Repräsentations- und Harmoniebereitschaft der Presse stärker angewiesen sind als die Presse
auf Informationsversorgung durch Politik und Wirtschaft. In dem Maß wie jedoch
die Bereitschaft der Presse zur Disharmonie und Anpassungsverweigerung gegenüber Politik und Wirtschaft größer ist als im Fall staatlicher oder öffentlichrechtlicher Medien,316 wächst zugleich die Bedeutung der wirtschaftlichen Umweltfaktoren und des Wirtschaftssystems, da die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen
prinzipiell größer ist als im öffentlichen Mediensektor. Auch auf diesem Gebiet
bestehen Interdependenzbeziehungen, denn auch die Wirtschaft ist ihrerseits auf die
Massenmedien als Werbeträger angewiesen. Gemäß Michael Kunczik kann davon
ausgegangen werden, daß sich die Massenmedien insgesamt an ihre primäre Ressourcenumwelt anpassen: die kommerziellen Medien an den Markt und das Wirtschaftssystem, öffentlich-rechtliche oder staatliche Medien an das politische System
und signifikante Gesellschaftsgruppen und -organisationen.317
Die Umwelten der Massenmedien, die „Systemumwelten“, sind keine homogenen
Einheiten, sondern sie bestehen aus dispersen Informationsbestandteilen ebenso wie
aus organisierten „Umweltsystemen“. Die Unterscheidung zwischen Systemumwelt
und Umweltsystem der Massenmedien ist in der Forschungsliteratur bisher wenig
präzisiert worden, so daß eine definitorische Klärung notwendig erscheint. Ein organisiertes System A kann für ein anderes System B zu einem „Umweltsystem“ werden
und aktiv auf dessen Entwicklung einzuwirken versuchen, beispielsweise im Fall
rechtlicher oder machtpolitischer Eingriffe der Judikative oder der Exekutive auf das
Mediensystem. Die „Systemumwelt“ enthält über die Umweltsysteme hinaus disperse, nicht-organisierte Umweltfaktoren, zu denen etwa ein großer Teil der Medienkonsumenten und des nicht-organisierten Publikums gehören. Diese Unterscheidung
ist insofern wichtig als Anpassungserscheinungen an disperse Umwelten ausschließlich innerhalb des Mediensystems vonstatten gehen, da den Medien ein handelndes
Gegenüber fehlt, während Umweltsysteme eigenständig im Sinne eines Steuerungsinteresses und ihrer eigenen Systemprogrammierung aktiv werden können.
Rühls Unterteilung der medialen Umweltbereiche (Personen des Journalismus,
Publikum und politisch-wirtschaftlicher Komplex) enthält keine genaue Unterscheidung zwischen dispersen und organisierten Umwelten. Das Publikum ist nach Rühl
eine klassisch disperse Umwelt, denn es bildet sich nur situativ, je nachdem, welche
Themenstrukturierungsvorgaben in einem bestimmten Publikumssegment Beachtung
316 Hans Mathias Kepplinger, Systemtheoretische Aspekte politischer Kommunikation, in: Publizistik
30 (1985) 2/3, S. 251.
317 Michael Kunczik, Journalismus als Beruf, Köln/Wien 1988, S. 74.
126
finden. Eine „fortdauernde Organisierung von Publikum“ ist demnach nicht möglich.318 Als Problem ergibt sich, daß es jedoch, wie bereits im Kapitel über das
Agenda-Setting ausgeführt, auch einen organisierten Teil der Öffentlichkeit gibt.
Zwar handelt es sich hierbei in den seltensten Fällen um Organisationen von Medienrezipienten (etwa Media-Watch-Gruppen), aber national wie international ausgerichtete Verbände und Vereine sind nicht ohne weiteres dem politischen oder wirtschaftlichen System zuzuordnen, sondern sind in der Lage, eigenständig als Vertreter teilorganisierter Medienpublika zu wirken und inhaltliche Interessen gegenüber den
Medien zu vertreten. Michael Kunczik unterscheidet zu Recht zwischen einer passiven Umwelt (den „relativ machtlosen Rezipienten“) und einer aktiven Umwelt (z.B.
Interessenverbänden).319
Der politisch-wirtschaftliche Komplex besteht zur gleichen Zeit nicht nur aus organisierten Systemen – wie dem Regierungsapparat, Unternehmen und Wirtschaftsverbänden –, sondern auch aus der subjektiven Einschätzung des Journalismus hinsichtlich der Befindlichkeit seines wirtschaftlichen und politischen Milieus und der
Wirkung der Umweltbedingungen auf das Mediensystem. Im Fall der Presse besteht
das primäre Milieu der Wirtschaft weniger im konkreten Einfluß von Wirtschaftsunternehmen und -verbänden und vielmehr aus Markt- und Konjunkturfaktoren.
Insgesamt lassen sich folgende Systemumwelten und Umweltsysteme der Medien
unterscheiden:
Tab. 3.6 – Systemumwelten und Umweltsysteme des Journalismus
Personen des Journalismus
Publika
Politisch-wirtschaftlicher
Komplex
Systemumwelten
Umweltsysteme
Persönlichkeiten
nicht-organisierte
Konsumenten
politische / ökonomische
Lage
psychische Systeme
organisierte Öffentlichkeit
polit. / ökon. System
Auf ein weiteres Problem der System-Umwelt-Beziehungen hat Marcinkowski hingewiesen und hierbei Rühl ergänzt. Es lassen sich „innere“ und „äußere Umwelten“
unterscheiden, denn entgegen Rühls Annahme ist etwa das Publikum nicht allein ein
Umweltfaktor, gegen den die Massenmedien ihre Autonomie sichern müssen, sondern das Publikum ist ebenso ein Faktor, der, obzwar selbst nicht Teil des Mediensystems, die Autonomiebestrebungen der Medien gegenüber anderen Systemumwelten
wie der Politik stützen kann.320 Es scheint sinnvoll, das Medienpublikum, wie die
anderen Umweltbereiche auch, sowohl als interne als auch als externe Umweltfaktoren zu betrachten, denn das Publikum ist das legitimierende Milieu, mit dessen Hilfe
die Massenmedien Autonomie sichern können, es ist jedoch zugleich autonomiegefährdend, da es ständig neu gewonnen werden muß und die Berichterstattung positiv
318 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 365.
319 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 214.
320 Marcinkowski, Publizistik, S. 97.
127
und negativ sanktioniert werden kann. Ähnliche Überlegungen gelten für den Wirtschaftskomplex, der als externe Systemumwelt (mit einzelnen Umweltsystemen)
fungiert, während zugleich im Bereich der privatwirtschaftlich organisierten Massenmedien das Mediensystem selbst ein Wirtschaftssystem darstellt, das als inneres
Umweltsystem einzustufen ist, mit dessen Hilfe Autonomie erzielt oder stabilisiert
werden kann. Auch das politische System ist nicht in jedem Fall als äußeres Umweltsystem zu betrachten, sondern es kann auch zum inneren Umweltsystem werden. Es
wird im Fortgang der Argumentation zu zeigen sein, daß neuere Modelle der Beziehung Medien-außenpolitisches System die Medien als innere Umwelt vor allem dann
betrachten, wenn Journalisten, Diplomaten und Politiker als sich gegenseitig beeinflussende insider politischer Abläufe einzustufen sind, während ihre Funktion als
äußere Umwelt ihre outsider-Position beschreibt.321 Eine Sichtweise, die eine bestimmte Systemumwelt als interne oder externe Einflußgröße des Mediensystems
und der Berichterstattung aufgibt, ist verkürzt.
Um das Strukturmodell der System-Umwelt-Beziehungen im Medienbereich abzuschließen, muß hinzugefügt werden, daß Massenmedien nicht nur als Einheit gegenüber anderen Umweltgrößen, sondern auch wechselseitig interagieren. Das Mediensystem besteht seinerseits aus Subsystemen, zwischen denen – ähnlich wie zwischen dem Medien- und dem politischen System – Austauschprozesse stattfinden.322
Medien orientieren sich an innerjournalistischen Leitmedien (vgl. Kap. 3.2.3.4) und
können dabei durch gemeinsame Thematisierungen ihre autonomen Spielräume
erweitern (Eine einheitliche Berichterstattung ist jedoch nicht zwangsläufig ein Beleg für Autonomie, sondern kann auch einen spill-over-Effekt der Umweltanpassung
darstellen).
Wie aber gestalten sich die Beziehungen zwischen Medien und Umwelt? Wie
wirkt sich die Interaktion zwischen dem Mediensystem und seiner Systemumwelt auf
die Inhalte der Berichterstattung aus? Die vergleichende Analyse der Darstellungsprozesse in Massenmedien mit anderen Themen der Systemumwelt und die Ermittlung der Interaktionen ist letztlich nur durch eine methodische Kopplung von Medieninhaltsanalyse mit einer etwa für die Politikwissenschaft typischen Untersuchung
politischer und wirtschaftlicher Realabläufe zu bewerkstelligen. Marcinkowski stellt
seine Systemtheorie der Medien daher nicht zufällig in den Rahmen der Politikwissenschaft (vgl. Einleitung zu Kapitel 3).
Zwar ist es nicht möglich, die Vielzahl der System-Umwelt-Beziehungen des
Mediensystems zu erfassen, doch sind „Autonomie“ und „Gleichgewicht“ zwei
zentrale Interaktionsmuster. Die Autonomie des Mediensystems erlaubt es diesem,
sich intern zu differenzieren und selbständig Lösungen für Probleme seiner Systemumwelt zu erarbeiten.323 Mit steigender Komplexität der Umwelt steigt auch die
Eigenkomplexität des Mediensystems, das über die autonome Thematisierung in die
Öffentlichkeit zurückwirkt und insofern wichtige Funktionen für das Gesamtsystem
321 Vgl. unten die Darstellung zu Patrick O’Heffernan.
322 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 216.
323 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 341.
128
erfüllt. Autonomie und Identität sind Kernbegriffe der Systemtheorie, denn: „Das
System ist die Differenz zwischen Umwelt und System“ (Luhmann).324 Wenn sich
das Mediensystem inhaltlich nicht mehr von anderen Umweltsystemen unterscheidet,
verliert es seine spezifischen Systemeigenschaften und funktioniert nur noch bedingt
als eigenständiges System (beispielsweise Medien in autoritären/totalitären Staaten,
die eigentlich ein Teil des politischen Systems sind). An dieser Stelle endet auch die
Analogie zwischen biologischen Organismen und sozialen Systemen, denn soziale
Organisationen sind im Unterschied zu Organismen zu eigenständigem Handeln
fähig, ohne daß das gesamte Gesellschaftssystem kollabiert.325
Massenmedien suchen daher nach Identitäten, den in Kapitel 3.2.3.3 beschriebenen Entscheidungsprogrammen als Redaktions- und Blattlinien, in denen eine typische Prägung ihrer Kommunikationsinhalte festgelegt wird, die, aus der Sicht der
Theorie offen-geschlossener Systeme, „autopoietische Reproduktion“ der Medien
ermöglicht.326 Medien verschaffen sich auch dadurch Spielräume gegenüber der
externen Umwelt, daß sie die unterschiedlichen Milieus gegeneinander „ausspielen“,
zum Beispiel die Politik und das Publikum.327 Ihr Verhältnis zu anderen Medien ist
durch autonomes Abgrenzungsgebaren, aber auch durch intermediale Interaktion
gekennzeichnet. Autonome Medien sind keine Enklaven der Gesellschaft, sondern
sie erfüllen gegenüber ihrer Umwelt ihre zentrale Funktion der öffentlichen Thematisierung und der Herstellung einer die Gesellschaft integrierenden Massenkommunikation.
Medien müssen jedoch nicht allein Autonomie sichern, sondern sie müssen zugleich Austauschbeziehungen pflegen, sie sind auf die Kommunikationsbereitschaft
der Umweltsysteme angewiesen, benötigen zumindest teilweise deren Unterstützung
und sind beispielsweise im Verhältnis zum politischen System gehalten, bis zu einem
gewissen Grad „Verlautbarungsjournalismus“ zu betreiben.328 Autonomie bedeutet
nicht Autarkie329 und „offene Systeme“ sind zugleich „grenz-stabilisierend (identitätswahrend) und grenzüberschreitend“ (Kunczik).330 Autonome Medien erfüllen
zwar eine wichtige Funktion für die Gesellschaft, doch es kann dabei zu einer Ungleichgewichtigkeit von Austauschbeziehungen kommen, woraus in der Regel ein
die Autonomie der Medien herausfordernder korrektiver und erhöhter Umweltdruck
resultiert. Das Ziel des Mediensystems im Verhältnis zu seinen Umwelten muß es
sein, ein umweltangepaßtes Gleichgewicht zu erreichen, das ihm das Überleben ermöglicht, wobei Abweichungen von der Umweltanpassung negativ sanktioniert wer324 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen
1975, S. 194.
325 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 144 f.
326 Marcinkowski, Publizistik, S. 70, 98-110.
327 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 341.
328 Ulrich Paetzold, Hofberichterstattung oder Recherchenjournalismus. Zur Philosophie journalistischer Arbeit, in: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.), Journalismus und Journalismus. Plädoyers für
Recherche und Zivilcourage, München 1980, S. 21-33; Petra E. Dorsch, Verlautbarungsjournalismus – eine notwendige Medienfunktion, in: Publizistik 27 (1982) 4, S. 530-540.
329 Rühl, Journalismus und Gesellschaft, S. 339 f.
330 Kunczik, Kommunikation und Gesellschaft, S. 149.
129
den und zum Entzug von Ressourcen (z.B. nachlassendem Kaufinteresse) führen
können.331 In letzter Instanz bedeutet dies, daß die Medieninhalte von Umweltfaktoren stark mitgeprägt werden: Umwelterwartungen und Systemoutput müssen eine
„gewisse Korrespondenz“ (Kunczik)332 aufweisen.
Das Mediensystem wird im Verhältnis zu seinen Umwelten in der Regel präadaptiert und angepaßt sein und kann daher seine Aufgaben der Informationsvermittlung,
öffentlichen Themenstrukturierung, Kritik und Unterhaltung selbstgesteuert ausführen. Unter Umständen jedoch verliert das Mediensystem die Fähigkeit zur Selbststrukturierung an die Umweltfaktoren, die es zur Anpassungskorrektur bewegen,
wobei die autopoietische Variante der Systemtheorie, wie angesprochen, auch in
diesem Fall dem Selbststeuerungsprimat des Mediensystems betont. Das Gleichgewicht der Medien ist ein „Fließgleichgewicht“ (Kunczik),333 das sich nicht allein in
einer festen Redaktionspolitik ausdrücken muß, sondern Oszillationen der Redaktionspolitik ermöglicht und sogar erforderlich macht. Gleichgewicht und Überleben
des Mediensystems sind wichtiger als dessen Identität. Für das gesellschaftliche
Gesamtsystem bedeutet dies: je größer der Druck der Umweltfaktoren ist, um so
bedeutsamer ist eine Anpassungsreaktion des Mediensystems und um so stärker ist
rückwirkend der Anteil der Medien an der Stabilisierung des Gesamtsystems. Anders
ausgedrückt stützt ein Autonomieverlust der Medien die „Legitimität bestehender
Herrschaftsverhältnisse“ in den Nachrichten.334 „Fließgleichgewicht“ bedeutet auf
der anderen Seite, daß der Druck der Umweltfaktoren bestimmte Toleranzspannen
nicht überschreiten darf, da sonst Autonomie, Identität und Glaubwürdigkeit des
Mediensystems gefährdet sind.335 Darstellungsprozesse in Massenmedien können
nach den Lehren des Fließgleichgewichts also bestimmte Oszillationen zwischen den
Anforderungen der Systemidentität und den Anforderungen der externen Umwelt
vollziehen.
3.2.4.2.2 Auslandsberichterstattung und nationale Systembeziehungen
Was den Bereich der Auslandsberichterstattung betrifft, so sind grundsätzlich zwei
gesellschaftlich-politische Systemgrößen zu unterscheiden:
• das nationale System
• das inter- bzw. transnationale System.
In der bisherigen theoretischen Forschung sind nahezu ausschließlich Wechselwirkungen zwischen den Medien und dem nationalen außenpolitischen System untersucht worden. Eine Verortung der Auslandsberichterstattung in inter- und transnationalen Systembeziehungen des primär für den nationalen Raum konzipierten Aus331
332
333
334
335
130
Ebenda, S. 211.
Ebenda, S. 214.
Ebenda, S. 205 ff., 212 ff.
Ebenda, S. 223.
Ebenda, S. 205, 227.
landsjournalismus ist bisher nicht erfolgt. Zwar beschränkt sich die vorliegende
Theoriematrix auf Auslandsberichterstattung im Sinne eines Rücktransfers von
Nachrichten von außerhalb eines Staatsgebildes in sein Inneres (vgl. die Einleitung
zu Kapitel 3), läßt also transnationale Programmangebote wie die deutschfranzösische Koproduktion ARTE außer acht. Aber auch die nationale Auslandsberichterstattung muß den Einfluß durch und die Wirkung auf externe Systemumwelten
und Umweltsysteme (z.B. auswärtige Regierungen) in Betracht ziehen.
Nationale Systembeziehungen sind von verschiedenen Theorien erklärt worden.
Patrick O’Heffernans „Insider-Modell“ versteht sich als eine Ergänzung der realistischen Schule außenpolitischer Forschung (z.B. Hans Morgenthau), die den Staat als
einen unitären Block darstellte oder die innere Dynamik der Entscheidungsfindung
politischer Eliten mit Hilfe organisations- oder bürokratietheoretischer Ansätze336 zu
erklären suchte.337 Während politische Entscheidungen in letzteren Modellen als
Resultat von Verhandlungen verschiedener Akteure in den politischen Institutionen
betrachtet wurden, galten die Massenmedien als sekundäre Spieler mit diffusem,
nicht theoretisch konzeptionalisierbarem Input durch unterschiedliche Meinungsführereliten. O’Heffernans Modell der Beziehungen zwischen Medien und Außenpolitik
basiert hingegen auf Umfragen mit politischen Akteuren (sogenannten Insidern), in
denen erkennbar wurde, daß Konzepte, die den Medien in der Außenpolitik – im
Unterschied zur Innenpolitik – eine passive Rolle beschränkt auf die Übermittlung
von externen Thematisierungen zuschreiben, die tatsächliche Funktion der Medien
sowohl als autonome Akteure als auch als Kommunikationsinstrumente politischer
Akteure nicht erfassen. Die Medien werden bei O’Heffernan als politische Akteure
mit dualem Charakter betrachtet, die teilweise selbst Insider sind und die politischen
Abläufe aktiv beeinflussen, wie auch selbst von politischen Akteuren beeinflußt
werden, und die andernteils Outsider sind und von außerhalb des politischen Systems
versuchen, Einfluß auf die Politik auszuüben oder aber von anderen Akteuren außerhalb der Medien oder des politischen Systems – etwa von ausländischen Regierungen – beeinflußt werden.338 Die Unterscheidung zwischen Insidern und Outsidern ist
weitgehend identisch mit der Unterscheidung zwischen den Medien als „innerer“
oder „äußerer Umwelt“ der Außenpolitik, obwohl die Definitionen vage bleiben.339
Die Nichtverwendung des Systembegriffs blendet vor allem theoretische Überlegungen über Autonomie, Umweltanpassung und System-Umwelt-Gleichgewicht aus.
336
337
338
339
Vgl. a. Graham T. Allison, Essence of Decision: Explaining the Cuban Misslie Crisis, Boston 1971.
O’Heffernan, Mass Media, S. 96.
Ebenda, S. 97.
Die Outsider-Funktion der Medien wird definiert als „von der Politik getrennt“ und „entstehend aus
Natur und Motivationen der verschiedenen Medienschaffenden“, während die Insider-Funktion auf
der Annahme basiert, daß Medien zugleich „Positionen in allen inneren Zirkeln des politischen Prozesses besetzen“ und sich Politik und Medien gegenseitig „Vorteile erhandeln“ (Ebenda, S. 97,
109). Als Insider gelten offensichtlich jene Journalisten, die dem in der amerikanischen Medienwissenschaft vieldiskutierten „Reviersystem“ (beat system) zugerechnet werden, einer zielgerichteten,
privilegierten und routinemäßigen Zurverfügungstellung von Informationen seitens politischer Akteure und Institutionen für bestimmte Medien und Journalisten. Zu Reviersystemen vgl. Gans, Deciding What’s News, S. 131 ff.
131
Die potentiellen Interaktionen zwischen Medien und Politik, oder genauer: zwischen
Auslandsberichterstattung und Außenpolitik, werden statt dessen lediglich aufgelistet:
• potentielle Insider-Medienwirkungen auf die Außenpolitik:340
-
Medien informieren über den politischen Prozeß;
definieren Akzeptanzmaßstäbe politischen Verhaltens;
lenken die Aufmerksamkeit von Politikern auf bestimmte politische Ziele;
schränken die Realisierungsmöglichkeit anderer Optionen ein;
beeinflussen das Tempo des politischen Entscheidungsprozesses.
• potentielle Insider-Wirkungen der Außenpolitik auf die Medien (Auswahl):341
-
Regierungen übermitteln durch Medien politische Botschaften in andere Länder;
politische Akteure – Individuen, Gruppen oder Institutionen – nutzen die Medien zur internen Aushandlung politischer Optionen;
Regierungen nutzen die Medien, um die „Tagesordnung“ (Themenagenda/
Themenstruktur) festzulegen;
Regierungen nutzen die Medien zur innenpolitischen Mobilisierung für außenpolitische Zwecke.
• potentielle Outsider-Medienwirkungen auf die Außenpolitik:342
-
Medien beeinflussen die außenpolitische Tagesordnung (agenda-setting);
ausländische Regierungen beeinflussen durch die Medien die nationale Öffentlichkeit und/oder Außenpolitik;
andere ausländische (oder transnationale/K.H.) Organisationen beeinflussen
durch die Medien die nationale Außenpolitik.
Wie O’Heffernan geht auch Gadi Wolfsfeld von einer Austauschbeziehung zwischen
Medien und Außenpolitik aus. Die Beziehung beschreibt er als „kompetitive Symbiose“,343 die nicht statisch ist, sondern von einer Reihe sich permanent verändernder
Faktoren abhängt. Sowohl die Regierung als auch andere politische Eliten weisen in
Wolfsfelds Modell unterschiedliche sogenannte Werteigenschaften (value factors)
auf, die es ihnen erlauben, die Darstellung ihrer Themen oder Frames in der Auslandsberichterstattung zu fördern, wobei der Erfolg als eine relative Größe zu verstehen ist, die zum einen im Konkurrenzkampf mit den Werteigenschaften des politischen Gegners und zum anderen durch die Abhängigkeit (dependency) von den Medien ermittelt wird. Wert- und Abhängigkeitsfaktoren bestimmen die Beziehung
zwischen Politik und Medien; je größer die Wertfaktoren sind, die für einen politischen Protagonisten sprechen, und je geringer seine Abhängigkeit von den Medien,
340
341
342
343
132
O’Heffernan, Mass Media, S. 97-101.
Ebenda, S. 101-109.
Ebenda, S. 109-113.
Wolfsfeld, Media and Political Conflict, S. 13.
um so größer ist auch die Chance der erfolgreichen Beeinflussung der Auslandsberichterstattung:344
• politischer und sozialer Status: Hochrangige Politiker, vor allem wenn ausgestattet mit politischer Macht (z.B. Regierung), verfügen in der Regel über einen höheren politischen Status als andere Politiker, was den Medienzugang erleichtert.
Statusreichtum und Statusarmut existieren gemäß Wolfsfeld bei allen politischen
Eliten, politische Macht jedoch verschafft einen relativen medialen Statusvorteil
gegenüber denjenigen, die nicht über sie verfügen.345
• Organisationskapazitäten und Ressourcenbesitz: Organisation und Ressourcen
sind entscheidende Voraussetzungen dafür, daß Ereignisse gesteuert, Massen
mobilisiert und das politische Umfeld kontrolliert werden können.346
• außergewöhnliches Verhalten: Gerade diejenigen Kräfte, die weder über ausreichenden sozialen oder politischen Status noch über organisatorische oder finanzielle Ressourcen verfügen, müssen durch die Inszenierung ungewöhnlicher Ereignisse Nachrichten zu produzieren versuchen, beispielsweise durch Terrorismus.347
• Kontrolle des politischen Umfeldes: Einer der wesentlichen Faktoren für den
Einfluß auf die Auslandsberichterstattung ist die Kontrolle des politischen Umfeldes durch a) die Kontrolle der Ereignisse, b) eine Regulierung von Informationsströmen und c) die Mobilisierung der Bevölkerung.348 In allen drei Bereichen
sind die Inhaber politischer Macht begünstigt, denn sie sind in vielen Fällen die
ereignisschaffenden Hauptakteure politischer Vorgänge, sie verfügen über legale
Mittel der Kommunikationskontrolle (Zensur, geographische Absperrung, staatliche Medien usw.), über wirksame Mittel der strategischen Kommunikation (nationale Presseagenturen und nationale Öffentlichkeitsarbeit) und organisierte Methoden der Massenmobilisierung.
Der Grad der Abhängigkeit der gesellschaftlichen Kräfte von den Medien wird in
hohem Maß von der Möglichkeit der alternativen öffentlichen Thematisierung bestimmt.349 Gegenüber der politischen Macht, also insbesondere der Regierung, befinden sich gemäß Wolfsfeld alle anderen gesellschaftlichen Akteure in einem strukturellen Nachteil, denn sie können zwar möglicherweise das Regierungsmonopol des
Medienzugangs brechen, jedoch selbst in keinem Fall ein Monopol errichten, während die Regierung unter für sie günstigen Bedingungen – etwa während des zweiten
Golfkriegs von 1991 – das politische Umfeld nahezu völlig kontrollieren kann.350
344 Wolfsfeld: „(T)he higher the value and the lower the need the greater the likelihood of an antagonist
having influence on the press. This influence will be manifested in terms of more access and an increased ability to have one’s preferred frames adopted by the news media.“ Ebenda, S. 16.
345 Ebenda, S. 16-19.
346 Ebenda, S. 19 f.
347 Ebenda, S. 20-22.
348 Ebenda, S. 24-29.
349 Ebenda, S. 22-24.
350 Ebenda, S. 29.
133
Der bevorteilte Zugang politischer Macht zur Auslandsberichterstattung entsteht
durch „kumulative Ungleichheit“ bei den Wertfaktoren sowie durch geringere Dependenz infolge größerer Flexibilität bei der alternativen Mediennutzung.
Wolfsfeld erkennt trotz des strukturell stärkeren Einflusses politischer Machtinhaber auf die Auslandsberichterstattung eine Wechselbeziehung zwischen Medien
und Politik, die abhängig ist von der Fähigkeit der Medien, dem Einfluß der Wertfaktoren zu entgehen.351 Systemtheoretisch ließe sich Wolfsfelds Modell dahingehend erweitern, daß die Auslandsberichterstattung Autonomie durch das gegenseitige
„Ausspielen“ von konkurrierenden Wertfaktoren der politischen Gegner oder aber
durch situative Diskurskoalitionen mit Eliten und organisierten Teilen der Öffentlichkeit (vgl. Kap. 3.2.4.1.2) den Anpassungsdruck autonomiegefährdender Umweltsysteme/Systemumwelten reduzieren kann.
3.2.4.2.3 Auslandsberichterstattung und internationale Systembeziehungen
Das Systemverhalten der Auslandsberichterstattung ist nicht allein auf den nationalen
bzw. staatlichen Kontext beschränkt, sondern unterliegt potentiell auch inter- und
transnationalen Einflüssen. Rühls Typologie der Umwelten des Mediensystems
(Journalisten, Publikum und politisch-wirtschaftlicher Komplex) muß für die Auslandsberichterstattung insofern differenziert werden, als hierbei eine Verschränkung
nationaler und inter-/transnationaler Systemeinflüsse stattfindet. Nachdem
O’Heffernan und Wolfsfeld die nationalen Einflußgrößen beschrieben haben, kann
die inter-/transnationale Umwelt der Medien wie folgt charakterisiert werden:
• Personen des Journalismus: Der Auslandsberichterstatter ist in bezug auf seine
inter-/transnationale Umwelt als in der Regel zumindest partiell „systemfremd“
einzustufen. Nur in Ausnahmefällen ist der Journalist in dem Gesellschaftssystem, über das er berichtet, sozialisiert worden; der deutsche öffentlich-rechtliche
Rundfunk betrachtet, wie gesehen, eine zu enge Bindung des Auslandskorrespondenten an sein Berichterstattungsland sogar als Fraternisierung, die lediglich
bei stringern geduldet wird (vgl. Kap. 3.2.2.2). Das psychische System des Journalisten, d.h. das Auslandsbild, das er im Laufe der individuell-politischen und
der beruflichen Sozialisation entwickelt, entsteht primär im nationalen Systemkontext oder genauer: im Kontext des Zielsystems der Auslandsberichterstattung.
• Publikum: Wie oben gezeigt, ist ein Merkmal der internationalen Berichterstattung die relative Schwäche der organisierten öffentlichen Meinung im nationalen
Rahmen, sieht man von sporadischen Interventionen der großen gesellschaftlichen Organisationen (wie Parteien, Gewerkschaften) und situativen Allianzen
verschiedener Öffentlichkeitssegmente ab, die kurzfristig einen gesellschaftlichen
Meinungsstreit erzeugen können (vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Zu fragen ist auch, wie
Publikums- und Öffentlichkeitsstrukturen inter-/transnational beschaffen sind.
Existiert eine signifikante außernationale Öffentlichkeit mit Interventionsmög351 Ebenda, S. 56-73, 217.
134
lichkeiten in bezug auf die nationale Auslandsberichterstattung? Grundsätzlich ist
Auslandsberichterstattung sowohl in Presse als auch in Rundfunk außerhalb der
Grenzen des Heimatstaates rezipierbar, wobei technische Entwicklungen wie Satellitenrundfunk oder die Umwandlung von Presseerzeugnissen in „elektronische
Zeitungen“ des Internet diese Tendenz fördern. Internationale Publika, im Sinne
von Öffentlichkeitseinflüssen aus einem Land auf die Auslandsberichterstattung
eines Landes oder gar der „Weltöffentlichkeit“, stellen jedoch in der Regel eine
sekundäre Einflußgröße dar, da sie nicht das primäre Zielpublikum (Medienmarkt) der Auslandsberichterstattung darstellen und daher auch nicht über ein mit
nationalen Publika vergleichbares Interventionspotential (z.B. steigendes oder
nachlassendes Kaufinteresse) verfügen. Solche Publika können zum Nachrichtengegenstand werden, sie üben jedoch keinen Anpassungsdruck auf das Mediensystem aus. Allerdings existieren Ansätze einer transnationalen organisierten Öffentlichkeit, etwa einflußreiche Organisationen wie amnesty international oder
Greenpeace, die vor allem mit Hilfe ihrer professionellen Öffentlichkeitsarbeit
und ihres Zugangs zu den Nachrichtenagenturen Thematisierungsimpulse aussenden.
• politisch-wirtschaftlicher Komplex: Ein transnationales politisches System gibt es
bisher erst in Ansätzen.352 Die UNESCO-Debatte über die Neue Weltinformationsordnung (vgl. Kap. 3.2.1.1) kann als der bisher größte Versuch eines nuklearen transnationalen Systems bezeichnet werden, in die nationale Auslandsberichterstattung strukturell zu intervenieren: ein Versuch, der von den nationalen politischen wie von den Mediensystemen vor allem in westlichen Industrieländern abgewehrt worden ist. Vom transnationalen System zu unterscheiden sind internationale Interventionspotentiale durch nationalstaatliche Regierungen. Sie nutzen
die oben beschriebene Transparenz des Systems des medialen Nachrichtenflusses
etwa über die Nachrichtenagenturen (vgl. Kap. 3.2.3.2). Ihr Einfluß auf die Auslandsberichterstattung ist aber in den wenigsten Fällen mit dem der nationalen
Politik vergleichbar, da die Wertfaktoren (nach Wolfsfeld) das nationale politische System höher einstufen als andere Systeme, etwa in bezug auf die journalistische Einschätzung der Authentizität von Quellen,353 und da durch die Nähe
zwischen nationaler Auslandsberichterstattung und dem nationalen politischwirtschaftlichen Komplex „Reviersysteme“ (beat systems) der Nachrichtenübermittlung aufgebaut werden können.
Auslandsberichterstattung nationaler Medien (im Unterschied zu multi- oder transnationalen Programmen wie ARTE) muß insgesamt in bezug auf ihre SystemUmweltkonfigurationen primär im Rahmen nationaler bzw. staatlicher Systemgrößenordnungen untersucht werden. Die Medien verfügen zwar über ausgeprägte
352 Morton A. Kaplan hat das internationale politische System in den fünfziger Jahren noch als „null
political system“ bezeichnet. Morton A. Kaplan, System and Process in International Politics, New
York/London 1957, S. 14.
353 Vgl. die entsprechenden Hinweise des Leiters des deutschen Dienstes von Associated Press in Kap.
3.2.3.2.
135
Netzwerkstrukturen (z.B. Nachrichtenagenturen und Auslandskorrespondenten),
interdependente Systembeziehungen bestehen jedoch nahezu ausschließlich zu den
nationalen Systemumwelten und Umweltsystemen. Manfred Rühl: „Gegenwärtig
besteht die Weltkommunikationsordnung in hohem Maße aus national und regional
orientierten öffentlich-kommunikativen Teilsystemen (...).“354 Diese Erkenntnis steht
im Einklang mit der domestizierungstheoretischen Strömung der Globalisierungstheorie (vgl. Einleitung zu Kapitel 3).
Bisher ist es nur in sehr begrenztem Maß gelungen, die Charakteristika des internationalen Massenkommunikationsprozesses systemtheoretisch zu erfassen.355 Am
häufigsten zur Erklärung der System-Umwelt-Prozesse herangezogen wird noch
immer das „Kaskadenmodell“ von Karl W. Deutsch. Es beschreibt den Kommunikationsfluß zwischen sozio-ökonomischen Eliten, Regierung und politischem System,
Massenmedien, Leitpersonen (öffentlichen Persönlichkeiten) und der Bevölkerung,
wobei jede Stufe über ein bestimmtes Meinungsreservoir verfügt, das an andere
Stufen abgegeben wird.356 Grundsätzlich herrscht im Kaskadenmodell eine Wechselwirkung zwischen Massenmedien und Umwelt; eine monokausale Form des Austauschs läßt sich bei hochkomplexen Kommunikationsvorgängen nicht attestieren.
Jede Stufe der Kaskade bezeichnet Deutsch als „teils autonom, teils aber auch abhängig“.357 Ungeachtet der wichtigen Konzeptionalisierung der Massenmedien im
Kontext ihrer nationalen Systembeziehungen ist es Deutsch nicht gelungen, die einzelnen Systembeziehungen zu gewichten oder aber Systembeziehungen in der Überlagerung nationaler und inter-/ transnationaler Systeme zu erfassen.
Weiterführender als das Kaskadenmodell ist in diesem Zusammenhang eine theoretische Anwendung des Interdependenzansatzes von Robert O. Keohane und Joseph
S. Nye auf die Auslandsberichterstattung. Keohane und Nye haben hervorgehoben,
daß „Vernetzung nicht dasselbe ist wie Interdependenz.“358 „Vernetzung“ (interconnectedness) wird dabei definiert als „Austausch von Geld, Gütern, Menschen und
Nachrichten über nationale Grenzen“.359 „Interdependenz“ als Gewinn-, Verlustoder Nullsummenspiel zwischen voneinander abhängigen Partnern verstanden.360
Auslandsberichterstattung muß als vernetzter Bestandteil des globalen Informationsund Nachrichtenflusses betrachtet werden, obwohl der Vernetzungsgrad in Abhän354 Manfred Rühl, Die Welt als neugeordnetes Kommunikationssystem? Thesen zur Realisierbarkeit
eines kommunikationspolitischen Ordnungsprogramms, in: Publizistik 29 (1984) 3/4, S. 217.
355 Zur Systemtheorie in der internationalen Kommunikation vgl. Howard H. Frederick, Global Communication in International Relations, Belmont 1993, S. 202-204; Michael Kunczik, Internationale
Kommunikationsströme und soziologische Analyse. Zur Diffusion internationaler Nachrichten unter
besonderer Berücksichtigung der „Nord-Süd-Kommunikation“, in: Rundfunk und Fernsehen 30
(1982) 3, S. 294-311.
356 Karl W. Deutsch, Die Analyse internationaler Beziehungen. Konzeption und Probleme der Friedensforschung, Frankfurt 1968, S. 144-160.
357 Ebenda, S. 158.
358 Robert O. Keohane/Joseph S. Nye, Power and Interdependence. World Politics in Transition, Boston/Toronto 1977, S. 9.
359 Ebenda, S. 8 f.
360 Joseph S. Nye Jr., Understanding International Conflicts. An Introduction to Theory and History,
New York 1993, S. 162.
136
gigkeit von den informationellen Rahmenbedingungen eines Mediums (Anzahl der
Korrespondenten usw.; vgl. Kap. 3.2.3.1) unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Auslandsberichterstattung von Medien, die in erster Linie für nationale Märkte produzieren, ist gleichwohl nur sehr bedingt ein interdependenter Bestandteil des internationalen Systems. Während internationale ökonomische Transaktionen die Interessen
aller in verschiedenen Ländern ansässigen Partner berücksichtigen müssen, empfängt
Auslandsberichterstattung, dies haben die oben aufgezählten Charakteristika der
inter-/transnationalen Medienumwelten gezeigt, nur sehr wenig System-Feedback der
auswärtigen Nachrichtenverursacher. Thematische Resonanz, die Niklas Luhmann
als Merkmal eines kommunikativen Weltsystems bezeichnet,361 fehlt bei Systemen
der medialen Auslandsberichterstattung in hohem Maße. Da sich insbesondere die
nationale (Außen-)Politik stärker Geltung verschaffen kann als die ausländische,
während die Medien in keinem Abhängigkeitsverhältnis zur außerstaatlichen Sphäre
stehen, wie dies in bezug auf Anpassungserscheinungen an das nationale politische
System oder an das nationale Publikum der Fall sein kann, entfaltet die extranationale Umwelt tendenziell geringere Einflüsse auf die Medien als die nationale. Ansätze,
die von der pauschalen Existenz einer „kommunikativen Weltgesellschaft als systemtheoretische Einheit“ (Richter) ausgehen, unterscheiden bezeichnenderweise nicht
zwischen Vernetzung und Interdependenz362 und lassen die Spezifika der Auslandsberichterstattung außer acht.363 Auslandsberichterstattung ist ein integrierter und
interdependenter Bestandteil der nationalen Systemumwelten und Umweltsysteme;
aus der Sicht der internationalen Interdependenz ist sie jedoch zumindest partiell
desintegriert.
3.2.4.3 Innergesellschaftliche Anschlußkommunikationen der Auslandsberichterstattung: eine Synopse aus Mediennutzungs- und politikwissenschaftlicher Linkage-Forschung
Ungeachtet der relativen Strukturschwäche international orientierter Publika sind
bestimmte internationale Themen geeignet, Publikumssysteme und andere nationale
Systemumwelten der Medien nachhaltig zu aktivieren, namentlich solche, die mit
innen- und gesellschaftspolitischen Fragen verbunden sind. Die Untersuchung außenpolitischer Einstellungen hat gezeigt, daß insbesondere außenpolitische Belange
des das Mediensystem umgebenden Staates zumindest kurzfristig große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzeugen können, da Außenpolitik unmittelbare Auswirkungen auf die Innenpolitik haben kann und insofern die Grenzen zwischen Inund Auslandsgeschehen nur schwer zu definieren sind. Interne Anschlußdiskurse der
361 Luhmann, Soziologische Aufklärung 2, S. 54.
362 Emanuel Richter, Der Zerfall der Welteinheit. Vernunft und Globalisierung in der Moderne, Frankfurt/New York 1992, S. 163 ff., insbesondere S. 165.
363 Alex Inkeles hat darauf hingewiesen, daß auch andere Sektoren der globalen Kommunikation wie
der Bildungsaustausch oder der Tourismus – anders als weite Teile des Handels – nicht als interdependente Systeme betrachtet werden können. Alex Inkeles, The Emerging Social Structure of the
World, in: World Politics 27 (1974/75) Oktober-Juli, S. 483 f.
137
Auslandsberichterstattung gehen gleichwohl weit über den Bereich der Außenpolitik
hinaus.
Der Nachrichtenwertforschung sind erste Hinweise darauf zu verdanken, daß
Auslandsberichterstattung im Fall inländischer Beteiligung auch Elemente der Inlandsberichterstattung aufweisen kann. Ein Beispiel hierfür ist Jürgen Wilkes Untersuchung der historischen Entwicklung von Nachrichtenwerten in der deutschen Presse. Er weist darauf hin, daß Auslandsberichterstattung auch „deutsches Geschehen“
sein kann, und zwar in dem Fall, daß deutsche Personen oder Institutionen beteiligt
sind. Er definiert als außerdeutsches Geschehen in der Auslandsberichterstattung
alles, was sich ohne entsprechende deutsche Beteiligung ereignet. Wilke unterscheidet folgende Ereigniskategorien:
• „Ereignis, Sachverhalt findet im Bereich des Deutschen Reiches (...) statt, ersichtlich sind nur Deutsche daran beteiligt, d.h. es handelt sich um rein ‘innerdeutsches’ Geschehen, Sachverhalt“;
• „Ereignis, Sachverhalt findet im Bereich des Deutschen Reiches (...) statt, jedoch
ersichtlich mit ausländischer Beteiligung“;
• „Ereignis, Sachverhalt findet (überwiegend) außerhalb des Deutschen Reiches
(...) statt, jedoch ersichtlich mit deutscher Beteiligung, d.h. dem Inhalt nach auch
deutsches Geschehen“;
• „Ereignis, Sachverhalt findet außerhalb des Deutschen Reiches statt, ohne deutsche Beteiligung bzw. deutsche Beteiligung zumindest nicht erkennbar, d.h. dem
Inhalt nach rein außerdeutsches Geschehen“.364
Diese Form der Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Geschehen stellt
zwar eine Differenzierung der üblicherweise verwandten geographischen Ursprungsdefinition dar, wonach Auslandsberichterstattung alles ist, was von außerhalb des
eigenen Staates/der Nation berichtet wird. Sie ist jedoch nicht hinreichend, da die
Nachrichtenwertforschung in diesem Fall innenpolitische Bezüge der Auslandsberichterstattung nur dort erfaßt, wo personelle oder institutionelle Verbindungen
sichtbar werden. Zwar kann ein inländischer Akteur dem Auslandsgeschehen tatsächlich einen besonderen Inlandsbezug verleihen, den es ohne ihn nicht hätte (z.B. Entführung eines deutschen Staatsbürgers im Ausland). Ein solcher Bezug kann jedoch
auch ohne den Akteur bestehen. 365
364 Jürgen Wilke, Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur
Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin/New York 1984,
S. 260.
365 Auch Annette Verhein wendet sich gegen eine rein geographische Betrachtungsweise der Auslandsberichterstattung (Berichterstattung von außerhalb der Nation/des Staates, s.o.): „Nicht jeder Bericht aus dem Ausland ist auch einer über das Ausland.“ Verhein nennt „Staatsbesuche“ (deutscher
Politiker im Ausland) als Beispiele für Nachrichten aus dem Ausland mit inländischer Beteiligung.
Wie Wilke zeigt sie damit die Bereitschaft zur Öffnung des Begriffs der Auslandsberichterstattung
für innergesellschaftliche Bezüge, sie bleibt jedoch akteurzentriert. Annette Verhein, Das politische
Ereignis als historische Geschichte. Aktuelle Auslandskorrespondentenberichte des Fernsehens in
historiographischer Perspektive, Frankfurt u.a. 1990, S. 86.
138
Die Nachrichtenwertforschung hat weitere Hinweise darauf gegeben, daß die Interaktionen zwischen In- und Auslandsberichterstattung ein komplexes Phänomen darstellen. Der Nachrichtenfaktor „Ethnozentrismus“ beinhaltet in der Nachrichtenwertforschung von Winfried Schulz die personelle oder institutionelle Involvierung des
angestammten Staats- und Gesellschaftssystems der jeweiligen auslandsberichterstattenden Medien. Die Nachrichtenfaktoren der Dimension „Nähe“ bezeichnen eine
Prädisposition der Medien, auswärtige Vorgänge in Abhängigkeit von einer strukturellen georäumlichen, kulturellen oder politischen Ähnlichkeit oder Verwandtschaft
mit dem angestammten System stärker oder weniger stark zu beachten (vgl. Kap.
3.2.1.2). Während im Fall des „Ethnozentrismus“ eindeutig der personelle/institutionelle Heimatbezug der Auslandsnachricht die Innen-Außen-Dichotomie von Inlands- und Auslandsberichterstattung relativiert, ist bei einem Teil der Nachrichten
mit dem Faktor „Nähe“ ein thematischer Heimatbezug zu erkennen, und zwar dort,
wo Vorgänge in einem politisch, ökonomisch oder kulturell als nahestehend betrachteten Land an Vorgänge im eigenen Land erinnern und externe Problemlösungen auch mit Blick auf interne Problembewältigungen beobachtet werden (etwa bei
Vergleichen zwischen der ökonomischen Entwicklung in den USA und in Deutschland).
Während der Idealtyp der Auslandsberichterstattung als Bericht über auswärtiges
Geschehen, die sogenannten foreign news abroad, gemäß der „Foreign News“Studie von 1985 zwischen 50 und 85 Prozent der Auslandsberichterstattung ausmachen, sind in einer Reihe von Staaten – unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland
– mehr als 30 Prozent der Berichterstattung sogenannte home news abroad, d.h.
Nachrichten, die zwar Ereignisse im Ausland betreffen, aber personelle, institutionelle oder thematische Rückbezüge zum Inland aufweisen (z.B. Auslandsbesuche nationaler Regierungsvertreter).366 Das Gegenstück hierzu sind die foreign news at home,
beispielsweise Besuche ausländischer Staatsvertreter im eigenen Land.367 Die Attraktivität dieser Mischkategorien von Auslands-/Inlandsnachrichten für den Journalismus besteht darin, daß ein mögliches Fehlen bestimmter Nachrichtenfaktoren der
Auslandsnachrichten (z.B. Ereignis findet in einem „kulturell fernen“ Land statt)
durch höhere Intensität der anderen Faktoren, nämlich „Relevanz“ (Nachricht ist für
größere Konsumentenkreise relevant) oder „Ethnozentrismus“ (Nachricht findet im
eigenen Land statt), kompensiert wird, wobei „Ethnozentrismus“ im Fall der home
news abroad als „Ereignis mit deutscher Beteiligung“ definiert werden muß. Die
Etablierung der Mischkategorien in der internationalen Massenkommunikationsforschung war das Resultat der Erkenntnis, daß Inlands- und Auslandsberichterstattung
oft miteinander gekoppelt sind. Allerdings besteht die Schwäche des bisherigen, auf
die Zuordnung von Nachrichten in quantitativen Untersuchungen konzentrierten
Zugangs zu der Materie darin, daß die inhaltliche Bestimmung dessen, was als home
news abroad/foreign news at home bezeichnet werden kann, wenig entwickelt wor366 Insgesamt handelt es sich um folgende Staaten: USA, Algerien, Tunesien, Zaire, Ägypten, Iran,
Indien, Thailand, Ungarn, Bundesrepublik Deutschland. Sreberny-Mohammadi u.a. (Hrsg.), Foreign
News, S. 38.
367 Peter Golding/Philip Elliot, Making the News, London/New York 1979, S. 156.
139
den ist, so daß auch hier die personelle oder institutionelle, nicht jedoch die thematische Verquickung im Vordergrund steht.
Thematische Verbindungen stellen eine Form der innergesellschaftlichen Anschlußkommunikationen der Auslandsberichterstattung dar, die dann wieder auf die
Darstellung und Interpretation des Auslandsgeschehens in der Auslandsberichterstattung zurückwirken können. Solche Anschlußkommunikationen lassen sich formal als
Teilbereich der Nachrichtenwertforschung betrachten. Die Untersuchung der diskursiven Interaktionen stellt dennoch methodisch und theoretisch ein eigenständiges
Problem dar, da die Nachrichtenwertforschung Diskursbeziehungen zwar in den
oben genannten Kategorien (z.B. Ethnozentrismus oder home news abroad) erfaßt,
ihren Entstehungs- und Wirkungsprozeß gleichwohl nicht erklärt. Andere Forschungsansätze der Politik- und der Medienwissenschaft müssen ergänzend hinzugezogen werden, etwa hinsichtlich der Interaktionen zur Erforschung der Beziehungen
zwischen Außen- und Innenpolitik und der interkulturellen Mediennutzung. „Verbindungen“ (linkages) zwischen Innen- und Außenpolitik sind etwa von James N.
Rosenau erforscht worden, der neben institutionellen und personellen Beziehungen
auch die Existenz grenzübergreifender politischer Diskursräume in der Politik theoretisch erklärt hat, wenngleich eine Adaptation für den Medienbereich bisher nicht
erfolgt ist. Die kulturvergleichende Mediennutzungsforschung hat sich mit der Nutzung importierter Medienprodukte durch den Medienkonsumenten beschäftigt, sich
dabei jedoch nahezu ausschließlich auf den fiktionalen Bereich konzentriert, während im Bereich von innergesellschaftlichen Anschlußdiskursen im Nachrichtenbereich andere theoretische Grundlagen zu schaffen sind. Erst durch die Weiterentwicklung und Synthese der genannten Ansätze können innergesellschaftliche Anschlußdiskurse der Auslandsberichterstattung sinnvoll theoretisch erklärt werden.
3.2.4.3.1 Übergreifende Themenfelder des Inlands- und Auslandsgeschehens
Im Linkage-Ansatz von James N. Rosenau sind grenzübergreifende Diskursbeziehungen zwischen Innen- und Außenpolitik konzeptionalisiert worden, und seine
Ergebnisse wirken bis in die jüngste Forschung.368 Rosenau orientiert sich grundlegend an der systemtheoretisch-funktionalistischen Annahme, wonach die Grundregeln für Handlungsabläufe eines politischen Systems keine normative oder anderweitig monokausal determinierte Größe darstellen, sondern das Resultat eines dynamisch veränderbaren Interaktionsprozesses bestimmter Grundeinheiten des Systems
sind. Rosenau wählt als Grundeinheit issues (Themen/Probleme). Issues können
sämtliche artikulierten „Werte“ und „Interessen“369 innerhalb einer Gesellschaft sein;
368 Vgl. Reimund Seidelmann, Außenpolitik, in: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Politikwissenschaft. Theorien – Methoden – Begriffe, München 1989 (4. Aufl.), S. 51; Rainer-Olaf
Schultze, Linkage-Analyse, in: ebenda, S. 517 f.
369 James N. Rosenau, Foreign Policy as an Issue-Area, in: ders. (Hrsg.), Domestic Sources of Foreign
Policy, New York/London 1967, S. 15, 16. Zu Rosenaus Ansatz vgl. a. ders., Pre-Theories and
Theories of Foreign Policy, in: R. Barry Farrel (Hrsg.), Approaches to Comparative and International Politics, Evanston 1966, S. 27-92.
140
Fragen der politischen Legitimität ebenso wie die der kulturellen oder nationalen
Identität, der Einrichtung von Kindertagesstätten im Inland ebenso wie der Folter im
Ausland. Artikuliert durch bestimmte Akteure (Personen, Institutionen, Organisationen), ergeben sich Themenfelder, die als issue-areas (Problem-/Themenfelder) bezeichnet werden. Themenfelder lassen sich Sachkategorien wie Politik, Wirtschaft,
Ökonomie oder Soziales oder aber den Sphären der Innen- und Außenpolitik zuordnen. Insofern behauptet Rosenau tatsächlich nicht, daß die Interaktion oder gar Interdependenz zwischen Innen- und Außenpolitik ein universelles Phänomen politischer Systeme darstellt.
Rosenau erkennt jedoch zugleich, daß die Dichotomie von Innen-/Außenpolitik
zu vereinfachend ist, da zwischen den Problemfeldern des Inneren und des Äußeren
tatsächlich ein drittes Diskursfeld erkennbar ist: „(It) embraces issues which are a
composite of the foreign and domestic policy processes.“370 Rosenau stellt die These
auf, daß neben der Eigengesetzlichkeit der Diskurse intersystemische Interaktionssequenzen beobachtbar sind, die bei unterschiedlichen Problemen mehr oder weniger
stark ausgeprägt sind und/oder Veränderungsprozessen unterliegen. Der Autor nennt
als Beispiel, daß Rassenunruhen in Johannesburg die öffentliche Meinung in den
USA wenig berühren, während ähnliche Vorkommnisse in den eigenen Südstaaten
sie beschäftigen können,371 daß es andererseits aber auch möglich ist, daß Rassenunruhen in Johannesburg – in Form eines Demonstrationseffekts – Auswirkungen auf
Vorgänge in den USA haben.372 Im ersten Fall wäre es möglich, von einer Trennung
von Inlands- und Auslandsgeschehen zu sprechen, während im zweiten Fall ein interagierendes Diskursfeld erkennbar wird, in dem nationale und außernationale Akteure zu „Werte-“ und „Interessenbeziehungen“ (Definition „Probleme“ s.o.) verbunden sind. Rosenaus Ansatz mündet in folgender Gesamthypothese: „The more an
issue encompasses a society’s ressources and relationships, the more will it be drawn
into the society’s domestic political system and the less will it be processed through
the society’s foreign political system.“373
Gemäß Rosenau lassen sich verschiedene Formen der Interaktion zwischen Innen- und Außenpolitik unterscheiden:374
• penetrativer Prozeß (penetrative process): Er entsteht durch Eingriffe auswärtiger Akteure in innergesellschaftliche Handlungsabläufe und die externe Inanspruchnahme von politischer Macht, etwa im Rahmen einer militärischen Beset370
371
372
373
Rosenau, Foreign Policy, S. 24.
Ebenda, S. 26.
Ebenda, S. 30.
Ebenda, S. 49. Da Rosenau neben Diskursinteraktion auch die anderen Bereiche der handlungsund akteurrelevanten Rückkopplungen in sein linkage-System einbezieht, nennt er als ein anderes
Feld der Interaktion zwischen Innen- und Außenpolitik Etatdebatten und -verhandlungen, bei denen
eine klassische Domäne der (exekutiven) Außenpolitik, die militärische Verteidigung, in das unmittelbare Einzugsgebiet der Innenpolitik gelangt.
374 James N. Rosenau, Toward the Study of National-International Linkages, in: ders. (Hrsg.), Linkage
Politics. Essays on the Convergence of National and International Systems, New York/London
1969, S. 46.
141
zung, aber auch in der transnationalen Politik, etwa im Rahmen von Hilfseinsätzen der Vereinten Nationen.
• reaktiver Prozeß (reactive process): Er betrifft den Regelfall der Außenpolitik,
wobei Akteure nationaler Systeme auf die Handlungen der Akteure anderer Systeme reagieren und Handlungsrückkopplungen entstehen.
• Nachahmungsprozeß (emulative process): Die genannten Demonstrations- und
Nachahmungseffekte gehören zu derselben Kategorie der Diskursinteraktion,
wobei als klassische historische Beispiele etwa das Revolutionszeitalter des 18.
und 19. Jahrhunderts gelten, in dem etwa die französische und amerikanische
Revolution und das Revolutionsgeschehen in den deutschen Ländern oder Polen
in der Presse und Öffentlichkeit anderer Länder jeweils breite Resonanz erfuhren
und so eine inter-revolutionäre Dynamik befördert wurde.
Allerdings ist diese Einteilung zu vereinfachend, zumal die Figur des Nachahmungsbzw. Demonstrationseffekts externe Input- und interne Outputgrößen gleichsetzt und
somit die relative Eigenständigkeit der gesellschaftlichen Anschlußdiskurse, die zwar
extern stimuliert werden können, ohne dabei dem auswärtigen Modell folgen zu
müssen, außer acht läßt. Eine exemplarische Auswahl der Unterschiede stellen folgende Formvarianten der Anschlußkommunikation dar, die in der Realität zwar häufig in kombinierter Form erscheinen, dennoch aus analytischen Gründen unterschieden werden müssen:
• synchron/diachron: Gegenwartsgeschehen kann aktuelle (synchrone), aber auch
historische (diachrone) Anschlußdiskurse aktivieren (z.B. die Arbeitslosigkeit in
den USA kann Erinnerungen an die Arbeitslosigkeit der deutschen Vorkriegszeit
wecken).
• konform/konträr: Im Verlauf interner Diskurse kann sowohl die Modellhaftigkeit
auswärtigen Geschehens hervorgehoben werden, oder aber es können Gegenoder Alternativmodelle entwickelt werden (z.B. kann die staatliche Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit in den USA in Deutschland einen innenpolitischen Diskurs
stimulieren, in dessen Verlauf diese Maßnahmen als auf deutsche Verhältnisse
nicht übertragbar gekennzeichnet werden).
• linear/nicht-linear: Interne Anschlußkommunikation kann sich auf dieselbe
Thematik wie die externe Ursprungskommunikation beziehen (linear), es kann
jedoch ebenfalls eine Themenverlagerung (z.B. von den politischen Bedingungen
in Entwicklungsländern zu Asyl- oder Immigrationsfragen in Deutschland) erfolgen.
• pädagogisch/zweckfrei: Interne Anschlüsse werden mit der Absicht hergestellt,
pädagogisch auf die Veränderung des Ist-Zustandes im eigenen Land hinzuwirken, oder aber sie erfolgen ohne Zweckbindung und entspringen einem intellektuellen Interesse.
Rainer-Olaf Schultze hat als eine der Schwachstellen der Rosenau’schen linkageAnalyse erkannt, daß sie sich zu stark mit regierungspolitischem Handeln und zu
142
wenig mit nichtstaatlichen Aktionen beschäftigt.375 Die weitgehende NichtBeachtung der Medien bei Rosenau bedeutet, daß zwar die Dreiteilung in innenpolitische, außenpolitische und interaktive Diskursfelder (issue-areas) als Modellvorgabe erhalten bleiben kann, dieses Modell jedoch für den Medienbereich operationalisiert werden muß, um Interaktionen zwischen Auslands- und Inlandsberichterstattung
theoretisch zu erfassen. In Anlehnung an Ekkehart Krippendorffs Frage „Ist Außenpolitik ‘Außen’politik?“376 muß untersucht werden: Ist Auslandsberichterstattung
Auslandsberichterstattung? Wie zu zeigen sein wird, läßt sich Rosenaus Konzept der
Problemfelder zwar auf die Mediensysteme übertragen, doch machen die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen der Außenpolitik und Auslandsberichterstattung zugleich theoretische Modifikationen erforderlich:
• Interaktionen zwischen Innenpolitik und Auslandsberichterstattung I – die Person des Journalisten: Ein erster Hinweis auf innergesellschaftliche Anschlußdiskurse der Auslandsberichterstattung sind bei Rosenau selbst zu finden, wenn er
Massenmedien als intervenierende Institutionen bezeichnet, die Probleme der Innen- und der Außen- und internationalen Politik verbinden können.377 Rosenau
bezeichnet die Herausgeber von Tageszeitungen – im Unterschied zu Herausgebern von Spezialzeitschriften (Fachpresse) – als Beispiele für die Ausübung einer
„multithematischen Führung“ (multi-issue leadership).378 Rosenaus Andeutung
läßt sich dahingehend interpretieren, daß die Massenmedien, insofern sie wie die
überregionale Tages- und Wochenpresse über Vollredaktionen mit allen einschlägigen Ressorts verfügen, eine Themenstrukturierungsfunktion ausüben, die
in ihrer Gesamtheit inner- wie außergesellschaftliche Fragen umfaßt. Dies bedeutet zur gleichen Zeit, daß die Trennung zwischen den Ressorts des Inneren und
des Äußeren (analog der Trennung zwischen den Ministerialressorts) zwar eine
notwendige Arbeitsteilung widerspiegelt, sich jedoch eine Gemeinsamkeit des
Systeminteresses bzw. der Systemprogrammierung des jeweiligen Mediums ergibt. Diese Beobachtung ist beispielsweise insofern relevant, als Bernard C. Cohen darauf hingewiesen hat, daß der universelle Charakter des Journalistenberufs,
in dem Ressortwechsel nicht die Ausnahme, sondern die Regel und Bestandteil
nicht nur der Volontärsausbildung, sondern der Berufsausübung selbst sind, dazu
beiträgt, daß die von Journalisten entwickelten Kriterien der Nachrichtenauswahl
und -bearbeitung nicht deutlich zwischen innen- und außenpolitischen Werten
und Interessen (im Sinne der issue-Definition Rosenaus) unterscheiden, sondern
tendenziell übergreifend sind. Das heißt, die multithematische Orientierung der
Massenmedien kann in der Berichterstattung zu einer innen- und außenpolitische
Maßstäbe integrierenden Orientierung werden, da der einzelne Journalist The375 Er zielt dabei vor allem auf transnationale Konzerne und supranationale Organisationen, die aus
seiner Sicht einbezogen werden müßten. Schultze, Linkage-Analyse, S. 517.
376 Ekkehart Krippendorff, Ist Außenpolitik „Außen“politik?, in: Politische Vierteljahresschrift 4
(1963) 3, S. 247.
377 Rosenau, Foreign Policy, S. 5.
378 Ebenda, S. 40.
143
men, Frames und ganze Diskurse aus dem einen in ein anderes Ressort transferieren und sie dort neu anordnen kann.379 Für die kommunikative Verknüpfung von
inner- und außergesellschaftlicher Themen in der medialen Auslandsberichterstattung bieten berufliche Organisation und Sozialisation des Journalisten (zumindest in allgemeinorientierten Medien) ein günstiges Milieu.
• Interaktionen zwischen Innenpolitik und Auslandsberichterstattung II – die
Kompatibilität von Diskursen: Eine notwendige Voraussetzung für die Existenz
interner Anschlußdiskurse ist, daß die Art der Themen und Diskurse die Zusammenführung in einem gemeinsamen Themenfeld (issue area) überhaupt zuläßt.
Cohen weist darauf hin, daß Inlands- und Auslandsberichterstattung trotz ihres
unterschiedlichen (geographischen) Ursprungs als einheitliche Ware (commodity)
zu betrachten sind und daher auch denselben Selektions- und Darstellungskriterien (standards of news) entsprechen, was dazu führen kann, daß eine inhaltliche
Vermischung der Berichterstattung stattfindet: „(A) mixing of foreign affairs
news with domestic, an assimilation of both to a common standard of news and
thus to a common functioning of the media.“380
Unter Bezugnahme auf Rosenaus Theorie der Themen-/Diskursfelder läßt
sich verdeutlichen, daß die diskursive Verbindung von inner- und außerstaatlichem Geschehen eine „Kann“-, nicht jedoch eine „Muß“-Bedingung darstellt.
Berichtetes ausländisches Geschehen kann Teil eines rein außenpolitischen Diskursfeldes sein, sofern sich die Berichterstattung mit Fragen beschäftigt, die keinen diskursiven Zusammenhang zu innergesellschaftlichen Vorgängen aufweisen.
Die Auslandsberichterstattung läßt sich hingegen in ein zwischen inner- und außerstaatlichem Geschehen interagierendes Diskursfeld einfügen, wenn ein solcher
Thementransfer zu leisten ist. Abbildung 3.11 veranschaulicht dieses Modell.
Kompatibilität von Diskursen ist dort vorhanden, wo etwa einer der oben genannten Interaktionstypen (linear/nicht-linear, synchron/diachron, konform/konträr, pädagogisch/ zweckfrei) gegeben ist, also etwa die Wirtschaftsentwicklung
in den USA zu pädagogischen Zwecken als Modell für die deutsche Wirtschaft
herangezogen wird. Nicht-kompatibel sind hingegen häufig Fragen der auswärtigen Politik, wo zwar die Außenpolitik des Heimatstaates eines Mediums personell involviert ist, aber keine synchronen, diachronen oder sonstigen internen Anschlußdiskurse hergestellt werden können. Das gängige Ordnungssystem der
Nachrichten in foreign news abroad und home news abroad wird hier insofern
erweitert, als das Beispiel der Außenpolitik zeigt, daß es home news abroad ohne
interne Diskurse gibt, während auf der anderen Seite das Beispiel der USWirtschaft zeigt, daß foreign news abroad solche internen Anschlußdiskurse hervorrufen können. Auch in den foreign news abroad kann also ein Element der
home news enthalten sein; Auslandsberichterstattung kann auch ohne personelle
und institutionelle Präsenz des Heimatlandes durch diskursive Anschlüsse zu379 Bernhard C. Cohen, Mass Communication and Foreign Policy, in: James N. Rosenau (Hrsg.),
Domestic Sources of Foreign Policy, New York/London 1967, S. 197.
380 Ebenda, S. 198.
144
gleich Inlandsberichterstattung sein. Der für die Auslandsberichterstattung modifizierte linkage-Ansatz stellt insofern eine sinnvolle Erweiterung der Nachrichtenwertforschung dar, als er den Blick für die Zusammenhänge zwischen in- und
ausländischem Geschehen in Bereichen verdeutlicht, die üblicherweise dem reinen Auslandsgeschehen zugeordnet werden. Gerade die Synchronität vieler Problemstellungen in verschiedenen Ländern im Zeitalter der Globalisierung stellt
die Polarität von In- und Auslandsgeschehen zunehmend in Frage.
145
3.2.4.3.2 Inhaltliche Einflüsse interner Anschlußdiskurse auf die Auslandsberichterstattung
Die Tatsache, daß Auslandsberichterstattung unter bestimmten Bedingungen innergesellschaftliche Anschlußdiskurse hervorbringen kann, ist noch keine hinreichende
Antwort auf die Frage, ob Auslandsberichterstattung wirklich Auslandsberichterstattung ist. Anschlußdiskurse sind Ergänzungen, Bereicherungen und Erweiterungen,
die eine Trennung von globalem und lokalem, von in- und ausländischem Geschehen
erschweren und von Vertretern des Konversionsansatzes der Globalisierungstheorie
(vgl. Einleitung zu Kapitel 3) als Zeichen für die grenzüberschreitende Konvertibilität von Diskursen gedeutet werden können. Als zusätzliches Problem erweist sich
allerdings, daß es im Prozeß der Bildung interner Anschlüsse auch zu Deformationen
(im Sinne des rekonstruktivistischen Ansatzes; Kap. 2) der Auslandsberichterstattung
kommen kann, die nicht als thematische Nachahmung und Weiterentwicklung, sondern aus der Sicht der entsprechenden Strömung der Globalisierungstheorie als
„Domestizierung“ von Auslandsinformationen zu deuten wären.
In der Medienforschung hat sich insbesondere der Mediennutzungsansatz im Bereich der kulturvergleichenden (cross-cultural) Studien mit der Frage der kultur-,
nationen- oder gruppenspezifischen Nutzung internationaler Medienprodukte beschäftigt und dabei auch das Problem der internen Anschlußdiskurse behandelt.381
Mediennutzung erfolgt gemäß Tamar Liebes und Elihu Katz auf der Basis politischer
und sozialer Kulturen, in deren Rahmen eine Einbettung von Medieninformationen
in lokale Referenz- und Bedeutungssysteme erfolgt. Diese Nutzungssysteme variieren demnach zwischen Individuen ebenso wie zwischen Kulturen.382 Gesellschaftliche „Wirkungen“ von Mediendarstellungen werden nicht allein als Vorgänge der
linearen Input-Output-Manipulation betrachtet, sondern als Prozesse der „Verhandlung“ (negotiation) zwischen den „symbolischen Ressourcen der Zuschauer [oder
Leser/K.H.] und den symbolischen Angeboten des Textes“.383 Die von dem Medienproduzenten intendierte Enkodierung des Medieninhaltes muß daher nicht zwangsläufig in derselben Weise dekodiert werden, sondern unterliegt einem Prozeß der
Verhandlung über Symbolbedeutungen.384 Ungeachtet der vorhandenen textuellen
Grenzbedingungen (Themen, Frames usw.) können die Mediennutzer anschließende
und weiterführende Diskurse anstimmen, die in der Regel nicht dem auswärtigen
Ursprungskontext des internationalen Medienprodukts entspringen, der auf Grund
der globalen Distanzbedingungen dem Konsumenten nur schwer zugänglich ist,
sondern die dem lokalen oder nationalen Umfeld entstammen. Bei einem internatio381 Tamar Liebes/Elihu Katz, The Export of Meaning. Cross-Cultural Readings of Dallas, New
York/Oxford 1990; Daniel Miller, The Young and the Restless in Trinidad. A Case of the Local and
the Global in Mass Consumption, in: Roger Silverstone/Eric Hirsch (Hrsg.), Consuming Technologies. Media and Information in Domestic Spaces, London/New York 1992, S. 163-182; Daniel
Biltereyst, Resisting American Hegemony: A Comparative Analysis of the Reception of Domestic
and US Fiction, in: European Journal of Communication 6 (1991) 4, S. 469-497.
382 Liebes/Katz, The Export, S. 13.
383 Ebenda, S. 6.
384 Ebenda, S. 4.
146
nalen Vergleich der Nutzung von „Seifenopern“ (soap-operas oder telenovelas) wie
Dallas wurden unterschiedliche gesellschaftliche Anschlußdiskurse ermittelt. Liebes
und Katz: „Concern over family, social issues, women’s status, etc., are activated in
response to these programs (...) and there is good reason to believe that an agenda is
set for discussion as the result of the negotiation between the culture of the viewers
and the producers.“385
Als charakteristisch für die kulturvergleichende Mediennutzungsforschung erweist sich die Annahme einer Verhaftung der Referenzsysteme der Mediennutzer in
jeweils in sich homogenen sozio-politischen Kulturen. Zuschauerbeobachtungen und
-befragungen der Dallas-Nutzung in den Niederlanden, in der Bundesrepublik
Deutschland und Algerien in den achtziger Jahren haben gezeigt, daß Anschlußdiskurse identischer Medienprodukte nicht-heimischen Ursprungs geradezu diametrale
Inhalte aufweisen können. In den Niederlanden wurde Dallas als positiv bewerteter
Gegenpol zum innergesellschaftlichen Verlust von Familien- und Gemeinschaftswerten betrachtet;386 in der Bundesrepublik Deutschland galt Dallas als Fortschreibung
der noch immer sehr patriarchalischen deutschen Familienstrukturen;387 in Algerien
hingegen galt die Serie als Bestätigung der patriarchalischen Großfamilie und als
Warnung vor der sukzessiven Auflösung dieser Strukturen.388
Bei der Adaptation der kulturvergleichenden Mediennutzungsforschung für die
Theorie der Auslandsberichterstattung sind eine Reihe von Einschränkungen und
Modifikationen erforderlich:
• Kulturbegriff: Da keine der vorstehend genannten Untersuchungen auf Grund der
sehr begrenzten Zahl von Befragungen Repräsentativität beanspruchen kann, ist
ungeachtet des bedeutsamen Hinweises auf unterschiedliche dezentrale Verwertungszusammenhänge für internationale Medienprodukte Vorsicht geboten gegenüber der Vorstellung homogener nationaler Rezeptionskulturen, da dies die
grundsätzliche Definitionsproblematik des Kulturbegriffs berührt (vgl. Kap.
3.2.4.5.1). An dieser Stelle wird daher weiterhin von „internen“ oder „innergesellschaftlichen Diskursen“ gesprochen, die auf verschiedenen Ebenen – Individuum und gesellschaftliche und staatliche Klein- oder Großgruppen – angesiedelt
sein können.
• Fiktion/Auslandsberichterstattung: Die von Liebes und Katz ermittelten Strategien der innergesellschaftlichen Bedeutungsverhandlung der Mediennutzer sind vor
allem für fiktionale Gattungen relevant und weisen mit Blick auf die Auslandsberichterstattung nicht über die im Kapitel über die Linkage-Theorie elaborierten
Diskursstrategien hinaus. Liebes und Katz unterscheiden etwa „referentielle“
(Anschlußkommunikation zum Alltagsleben herstellende) von „kritischen/metalinguistischen“ (medienkritische Anschlußkommunikation) Programmnutzungen;
innerhalb der referentiellen Nutzungen unterscheiden sie weiter zwischen „rea385
386
387
388
Ebenda, S. 154.
Ien Ang, Watching Dallas, New York/London 1985.
Herta Herzog-Massing, Decoding Dallas, in: Society 24 (1986) 1, S. 74-77.
Joelle Stolz, Les Algériens regardent Dallas. Les Nouvelles Chaînes, Paris 1983.
147
len“ (Alltagsleben) und „ludischen“ (Alltagsphantasien) sowie zwischen „moralischen“ und „wertfreien“ Verschlüsselungen. Die Untersuchung von Diskursstrategien der internen Anschlußkommunikation im nicht-fiktionalen Bereich ist bisher wenig fortgeschritten, da kulturvergleichende Untersuchungen über die Nutzung der Auslandsberichterstattung, analog denen von Liebes und Katz über Dallas, bisher nicht existieren.389
• Import (von Fiktion)/Produktion (von Auslandsberichterstattung): Liebes und
Katz haben den Medientext als statische und unveränderliche Größe ihrer auf
Nutzungsprozesse gerichteten Untersuchung betrachtet. Dabei wurde berechtigterweise impliziert, daß nationale Nutzer und interne Anschlußdiskurse keine
Rückwirkung auf die Gestaltung importierter Filmware haben können. Akiba A.
Cohen und Itzhak Roeh haben jedoch darauf hingewiesen, daß importierte Fiktion und Auslandsberichterstattung sich insofern gravierend unterscheiden, als
beim Import von ausländischer Fiktion allenfalls geringfügige innergesellschaftliche Sinninterventionen in die Produktion zurückwirken können, und zwar beispielsweise durch Synchronisierung, durch das Einfügen von Werbung oder
durch Programmplanungen, während internationale Nachrichten im Prozeß der
Produktion von Auslandsberichterstattung weitaus stärker modifiziert werden
können.390 Im vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, daß interne Anschlußdiskurse und die unterschiedlichen Verhandlungsstrategien zwischen internen
und externen Diskursen bereits im Prozeß der Produktion von Auslandsberichterstattung entstehen können. Sie sind ebenso Bestandteil von Medientexten, die
durch inhaltsanalytische Verfahren untersucht werden können, wie nachfolgender
Textnutzungen und Nutzungsuntersuchungen.
Die Unterscheidung zwischen Import/Fiktion und Produktion/Auslandsberichterstattung hat weitere gravierende Auswirkungen für die Beurteilung des Stellenwertes der Anschlußkommunikation in der Auslandsberichterstattung. Wenn interne
Diskurse zu Textelementen werden können, dann liegt die Annahme nahe, daß sie
nicht lediglich isolierte Bestandteile darstellen, sondern daß externe Nachrichtenund interne Diskurskontexte sich wechselseitig beeinflussen und neue Synthesen
eingehen können. Die Hypothese müßte überprüft werden, ob die reziproken Wirkungen interner Anschlußkommunikationen die Auslandsberichterstattung nicht
ebenso prägen wie Stereotype, Nachrichtenfaktoren, Themenagenden und Frames,
wobei die rückwirkende Anschlußkommunikation selbst zu einem Bestandteil des
Diskurses über auswärtiges Geschehen werden und insofern das Interpretations- bzw.
Kontextgefüge der Auslandsberichterstattung verändern kann (vgl. Abb. 3.12).
389 Chris Barker, Global Television. An Introduction, Oxford/Malden 1997, S. 132.
390 Akiba A. Cohen/Itzhak Roeh, When Fiction and News Cross Over the Border. Notes on Differential
Readings and Effects, in: Felipe Korzenny/Stella Ting-Toomey/Elizabeth Schiff, Mass Media Effects Across Cultures, Newbury Park u.a. 1992, S. 24 f., 26, 29-31.
148
Verschiedene Verlaufsformen solcher reziproker Wirkungen interner Anschlüsse
sind denkbar. Sie können nacheinander ablaufen, durch aufeinander bezugnehmende
oder voneinander beeinflußte Medientexte oder durch Interaktionen zwischen Mediennutzern und -produzenten, oder sie können zeitgleich bei Erstellung eines Textes
durch den Journalisten erfolgen. Welche Verlaufsform sich durchsetzt, wird unter
anderem davon abhängen, ob es sich bei den innergesellschaftlichen Diskursen um
etablierte Bestandteile der politischen Kultur – also um langfristig auf der öffentlichen Themenagenda befindliche Themen – handelt, die von Journalisten mit hoher
149
Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden,391 oder ob es sich um Themen handelt,
deren mediale Streitwürdigkeit noch ungeklärt ist.
Grundsätzlich können alle Mechanismen der Interaktion zwischen Auslandsberichterstattung und innergesellschaftlichen Diskursen auch in reziproker Weise auf
das Auslandsbild zurückwirken, zum Beispiel:
• synchron/diachron: Externes Gegenwartsgeschehen kann historische interne
Anschlußdiskurse stimulieren, die wiederum in die Bewertung des gegenwärtigen
Auslandsgeschehens einfließen (z.B. „Die deutsche Arbeitslosigkeit der dreißiger
Jahre lehrt, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den USA wichtig ist.“).
• linear/nicht-linear: Externes Geschehen kann interne Diskurse auslösen oder
stimulieren, die externe Vorgänge bestätigen oder konterkarieren (z.B. „Die deutsche Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre lehrt, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wie derzeit in den USA, wichtig ist, aber diese Erfahrung bestätigt
auch, daß die Schaffung eines Niedriglohnmarktes durch Verzicht auf Mindestlöhne Probleme nicht löst und die USA daher auf dem falschen Weg sind.“).
Ebensowenig wie beim Auslandsbild generell ist im Fall der Rückwirkung interner
Diskurse von monokausalen Wirkungen auszugehen. Die Darstellung externer Vorgänge wird in der Regel nicht gänzlich von rückwirkenden internen Anschlußkommunikationen überlagert, sondern Teile der Darstellungen über das Auslandsgeschehen werden ebenso unbeeinflußt von innergesellschaftlichen Rückwirkungen übermittelt. Zudem wäre es theoretisch zu verallgemeinernd, allein Deformationsprozesse
der internen Anschlüsse auf die Auslandsberichterstattung hervorheben zu wollen,
ohne zugleich die Tatsache zu berücksichtigen, daß das Interesse der Öffentlichkeit
an internationalen Fragen mit dem Grad der internen Verwertbarkeit steigen kann.
Katz und Liebes haben etwa den Mißerfolg der Serie Dallas in Japan, das nicht generell als resistent gegen Import westlicher Medienprodukte betrachtet werden kann,
auf mangelnde innergesellschaftliche Nutzungszusammenhänge zurückgeführt.392 Im
Hinblick auf die Auslandsberichterstattung ist anzunehmen, daß deren journalistische
Selektion nicht nur von „Relevanz“, „Nähe“ oder anderen Nachrichtenfaktoren abhängt, sondern auch von den nachgeordneten und zum Teil in den Text rückwirkenden Diskursinteraktionen, die zwar die „Authentizität“ der Auslandsberichterstattung
gefährden, ihr aber zugleich Aufmerksamkeit sichern kann, was wiederum die Chance erhöht, daß auch Informationen übermittelt werden, die nicht von internen Diskursen überlagert werden. Gerade in Zeiten nachlassender Aufmerksamkeitswerte für
die Auslandsberichterstattung, wie nach Beendigung des Ost-West-Konflikts in den
neunziger Jahren in verschiedenen westlichen Industriestaaten verzeichnet (vgl. Kap.
3.2.3.1), ist der Nexus zwischen lokalem, nationalem und internationalem Geschehen, in all seiner Inkonsistenz hinsichtlich Konversion und Domestizierung des Auslandsbildes, als eine Gegentendenz zu betrachten.
391 Beispiel: Die Instabilität der italienischen Währung wird zum Anlaß genommen, die Stabilität der
deutschen Mark und die Rolle der Bundesbank zu erörtern.
392 Liebes/Katz, The Export, S. 130-139.
150
3.2.4.4 Die Massenmedien in internationalen Krisen und Konflikten
„Journalistische Krisenkommunikation“ ist das Forschungsfeld, in dem UrsachenWirkungs-Zusammenhänge zwischen den Inhalten der Auslandsberichterstattung und
Politik und Gesellschaft bis heute am intensivsten erforscht worden sind. Die Medienberichterstattung westlicher Staaten über den Vietnam-Krieg,393 den Nahostkonflikt,394 den Falkland-Krieg,395 den Golfkrieg von 1991396 oder den Bosnienkrieg397
ist in zahlreichen Studien auf inhaltliche Profile, die Wirkung von Medieninhalten
auf die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, den Einfluß von Regierungspropaganda und militärische Informationssperren, auf die Berichterstattung und die Beiträge der Medien zur Konflikteskalation oder -deeskalation untersucht worden. Untersuchungen, die auf eine Systematisierung der durch die Fallstudien gewonnenen
Einblicke in die unterschiedlichen Formen und Wirkungsweisen der Massenkommunikation während internationaler Krisen und Konflikte zielen,398 bleiben jedoch Ausnahmen.399 Während die Fülle von Falluntersuchungen das Wissen über die Rollen
der Massenmedien in internationalen Krisen vermehrt hat, sind die oft widersprüchlichen Ergebnisse bisher nur selten in theoretisch nutzbare Konzepte umgesetzt worden. Michael Schanne: „Es ist höchste Zeit, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Journalismus endlich handhabbare Modelle von Qualitätskontrolle und
393 Vgl. u.a. Michael Arlen, The Living Room War, New York 1969; Anita Eichholz, Der VietnamKrieg im „Spiegel“: eine inhaltsanalytische Untersuchung, Berlin 1979; Daniel C. Hallin, The „Uncensored War:“ the Media and Vietnam, New York 1986; J. Fred MacDonald, Television and the
Red Menace: the Video Road to Vietnam, New York 1985; K.J. Turner, Lyndon Johnson’s Dual
War: Vietnam and the Press, Chicago 1985; Philip B. Davidson, Vietnam at War, New York u.a.
1988; William M. Hammond, Public Affairs. The Military and the Media, 1962-1968, Washington,
D.C. 1989; Francis Donald Faulkner, Bao Chi. The American News Media in Vietnam, 1960-1975,
PhD University of Michigan, Ann Arbor 1981.
394 Vgl. die Literaturhinweise in Kapitel 2.
395 David E. Morrison/Howard Tumber, Journalists at War. The Dynamics of News Reporting during
the Falklands Conflict, London u.a. 1988; Valerie Adams, The Media and the Falklands Campaign,
London 1986; Robert Harris, Gotcha! The Media, the Government, and the Falkland Crisis, London
1983.
396 Vgl. die Literaturhinweise in Kapitel 4.
397 Beham, Kriegstrommeln; Peter Glotz, Medien und Außenpolitik. Die Rolle der Medien bei der
Entwicklung der Beziehungen zwischen Südosteuropa und der Europäischen Union, in: Südosteuropa Mitteilungen 35 (1995) 1, S. 1-7.
398 Vgl. u.a. W. Phillips Davison, Mass Communication and Conflict Resolution. The Role of the
Information Media in the Advancement of International Understanding, New York/London 1974;
Andrew Arno/Wimal Dissanayake (Hrsg.), The News Media in National and International Conflict,
Boulder/London 1984; Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993; Colleen Roach, Communication and Culture
in War and Peace, Newbury Park u.a. 1993; Marc Raboy/Bernard Dagenais (Hrsg.), Media, Crisis
and Democracy. Mass Communication and the Disruption of the Social Order, London u.a. 1992.
399 Bestätigt wird dieser Eindruck von Martin Löffelholz. Martin Löffelholz, Krisenkommunikation.
Probleme, Konzepte, Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 15.
151
Qualitätsmanagement entwickelt (...).“400 Daß auf diesem Gebiet ein Systematisierungsbedarf besteht, zeigen unter anderem die in jüngeren Jahren erschienenen Literaturberichte und Auswahlbibliographien.401
3.2.4.4.1 Wirkungspotentiale der Medien in internationalen Konflikten
Die „Krise“ läßt sich als ein Zustand definieren, in dem zentrale Werte und das gesellschaftliche Wertesystem als gefährdet empfunden werden.402 Die Krise ist zugleich ein Tief- und ein Wendepunkt, weil hier Konflikte zwischen sozialen, nationalen oder anderen Akteuren offen zutage treten und im Rahmen des Krisengeschehens
in der Regel zunächst zu- und später abnehmen, was bedeutet, daß Krisen Zeiten
großer Dynamik und nachhaltigen Wandels sind. Dabei ist nicht jeder Konflikt als
Krise zu bezeichnen, denn die Krise beinhaltet die – unterschiedlich definierbare –
Notwendigkeit, daß die Konfliktdynamik „normalen Kontinuitätserwartungen“ zuwiderläuft und für „zumindest hypothetisch existenzrelevant“403 gehalten werden
muß.404 Krisen können demnach als zugespitzte Konflikte und Kriege als zugespitzte
Krisen und Konflikte auf einem hohen Gewaltniveau betrachtet werden.405
Matthias Kohring, Alexander Görke und Georg Ruhrmann haben darauf hingewiesen, daß (aus systemtheoretischer Sicht) die Einstufung eines Konflikts als Krise
beobachtungsabhängig ist.406 Auf die zentrale Bedeutung, die gerade die Medien für
die gesellschaftliche Definition von Konflikten als „Krisen“ haben, ist im Zusammenhang mit ihrer Thematisierungsfunktion bereits hingewiesen worden: eine Gesellschaft kann einen Konflikt als Krise mehrheitlich nur dann einstufen, wenn eine
entsprechende Wahrnehmung der aktiven Kräfte der öffentlichen Meinung besteht,
wobei im Bereich der Auslandsberichterstattung gerade die gemeinsame Anerkennung eines Krisenzustandes ein wichtiges Moment für die kurzfristige Formierung
einer ansonsten eher schwachen öffentlichen Meinung bei Auslandsfragen sein kann
(vgl. Kap. 3.2.4.1.2). Zugleich hat die strukturtheoretische Betrachtung der Aus400 Michael Schanne, Der Beitrag journalistischer Objektivitätskriterien zu einer verlässlichen journalistischen Beschreibung von Wirklichkeit, in: Kurt Imhoff/Peter Schulz (Hrsg.), Medien und Krieg –
Krieg in den Medien, Zurich 1995, S. 118.
401 Jutta Simon, „Die Wahrheit ist das erste Opfer eines Krieges.“ Kriegsschauplätze als Medienereignisse: Auswahlbibliographie, in: Rundfunk und Fernsehen 39 (1991) 2, S. 276-280; Winfried B.
Lerg, Geschichte der Kriegsberichterstattung. Ein Literaturbericht, in: Publizistik 37 (1992) 3,
S. 405-422. Vgl. a. die Bibliographie in Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis.
402 Matthias Kohring/Alexander Görke/Georg Ruhrmann, Konflikte, Kriege, Katastrophen. Zur Funktion internationaler Krisenkommunikation, in: Miriam Meckel/Markus Kriener (Hrsg.), Internationale
Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996, S. 284-286.
403 Ebenda, S. 285.
404 Zu den Grundlagen der Krisenwahrnehmung im Bereich der internationalen Beziehungen gehören
gemäß K.J. Holsti: a) nicht vorhergesehene Aktivitäten eines Opponenten; b) die Wahrnehmung einer starken Bedrohung; c) die Wahrnehmung kurzer Entscheidungszeiten; sowie d) die Annahme
bedrohlicher Konsequenzen für den Fall des Nicht-Handelns. K.J. Holsti, International Politics. A
Framework for Analysis, Englewood Cliffs 1995 (7. Aufl.), S. 329.
405 Löffelholz, Krisenkommunikation, S. 11.
406 Kohring/Görke/Ruhrmann, Konflikte, Kriege, S. 285.
152
landsberichterstattung gezeigt, daß eine Reihe von Untersuchungen auf eine ausgeprägte Konfliktperspektive der Medien verweisen (vgl. Kap. 3.2.1.2). Beide Aspekte
weisen darauf hin, daß die Medien in der Regel in Krisenzeiten ein hohes Aktivitätspotential entfalten.
Die Forschung über internationale Konfliktkommunikation in Massenmedien untersucht Inhaltsstrukturen berichteter Konflikte und Krisen, reflektiert die Entstehungsbedingungen der Medieninhalte und deren Wirkung auf die Entstehung, Genese und Lösung von internationalen Konflikten und Krisen. Die Bestimmung von
Wirkungspotentialen der Medien in internationalen Konflikten ist von der Frage
abhängig, welche grundlegende Rolle der Kommunikation als Bestandteil des Konfliktgeschehens zugeschrieben wird. Zu den klassischen Positionen in diesem Feld
zählt zum einen die Annahme der „realistischen Schule“ der Politischen Wissenschaft, daß Konflikte auf der situativen Unvereinbarkeit von Interessen beruhen.407
Die perzeptionstheoretische Gegenposition macht geltend, daß Konflikte häufig
nicht in realen Interessenkonstellationen wurzeln, sondern symbolisch vermittelt
werden, kommunikationsbedingt sind, auf Störungen der Kommunikation beruhen
und durch Intensivierung und Differenzierung der Kommunikation behoben werden
können.408 Beide Positionen stellen empirisch belegbare Teilwahrheiten dar, sind
jedoch zu undifferenziert, um die komplexen funktionalen Beziehungen zwischen
Kommunikation und Konflikt/Krise zu erfassen.409
Richard Rosecrance beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Interessenstrukturen und Kommunikationsbeziehungen in internationalen Konflikten in einem komplexeren Modell. Er erkennt drei grundlegende Beziehungsmuster: 410
• positive Interdependenz: Sind die Interessenstrukturen zweier Akteure, etwa
zweier Staaten, grundsätzlich „positiv“, d.h. sind die Interessen kompatibel und
besteht eine sich ergänzende Form der Interdependenz, dann trägt ein hohes
Kommunikationsniveau in der Regel zur Stabilität der Beziehungen bei, während
ein Abbruch oder eine massive Störung der Kommunikation zu temporärer Instabilität und zu einer Zunahme der Konfliktspannung führen können. Diese funktionale Beziehung zwischen Kommunikation, Interessen und Konflikten läßt sich
am ehesten mit der geschilderten Annahme des Kommunikationsansatzes in der
407 Vgl. Hans J. Morgenthau, Politics among Nations: The Struggle for Power and Peace, New York
1978 (5. Aufl.).
408 Vgl. Stuart Chase, Roads to Agreement, New York 1951. Zur Entwicklung beider Positionen vgl.
die Diskussion bei Lewis A. Coser, Salvation through Communication?, in: Andrew Arno/Wimal
Dissanayake (Hrsg.), The News Media in National and International Conflict, Boulder/London
1984, S. 17-26. Zu den Vertretern der Realismusschule ist Coser selbst zu zählen. Coser: „The real
question, however, is not whether affectladen distortions might at times impede rational solutions,
but whether many, if not most, conflicts involve realistic confrontations over scarce resources such
as status, power, and economic advantages.“ Ebenda, S. 20.
409 Coser bezeichnet die Vorstellung des Konflikts als einer ausschließlich kommunikationsbedingten
Größe als „naiven Ansatz“ früherer Forschungsperioden, als die Bedeutung von Perzeptionen, Information und Kommunikation gegen die politischen „Realisten“ aufgewertet werden sollte. Coser,
Salvation, S. 18.
410 Richard Rosecrance, International Relations: Peace or War?, New York u.a. 1973, S. 136 ff.
153
Konfliktforschung vergleichen, wonach ein hohes Kommunikationsniveau dazu
beiträgt, durch Fehlkommunikation (etwa realitätsinadäquate Feindbilder; vgl.
Kap. 3.1.1) suggerierte fiktive Interessenkonflikte zu vermeiden oder abzubauen.
• negative Interdependenz: Sind die Beziehungen von einer „negativen“, d.h. inkompatiblen Interessenstruktur und einer „Nullsummen“-Interdependenz (Gewinne des einen sind Verluste des anderen) geprägt, dann gehen auch von einem
hohen Kommunikationsniveau in der Regel keine konfliktmindernden Einflüsse
aus. In diesen Fällen ist es notwendig, entweder den Konflikt auszutragen, im
Dauerkonflikt zu verharren oder aber Interessen neu zu definieren. Diese Modellkonstellation bei Rosecrance fügt sich am ehesten in den „realistischen“ Ansatz der Konfliktforschung. Während diplomatische Konfliktvermittlung in Fällen positiver Interdependenz vor allem die Aufgabe hat, die Kommunikation
wiederherzustellen und einen möglichst reibungslosen Informationsaustausch zu
gewähren, muß im Fall negativer Interdependenz den Streitparteien eine Änderung ihrer Interessen nahegelegt werden. Kommunikation spielt hier nur insofern
eine Rolle, als der Vermittler die Aussicht auf eine mögliche positive Wende der
Interdependenzverhältnisse durch die Verhaltensänderung der Kontrahenten noch
vor dem eigentlichen Eintreten dieses Falles vermitteln und so Verhaltensänderungen fördern kann.
• geringe Interdependenz: Sind internationale Kommunikationspartner (z.B. Staaten/Regierungen) schließlich weder positiv noch negativ interdependent und sind
daher die Beziehungen für keine Seite essentiell, so ist Kommunikation der wichtigste Beziehungsfaktor. Verläuft die Kommunikation störungsarm, sind auch die
Beziehungen konfliktarm. Treten vermehrte Kommunikationsstörungen auf, sind
auch die Beziehungen konfliktgeprägt. Bedingt durch die Kommunikationsabhängigkeit von Frieden und Konflikt in Fällen geringer Interdependenz ist NichtKommunikation einer gestörten Kommunikation vorzuziehen: Länder, die weder
durch Interessen noch durch Kommunikation verbunden sind, haben auch keine
Konflikte zu befürchten (es sei denn, diese würden durch Dritte induziert).
Die Typologie von Rosecrance relativiert die Geltungsansprüche sowohl des Interessen- als auch des Kommunikationsansatzes der Konfliktforschung. Trotz der engen
Beziehungen zwischen Konflikten, Krisen und Kommunikation ist eine konfliktmindernde Wirkung der Kommunikation nur bei der Hälfte der Modellkonstellationen
zu erwarten (positive Interdependenz und teilweise geringe Interdependenz); eine
konfliktmindernde oder -verstärkende Wirkung tritt in zwei Drittel aller Falltypen
(positive und geringe Interdependenz) zutage; bei einem Drittel aller Modellfälle
(negative Interdependenz) werden keine bzw. geringe Wirkungen durch Kommunikation erzielt. Kommunikation kann eine notwendige (positive Interdependenz) oder
gar hinreichende (geringe Interdependenz) Bedingung dafür sein, daß Konflikte nicht
entstehen oder daß sie gelöst werden, während Störungen der Kommunikation in
solchen Fällen konfliktverstärkend wirken. Kommunikation kann aber ebenso wirkungsschwach (negative Interdependenz) bleiben.
154
Vergleicht man Medieninhaltsanalysen zu verschiedenen Krisen- und Konfliktfällen
mit den vorstehenden grundlegenden Annahmen über Zusammenhänge zwischen
Kommunikation und Konflikt, so ist festzustellen, daß die Massenmedien sämtliche
Funktionsräume, die der Kommunikation im Modell von Rosecrance eingeräumt
werden, nutzen können. Vor allem in Fällen, bei denen internationale Konflikte nicht
durch zu deutliche Interessendivergenzen vorgeprägt und dadurch kaum durch kommunikative Anstrengungen zu beeinflussen sind, besteht prinzipiell die Möglichkeit,
daß die mediale Themenagenda die öffentliche Meinung prägt, die Politik zur Auseinandersetzung von Themen bewegt und die zeitliche Dynamik politischer Entscheidungen beeinflußt (vgl. Kap. 3.2.4.1.3). Auslandsberichterstattung kann auf
diese Weise zu einem Faktor von Konflikteskalation oder -deeskalation werden.
Abbildung 3.13 veranschaulicht die zentrale Stellung der Medien im internationalen Konfliktgeschehen. In allen zwischenstaatlichen Konflikten zwischen zwei
Staaten A und B werden Medien von den eigenen Regierungen informiert und informieren umgekehrt ihre Exekutive (Pfeile zwischen Regierung A und Medien A
bzw. Regierung B und Medien B), die gleichwohl über eigene diplomatische Kanäle
verfügt (Linie zwischen Regierung A und B) und insofern unabhängig von den Informationsleistungen der Medien des eigenen Landes ist. Medien verfügen ihrerseits
über die Nachrichtenmittler, d.h. insbesondere über Agenturen oder eigene Korrespondenten über von der eigenen Regierung unabhängige Informationsquellen. Doch
hier beginnt die gesamte Problematik der Informationsbeschaffung und der starken
Stellung von Informationsgebern wie den Agenturen und der Politik auf die Agenturen, wie sie auf der Mesoebene der Theorie beschrieben worden ist (vgl. Kap.
3.2.3.2). Für die Konflikttheorie von zentraler Bedeutung ist die Schlüsselstellung
der Medien als Informanten der eigenen Bevölkerung (Pfeile Medien A zu Bevölkerung A bzw. Medien B zu Bevölkerung B). Die Intensität der direkten Informationsbeziehungen zwischen Medien und Bevölkerungen des jeweils anderen Landes ist
situationsabhängig (gebrochene Linien). Ob Medien eines Landes die Medien eines
anderen Landes zur Kenntnis nehmen, hängt vom Sprachverständnis und der Zugänglichkeit der entsprechenden Medien ab.411 Für die Konfliktkommunikation wäre
es von größter Bedeutung, wenn die Bevölkerung eines Landes direkten Zugang zu
den Medien eines anderen Landes hätte, mit dem die eigene Regierung im Konflikt
steht, da auf diese Weise die Konfliktinterpretationen der gegnerischen Seite ungefiltert rezipiert werden könnten; entsprechende Möglichkeiten, die sich etwa über das
Internet oder direktempfangbare Satellitensender ergeben können, werden jedoch in
der Regel ebenfalls auf Grund sprachlicher und kultureller Hürden nur von Eliten
genutzt. Die primäre Nachrichtenversorgung einer Bevölkerung über das internationale Konfliktgeschehen erfolgt gerade beim allgemeinen Publikum noch immer
durch die vermittelnde Auslandsberichterstattung in Presse, Rundfunk und Fernsehen.
411 Während des Kosovo-Krieges 1999 beispielsweise wurde das staatliche jugoslawische Fernsehen
vom internationalen Satellitenverkehr ausgeschlossen.
155
156
3.2.4.4.2 Rollenmodelle der medialen Konfliktkommunikation
Das Auslandsbild der Medien gestaltet sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Kräftekonstellation zwischen Medien und den sie umgebenden Umwelten und Subsystemen der Gesellschaft, insbesondere zwischen Medien und politisch-wirtschaftlichem
Komplex. Konflikt- und Krisenkommunikation der Auslandsberichterstattung kann
sich als politisch-wirtschaftlich angepaßt erweisen oder aber einen unabhängigen
(autonomen) Diskurs entfalten. Zu den in Anlehnung an Rosecrance beschriebenen
Wirkungspotentialen kommen also eine Reihe von idealtypischen Rollenmodellen,
die als theoretische Erklärungsmodelle dafür dienen zu erklären, wie die Medien ihre
kommunikativen Einflußmöglichkeiten in internationalen Konflikten ausüben können:
• Medien als Co-Konfliktpartei
• Medien als Konfliktvermittler
• Medien als dritte Konfliktpartei.
Medien können dann als Co-Konfliktparteien fungieren, wenn die Struktur des von
ihnen vermittelten Auslandsbildes (Nationenbilder, Themen, Frames usw.) den
Selbstdarstellungen einer Konfliktpartei gleicht oder ähnelt. Zu den wohl häufigsten
Fällen medialer Parteinahme bei internationalen Konflikten gehört die Anlehnung an
Positionen und Interpretationen der eigenen Regierung.412 Unterschiede wie die
zwischen der pro-amerikanischen CNN-Berichterstattung anläßlich des Golfkrieges
von 1991 und der kritischen Berichterstattung über die amerikanische Rußlandpolitik
im Tschetschenienkonflikt413 lassen darauf schließen, daß den Medien Distanz und
Kritik gegenüber dem nationalen politischen System solange möglich sind, wie dies
nicht direkt in eine kriegerische oder andere existentielle Formen des internationalen
Konflikts verwickelt ist, und daß, wo dies doch der Fall ist, nicht allein staatliche
oder öffentlich-rechtliche, sondern auch privatwirtschaftlich organisierte Massenmedien eine Tendenz zur Parteinahme in der Krisenkommunikation aufweisen. Die
Wechselbeziehung zwischen Medieninhalt und der Art des Konflikts kann, wie gezeigt, aus der Perspektive der Systemtheorie nicht generalisiert werden, sondern ist
davon abhängig, inwieweit die Medien sich zu einer „Umweltanpassung“ vor allem
an die nationalen Systemumwelten (Publikum, Eliten etc.) veranlaßt sehen und muß
im Einzelfall untersucht werden. Die Existenz eines funktionalen Zusammenhangs
412 Elihu Katz hat beispielsweise die regierungsorientierte Berichterstattung amerikanischer Medien
während des Golfkriegs kritisiert und ihnen eine größere Distanz statt Parteinahme empfohlen Nach
seiner Auffassung hätte die Wahrnehmung einer Selbstinvolvierung des amerikanischen politischen
Systems zugunsten einer Distanzierung von einem dezentralen, regionalen Konflikt reduziert werden müssen. Statt des Kriegs-Frames, der während des Irak-Iran-Krieges (1980-1988) in amerikanischen Medien überwog, hat er den Frame der irakisch-iranischen „Nachbarschaftsfehde“ (feuding
neighbors frame) vorgeschlagen. Elihu Katz, The End of Journalism? Notes on Watching the War,
in: Journal of Communication 42 (1992) 3, S. 6.
413 Stephan Koller, „War of Annihilation“. Der Tschetschenienkonflikt als Fallbeispiel der CNNIKrisen-kommunikation, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und
Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 241-262.
157
zwischen der Selbstinvolvierung des die Medien umgebenden Gesellschaftssystems
und der Parteilichkeit der Auslandsberichterstattung ist gleichwohl eine veritable
Untersuchungshypothese für empirische Falluntersuchungen.
Parteilichkeit kann zudem von anderen Faktoren beeinflußt werden:
• Dramaturgie der Krisenkommunikation: Medieninhalte differieren unter Umständen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt einer Krise/eines Konflikts, der inhaltsanalytisch erfaßt wird. Die Suggestion knapper Entscheidungszeiten kann dazu
beitragen, daß die nationalen Umweltsysteme/Systemumwelten ihre Zugangsmöglichkeiten zu den nationalen Medien effektiver zu nutzen versuchen als andere Konfliktparteien, daß sich die Spielräume zur Recherche alternativer Positionen verkleinern oder generell ein Meinungsklima der scheinbaren Notwendigkeit
zu Meinungspolarisierung zu einer inhaltlichen Tendenz zugunsten der eigenen
Regierung entsteht. Zwar existieren keine universellen Phasen- oder Zyklusmodelle der Krisenkommunikation, doch ergeben sich aus der jeweiligen Relation
zwischen empirisch gemessenen Medieninhaltstendenzen und der Krisendramaturgie (z.B. Vorkrisenperiode ⇒ Krisenbeginn ⇒ Krisenhöhepunkt ⇒ Nachkrisenperiode) wichtige Hinweise auf potentielle gesellschaftliche und politische
Wirkungen der Krisenkommunikation.
• Krisenverhalten gesellschaftlicher Eliten: Medien sind zur Gestaltung ihrer Auslandsberichterstattung auf Elitendiskurse angewiesen, was bedeutet, daß mangelnde Vielfalt und Parteilichkeit der medialen Krisenkommunikation auch eine
entsprechende Ausrichtung der Eliten reflektieren kann.414 Hier wiederum machen sich nicht selten die Strukturschwächen der außermedialen Öffentlichkeit im
Bereich internationaler Fragen bemerkbar. Die Artikulationsneigung der Öffentlichkeit ist gleichwohl in den einzelnen Ländern sehr verschieden ausgeprägt, wie
der Vergleich zwischen den USA, Deutschland und Frankreich gezeigt hat (vgl.
Kap. 3.2.4.1.2). David L. Paletz hat in diesem Zusammenhang festgestellt, daß
das ideologische Spektrum der Kritik an der westlichen Golfkriegsposition etwa
in Frankreich größer war als in den USA.415
• strategische politische Kommunikation: Krisen- und Konfliktperioden sind Zeiten florierender strategischer politischer Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.416 Ob Krisenjournalismus sich als parteiisch erweist, ist nicht zuletzt davon
abhängig, ob die Medien strategische Kommunikationsangebote als solche erkennen, gewichten, und ob und wie sie diese in ihrer Berichterstattung kenntlich
414 Georg Ruhrmann: „Aufgrund der Befunde der Medien- und Kommunikationsforschung muß man
heute davon ausgehen, daß Nachrichtenmedien – bis auf wenige historische Ausnahmen – gerade in
Krisen- und Kriegszeiten das Bewußtsein und die Einstellungen der Eliten nicht in Frage stellen,
sondern reproduzieren.“ Georg Ruhrmann, Ist Aktualität noch aktuell? Journalistische Selektivität
und ihre Folgen, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 89.
415 David L. Paletz, Just Deserts?, in: W. Lance Bennett/David L. Paletz (Hrsg.), Taken by Storm. The
Media, Public Opinion, and the U.S. Foreign Policy in the Gulf War, Chicago/London 1994,
S. 280 f.
416 Vgl. Beham, Kriegstrommeln, S. 142-192.
158
machen. Wie in Kapitel 3.2.3.2 gezeigt, ist die Transparenz der Medien und der
Nachrichtenagenturen für solche Angebote insbesondere bei heimatlichen Regierungen auf Grund ihrer nachgeordneten Position im Nachrichtenfluß und ihrer
begrenzten informationellen Rahmenbedingungen (Ausstattung mit Korrespondenten usw.) prinzipiell hoch.
Das zweite Rollenmodell von Massenmedien als Vermittlern in internationalen Konflikten stellt nicht die Orientierung an einer Streitpartei, sondern die Stellung der
Medien als unabhängiger „dritter Partei“ in den Vordergrund. Die Medien werden
für geeignet erachtet, ihre Schlüsselstellung als Informanten der nationalen Öffentlichkeit und indirekt auch anderer Mediensysteme und Öffentlichkeiten zur Konfliktdeeskalation zu nutzen. W. Phillips Davison hat sechs Kriterien für eine konfliktmindernde Vermittlungstätigkeit der Medien entwickelt:417
• Steigerung der Quantität der Informationsvermittlung: In Zeiten internationaler
Krisen gilt es nach Davison grundsätzlich, die Quantität der Informationsvermittlung zu steigern. Vermittelt werden kann jede konfliktrelevante Information,
denn das Hauptziel der Quantitätssteigerung besteht in einem hohen kommunikativen Austauschniveau und in der Öffnung von Kommunikationskanälen.418 Diese
Vorgabe erweist sich insofern als problematisch, als damit auch die Transparenz
des Mediensystems für Propaganda und andere strategische Kommunikationsangebote vergrößert wird. Davisons Kriterium der Quantitätssteigerung ist nicht geeignet, die von Rosecrance (s.o.) ermittelten Risiken der internationalen Kommunikation zu erfassen.
• Steigerung der Qualität der Informationsvermittlung: Um so bedeutsamer erscheint Davisons Kriterium der Steigerung der Qualität der Informationsvermittlung.419 Das wichtigste Ziel der medialen Krisenkommunikation im Sinne Davisons ist, die zentralen argumentativen Frames aller Konfliktkontrahenten zu vermitteln. Da internationale Krisen in verschiedenen nationalen Mediensystemen
oft sehr verschieden dargestellt werden,420 stellt allein die Gesamtheit der signifikanten Konflikt-Frames eine Grundlage für die mediale Vermittlung dar.421
• Einrichtung eines Frühwarnsystems: Wie die Qualität der Krisenberichterstattung eng mit der Framing-Forschung verbunden ist, so steht die Frage des medialen Frühwarnsystems in Zusammenhang mit der Thematisierungsfunktion (Agen417 Vgl. mit ähnlichem Tenor: Ulrich Saxer, Bedingungen optimaler Kriegskommunikation, in: Kurt
Imhoff/Peter Schulz (Hrsg.), Medien und Krieg – Krieg in den Medien, Zurich 1995, S. 203-219;
Christian Schicha, Kriegsberichterstattung zwischen Anspruch und „Wirklichkeit“. Kriterien für
den Friedensjournalismus, in: Zeitschrift für Kommunikationsökologie 1 (1999) 2, S. 10-13.
418 Davison, Mass Communication, S. 26-33.
419 Ebenda, S. 34-39.
420 Ebenda, S. 60.
421 Richard C. Vincent und Johan Galtung empfehlen eine breite Streuung journalistischer Quellen
(Militär, Diplomaten, Akademiker, Autoren, think tanks und „Beobachter aus der Zivilgesellschaft“). Richard C. Vincent/Johan Galtung, Krisenkommunikation morgen. Zehn Vorschläge für
eine andere Kriegsberichterstattung, in: Martin Löffelholz (Hrsg.), Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 190 f.
159
da-Setting) der Medien. Bei sich anbahnenden Krisen und Konflikten ist es aus
Sicht Davisons von besonderer Bedeutung, daß die Konfliktthemen frühzeitig auf
der Medienagenda erscheinen, um Politik und Öffentlichkeit eine Problemlösung
ohne Zeitdruck zu ermöglichen.422 Der Fall der Iranischen Revolution von
1978/79 und der durch sie forcierten Re-Islamisierung der nahöstlichen Politik,
die von Medien und Wissenschaft gleichermaßen spät erkannt worden ist, zeigt,
daß das Versagen des Krisenfrühwarnsystems der Medien in der Regel auch ein
Versagen der außermedialen Öffentlichkeit und weiter Teile der Eliten ist.
• Förderung von Verhandlungslösungen: Zu den Aufgaben der Medien in internationalen Konflikten gehört es aus Davisons normativer Sicht, Verhandlungslösungen zu unterstützen. Der Politik fällt es in der Regel zumindest in demokratischen politischen Ordnungen nicht leicht, Handlungsoptionen gegen ein widerstrebendes Öffentlichkeitsklima zu verfolgen.423 Verhandlungen im Bereich der
internationalen Politik werden daher oft geheim durchgeführt, um Interferenzen
und ungewollte Einflüsse durch öffentliche Diskurse zu vermeiden. Davison hat
im Gegensatz hierzu darauf hingewiesen, daß die Medien auch Partner der Politik
bei einer Konfliktlösung durch diplomatische Verhandlungen sein können. Dabei
können die Medien zum einen eine Artikulationsfunktion wahrnehmen, um der
Bevölkerung die Handlungen der Politik und der Politik die Interessenlage der
Bevölkerungen in Bbezug auf Konfliktlösungen zu vermitteln, und sie können
zum anderen (ähnlich wie im Fall des „Frühwarnsystems“) als „Gedankenstütze“
(reminder) von Politik und Öffentlichkeit tätig werden, indem beispielsweise historische Handlungsoptionen aktualisiert oder alternative Handlungsweisen zur
Konfliktlösung angeboten werden.424
• Schaffung eines Friedensklimas: Die Förderung eines Friedensklimas gilt Davison als Hauptfunktion der Massenmedien in internationalen Krisen. Gemäß Davison kann die „Stimmung“ (mood), d.h. die affektive Komponente des Auslandsbildes der Medien so beeinflußt werden, daß eine Grundtendenz zur Konfliktdeeskalation entsteht, etwa durch Hervorhebung gemeinsamer Werte, die Förderung
der Akzeptanz gegenüber denjenigen, die für Friedenslösungen eintreten oder die
Erzeugung eines Klimas der Realisierbarkeit von Friedenslösungen.425 Aus der
Sicht Davisons ist ein Friedensklima dann vorhanden, wenn negative Emotionalisierungen vermieden werden. Die Erzeugung eines Friedensklimas muß demnach
zudem mit dem Bestreben verbunden sein, die mit Krisen verbundene Wahrnehmung begrenzter Entscheidungszeiten und hohen Handlungsdrucks auf ein sach422 Davison, Mass Communication, S. 39 f.; vgl. a. Linus Chukwuemeka Okere, The Role of African
Media in Early Warning and Conflict Prevention Systems, in: The Round Table 338/1996, S. 173182.
423 Vgl. Bard E. O’Neill, The Analytical Framework, in: Joseph S. Szyliowicz/Bard E. O’Neill, The
Energy Crisis and U.S. Foreign Policy, Mit einem Vorwort von John A. Love, New York u.a. 1975,
S. 16.
424 Davison, Mass Communication, S. 40-44. Bernard C. Cohen hat in diesem Zusammenhang sogar
auf die Notwendigkeit „aggressiver“ öffentlicher Debatten über friedenspolitische Optionen hingewiesen. Bernard C. Cohen, The Press, S. 79.
425 Davison, Mass Communication, S. 44-48.
160
lich erforderliches Maß zu reduzieren. Davison: „When an individual is under
high stress, he is less able to assimilate complex communications and he tends to
consider fewer policy alternatives.“426 Für die Medien entsteht allerdings insgesamt ein Problem der Grenzbestimmung zwischen neutral-ausgewogener Qualitätsinformation, investigativer Lösungsunterstützung und der für die Erzeugung
eines Friedensklimas notwendigen Form der Emotionalisierung.
• Mobilisierung von Friedenskräften: Die Mobilisierung von Friedenskräften bezeichnet Davison als die letzte Vermittlungsaufgabe der Medien, und auch die
neuere Forschung zum Golfkrieg belegt, daß gerade die Friedensbewegung große
Zugangsprobleme zu den mainstream-Medien des Print- wie des elektronischen
Mediensektors haben kann.427 Dienen die Medien der kommunikativen Vernetzung sozialer Bewegungen und anderer Friedenskräfte, so dienen sie auch der
Koordination und Verbreitung friedenspolitischer Aktivitäten.428 Gemäß Davison
wirken Medien vor allem dann in diese Richtung, wenn sie die Übereinstimmungen in den Zielsetzungen verschiedener Gruppen hervorheben.
Das letzte Rollenmodell betrachtet die Massenmedien als unabhängige dritte Partei
in internationalen Konflikten. Sie teilen demnach weder die Interessen anderer Parteien (Co-Konfliktpartei) noch stehen sie außerhalb des Konflikts (als Vermittler).
Andrew Arno hat unter Rückgriff auf den Soziologen Georg Simmel429 den Medien
in der Krisenkommunikation die Rolle des „lachenden Dritten“ (tertius gaudens
bzw. duobus litigantibus tertius gaudet) zugewiesen. Dieses Theorem erklärt, warum
Medien durch die Nichteinhaltung der Kriterien Davisons ihre Rolle als Konfliktvermittler nicht wahrnehmen, ohne zwangsläufig zur Co-Konfliktpartei zu werden.
Das Interesse der Medien als dritter Partei ist im Konzept des „lachenden Dritten“
kein Interesse im Konflikt, sondern ein Interesse am Konflikt: Der Konflikt stellt eine
Nachrichtenware dar, die dem Nachrichtenfaktor „Konflikt“ und der medialen Konfliktperspektive zuzuordnen ist (vgl. Kap. 3.2.1.2).430 Das Rollenmodell des „lachenden Dritten“ zielt auf den hohen kommerziellen Wert der Auslandsberichterstattung,
wobei Arno vor dem Hintergrund des amerikanischen Mediensystems keine Unter426 Ebenda, S. 47. Hamid Mowlana weist darauf hin, daß die Förderung eines Friedensklimas wegen
des hohen kommerziellen Wertes von Krisenberichten als strukturelle Schwierigkeit insbesondere
privater Mediensysteme betrachtet werden muß (Mowlana, The Role of the Media, S. 88). Allerdings lassen sich die Bedürfnisse des Friedensklimas und des kommerziellen Nachrichtenverkaufs
dort in Einklang bringen, wo eine (verkaufsfördernde) Emotionalisierung nicht grundsätzlich vermieden wird, sondern diese konfliktmindernd eingesetzt wird. Richard C. Vincent und Johan Galtung weisen beispielsweise auf die Notwendigkeit von Personalisierung und Emotionalisierung bei
der Darstellung von Kriegsopfern hin. Vincent/Galtung, Krisenkommunikation, S. 198 ff.
427 Paletz, Just Deserts?, S. 281.
428 Davison, Mass Communication, S. 48-50.
429 Vgl. Georg Simmel, The Sociology of Georg Simmel; Hrsg. von Kurt H. Wolff, New York 1950.
430 Andrew Arno: „Media actors fit into the category of third parties that Simmel (1950) labeled the
tertius gaudens, the third who rejoices. In many cases, a third party profits from the conflict of two
others, and this is especially true of news organizations.“ Andrew Arno, The News Media as Third
Parties in National and International Conflict: Duobus Litigantibus Tertius Gaudet, in: ders./Wimal
Dissanayake (Hrsg.), The News Media in National and International Conflict, Boulder/London
1984, S. 234.
161
scheidung zwischen privatwirtschaftlich organisierten und staatlichen oder öffentlich-rechtlichen, mit Programmaufträgen ausgestatteten Medien trifft.
Abbildung 3.14 zeigt die verschiedenen Positionen, die Medien in internationalen
Krisen und Konflikten einnehmen können. Sie sind als Co-Konfliktpartei Teil des
Konflikts (Kreismitte); als dritte Konfliktpartei nehmen sie eine Sonderstellung ein
(Randposition), denn ihr Interesse richtet sich nicht auf dasselbe Objekt, um das die
anderen konkurrieren (natürliche Ressourcen, Territorien usw.), sondern auf den
Konflikt und die Kontrahenten als solche, der eine verkaufbare Ware darstellt;
schließlich können sie als Konfliktvermittler gänzlich außerhalb der Konfliktinteressen stehen.
Nach Arno wäre die Nichteinhaltung der Vermittlungskriterien Davisons im Rahmen
der Konfliktkommunikation der Medien insofern folgerichtig als diese in der Rolle
des „lachenden Dritten“ an der Aufrechterhaltung oder Vertiefung von internationalen Krisen interessiert sind. Die Medien in der Rolle des „lachenden Dritten“ wären
demnach als Organisationen zu betrachten, zu deren Hauptaufgabe die permanente
Generierung oder Verstärkung von konflikthaften Störungsmomenten zu zählen
wäre, die im Kontakt von Staaten und Gesellschaftssystemen entstehen.431
Für den „lachenden Dritten“ im Sinne Arnos lassen sich die Vermittlungskriterien
Davisons in der Regel in invertierter Form als Handlungsorientierung zugrunde legen:
• Wie der Vermittler strebt der „lachende Dritte“ ein hohes quantitatives Berichterstattungsniveau an.
431 Marc Raboy und Bernard Dagenais äußern sich ähnlich, wenn sie darauf hinweisen, daß Massenmedien zwar wie jede andere Institution an der Stabilität der Gesellschaftsstrukturen interessiert
sind, zugleich jedoch „Normalität“ fürchten und „Krisen“ benötigen. Marc Raboy/Bernard Dagenais, Introduction: Media and the Politics of Crisis, in: dies. (Hrsg.), Media, Crisis and Democracy.
Mass Communication and the Disruption of the Social Order, London u.a. 1992, S. 3.
162
• An einer getreuen, qualitativ hochwertigen Darstellung der Positionen der Konfliktkontrahenten ist er nur insoweit interessiert, als insbesondere die
Unvereinbarkeit von Interessen betont wird.
• Anstelle eines „Friedensklimas“ wird ein emotionales „Krisenklima“ gefördert.
• Statt ein Frühwarnsystem zu entwickeln, entsteht aus Sicht des „lachenden Dritten“ gerade durch die Wahrnehmung einer existentiellen Bedrohung zentraler
Werte und Ordnungen und dem damit einhergehenden subjektiven Handlungsdruck eine verstärkte Nachfrage nach seinen Kommunikationsangeboten.
• Der „lachende Dritte“ fungiert nicht als Partner bei der Suche nach Lösungsalternativen für den Konflikt, sondern er stellt massive Forderungen nach klaren und
schnellen (und häufig übereilten und gefährlichen) Lösungen und kritisiert andersgeartete politische Optionen massiv.
• Er erschwert friedenspolitischen Alternativvorschlägen den Zugang zur Öffentlichkeit und konzentriert seine Berichterstattung statt dessen auf etablierte Repräsentanten und Perspektiven von Regierungen, Institutionen/Organisationen und
Individuen.
Das theoretische Denken am Ende der neunziger Jahre hinsichtlich der Rolle der
Massenmedien in internationalen Krisen erschöpft sich zum Teil darin, den Medien
eine konfliktverschärfende Wirkungsintention zuzuschreiben, die sich mit dem tertius gaudens-Modell deckt, auch wenn dieses nicht explizit verwandt wird.432 Für die
Anwendung der Konflikttheoreme auf die Analyse von Medieninhalten ist bedeutsam, daß berücksichtigt wird, inwieweit die vorgestellten Idealtypen der Konfliktposition der Auslandsberichterstattung im Einzelfall tatsächlich in Reinform vorliegen.
Rollenmodelle können in unterschiedlichen Phasen eines Konflikts – abhängig von
der jeweiligen System-Umwelt-Konstellation – variieren; einzelne Ressorts oder
Journalisten können unterschiedliche Positionen besetzen; und selbst die verwendeten Subthemen oder Frames eines einzelnen Textes können unter Umständen unterschiedlichen Rollen zugeordnet werden.
3.2.4.5 Transkulturelle Kommunikation: Der Journalist als „Sinn-Übersetzer“
zwischen den Kulturen
Kommunikation läßt sich als ein Prozeß der Bedeutungsverhandlung über Zeichen
beschreiben. Ein großer Teil individueller und gesellschaftlicher Handlungen wird
über sprachliche und/oder bildliche Zeichen vermittelt, nur sehr wenige Handlungen,
etwa die Anwendung von physischer Gewalt, besitzen diesen Symbolcharakter nicht.
Zu den Charakteristika von Zeichen gehört es dabei, daß ihre Bedeutung nicht unmittelbar gegeben ist, sondern wechselseitig zwischen Zeichen-Sender und Zeichen432 Vgl. Philip M. Taylor: „The problem for diplomats is that, once the media become interested, their
contribution is inherently inclined more to seeing the storm erupt than to seeing it go away.“ Philip
M. Taylor, Global Communications, International Affairs and the Media since 1945, London/New
York 1997, S. 76.
163
Empfänger ermittelt und „verhandelt“ wird. Während im interpersonalen Kommunikationsprozeß Symbolverhandlungen ohne Medien vonstatten gehen können, übernimmt bei der Massenkommunikation, auf Grund der relativen Distanz der meisten
am Kommunikationsprozeß Beteiligten zum Symbolgeschehen, der Journalist einen
Teil der Bedeutungsverhandlungen. Im Rahmen der Auslandsberichterstattung werden „Kulturen“ zu Symbolkomplexen, deren Bedeutung von Journalisten erschlossen
und zwischen Kulturen vermittelt werden muß, bevor journalistische Texte und Bilder ihrerseits entweder von nationalen (oder internationalen) Nutzern einer weiteren
Bedeutungsinterpretation unterzogen werden können.
Medien verfügen durch diese Mittlerstellung im Prozeß der kulturellen Bedeutungsverhandlung über ein beträchtliches Wirkungspotential, das von der Stärkung
einer transkulturellen Globalkultur bis zur Forcierung internationaler Kulturkonflikte
reicht. Grenzüberschreitende Kulturkommunikation kann nicht nur systemverbindende Folgen haben, sondern sie kann Kulturkonflikte gleichfalls auslösen, vertiefen
oder beschleunigen, auch wenn berücksichtigt wird, daß die Medienwirkung generell
durch eine Reihe intervenierender Variablen eingeschränkt sein kann (vgl. Kap.
3.2.4.1.3).
Der mediale Prozeß der Bedeutungsverhandlung über kulturelle Zeichen und
Symbole besteht aus verschiedenen Elementen:
• der Enkodierung und Dekodierung kultureller Zeichen und Symbole
• der sozialen Interaktion zwischen den Kommunikatoren im Prozeß der En-/Dekodierung kultureller Zeichen.
3.2.4.5.1 Auslandsberichterstattung und „kulturelle Übersetzung“ – die Inhaltsebene
Stuart Hall hat die Gestaltung journalistischer Texte als einen Vorgang der symbolischen Enkodierung bezeichnet, d.h. als einen Versuch, eine bestimmte Botschaft
oder Sinndeutung semiotisch zu kommunizieren. Als Dekodierung wird bei Hall die
Entschlüsselung des Textes durch den Medienkonsumenten bezeichnet, wobei der
Grad des Gelingens eines Bedeutungstransfers von der Symmetrie der Produzentenund Nutzercodes abhängig ist.433 Zumindest außerhalb des philosophischen Realismus wird dabei den Symbolen kein immanenter und linear vermittelbarer Sinn zugeordnet und Kodierungen werden von Hall nicht als gesetzmäßige, sondern als willkürliche (arbitrary) Bedeutungszuordnungen oder -interpretationen betrachtet.434
Aus diesem Grund besteht in Halls Konzept auch keine notwendige Kongruenz zwischen Journalisten-Enkodierung und Mediennutzer-Dekodierung, wenngleich ein
„bestimmtes Maß an Wechselseitigkeit“ vorausgesetzt wird, um die Kommunikation
grundlegend zu ermöglichen.435 Da diese Übereinstimmung im Prozeß der massenmedialen Ein-Weg-Kommunikation von Presse und Rundfunk selten interaktiv er433 Stuart Hall, Encoding/Decoding, in: Stuart Hall/Dorothy Hobson/Andrew Lowe/Paul Willis (Hrsg.),
Culture, Media, Language. Working Papers in Cultural Studies, 1972-79, London 1981, S. 130 f.
434 Ebenda, S. 132.
435 Ebenda, S. 136.
164
mittelt werden kann, werden den Symbolen von den Journalisten gemäß Hall häufig
„präferierte Bedeutungen“ (preferred meanings) basierend auf historischen Bedeutungskonventionen (s.u.) oder common-sense-Annahmen zugeordnet.436 Verbindet
man die Grundgedanken der Bild- und Stereotypen- oder der Framing-Forschung mit
denen Halls, so müssen Stereotype und politisch oder sozial dominierende Frames
als (willkürliche bzw. konventionell-willkürliche) Kanalisierungen einer ursprünglichen Bedeutungsvielfalt kultureller Zeichen (Polysemie) durch Medienproduzenten
und -nutzer betrachtet werden.
Halls Unterscheidung zwischen Journalisten-Enkodierer und MediennutzerDekodierer kann erweitert werden. Auch Journalisten nehmen im Vorfeld ihrer TextEnkodierung bei der Interpretation ihrer Quellen eine Zeichen-Dekodierung vor,
wobei sie etwa im Fall schriftlicher Quellen (z.B. der Nachrichtenagenturen) zunächst eine Dekodierung und dann eine Re-Enkodierung bereits enkodierter Zeichen
vornehmen und insofern Teil einer En-/Dekodierungs-Kette sind. Die Anerkennung
der Dekodierungs-Enkodierungs-Multifunktion von Journalisten ist insofern bedeutsam, als Journalisten in der Regel nur einen Teil ihrer Dekodierungen textuell enkodieren. Professionelle Determinanten wie die Nachrichtenfaktoren münden in einer
sekundären Kanalisierung der ursprünglichen journalistischen Dekodierung. Hall
bezeichnet diese Determinanten als „professionelle Kodierungen“ (professional
codes),437 die er allerdings mit den journalistischen Kodierungen insgesamt gleichsetzt, ohne zwischen den latenten Kodierungskapazitäten, d.h. dem latenten Wissen
des Journalisten, und manifesten Kodierungsrealisierungen zu unterscheiden.
Bei der Massenkommunikation zwischen verschiedenen Kulturräumen werden
„Kulturen“ zu Zeichenkomplexen, die von Journalisten und Medienkonsumenten en-/
dekodiert werden und deren Bedeutungsinhalte im globalen Interaktionsprozeß und
im Prozeß historischer Sinnaktualisierung geformt werden. Dabei sind die Kodierungsleistungen der Massenmedien in hohem Maße von der zugrundeliegenden Definition des Kulturbegriffs abhängig. Abbildung 3.15 stellt eine Differenzierung der
hier angedeuteten Bedeutungsbeziehungen dar und zeigt die Optionen der Massenmedien im Prozeß der En-/Dekodierung kultureller Zeichen, ihre Positionierungsfähigkeit im Rahmen verschiedener Kulturkonzepte des Essentialismus und Synkretismus (vgl. Kap. 3.1.1) und der Mono-, Inter-, Multi- und Transkulturalität.
436 Ebenda, S. 134.
437 Ebenda, S. 136.
165
Abb. 3.15 – Gleichheits-/Ungleichheitsbeziehungen zwischen Kulturen
Unterschiede
Gemeinsamkeiten
innerhalb eines Kulturraums
Essentialistischer Kulturbegriff
zwischen Kulturräumen
Essentialistischer Kulturbegriff
Assimilation:
Multikulturalismus:
Kulturkonflikt:
Interkulturalismus:
Ablegung der mit
der „Gastgeberkultur“ inkompatiblen
„Gastkultur“
Koexistenz
verschiedenartiger Kulturen
Konflikte zwischen inkompatiblen Kulturen
Kommunikation
zwischen verschiedenartigen
Kulturen
Synkretistischer Kulturbegriff
Synkretistischer Kulturbegriff
Integration:
Akkulturation:
Kulturimperialismus:
Transkulturalismus:
Anpassung der
„Gastkultur“ an die
kompatible „Gastgeberkultur“
Mischung und
Transformation
der Kulturen
(z.B. Kreolisierung)
Nivellierung räumlicher Kulturen
durch eine dominierende Weltkultur (z.B. „Verwestlichung“)
Wechselseitige
Integration der
Weltkulturen zu
einer Globalkultur
Die Tatsache, daß Gleichheits-/Ungleichheitsrelationen zwischen Kulturen unterschiedlich interpretierbar sind, bedeutet nicht, daß kulturelle Regelphänomene wie
Sprachen, Sitten, Normen und Traditionen nicht als solche erkennbar wären. Kulturen sind das Resultat historischer geo- und kommunikationsräumlicher Trennungsprozesse, was zur Ausprägung spezifischer Symbolismen geführt hat. Zu fragen ist
jedoch, ob die tiefenstrukturelle Bedeutung der Zeichen438 dieselben Differenzen
aufweist oder ob nicht vielmehr Gleichheits- und Ungleichheitsbeziehungen bestehen, die vom jeweiligen Interpretationsstandpunkt abhängen. Die Polysemie der
Kultursymbole (im Sinne Halls) wäre dann zugleich eine Polysemie des Kulturenvergleichs.
Dabei zeigt die Abbildung 3.15, daß die Bedeutungsinterpretationen sowohl innerhalb von Kulturräumen als auch grenzübergreifend zwischen Kulturräumen entstehen können. Im medialen Prozeß sind beide Dimensionen von Bedeutung, wobei
erstere vor allem bei der Berichterstattung über kulturelle Minderheiten zum Tragen
kommt, die geographisch als Teil der Inlandsberichterstattung betrachtet werden
muß, bedingt durch die Akteurs- und Thementransparenz zwischen Inlands- und
Auslandsberichterstattung (vgl. Kap. 3.2.4.3), jedoch auch in der Auslandsbericht438 Die Unterscheidung zwischen Zeichen und Zeichenbedeutung verläuft analog dessen in der Linguistik Ferdinand de Saussures zwischen „Parole“ (Sprachrealisierung) und „Langue“ (Sprachsystem)
oder der Unterscheidung zwischen „Performanz“ (Strukturrealisation) und „Kompetenz“ (grammatikalisches Strukturwissen) der „generativen Transformationsgrammatik“ von Noam Chomsky, die
wiederum beide wichtige Quellen der modernen Diskursanalyse sind.
166
erstattung angesiedelt werden kann. In allen Bereichen können En-/ Dekodierungen
von kulturellen Zeichen bei Journalisten sowie Konsumenten in die Konstruktion
von Themen, Frames, Nationenbildern usw. einfließen. Essentialistische Kulturkonzepte müssen nicht als Konzept für ein Auslandsbild des Kulturkonflikts dienen,
sondern die Vorstellung von der „Kugelform“ der Kulturen (Welsch)439 ist auch
interkulturellen (wie multikulturellen) Diskursen immanent, die auf eine friedliche
Koexistenz statt auf Kulturkampf zielen. Synkretistische Kulturkonzepte wiederum
müssen ungeachtet ihres auf Heterogenität, Vermischung und die Konstruktion von
Bedeutungsgemeinsamkeiten zielenden Ansatzes nicht eine aus verschiedenen Kulturen gespeiste Globalkultur anvisieren, sondern können kulturimperialistische Strategien (etwa eine westlich orientierte Globalisierung) stützen.440
In der Auslandsberichterstattung dominieren grenzüberschreitende, d.h. interund transkulturelle Kommunikationsprozesse (public-to-public communication). Mit
Ausnahme der Berichterstattung über nationale, ethnische oder religiöse Minderheiten sind selbst diejenigen Teilbereiche des Darstellungsprozesses, die, wie die Korrespondentenarbeit, personelle Begegnungen ermöglichen, Teil eines medial vermittelten Prozesses der Nachrichtenübertragung, wobei zwischen dem in einem bestimmten Kulturkontext A beheimateten Nachrichtenerzeuger und dem Nachrichtenkonsumenten in Kultur B kein direkter Kontakt besteht. Massenkommunikation ist
daher ein Prozeß vermittelnder Kulturkommunikation unter den Bedingungen georäumlicher Distanz; der Journalist ist in der Position eines „Sinn-Übersetzers“ zwischen den Kulturen.
Ein theoretisches Modell für die Kulturkommunikation der Medien existiert bisher nicht, was verdeutlicht, daß die transkulturelle Kommunikationsforschung, wie
Horst Reimann anmerkt, sich tatsächlich noch in einem „vorparadigmatischen Zu-
439 Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift
für Kulturaustausch 45 (1995) 1, S. 40-42.
440 Die in den neunziger Jahren publizierte Forschungsliteratur in den Sozial- und Kulturwissenschaften spiegelt den Einfluß der unterschiedlichen oben skizzierten Kulturkonzepte wider. Der Versuch
einer kulturtheoretischen Fundierung internationaler Politik von Samuel P. Huntington durch die
These vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ (clash of civilizations) stellt eine Revitalisierung
der essentialistisch Kulturkreistheorien früherer Jahrzehnte (z.B. Oswald Spengler) nach dem Ende
des ideologisch prägenden Ost-West-Konflikts dar (Hafez, Der Islam und der Westen – Kampf der
Zivilisationen?). Anti-essentialistisch argumentieren im Gegensatz zu Huntington etwa David Morley und Kevin Robins. Die Autoren folgern in Anlehnung an Homi Bhabha, daß Konzepte der „kulturellen Übersetzung“ (cultural translation), also des adäquaten Bedeutungstransfers geschaffen
werden müssen, um zu einer Stärkung der Verwendung synkretistischer Kulturkonzepte in öffentlichen Diskursen zu gelangen (Morley, David/Kevin Robins, Spaces of Identity. Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries, London/New York 1995, S. 105-107, 122-124). Die
Gemeinschaftlichkeit von Grundwerten in verschiedenen Kulturen und Religionen betont auch der
Theologe Hans Küng in seinem Weltethos-Konzept sowie der Kulturphilosoph Leonard Nelson.
Hans Küng, Projekt Weltethos, München/Zürich 1990; Thomas Meyer, Leonard Nelson – Universelle Menschenrechte und konkrete Lebensinteressen, in: Kulturelle Unterschiede, Menschenrechte
und Demokratie. Kongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Philosophisch-Politischen Akademie am 22./23. Oktober 1997 in Bonn, Bonn 1998, S. 29-43.
167
stand“ befindet.441 Die zentrale Position, die die Medien im Prozeß des internationalen Informationsflusses über Kulturen einnehmen, ist daher weithin unerforscht.442
Journalisten sind Sinn- oder Bedeutungsübersetzer kultureller Zeichensysteme wie
Sprachen, Religionen oder politischen Kulturen. Im Unterschied zur interpersonalen
Kulturkommunikation sind Journalisten bei grenzüberschreitenden Kommunikationsvorgängen zwischen Kulturräumen unentbehrlich, denn die vermittelnde Kulturkommunikation findet zwangsläufig durch Massenmedien statt. Markus Kriener hat
darauf hingewiesen, daß funktional ausdifferenzierte Gesellschaften auf die Kodierung, Speicherung und Zirkulation von „kulturellem Sinn“ angewiesen sind.443 Journalisten nehmen, dies läßt sich in Anlehnung an Stuart Hall erkennen, arbiträre Kodierungen vor, wobei sie sich zumindest partiell an vorhandene Kodierungsneigungen der Konsumenten und an „professionelle Kodierungen“ der Medien anpassen
müssen. Journalisten agieren prinzipiell im Spannungsfeld konkurrierender Sinndeutungsmöglichkeiten der Mono-, Inter-, Multi- oder Transkulturalität. Essentialistisch
orientierte Journalisten, wie sie zum Teil im Zusammenhang mit der politischen
Sozialisation der Journalisten vorgestellt worden sind (vgl. Kap. 3.2.2.1), neigen
dazu, Bedeutungsunterschiede zwischen Kulturen hervorzuheben, während eine
synkretistische Berichterstattung ungeachtet der Unterschiede auf der Zeichen- und
Symbolebene Bedeutungsähnlichkeiten der Kulturen betont.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat beispielsweise die Interpretation von
Bürgerkrigesn als „ethnischen Konflikten“ in der internationalen Medienkommunikation Auftrieb erhalten. Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien, in Ruanda und in anderen
Staaten sind vielfach mit kulturellen Differenzen erklärt worden, die sich konflikthaft
entladen. Daß eine solche Erklärung nicht erschöpfend ist, wird deutlich, wenn man
berücksichtigt, daß die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen oder Religionen
häufig lange Jahre friedlich koexistieren, und daß es in der Regel bestimmte politische und soziale Veränderungen der Kräftebalance sind, die „Kulturkriegen“ vorangehen. An der westlichen Berichterstattung ist kritisiert worden, daß sie dazu neigt,
Kultur und Religion auf der einen Seite mit der Funktionalisierung von Kultur und
441 Horst Reimann, Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Opladen 1992, S. 13. Zur inter- und transkulturellen Kommunikation vgl. a. Molefi Kete Asante/William
B. Gudykunst (Hrsg.), Handbook of International and Intercultural Communication, Newbury Park
u.a. 1989; Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.), Medienkultur – Kulturkonflikt, Opladen 1992; Richard L. Wiseman (Hrsg.), Intercultural Communication Theory, Newbury u.a. 1994; Markus Kriener, Kommunikative Identität: Zur Vielfalt und Einheit kultureller Kommunikation, in: Miriam
Meckel/Markus Kriener (Hrsg.), Internationale Kommunikation. Eine Einführung, Opladen 1996,
S. 201-212.
442 Hieran hat auch ein jüngst erschienenes Werk von Chris Barker über die Rolle des Fernsehens im
Prozeß der globalen und kulturellen Ideologiebildung nichts geändert, da eine Untersuchung der
Stellung des Journalisten und der Redaktion und der die Nachrichtengestaltung beeinflussenden
Dialogprozesse unterbleibt und durch ein unbestimmtes kulturwissenschaftliches Credo ersetzt
wird, wonach das Fernsehen globale und lokale Elemente der modernen Kultur- und Identitätsentwicklung repräsentiert und generiert. Chris Barker, Television, Globalization and Cultural Identities, Buckingham 1999.
443 Kriener, Kommunikative Identität, S. 208.
168
Religion durch politische Interessen und Gruppen und deren kultureller Abgrenzungspropaganda und Identitätsideologie auf der anderen Seite zu verwechseln,
zumal kultur-immanente Erklärungen im Medienbild einfacher zu vermitteln sind als
komplexe politisch-soziale Analysen.444
Da im Kapitel über die innergesellschaftliche Anschlußkommunikation der Auslandsberichterstattung gezeigt worden ist, daß auch Medienkonsumenten als aktive
Nutzer von Kodierungsangeboten zu betrachten sind, ist die inter- oder transkulturelle Massenkommunikation als ein mehrstufiger Prozeß zu verstehen. Eine StimulusResponse-Vorstellung, wonach etwa bei elektronischen Medien eine bedeutungsidentische Übertragung stattfindet, ist zu vereinfachend. Inter-/transkulturelle En-/
Dekodierung bei Massenmedien und Mediennutzern erfolgt insgesamt etwa nach
dem Schema in Abbildung 3.16.
Der Vorgang der Kodierung von Kultursymbolen entspricht ungeachtet der verschiedenen in die Interpretationen einfließenden Kulturmodelle in jedem Fall der
Kanalisierung der strukturellen Polysemie. Diesem Trend entgegenwirken kann der
Journalist durch Polykodierungen, also durch alternative Deutungsangebote. Hall hat
jedoch darauf hingewiesen, daß „präferierte Bedeutungen“ – nicht selten Kultur- und
Nationenstereotype – dem Journalisten En-/Dekodierungsvorgänge erleichtern und
damit zugleich ein Mindestmaß an Bedeutungsübereinstimmung zwischen Medien
und Nutzern sichern. Hinzu kommen „professionelle Kodierungen“ wie die Nachrichtenfaktoren.445
444 Tim Allen/Jean Seaton (Hrsg.), The Media of Conflict. War Reporting and Representations of
Ethnic Violence, London/New York 1999.
445 Vor allem die Bestimmung dessen, was als „kulturell nah“ definiert und deswegen mit größerer
Häufigkeit beachtet und selektiert wird, zeigt, wie bereits angemerkt, daß die Nachrichtenwertforschung auf Realitätsprämissen, und zwar letztlich auf essentialistischen Kulturkonzepten beruht.
Die Definition „kultureller Nähe“ setzt ein Verständnis der Gleichheits-/Ungleichheitsbeziehungen
voraus, das sich in der Regel an historischen Entwicklungs- und Identitätsmustern oder gar an Kulturkreismodellen orientiert, was einer für quantitative Untersuchungsmethoden notwendigen Skalierung von Nähedefinition entgegenkommt, jedoch im Widerspruch zu anti-essentialistischen Kulturdefinitionen steht.
169
170
3.2.4.5.2 Auslandsberichterstattung und globale Interaktion – die Beziehungsebene
Der zweite Theorieschwerpunkt der Kulturkommunikation in Medien beschäftigt
sich mit dem Interaktionscharakter des Entstehungs- und Wirkungsprozesses der
Berichterstattung. Dieser Theorieaspekt ist bisher nahezu überhaupt nicht erforscht
worden. Auch die Aufforderung von Gerhard Maletzke aus dem Jahr 1981, die „Beziehungen, die Interaktionen und speziell die Kommunikationsprozesse zwischen
den Systemen zu studieren“,446 hat wenig an dieser Tatsache geändert.
Kulturelle Zeichen lassen sich nicht nur auf verschiedene Weise en-/dekodieren,
sondern sie entstehen im Rahmen „fiktiver“ Interaktionen zwischen dem Kulturraum
des Ursprungslandes der Nachricht, dem Kulturraum des Ziellandes der Nachricht
und den Medien. Der Auslandsberichterstatter suggeriert seinem Publikum nicht, daß
er seine eigene Interpretation widergibt, sondern daß er Symbol- und Zeicheninterpretationen der Kulturträger des anderen Kulturraums zu deuten versteht und in
seiner Arbeit vermittelt. Die Entscheidung darüber, ob zwei oder mehr Kommunikationspartner identische oder differente Sinndeutungen hinsichtlich eines bestimmten
Zeichens vornehmen, wird vom Journalisten nicht aus einer unabhängigen Perspektive untersucht, sondern er entwickelt Annahmen über die Bedeutung eines Zeichens
für andere Akteure, die in der sozialen Interaktion verdichtet werden müssen.
Überlegungen dieser Art rühren an theoretischen Konzepten wie dem symbolischen Interaktionismus,447 dem ABX-Schema von Theodore M. Newcomb448 oder
dem Koorientierungsansatz von Jack M. McLeod und Steven R. Chaffee.449 Auch
wenn keiner der genannten Ansätze inter-/transkulturelle Themen oder gar deren
Behandlung in Massenmedien berührt hat, erweitern sie doch das Verständnis über
Interaktionsprozesse und weisen auf Analogien im Medienbereich. Die Grundlagen
des symbolischen Interaktionismus beschreibt Herbert Blumer wie folgt: „Weder
betrachtet er [der symbolische Interaktionismus/K.H.] die Bedeutung als den Ausfluß
der inneren Beschaffenheit des Dinges, das diese Bedeutung hat, noch ist für ihn die
Bedeutung das Ergebnis einer Vereinigung psychologischer Elemente im Individuum. Vielmehr geht für ihn die Bedeutung aus dem Interaktionsprozeß zwischen
verschiedenen Personen hervor. Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt
sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in bezug auf dieses
Ding handeln.“450
446 Gerhard Maletzke, Internationale und interkulturelle Kommunikation. Vorschläge für Forschung
und Lehre, in: Publizistik 26 (1981) 3, S. 347.
447 Herbert Blumer, Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus, in: Roland
Burkart/Walter Hömberg (Hrsg.), Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung, Wien
1992, S. 23-39.
448 Theodore M. Newcomb, An Approach to the Study of Communicative Acts, in: Psychological
Review 60 (1953) 6, S. 393-404.
449 Jack M. McLeod/Steven R. Chaffee, The Construction of Social Reality, in: James T. Tedeschi
(Hrsg.), The Social Influence Processes, Chicago/New York 1972, S. 50-99.
450 Blumer, Der methodologische Standort, S. 25 f.
171
Diese interaktionistische Herangehensweise wird auch im Koorientierungsansatz zu
Grunde gelegt. Kommunikationsvorgänge werden durch ein Dreischrittverfahren
charakterisiert:
• Sind mehrere Akteure („A“ und „B“ bei Newcomb) auf ein bestimmtes Symbol
(„X“ bei Newcomb) orientiert, gelten sie als „koorientiert“, ihre jeweiligen Bedeutungsinterpretationen können verglichen und das Maß an „Einverständnis“
(agreement) kann gemessen werden.
• Im nächsten Schritt kann ermittelt werden, inwieweit die Akteure selbst annehmen, daß ihre Bedeutungsauslegung mit der des anderen übereinstimmt, woraus
das Maß der „Übereinstimmung“ (congruency) bestimmt wird.
• Schließlich werden „Einverständnis“ und „Übereinstimmung“ in bezug auf ihre
„Genauigkeit“ (accuracy) verglichen.451
Entscheidend an diesem Modell ist, daß mit seiner Hilfe gezeigt werden kann, daß
zwischen den Sinn- und Bedeutungssystemen von Kommunikationspartnern ein Maß
an Übereinstimmung (oder Nicht-Übereinstimmung) herrschen kann, das mit den
Annahmen der Kommunikationspartner über das Maß ihrer Übereinstimmung
(Nicht-Übereinstimmung) nicht identisch sein muß und insofern eine inadäquate
Realitätsinterpretation kommuniziert wird. Sind beispielsweise die Sinninterpretationen ähnlicher als die Interaktionspartner dies annehmen, spricht man vom Phänomen
der „kollektiven Nichtbeachtung“ (pluralistic ignorance). Die Annahme der Nichtübereinstimmung wiederum führt häufig zu einem niedrigen Kommunikationsniveau,
während die Annahme der Übereinstimmung die Bereitschaft zur Kommunikation in
der Regel steigert.452
In bezug auf die Massenmedien ergibt sich folgendes Problem: der Journalist
kann als unabhängiger Dritter betrachtet werden, der Bedeutungsinterpretationen von
Kommunikatoren (hier: den Bewohnern von Kulturräumen) und ihre wechselseitigen
Positionsannahmen vergleicht und das Maß an „Genauigkeit“ der Kommunikation
bestimmt. Er kann jedoch auch selbst als Kommunikationspartner eingestuft werden,
was der Stellung der Massenmedien als „Sinn-Übersetzern“ zwischen den Kulturen
entspricht. In diesem Fall ist es der Journalist, der Bedeutungen en-/dekodiert, Annahmen über die Bedeutungen von kulturellen Zeichen für andere Interaktionspartner
entwickelt, ohne daß er selbst in der Lage sein muß, das tatsächliche Maß an Bedeutungsübereinstimmung festzustellen.
Legt man das Modell von Chaffee und McLeod zugrunde, können auslandsberichterstattende Medien zu koorientierten Kommunikationspartnern anderer Kulturräume werden. Zwischen den Medien und Kommunikatoren in anderen Kulturräumen herrscht grundsätzlich ein mehr oder weniger großes „Einverständnis“ (agreement) hinsichtlich der Konzentration auf bestimmte kulturelle Erscheinungen (Zeichen). Die Medien suchen den Grad der „Übereinstimmung“ (congruency) zwischen
ihren En-/Dekodierungsleistungen und denen der Kommunikationspartner in anderen
451 McLeod/Chaffee, The Construction, S. 60 ff.
452 Ebenda, S. 63.
172
Kulturräumen zu ermitteln, wobei ihnen Fehleinschätzungen hinsichtlich der „Genauigkeit“ (accuracy) – einem Vergleichswert von „Einverständnis“ und „Übereinstimmung“ – unterlaufen können. Von mangelnder „Genauigkeit“ oder „kollektiver
Nichtbeachtung“ (pluralistic ignorance) im Bereich der Kulturkommunikation kann
man sprechen, wenn Deutungsdifferenzen als größer oder kleiner eingeschätzt werden als sie es tatsächlich sind.
Störungen der medialen Kulturkommunikation entstehen nicht nur durch die Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die kulturelle Zeichen für die Kommunikationspartner besitzen, sondern sie entstehen auch dadurch, daß Vorstellungen, die die
Medien von den Deutungen der Kommunikationspartner des jeweils anderen Kulturraums (andere Medien, Organisationen, Institutionen oder Personen) haben, ungenau
im Sinne des Koorientierungsmodells sind. Dies bedeutet, daß ungeachtet der möglicherweise großen Übereinstimmung in der kulturellen Sinngebung fehlerhafte Annahmen über die Bedeutungszumessungen seitens des Kommunikationspartners zu
inter-/transkulturellen Kommunikationsstörungen und kulturellen Pseudodifferenzen
führen können.
„Kollektive Nichtbeachtung“ und andere Probleme auf der Beziehungsebene
grenzüberschreitender Kulturkommunikation in Medien können das Ergebnis ungleicher Prestige-, Einfluß- und Machtverteilungen sein. Starke Ähnlichkeiten mit dem
Koorientierungsansatz weist Paul Watzlawicks, Janet H. Beavins und Don D. Jacksons453 Unterscheidung zwischen Kommunikationsstörungen auf der Inhaltsebene
und Kommunikationsstörungen auf der Beziehungsebene auf. Heike Bartholy hat
versucht, diese Unterscheidung für die interkulturelle Kommunikationsforschung
fruchtbar zu machen. Die Inhaltsebene entspricht bei Bartholy der bereits dargelegten Problematik der En-/Dekodierung von Kultursymbolen.454 Auf der Beziehungsebene werden die Aspekte der sozialen Interaktion berücksichtigt,455 die in die inter-/
transkulturelle Kommunikation einfließen und eventuell zu Störungen auf der Beziehungsebene führen können, beispielsweise wenn das soziale Prestige der Kommunikatoren oder die Symmetrie der Machtverhältnisse gestört ist.456
453 Paul Watzlawick/Janet H. Beavin/Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern u.a. 1990 (8., unveränd. Aufl.), S. 53 ff., 79 ff.
454 Deutungsunterschiede in verschiedenen Kulturen führen demnach zu Kommunikationsstörungen.
455 Heike Bartholy, Barrieren in der interkulturellen Kommunikation, in: Horst Reimann (Hrsg.),
Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Opladen 1992, S. 174-191.
456 Auch die Inhalts-/Beziehungsgliederung, die aus dem Bereich der interpersonalen Kommunikation
übernommen worden ist, kann für inter- bzw. transkulturelle Problemstellungen weiterentwickelt
werden. Beispielsweise hat Friedemann Schulz von Thun darauf hingewiesen, daß in dem Fall, daß
eine zu starke Kluft zwischen Inhalt und Beziehung entsteht, der Sachinhalt einer Kommunikation
also den Beziehungsaspekten der Kommunikation zuwiderläuft (zum Beispiel ein sachlicher Hinweis, der vom Botschaftsempfänger jedoch als Aggression gedeutet wird), Kommunikation in einen
Zustand der „Verflochtenheit“ geraten kann. Sachliche Botschaften werden in diesem Zustand vom
Empfänger geradezu systematisch anders dekodiert als dies vom Sender beabsichtigt war und werden als persönliche Angriffe empfunden. Von Thun schlägt vor, die unmöglich gewordene Sachkommunikation an dieser Stelle auszusetzen und zu einer „Beziehungsklärung“ überzugehen (Friedemann Schulz von Thun, Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie
173
Der Zusammenhang von sozialer/politischer Macht und Kulturdeutung ist von einer
Reihe anderer Autoren untersucht worden, insbesondere von Stuart Hall und Edward
Said. Stuart Hall hat auf den Machtcharakter des öffentlichen Diskurses über kulturelle Identitätsfragen hingewiesen. Kollektive kulturelle Identitätsvorstellungen entstehen demnach dadurch, daß bestimmte Kulturdeutungen von Gruppen oder Personen präferiert und propagiert werden, und daß es diesen Kräften gelingt, ihre Interpretationen der Kultur gesellschaftlich durchzusetzen, d.h. sie verfügen über die
kulturelle Definitionsmacht.457 Eine solche Macht kann autoritär im Sinne kultureller
Propaganda sein, oder aber sie basiert auf der demokratischen Anerkennung kultureller Normen bestimmter Kräfte als gesamtgesellschaftlich prägend.
Edward Said hat sich weniger mit dem Zusammenhang von Kultur und Macht bei
Auto- als bei Hetero-Stereotypen beschäftigt. Er hat den Einfluß politischer und
sözio-ökonomischer Macht auf westliche Stereotype und Feindbilder „des Orientalen“ untersucht. Dabei macht er für die aus seiner Sicht häufig bestehende „orientalistische“, d.h. nach einem traditionellen Regelwerk der Wahrnehmung konstruierte
Deformation von Medienbildern weniger die Mechanismen des Mediensystems als
vielmehr die „imperialistische“ Dominanz des Westens über die außereuropäische
Welt verantwortlich, die das westliche Weltbild – Verzerrungen wie Auslassungen –
geformt haben. Edward Said: „Obwohl es gewiss zutrifft, daß die Medien weitaus
besser für den Umgang mit Karrikatur und Sensation gerüstet sind als für die Entzifferung der leisen Zeichen von Kultur und Gesellschaft, ist der tiefere Grund für die
Mißverständnisse die imperiale Dynamik, vor allem ihre trennenden, essentialisierenden, reaktiven und Herrschaftstendenzen.“458
Exemplarisch läßt sich eine statusbedingte Interaktionsstörung der inter- und
transkulturellen Kommunikation am Verhältnis von Hochindustrie- und Entwicklungsländern in der Auslandsberichterstattung erklären. Im Zusammenhang mit dem
Nachrichtenfaktor „Regionalismus“ ist bereits darauf hingewiesen worden, daß ungeachtet der in allen Ländern erkennbaren Bevorzugung der eigenen Region, der
Westen in den Medien der Entwicklungsländer präsenter ist als umgekehrt (vgl. Kap.
3.2.1.2). Die relativ große Attraktivität der westlichen Kultur ist nicht zuletzt die
Folge ihrer politischen wie ökonomischen Hegemonie. Die Interaktionssymmetrie
kann sich in den westlichen Industriestaaten in mangelnder thematischer Berücksichtigung459 der außereuropäischen Kultur bemerkbar machen. In einem solchen Fall
der Kommunikation, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 198 ff.). Bei inter-/transkulturellen Fragen ist
der mediale Kulturdialog gefragt.
457 Stuart Hall, Who Needs „Identity“?, in: Stuart Hall/Paul du Gay (Hrsg.), Questions of Cultural
Identity, London 1996, S. 5.
458 Edward W. Said, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht,
Aus dem Amerikanischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt 1994, S. 76.
459 Vgl. a. Ernst v. Kardorff, „Thematisches Bewußtsein“ als Basis lebensweltlich-handlungsbezogenen
Fremdverstehens. Zu den soziologischen Grundlagen interkultureller Kommunikation, in: Josef Gerighausen/Peter C. Seel (Hrsg.), Interkulturelle Kommunikation und Fremdverstehen. Dokumentation eines Werkstattgesprächs des Goethe-Instituts München vom 16.-17. Juni 1983, München 1983,
S. 136-185
174
führt eine Störung auf der Beziehungsebene zu Störungen auf der Inhaltsebene.460
Durch Beziehungsasymmetrie bedingte Störungen der Kulturkommunikation sind
gleichwohl ein mehrseitiges Problem. Auch geringe kulturelle Durchsetzungskraft in
der globalen Massenkommunikation kann zu Beziehungsstörungen der Kommunikation führen, beispielsweise wenn Kommunikatoren in den Entwicklungsländern westliche Menschenrechtsargumentationen mit dem Argument zurückweisen, eine solche
Argumentation entspringe grundsätzlich „imperialistischen“ Absichten: eine Kommunikationsannahme auf der Beziehungsebene, die eine Auseinandersetzung über
Inhalte behindert.
3.2.4.5.3 Auslandsberichterstattung und multikulturelle Gesellschaft
Im Rahmen des vorliegenden Theorieentwurfs kann nicht der Gesamtzusammenhang
zwischen Medienberichterstattung und der Entwicklung der „multikulturellen Gesellschaft“461, sondern lediglich die Funktion und Wirkung der Auslandsberichterstattung in der und auf die Einwanderergesellschaft erörtert werden. Es geht also nicht
um die Darstellung von Ausländern und Minderheiten in den Medien im allgemeinen,462 sondern um mögliche Interferenzen zwischen der Darstellung auswärtigen
Geschehens und dem Bild von Ausländern (im Inland bzw. Stammland eines Mediums). Kategorial handelt es sich dabei um eine besondere Form der Interaktion zwischen In- und Auslandsberichterstattung, um die bereits thematisierten foreign news
at home (im Unterschied zu foreign news abroad bzw. home news abroad; vgl. Kap.
460 Anna M. Theis: „Wenn aus interkulturellen Studien vielfach die Konsequenz abgeleitet wird, die
Lösung interkultureller Kommunikationsprobleme sei durch eine entsprechende Sensibilisierung der
Teilnehmer für kulturbedingte Unterschiede zu erreichen, wird dabei übersehen, daß sich die
Notwendigkeit zur Empathie, zu der die angestrebte Sensibilisierung führen soll, in asymmetrischen
Kommunikationsbeziehungen keineswegs für alle Beteiligten gleichermaßen ergibt. Bei einem existierenden Machtgefälle wird ein ‘Empathiedruck’ in der Regel für denjenigen spürbar, der über das
geringere Sanktionspotential verfügt und dies auch weiß. Entgegen dem traditionellen Kommunikationsmodell, welches lediglich Interpretationsaspekte strapaziert, ist davon auszugehen, daß (sich)
strukturelle Asymmetrien auch (...) in der Bestimmung des Ortes, der Häufigkeit und Form der Berichterstattung oder der Determination der Gesprächsinhalte (‘issues management’) manifestieren.“
Anna M. Theis, Weltgesellschaft und interkulturelle Organisationskommunikation: Kontrolle von
Kultur oder Kultur als Kontrolle, in: Horst Reimann (Hrsg.), Transkulturelle Kommunikation und
Weltgesellschaft. Zur Theorie und Pragmatik globaler Interaktion, Opladen 1992, S. 273.
461 Die Begriff kann ungeachtet seiner in Kap. 3.2.4.5.1 angedeuteten Problematik an dieser Stelle
nicht diskutiert werden, sondern deutet paradigmatisch auf das durch Migration entstandene Nebenund Miteinander von Kulturen, Ethnien und Religionen im modernen Nationalstaat.
462 Vgl. u.a. Christoph Butterwegge/Gudrun Henges/Fatma Sarigöz (Hrsg.), Medien und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999; Ausländer und Massenmedien. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Vorträge und Materialien einer internationalen Fachtagung vom 2. bis 4. Dezember 1986,
Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1987; Siegfried Jäger/Jürgen Link (Hrsg.), Die vierte
Gewalt. Rassismus und die Medien, Duisburg 1993; Klaus Merten (Hrsg.), Das Bild der Ausländer
in der deutschen Presse. Ergebnisse einer systematischen Inhaltsanalyse, Frankfurt 1986; HansBernd Brosius/Frank Esser, Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt, in: Jürgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jürgen R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven
der Forschung, Sonderheft Politische Vierteljahresschrift 37 (1996) 27, S. 204-218.
175
3.2.4.3). Dabei sind nicht allein institutionelle oder personelle Verbindungen von
Belang, beispielsweise wenn Kurden in Deutschland demonstrieren, weil in der Türkei der Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, im Gefängnis
sitzt oder Muslime in Bradford, England, Bücher von Salman Rushdie verbrennen
und die nationalen Medien diese Ereignisse jeweils aufgreifen. Diese klassischen
Formen der foreign news at home zeichnen sich dadurch aus, daß Angehörige einer
Minderheit sich selbst in einen Handlungskontext mit auswärtigem Geschehen einfügen, was dann durch die Medien thematisiert und interpretiert wird. Externes Geschehen und interne Resonanz fügen sich in solchen Fällen in ein Handlungsgeflecht,
dessen Ursachen-Wirkungs-Gefüge staatliche Grenzen und Medienräume überschreitet, ohne daß die Handlungen selbst diese Grenzen (etwa im Rahmen eines internationalen Konflikts) überschreiten.
Erneut ist aber auch eine andere Form der Interaktion zwischen In- und Auslandsberichterstattung in den Medien von Interesse: die thematisch-diskursive Interaktion (Kap. 3.2.4.3.1). Welche innergesellschaftlichen Anschlußdiskurse der inter-/
transkulturellen Kommunikation und des globalen Kulturkonflikts können entstehen,
und welches Einflußpotential besteht hinsichtlich des Medienbildes der Ausländer
bzw. einzelner ethnisch-religöser Minderheiten? Solche Interaktionen können auf
personellen und institutionellen Verbindungen im Rahmen eines effektiven Handlungskontextes basieren, wie in den oben genannten Beispielen. Sie können jedoch
auch ohne solche Vorraussetzungen gebildet werden, d.h. das Bild einer Minderheit
kann über den Umweg der Auslandsberichterstattung aber ohne das aktive Zutun der
Minderheit durch die Darstellung auswärtigen Geschehens und die Bildung interner
Anschlußdiskurse beeinflußt werden. Andrea Böhm hat beispielsweise während des
Kosovo-Krieges von 1999 einen Wandel in der Wahrnehmung der Kosovaren in
Deutschland beobachtet, die vor dem Krieg häufig als Asylsuchende und Kriminelle
in Erscheinung traten, seit Ausbruch des Krieges jedoch zu Opfern „ethnischer Säuberung“ eine öffentliche Neubewertung erfuhren.463 Diese Bildveränderung kann
nicht als Reaktion auf das Handeln der Kosovaren in Deutschland gedeutet werden,
etwa als Reaktion auf Demonstrationen während des Krieges, sondern sie war eine
Rückwirkung einer dominierenden Interpretation auswärtigen Geschehens (des Kosovo-Krieges) auf das Bild einer ethnischen Minderheit in Deutschland.
Bisher existieren keine Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Auslandsbild und Ausländerbild bzw. zwischen Nationenbildern (z.B. über die Türkei)
und dem Bild einer ethnisch-religiösen Minderheit (z.B. der Türken in Deutschland).
Es muß jedoch angenommen werden, daß das Ausländerbild der Medien ein Amalgam aus Bildern in Deutschland lebender Ausländer (bzw. Deutscher nicht-deutscher
Herkunft) und dem Auslandsbild, also eine Verbindung aus Bildkonstruktionen der
Nah- und der Fernwelt ist, und daß sich diese Bestandteile spätestens auf der Ebene
der Mediennutzung durch die Konsumenten verbinden. Untersucht werden könnte,
463 Andrea Böhm, Die mediale Täter-Opfer-Falle: Ausländer als Objekte journalistischer Begierde, in:
Christoph Butterwegge/Gudrun Henges/Fatma Sarigöz (Hrg.), Medien und multikulturelle Gesellschaft, Opladen 1999, S. 95.
176
ob das Bild des „mafiösen Rußland“ mit dem Bild der „Russenmafia“ in Deutschland
in Verbindung steht, ob Terrorismus im Nahen Osten das Bild der Araber beeinflußt,
oder ob muslimische oder jüdische Minderheiten eine Art „Orientalisierung“ im
Medienbild und bei Medienkonsumenten erleben. Demoskopische Untersuchungen
haben gezeigt, daß zwischen dem heutigen Israel-Bild in der deutschen Öffentlichkeit und dem Bild der Juden große Überseinstimmungen bestehen,464 und daß nahezu
die Hälfte der Bundesbürger annimmt, daß Juden stärker zu Israel als zu Deutschland
halten,465 was annehmen läßt, daß zwischen Israel- und Judenbild nicht nur strukturelle Ähnlichkeiten bestehen, sondern auch kogntive Zusammenhänge gebildet werden.
Wenn sich bestätigen sollte, daß das Auslandsbild, also ein Bild exogenen Ursprungs, das Bild einer gesellschaftlichen Gruppe mitprägen kann, dann entwickelt
jede Auslandsberichterstattung, die mit einer solchen Gruppe in Verbindung gebracht werden kann, ein innergesellschaftliches „Zweitbild“, und zwar auch dann,
wenn diese Gruppe nicht durch einen Handlungszusammenhang in Erscheinung tritt,
sondern lediglich auf Grund einer denkbaren oder angenommenen ethnischen, kulturellen oder religiösen Bindung. Medienkommunikation ist daher nicht allein geeignet, Kulturontakte und -konflikte auf globaler Ebene zu fördern, sondern es besteht
auch eine potentielle Verbindung zwischen Auslandsberichterstattung, der multikulturellen Gesellschaft und ethnisch-religiösen Konflikten einer Gesellschaft.
464 Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1984-1992, Hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann und
Renate Köcher, München u.a. 1993, S. 998.
465 Ebenda, S. 1000.
177
Zusammenfassung
Der Geltungsbereich der hier entworfenen Theoriematrix erstreckt sich auf grenzüberschreitende Darstellungsprozesse in Massenmedien (Auslandsberichterstattung),
wobei die Grenzen von nationalen, kulturellen oder religiösen Großräumen geeignet
sein können. Rückwirkungen medialer Darstellungsprozesse auf multi-, inter- und
transkulturelle Interaktionsbeziehungen innerhalb von Staaten werden ebenfalls
berücksichtigt. Die Theorie beschränkt sich auf den „vermittelnden Journalismus“
von Presse, Radio und Fernsehen und schließt Medien, die wie das Internet nicht
eindeutig den Massenmedien zuzurechnen sind, da sie zu viele Elemente der Individualkommunikation aufweisen, aus. Die theoretische Reflexion beschäftigt sich
zudem nur am Rande mit Sendung und Empfang von Satellitenrundfunk. Vielmehr
wird versucht, Strukturen und Einflußfaktoren der Auslandsberichterstattung zu
beschreiben, die keine Einspeisung ausländischer Programme ist, sondern einen
Prozeß der journalistischen Informationsbeschaffung und -verarbeitung aus einem
außerstaatlichen Kontext für ein heimisches Publikum darstellt.
Bisher ist keine homogene Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse formuliert worden. Weder die modernisierungs- noch die dependenzoder imperialismustheoretische Medientheorie hat bisher die Ebene der anwendungsbezogenen Theorieformulierung erreicht, obwohl gerade die letztgenannten
Ansätze wiederholt auf Mängel des Nachrichtenflusses im Nord-Süd-Kontext aufmerksam gemacht haben. Anwendungsbezogenheit ist auch ein Defizit des vorherrschenden Paradigmas der neunziger Jahre, der Globalisierungstheorie, da in der
Regel weder die Auslandsberichterstattung zur Grundlage der Theoriebildung gemacht wird noch eine Differenzierung erfolgt, die eine konkrete Hilfestellung zur
Erklärung von Textmerkmalen bietet. Wenngleich die paradigmatische Akzentverschiebung von der nationalstaatlichen zur globalen Entwicklungsperspektive Probleme der Auslandsberichterstattung in ihrem Grundsatz schärfer fokussiert, verbleiben sowohl Konversionstheorien des Global Village (MacLuhan) oder der „Glokalisierung“ (Robertson) als auch „Domestizierungstheorien“, die davon ausgehen, daß
ungeachtet wachsender technischer und ökonomischer Vernetzung inhaltliche Partikulareinflüsse in den Medien nach wie vor überwiegen, in einem weitgehend vortheoretischen Stadium.
Die vorgelegte Theoriematrix internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse erfaßt inhaltliche Strukturen der Auslandsberichterstattung sowie deren
Entstehungs- und Wirkungsbedingungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Entstehung und Wirkung werden zudem auf mehreren Ebenen der Stellung des Journalisten (Mikroebene), der Medienorganisation und des -systems (Mesoebene) und des
Zusammenwirkens von Medien, Politik und Gesellschaft (Makroebene) erörtert. Bei
der Theoriebildung sind teils neue Theoreme formuliert, teils bestehende Theoreme
(z.B. Agenda-Setting) integriert und für den internationalen Kontext adaptiert worden. Die Systematik der theoretischen Darstellung hat geholfen, Leerstellen der
Theorie (z.B. Sozialisationseinflüsse des Auslandsjournalisten, Beziehungen zwi-
178
schen In- und Auslandsberichterstattung, transkulturelle Kommunikation im medialen public-to-public-Vermittlungsprozeß) zu lokalisieren und zu schließen.
Die in der Soziopsychologie uneinheitlich verwendeten Begriffe „Bild“, „Stereotyp“ und „Feindbild“ sind definiert worden, wobei der Schwerpunkt des Stereotypenbegriffs in der kognitiven Ordnungsfunktion und der des Feindbildbegriffs in der
Beziehung Bild-Realität sowie in der konativen Komponente der Handlungsmotivation zu suchen ist. Stereotype und Feindbilder sind weder generell „pathologisch“
(im Sinne einer Fehlwahrnehmung) noch „normal“ (im Sinne der Unvermeidlichkeit
komplexitätsreduzierender Wahrnehmung), sondern sie sind entwicklungsfähig (etwa
im Sinne normativer politischer Bildungsziele). Bilddifferenzierungen sind in jedem
Einzelfall ohne Verlust der primären Orientierungsfunktion des Bildkomplexes möglich. Nationen-, Völker-, Kultur- und Religionsbilder sind demnach traditionsträchtige, aber nicht unveränderbare Massenstereotype oder -feindbilder. Sie entstehen auf
der Basis von Essentialisierungsvorgängen und weisen eine Tendenz zur Vereinheitlichung auf, können gleichwohl auch Differenzierungen beinhalten, die nicht nur in
Bildkomplexen einzelner Subsysteme der Gesellschaft (z.B. der Wissenschaft) zu
suchen sind, sondern auch den mainstream einer Kultur, wie ihn etwa die allgemeine
Presse repräsentiert, erfassen können. Neben kulturdauernden sind beispielsweise
auch kulturepochale Bilder und zeitgenössische Bildschwankungen zu erkennen. Die
Perzeption nationaler, religiöser, kultureller und anderer Großgruppen beinhaltet
zudem spezifische Konstellationen wie das Spiegelbild-Denken, Nullsummenkalkulationen usw., die je nach Sinnkontext, geographischem Bezug und Zeitzusammenhang in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden sind. Allgemein kann gelten, daß
unter den Bedingungen geokultureller und geopolitischer Distanz den Medien als
Vermittlungsinstanz von Nationen und anderen Bildern (Auslandsberichterstattung)
eine höhere Wirkungspotenz zugebilligt werden muß als im Nahbereich der gesellschaftlichen Perzeption (z.B. Lokalberichterstattung).
Die vorliegende Theoriematrix nutzt die Potentiale des Stereotypenansatzes zur
Erforschung der Medieninhalte, sie geht aber über dessen Begrenzungen hinaus.
Medienberichterstattung enthält neben Stereotypen und Feindbildern auch komplexere Bildstrukturen, sie transportiert Fakten, Argumente und Positionen. Die Gefahr
der auschließlichen Verwendung der soziopsychologischen Bild- in der Medienforschung liegt darin, daß außer acht gelassen wird, daß nur ein sehr begrenzter Teil des
Nachrichtenstroms untersucht wird und daß durch theoretische Verengung eine
Vorwegnahme des Grundtenors der Auslandsberichterstattung („Auslandsberichterstattung ist stereotyp“) erfolgt. Daher ist hier das Konzept des „Auslandsbildes“
eingeführt worden, das neben Bildern, Stereotypen und Feindbildern auch prozeßorientierte Kommunikationselemente wie „Frame“, „Thema“ und „Diskurs“ aufweist.
Als Leitsatz gilt: Auslandsberichterstattung ist medial vermitteltes Auslandsbild.
Theoretisch ist vorgesehen, im Einzeltext wie im Zusammenhang des Mediendiskurses Prozeßargumente (Frames), kognitive Hierarchisierungen (Themata), die Konkurrenzkämpfe und das Eigenleben von Themen und Frames (bis zur Bildung von
master frames) sowie Schwankungen im Argumentationsgefüge der Auslandsberichterstattung zu untersuchen. Mit Hilfe einer diskursorientierten Herangehensweise
179
läßt sich rekonstruieren, wie Handlungsabläufe der internationalen Politik oder anderer Bereiche in Auslandsberichterstattung medial konstruiert werden.
Perzeptions- und kommunikationstheoretische Annahmen werden zu einer eigenständigen Strukturlehre der Auslandsberichterstattung weiterentwickelt. Die Theorie
internationaler Darstellungsprozesse der Medien darf nicht als eine Ableitung der
allgemeinen Stereotypen- und Kommunikationstheorie, sei sie soziopsychologisch
oder diskurstheoretisch ausgerichtet, verstanden werden, da auf diese Weise medientypische Bildstrukturen und Einflußfaktoren von Journalisten, Medienorganisation,
Politik und Gesellschaft außer acht gelassen werden. Ein Katalog wesentlicher Strukturmerkmale des Auslandsbildes von Medien wird im vorliegenden Ansatz erstellt,
indem zentrale Aussagen des MacBride-Berichts der UNESCO mit Theoremen der
empirschen Forschung (insbesondere zum Bild der Entwicklungsländer in Medien
der Industriestaaten) sowie mit Nachrichtenfaktorenkatalogen vernetzt werden. Dabei erweisen sich Probleme wie die Dekontextualisierung der Nachricht, des Regionalismus der Nachrichtengeographie, der Politikzentrierung oder der Elitenzentrierung als Kernbereiche eines Strukturmodells des medialen Auslandsbildes. Für die
theoretische Nutzung sind allerdings eine Reihe von Folgefragen zu klären, etwa bei
der Formulierung von Maßstäben zur Bestimmung einer Konfliktperspektive (z.B.
absoluter oder relativer Anteil von Negativismus; abstraktes Realitätsmodell oder
Ländervergleich) oder hinsichtlich der Feststellung, daß kontextorientierte Auslandsberichterstattung in einem Dilemma zwischen notwendiger Schaffung der im
Vergleich zum Inlandskontext fehlenden Zusammenhänge einerseits und Kapazitätsüberforderung andererseits agiert. Reflexionen über Maßstäbe des Berichteten haben
sich als ebenso bedeutsam erwiesen wie Reflexionen über das Nichtberichtete. In
den MacBride-Bericht ist die Annahme eingeflossen, daß in der Auslandsberichterstattung etwa wesentliche Strukturprobleme der internationalen Beziehungen nicht
thematisiert werden, was theoretisch zu der Frage führt, wie die Medienagenda im
Bereich der Auslandsberichterstattung beschaffen ist und wie sie entsteht (s.u.).
Da mediale Thematisierung jedoch als gesamtgesellschaftlicher Vorgang mit
zahlreichen Akteuren zu betrachten ist, müssen vor der makrotheoretischen Betrachtung Einflußgrößen auf den Medientext durch Journalisten (Mikroebene) und Medienorganisation/-system (Mesoebene) erörtert werden. Die individuelle politische
Sozialisation des Journalisten erfolgt in einem dem Berufseintritt vorgelagerten Prozeß der Ausbildung von Werthaltungen und Ideologien, der das Auslandsbild der
Medien beeinflussen kann. Eine kursive Auswertung von Publikationen deutscher
Presse- und Rundfunkjournalisten hat beispielsweise gezeigt, daß zwar kein Rassismus, aber kulturalistisch-essentialistische Ideologeme der „Fremdartigkeit“ nichtwestlicher Kulturen verbreitet sind. Im Bereich der beruflichen Sozialisation können
Rollenvorstellungen des Auslandsjournalismus als normative Handlungskonzepte auf
die Textgestaltung einwirken. Rollenmodelle, die den Auslandsjournalisten als „neutralen Informanten“ einstufen, belassen die individuellen Werthaltungen der politischen Sozialisation (s.o.) in einem Zustand der Selbstkontrolliertheit. Sie erleichtern
allerdings auch das Eindringen von Propaganda und strategischen Kommunikationsangeboten von Regierungen und anderen Akteuren der internationalen Beziehungen.
180
Vorstellungen vom Journalisten als „Mitgestalter der Außenpolitik“ gliedern sich in
mehrere Teilkonzepte: „Repräsentant der Öffentlichkeit“, „Kritiker der Außenpolitik“ und „Advokat der Außenpolitik“. In der Information der Öffentlichkeit und der
Repräsentation außenpolitischer und international orientierter Einstellungen der
Öffentlichkeit liegt der normative Schwerpunkt des Mitgestaltungsgedankens. Untersuchungen des Verhältnisses Medien-Politik haben bestätigt, daß dies auch die wichtigste Funktion der Medien aus der Sicht von Außenpolitikern ist (sog. „Ressourcenfunktion“). Im vorliegenden Rahmen konnte gezeigt werden, daß das Rollenmodell
der Mitgestaltung auch im deutschen Journalismus existiert, wobei klassische Vorstellungen vom Auslandskorrespondenten als „Botschafter“ des Landes nicht mehr
opportun sind, aber politische Mitwirkung zum Teil angestrebt wird. Die Vorstellung
der Mitgestaltung in der Außenpolitik setzt die Idee der Medien als „vierte Gewalt“
im Bereich der Auslandsberichterstattung um. Sie entspricht dem realen Informationsvorsprung der Journalisten gegenüber weiten Teilen der Rezipienten/Konsumenten unter den Bedingungen der geokulturellen Distanz. Allerdings
wird hier zugleich ein elitäres Element eines nicht demokratisch legitimierten politischen Gestaltungsanspruchs erkennbar, der sich daran messen lassen muß, ob der
Journalismus seinerseits die Öffentlichkeit hinreichend über außenpolitische und
internationale Vorgänge informiert, Öffentlichkeit repräsentiert und so Voraussetzungen zur gesamtgesellschaftlichen Mitgestaltung der Außenpolitik schafft (s.u.:
Agenda-Setting). Es hat sich außerdem gezeigt, daß die Rollenvorstellungen des
deutschen Auslandsjournalismus nicht nur Information, Repräsentation und Mitgestaltung, sondern auch eine von der Tagespolitik entfernte kulturelle Mittlertätigkeit
beinhalten.
Weder die außenpolitische Mitgestaltung noch die interkulturelle Vermittlung
sind bislang in vielen europäischen Verhaltenskodizes formuliert worden, d.h. sie
sind bisher nur schwach institutionalisiert und unterliegen einem „Gesinnungsvorbehalt“ des einzelnen Auslandsjournalisten. Die vorliegende Theoriematrix hebt hervor, daß zwischen politischen und beruflichen Sozialisationseinflüssen keine Harmonie bestehen muß, sondern individuelle journalistische Normenkonflikte können
Bestandteile der Auslandsberichterstattung sein und sich als argumentative Widersprüche in den Medientexten niederschlagen, was die Vorstellung eines homogenen
Auslandsbildes von Journalisten und Redaktionen im Grundsatz relativiert.
Einflüsse der Medienorganisation und des Mediensystems auf die Auslandsberichterstattung sind in der älteren Distanztheorie als eine serielle Kumulation von
individuellen Gatekeeper-Vorgängen (etwa von der Nachrichtenagentur über den
Auslandskorrespondenten zur Auslandsredaktion) verstanden worden. Dem entgegen
setzt die vorliegende Theoriematrix die Annahme, daß komplexe Systemvorgänge
der Medienorganisation und des Mediensystems eigenständige Einflüsse in den Texten der Auslandsberichterstattung hinterlassen können, die mehr sind, als die Summe
der Einzelleistungen der an der Nachrichtenkonstruktion beteiligten Personen. Organisatorische Zusammenhänge sind zwar allgemein für den Journalismus, bisher aber
noch nicht für die Auslandsberichterstattung dargelegt worden. In der vorliegenden
Theoriematrix wird formuliert, daß informationelle Rahmenbedingungen wie Platz181
kapazitäten, Zugang zu Ressourcen, Konsumstrukturen usw., die weite Teile der
Beziehung zwischen Verlag und Redaktion beschreiben, wesentliche Einflußgrößen
der häufig kostenintensiven Auslandsberichterstattung sind, die sich insbesondere im
Bereich der Informationsbeschaffung bemerkbar machen. Je enger die Rahmenbedingungen sind, um so größer werden in der Regel Steuerungseinflüsse externer
Informationsgeber wie der internationalen und nationalen Nachrichtenagenturen auf
die Medienagenda sowie auf den Medieninhalt (besonders deutlich beispielsweise
bei deutschen regionalen Tageszeitungen oder vielen Medien der „Dritten Welt“ mit
ihrem sehr hohen Anteil an Agenturnachrichten). Externe Informationssteuerung
bietet den Vorteil einer über einzelne Medieninteressen hinausgehenden Thematisierung als Grundlage gesellschaftlicher Diskurse; sie übt aber vielfach eine vielfaltbegrenzende und nivellierende Wirkung auf den Auslandsjournalismus aus, dessen
inhaltliche Differenzierung dadurch abnimmt. Als weiteres Problem erweist sich, daß
die Nachrichtenagenturen selbst über den Umweg eingeschränkter Rahmenbedingungen autonomiebegrenzenden Einflüssen unterliegen. In manchen Untersuchungen
ermittelte nationalpolitische Orientierung großer Nachrichtenagenturen wie Reuters
oder AFP sind vor allem auf die hochgradige Transparenz des Agentursystems für
politische Public Relations staatlicher Stellen – sog. „öffentliche Diplomatie“ – zurückzuführen. Nachrichtenagenturen verhalten sich vielfach gegenüber strategischen
Kommunikationsangeboten ebenso „passiv“ wie die Medienredaktionen gegenüber
den Agenturnachrichten. Wenn beispielsweise die bloße Tatsache, daß eine Nachricht von einer westlichen Staatsregierung stammt, von Agenturen bereits als Qualifikationsnachweis angesehen wird, dann hat dies zur Folge, daß sich kommunikative
Steuerungsversuche der Politik über die hohe Steuerungskapazität der Agenturen
direkt auf die Darstellungsprozesse der medialen Auslandsberichterstattung auswirken können. Hier wird eine Permeabilität des Systems der Auslandsberichterstattung
für politische Einflüsse erkennbar, die grundsätzliche Zweifel an der funktionalen
Umsetzung und Umsetzbarkeit (sic!) von Normen der Eigenrecherche und Quellenkontrolle aufkommen lassen.
Für den Bereich journalistischer Eigenleistungen in der Auslandsberichterstattung, der etwa in der deutschen überregionalen Presse signifikant ist, spielen organisatorische Entscheidungsprogramme eine wichtige Rolle. Organisationsspezifische
Erfahrungswerte können auf Zweckbindungen (z.B. ideologische Einflüsse des Verlags) oder einer Redaktionsroutine im Umgang mit Auslandsthemen basieren. Bisher
viel zu wenig untersucht worden ist die Tatsache, daß Nachrichtenwerte des Auslandsjournalismus nicht einheitlich für alle Medien gelten müssen, sondern redaktionsspezifische Unterschiede erkennbar werden können. Wenn beispielsweise die
Verortung eines Mediums im Rechts-Links-Spektrum sich in der Auslandsberichterstattung bemerkbar macht, kann dies aus theoretischer Sicht das Resultat individueller Orientierungen des Journalisten (Mikroebene), organisatorischer Zweckprogrammierungen des Verlags (Mesoebene) oder redaktioneller Eigenprogrammierung
(Mesoebene) sein – von außermedialen Faktoren einmal abgesehen (s.u.). Ob die
Frage der Menschenrechte in China aufgegriffen wird oder nicht, ist also das Resultat individueller Neigungen oder externer Agentureinflüsse, sondern auch eine Frage
182
organisationsspezifischer „Berichterstattungstraditionen“. Hierbei besteht unterschiedlicher Freiraum für individuelle Deutungs- und soziale Verhandlungsprozesse.
Selbst Auslandskorrespondenten müssen ein hohes Maß an Vorangepaßtheit gegenüber den Entscheidungsprogrammierungen der Medienorganisation aufweisen, was
die idealiter angestrebte Gestaltungsfreiheit des Korrespondenten beschränkt. Andererseits genießen sie im Rahmen der Voranpassung an die Themenstruktur der großen Nachrichtenagenturen und die Entscheidungsprogramme der Redaktion eine
Freiheit, die wiederum als Mangel an sozialer Kontrolle der Auslandsberichterstattung innerhalb der Medienorganisation gedeutet werden kann.
Neben dem Einfluß der Medienorganisation auf den internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß muß das überorganisatorische Interaktionsgefüge des
Mediensystems berücksichtigt werden. Insbesondere innerjournalistische Meinungsführerschaften sind von besonderer Bedeutung in der Auslandsberichterstattung, da
zwar auf der einen Seite der Journalist in der Regel als Generalist ausgebildet wird,
oft ohne spezifische Auslandsqualifikation, rotierend zwischen verschiedenen Weltregionen und zwischen In- und Auslandsaufgaben. Auf der anderen Seite herrscht in
der jeweils ausgeübten Funktion der Auslandsberichterstattung jedoch eine hochgradige Arbeitsteilung und Spezialisierung, was die Interaktion in der Redaktion begrenzt und Meinungsführerschaften im nationalen Rahmen stärkt. Die Position des
Auslandskorrespondenten zeichnet sich gegenüber der Zentralredaktion durch lokale
Quellenzugänge sowie durch die Einbindung in lokale Meinungsführermilieus aus,
die ungeachtet des auch für Korrespondenten bestehenden Anpassungsdrucks (seitens der Agenturen, des Verlags und der Redaktion) ein beträchtliches Gestaltungspotential darstellen. Sie ermöglichen es, den gesellschaftlichen Diskurs in den Ursprungsländern einer Nachricht in die Auslandsberichterstattung zu transferieren,
was ein wesentlicher Bestandteil transkultureller Kommunikation ist (s.u.).
Den größten Komplex innerhalb der Theoriematrix stellt die Makroebene der
Theorie dar, da das Zusammenspiel von Medien, Politik und Gesellschaft als Kernbereich der Medienforschung im Rahmen des sozial- und kulturwissenschaftlichen
Rekonstruktivismus betrachtet wird. Die Makrotheorie ist so angelegt, daß sie abschnittsweise von „innen“ nach „außen“ fortschreitet: von den Entstehungsbedingungen der nationalen Themenagenda und den Einflüssen des nationalen Systems auf
die Auslandsberichterstattung über die Interaktionen zwischen nationalem und internationalem Diskurs bis zur Rolle der Medien in internationalen Konflikten und in der
globalen Kulturkommunikation.
Die Auslandsberichterstattung ist Teil einer gesellschaftlichen Diskursformierung
über außenpolitische und internationale Fragen. Im vorliegenden Theorieentwurf
werden drei gesellschaftliche Einflußgrößen untersucht: a) staatliche Akteure,
b) nicht-staatliche gesellschaftliche Akteure (z.B. organisierte Öffentlichkeit) und
c) außenpolitische, internationale oder interkulturell relevante gesellschaftliche Einstellungen ohne konkreten Akteursbezug. Ungeachtet differenzierender Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte ist der Einfluß gesellschaftlicher Einstellungen auf
Auslandsberichterstattung im allgemeinen begrenzt, da außenpolitische und internationale Einstellungen häufig instabil und hauptsächlich durch vertikale Einstellungs183
muster geprägt sind (z.B. Militarismus/Anti-Militarismus). Solche Einstellungen
können auf den Diskurs der Auslandsberichterstattung Einfluß nehmen, doch findet
dies in der Regel erst statt, wenn Medien (oder die Politik durch die Medien) sich
bereits zu einer Thematisierung entschlossen haben und einen entsprechenden Meinungsbildungsprozeß initiiert haben, so daß die unter geokulturellen Distanzbedingungen häufig feststellbare Thematisierungsrichtung von den Medien zum sog. „interessierten“ bzw. „Massenpublikum“ bestehen bleibt. Dies bedeutet, daß die Wirkungsmacht der Medien im Bereich des Agenda-Setting in der Auslandsberichterstattung – also die Befähigung der Medien zu bestimmen, über welche Auslandsfragen eine Gesellschaft reflektiert – als relativ groß einzustufen ist.
Allerdings können artikulierte Teile der Gesellschaft Einfluß auf die Themenagenda nehmen. Dabei muß jedoch grundsätzlich von einer im Vergleich zu vielen
Inlandsthemen existierenden Strukturschwäche der organisierten Öffentlichkeit bei
internationalen Fragen ausgegangen werden, da insbesondere die großen gesellschaftlichen Institutionen (Parteien, Gewerkschaften usw.) diese Themenbereiche
nur selektiv und sporadisch verfolgen. Dennoch können durch Interaktionen und
Allianzbildungen, bei denen häufig sogenannte „Themenöffentlichkeiten“ – also
Organisationen und Teilpublika, die über ein spezielles Auslandsinteresse verfügen –
eine Rolle als Bindegliedakteure übernehmen, organisierte Teile der Öffentlichkeit
und andere außermediale Eliten auf den Medieninhalt Einfluß nehmen, wie auch die
Medien umgekehrt als Plattform zur öffentlichen Diskursformierung dienen, Strömungs- und Allianzbildungen fördern und zur Differenzierung des Auslandsdiskurses beitragen können.
Als in der Regel bedeutsamer muß aber a) die Rolle der Eigenthematisierung aus
dem Mediensystem (Journalisten, Redaktionen, Agenturen) und b) der Einfluß des
politischen Systems betrachtet werden. Die Beziehungen zwischen Politik und Medien in bezug auf die Gestaltung der Auslandsberichterstattung sind durch komplexe
Interaktionen gekennzeichnet, wobei Medien die Schwelle der öffentlichen Streitwürdigkeit eines Themas herabsetzen können und einen Thematisierungsdruck auf
die Politik erzeugen können, ohne dabei notwendigerweise die inhaltliche Richtung
politischer Entscheidungsprozesse substanziell zu beeinflussen (zumindest nicht aus
der Perspektive des Agenda-Setting-Ansatzes). Medien können jedoch außenpolitischen Entscheidungsprozessen einen Unsicherheitsfaktor hinzufügen, da sie zum
einen öffentliche Meinungen artikulieren, repräsentieren und formieren können (sog.
„Ressourcenfunktion“) und zum anderen Eigenthematisierungen vornehmen können
(sog. „Innovationsfunktion“), was normative Rollenvorstellungen einer Mitgestaltung des Journalisten in der Außenpolitik funktional bestätigt. In umgekehrter Richtung kann die Außenpolitik die Medien für staatliche Öffentlichkeitsarbeit, „Testballons“ zur Klärung politischer Optionen usw. nutzen.
Auslandsberichterstattung entfaltet ihre Thematisierungsfunktion in einem gesellschaftlichen Rahmen, der sich systemtheoretisch beschreiben läßt. Neben Autonomie
und Identitätsbildung stehen die Medien im demokratischen System im Austausch
mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen (wie dem politischen System) und Systemumwelten (wie dem politisch-wirtschaftlichen Komplex oder dem Publikum),
184
was gegenseitige Anpassungsleistungen nicht ausschließt und ein „Fließgleichgewicht“ zwischen Medien und Gesellschaft, insbesondere zwischen Medien und Politik impliziert. Auslandsberichterstattung unterliegt dabei spezifischen SystemUmwelt-Konfigurationen. Sie entfaltet sich prinzipiell in einem gesellschaftlichen
Rahmen, der sowohl durch nationale als durch inter- bzw. transnationale Systemkomponenten gekennzeichnet ist. Allerdings begünstigen das noch immer weitgehende Fehlen eines transnationalen politischen Systems und die strukturelle Schwäche der organisierten Öffentlichkeit (es gibt keine dem Einfluß etwa der Gewerkschaften vergleichbaren Interessenverbände mit internationaler Ausrichtung) die
Orientierung der Auslandsberichterstattung am nationalen politischen System oder
an anderen nationalen und kulturellen Prägungen des Auslandsbildes. Ungeachtet
des forcierten Ausbaus globaler Informations- und Nachrichtennetzwerke sind die
Massenmedien Presse, Radio und Fernsehen (von Medien mit spezifischem Auslandsauftrag wie der Deutschen Welle abgesehen) noch immer nachhaltiger in nationale Systemstrukturen und -märkte integriert als in transnationale Politik-, Gesellschafts- und Marktstrukturen. Das mediale Subsystem der Auslandsberichterstattung
läßt sich nur sehr bedingt als interdependenter Teil eines „kommunikativen Weltsystems“ beschreiben.
Ungeachtet der relativen Strukturschwäche international orientierter Publika sind
bestimmte internationale Themen geeignet, Publikumssysteme und andere nationale
Systemumwelten der Medien zu aktivieren, namentlich solche, die mit innen- und
gesellschaftspolitischen Fragen verbunden sind. Auslandsberichterstattung besteht
daher nur zu einem Teil aus Berichten über auswärtiges Geschehen (sog. foreign
news abroad) und erstreckt sich auch auf verschiedene Mischformen von In- und
Auslandsberichterstattung (sog. home news abroad oder foreign news at home).
Vorliegende Theoriematrix hat sich vor allem um die kategoriale Beschreibung dieser Nachrichtentypen bemüht, die in der theoretischen Literatur bisher überwiegend
dort lokalisiert worden sind, wo personale oder institutionelle Bezüge sichtbar geworden sind (z.B. deutscher Regierungsbesuch im Ausland), die von der Nachrichtenwerttheorie im Bereich des Nachrichtenfaktors „Ethnozentrismus“ verbucht werden. Nicht gelungen ist hingegen bisher eine theoretische Beschreibung thematischdiskursiver Bezüge, also innergesellschaftlicher Anschlußkommunikationen, die
gerade unter dem Aspekt der Globalisierung zum Tragen kommen. Während Auslandsberichterstattung partikularen (z.B. staatlichen und nationalen) Einflüssen ausgesetzt ist, bringt es die globale technische Vernetzung mit sich, daß Auslandsgeschehen zunehmend zu einem Resonanzboden für innergesellschaftliche Debatten
wird. Interne Diskursanschlüsse existieren in verschiedenen Formvarianten (synchron/diachron, pädagogisch/zweckfrei usw.), und sie werden durch die überwiegend
universelle Ausbildung und Professionalitätsentwicklung im Journalismus begünstigt. Vorschub geleistet wird der Bildung von Diskursfeldern, in denen inner- und
außerstaatliches Handeln koexistieren oder gar inhaltliche Verbindungen eingehen,
die die Darstellung des Auslandsgeschehens beeinflussen können. Anschlußdiskurse
und Sinnsynthesen bilden sich in der nicht-fiktionalen Auslandsberichterstattung
– im Unterschied zum Import von fiktionalen Genres – nicht allein im Konsumpti185
ons-, sondern bereits im Produktionsprozeß, d.h. im journalistischen Text. Reziproke
Textwirkungen müssen dabei nicht allein als „Deformation“, sondern können als
integraler Bestandteil von Globalisierung beschrieben werden, da sie in bezug auf
auswärtiges Geschehen aufmerksamkeitssteigernde Wirkungen haben können.
Eine Theorie, die den Anwendungsbezug zur Erklärung von Medieninhalten in
den Vordergrund stellt, kann nicht die tatsächlichen Wirkungen von Medien in der
internationalen Konfliktkommunikation bestimmen, da hierzu Wirkungsdaten und
integrierte Medienbild-Wirkungs-Untersuchungen erforderlich sind. Sie kann allerdings Wirkungspotentiale der Medien bestimmen, d.h. ob und unter welchen Textbedingungen Auslandsberichterstattung konflikteskalierend oder -verschärfend wirken kann. Die Stellung der Medien in der internationalen Konfliktkommunikation ist
nicht monokausal, sondern läßt sich theoretisch beschreiben, indem die Wirkpotentiale der Kommunikation im Rahmen politischer Interessen- und Machtkonstellationen und das Verhalten der Medien in internationalen Konflikten bestimmt werden.
Rollenmodelle der Medien als Co-Konfliktparteien, als Konfliktvermittler oder als
dritte Konfliktparteien werden zu Maßstäben der Beurteilung von Medieninhalten.
Ob und durch welche Modelle sich der Auslandsdiskurs der Medien im konkreten
Fall charakterisieren läßt, hängt nicht zuletzt von einer Reihe struktureller Bedingungen ab, in deren Rahmen Medien wirken, und die zugleich von den Medien beeinflußt werden können: von der Dramaturgie der Krisenkommunikation, vom Krisenverhalten gesellschaftlicher Eliten oder der strategischen politischen Kommunikation
von Politik und gesellschaftlichen Gruppen.
Im internationalen und interkulturellen Darstellungsprozeß wird die grundlegende Polysemie kultureller Zeichensysteme in den Medien in einem Deutungsprozeß
individuell oder kulturell kanalisiert, wodurch die Funktion von Journalisten als
zentralen „Sinn-Übersetzern“ zwischen den Kulturen bezeichnet ist. Dabei ist es von
besonderer Bedeutung, die implizit verwendeten Konzepte und Strategien der De/Enkodierung von Kulturen und ihrer medialen Aufbereitung zu bestimmen, da unterschiedliche Sprachen, Gebräuche und Kulturausformungen auf einer tieferen Bedeutungsebene sehr ähnliche oder gar identische Deutungen zulassen können, während umgekehrt scheinbar übereinstimmende Erscheinungen in verschiedenen Kulturkontexten zum Teil unterschiedlich interpretiert werden müssen. Für Darstellungsprozesse der Medien ist die Verwendung essentialistischer oder synkretistischer
Deutungskonzepte von Bedeutung, da hier eine journalistische Definition der Beziehung zwischen Kulturen erfolgt (Kulturkonflikt, Interkulturalismus, Transkulturalismus, Kulturimperialismus usw.), die politisch und gesellschaftlich relevant werden
kann. Im vorliegenden Theoriekonzept sind insbesondere die Rückwirkungen von
Kulturdeutungen der Auslandsberichterstattung auf die multikulturelle Gesellschaft
thematisiert worden.
Im Fall der transkulturellen Kommunikation durch Medien ist neben der Inhaltsauch die Beziehungsebene von Belang, da ähnlich wie bei der personalen Kommunikation auch unter den Bedingungen globaler Kommunikation Feedback- und Interaktionsprozesse zu beobachten sind. Vermittelt werden nicht allein Sachverhalte und
journalistische Deutungen, sondern auch indigene Diskurse, also die Eigendeutungen
186
einer Kultur über sich selbst oder über andere Kulturen. Wo eine solche Diskursreflexion in der Auslandsberichterstattung nicht oder nur geringfügig stattfindet, ist ein
Defizit globaler Gesprächspartnerschaften in den Medien zu konzedieren. Auf diese
Weise können Mängel der kulturellen Koorientierung und global wirksame Interaktionsblockaden entstehen, die – ebenso wie essentialistische Deutungen auf der Inhaltsebene der Kommunikation – einer Verschärfung von Kulturkonflikten in der
nationalen Auslandsberichterstattung Vorschub leisten können. Mangelnde Koorientierung des Mediendiskurses kann auf ungleiche Kräfteverteilungen zwischen Sender
und Empfänger, etwa zwischen den Medien der Industrie- und der Entwicklungsländer, hinweisen, wie sie beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage des Kulturimperialismus vielfach angenommen worden sind. Störungen der Kulturkommunikation auf der Beziehungsebene müssen jedoch im Grunde als universelles Phänomen
unter den Bedingungen geokultureller Distanz angenommen werden, denen nur
durch ein explizit interaktionistisches Verständnis der Auslandsberichterstattung zu
begegnen wäre.
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210
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis (Bd. 1)
Abbildungen
Abb. 3.1
Abb. 3.2
Abb. 3.3
Abb. 3.4
Abb. 3.5
Abb. 3.6
Abb. 3.7
Abb. 3.8
Abb. 3.9
Abb. 3.10
Abb. 3.11
Abb. 3.12
Abb. 3.13
Abb. 3.14
Abb. 3.15
Abb. 3.16
Auslandsberichterstattung (Idealtyp)
Global-Village-These
Domestizierungs-These
Theorie internationaler und interkultureller Darstellungsprozesse
Das Auslandsbild der Medien
Kontexte in der In- und Auslandsberichterstattung
Forschungsvernetzung zum medialen Auslandsbild:
MacBride-Bericht – Strukturtheoreme – Nachrichtenfaktoren
Mikrotheorie: Journalist und Auslandsberichterstattung
Mesotheorie: Mediensystem und Auslandsberichterstattung
Interesse an Auslandsberichterstattung deutscher Tageszeitungen
Themen-/Diskursfelder der In- und Auslandsberichterstattung
Auslandsberichterstattung und interne Anschlußkommunikation
Informations- und Nachrichtenfluß bei internationalen Konflikten
Medien in internationalen Konflikten: Rollenmodelle
Gleichheits-/Ungleichheitsbeziehungen zwischen Kulturen
Inter-/transkulturelle En-/Dekodierungsprozesse in der
Auslandsberichterstattung
26
26
26
32
50
66
71
85
90
94
145
149
156
162
166
170
Tabellen
Tab. 3.1
Tab. 3.2
Tab. 3.3
Tab. 3.4
Tab. 3.5
Tab. 3.6
Problemzonen der Nord-Süd-Kommunikation nach dem
MacBride-Bericht
Rangfolge der Beachtung von Weltregionen in der
Auslandsberichterstattung
Untersuchungen zum Negativismus
Relevante Bereiche individueller politischer Ideologiebildung
(Auswahl)
Nachrichtenagenturen in der In- und Auslandsberichterstattung:
die tageszeitung,1994-97
Systemumwelten und Umweltsysteme des Journalismus
54
60
61
74
97
127
211
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