Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil II

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Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil II
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokoll der Sitzung vom 30. Januar 2002
Protokollanten: Pablo Orellana, Daniela Janeva
Vorbereitung auf die Klausuraufgaben:
Die Begriffe der Poetik des Dramas sind an Beispielen zu veranschaulichen. Aus den im
Grundkurs herangezogen Dramen wurden folgende ausgewählt:
Sophokles: Antigone; - Shakespeare: Hamlet; - Schiller: Wilhelm Tell; - Ibsen: Die Wildente;
- Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame
Für die Veranschaulichung der Poetik des Erzählens kommen neben den Beispielen in den
Arbeitsunterlagen hinzu: Goethe: Die Wahlverwandtschaften; - Gottfried Keller: Kleider
machen Leute; Kafka: Ein Hungerkünstler
Wir arbeiten als Literaturwissenschaftler morphologisch und historisch, achten also
gegenüber der Abfolge der Zeitalter auf die Verwandlung der die Werke der Literatur zur
jeweiligen singulären Einheit organisierenden Gestaltgesetze. Mit der Poetik von Aristoteles
erscheint zum ersten Mal eine Literaturtheorie, die morphologisch denkt (Das Ganze ist mehr
als die Summe seiner Teile). Die Poetik zeigt, dass und wie Mimesis in anderer, heterogener
Weise Erfahrung erschließt (auch die Zeit selbst) als die von den möglichen Segmenten des
Messens ausgehende wissenschaftliche, prinzipiell experimentelle Forschung.
Es ist erstaunlich, wie sich seit dem Naturalismus auch die Dichtung in der Wahl ihrer Stoffe
und Verfahren von den Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens her verstehen will. Die Dichter
des Naturalismus orientieren sich dazu an dem im 19. Jahrhundert wissenschaftstheoretisch
begründeten Positivismus: John Stuart Mill, Hippolyte Taine. Claude Bernard gibt mit seinem
Programm einer experimentellen Medizin die Anregungen und Orientierungen für die
richtungweisende literarische Programmschrift von Emile Zola: Le roman expérimentale.
Der Experimentator interessiert sich für speziell ausgewählte und definit bestimmte Bestandteile
eines Gemenges (auf Menschen übertragen: race), außerdem für die dynamischen Eigenschaften
des Feldes, in das er die zu beobachtende Menge eingrenzt (auf Menschen übertragen: milieu),
und zuletzt für den kritischen Punkt, in dem die versammelten Faktoren zu einer Reaktion
gelangen oder gebracht werden können und in einen anderen Zustand übergehen: moment. Auf
die Literatur übertragen heißt das: Wie ein in moderner experimenteller Medizin geschulter Arzt
sollen Roman und Drama den Menschen unter den determinierenden Bedingungen seiner
Naturanlagen und seines gesellschaftlichen Umfelds zeigen – zeigen für eine wissenschaftlich
rational sensibilisierte Aufmerksamkeit, die wissenschaftlich experimentell in Konstellationen
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berechenbarer Faktoren eingreifen kann. Hier setzt dann das Projekt eines Theaters des
wissenschaftlichen Zeitalters von Brecht an.
Der literarische Naturalismus stieß auf Widerstand, es entstanden antinaturalistische
Strömungen. Aber auch diese Gegenströmungen fühlten sich durch die experimentellen
Verfahren des Artistischen, wie sich die Umsetzung eines solchen Programms entwickelte, nicht
nur herausgefordert, sondern auch beeinflusst. Zum Studium empfohlen wurde hier: Peter
Szondi: Theorie des modernen Dramas (ed. suhrkamp), ein Buch, dass zu Einführung in die
poetologischen Fragen der modernen Literatur ebenso grundlegend ist wie das früher genannte
von Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik.
Peter Szondi fragt, wie sich unter Menschen, die durch Vererbung (race) und Milieu
determiniert sind, Konflikte entstehen, die sich für dramatische Darstellung eignen. „Die
Wildente“ von Ibsen wird als analytisches Drama bezeichnet, aber die Charaktere, die wir
vorfinden, sind phlegmatisch und haben sich so mit ihren Lebensverhältnissen arrangiert, dass
sie daran nichts ändern und daher auch nicht erinnert werden wollen. Da muss, wie Peter Szondi
an den Theaterstücken der Naturalisten beobachtet, ein Katalysator, ein von außen
hinzukommender neugieriger Beobachter oder ein überreizter Störenfried wie Gegers Werle
hinzukommen, damit etwas in Bewegung kommt. Was in der „Wildente“ zuletzt geschieht, der
Tod der Hedwig, die mit dem, was Gregers von ihr verlangt, nämlich ihr Lieblingstier zu
erschießen, überfordert wird, ist ein Unglücksfall; er erschließt, wie ein Arzt resümiert, kein
Ethos, kein Erkennen und verändert nichts.
Dürrenmatt wirft in seinen dramaturgischen Schriften (Auszug in Arbeitsunterlagen: S. 38)
Brecht vor, sein Theatermodell sei darauf angelegt, zu zeigen, „wie man Probleme lösen kann“
Dürrenmatt setzt dagegen: „Wenn ich als Dramatiker Geschichten zu ende denke, kann ich
Probleme zeigen, aber lösen muss ich sie nicht“. In der grotesken Komödie „Die Physiker“ gibt
Dürrenmatt mit einer als Drama zu ende gedachten Geschichte ein Beispiel dafür, wie
ausschließlich problemorientierte Menschen scheitern müssen.
Als Beispiel für die im Sinne einer wissenschaftlichen Theorie verfassten Lehrstücke von Brecht
wird „Die Maßnahme“ besprochen. Das Theaterstück zeigt ein warnendes und die Akteure wie
die Zuschauer disziplinierendes Beispiel, wie man nicht handeln soll, wenn eine Revolution zu
gelingen hat. Dem jungen Genossen misslingt es, in unbedingtem Gehorsam gegenüber den
„wissenschaftlichen“ Lehren des Klassenkampfs seine Affekte zu unterdrücken und sein Leben
für die kommunistische Agitation zu erhalten. Brecht will also durch sein Theater der
Verfremdung, durch Verfremdungseffekte (V-Effekte) die Identifikation mit Leidenden und im
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Sinne der Schaffung einer besseren Welt durch Mitleid und Affekte gelenkt falsch Handelnden
verhindern. In dem jungen Genossen zeigt er jemanden, der seine Affekte nicht unter die
Kontrolle des steuernden Bewusstseins bringen kann. Der junge Genosse macht drei Fehler
Zuerst kann er sein spontanes philanthropisches Mitleid nicht unterdrücken. Dann treibt ihn sein
spontan aufsteigender Ekel davon, wenn er mit einem Kaufmann einen für die Revolution
nötigen Waffenkauf tätigen könnte. Zuletzt gefährdet er die Arbeit der Agitatoren, indem er im
Affekt einen Polizisten niederschlägt, so dass die Agitatoren insgesamt in Gefahr geraten,
identifiziert zu werden. Er ist aber zuletzt damit einverstanden, nach allen diesen Fehler sterben
und spurlos verschwinden zu müssen, da er zu gefährlich für den Erfolg der Partei geworden
war. Dieses Werk ist für einige Kritiker entgegen der Absicht von Brecht die authentische
Tragödie des 20. Jahrhunderts, da hier wir alle Momente des Dramatischen im Zusammenspiel
von Pathos, Peripetie und Anagnorisis finden.
Es wurde uns zuletzt “Eiszeit“ von Tankred Dorst zur Lektüre empfohlen als Beispiel eines
Theaters nach Brecht und als Zeugnis der Mentalität der jungen Generationen um 1970.
In ihrem Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung unterscheiden Goethe und Schiller
fünferlei Arten von Motiven: vorwärtsscheitende, rückwärtsschreitende, vorgreifende,
zurückgreifende und retardierende.
Was heißt
Motiv? - Motiv kommt von lateinisch movere = bewegen, bedeutet also ein
Bewegung schaffendes und in verschiedene Richtung lenkendes und entfaltendes, dynamisch
geladenes Element. Was wir in der Musik seit Carl Maria von Weber (Der Freischütz) und
Richard Wagner und dann auch in der Literatur als Leitmotiv verstehen, ist dagegen statisch,
ein wenn auch variierbares, aber in der Struktur fester Bestandteil, der in bestimmten
Situationen einer sich fortbewegenden Handlung das Verstehen dirigierend eintritt.
Die vorgreifenden, zurückgreifenden und retardierenden Motive verwenden sowohl der
epische wie der dramatische Dichter. Lakinoos rüstet für die Heimkehr des Odysseus ein Schiff
und lässt die Gastgeschenke zusammentragen – die Vision des sterbenden Freiherrn von
Attinghausen verheißt den glücklichen Ausgang des dramatischen Geschehens. In beiden Fällen
handelt es sich um ein vorgreifendes Motiv. Vorwärtsscheitende und rückwärtsschreitende
Motive aber bestimmen die Bewegungsrichtung in dem darzustellenden Geschehen. Vom Tod
Hektors, des stärksten Beschützers von Troja, will die Ilias erzählen; den Achill aber, der Hektor
töten wird, lässt Homer im ersten Gesang seines Epos weinend und mit dem festen Vorsatz, den
Krieg zu bestreiken, vom Kriegsschauplatz gehen. Das Motiv entfernt also die Handlung von
ihrem Ende, ist rückwärtsschreitend. Solche Motive sind wenig geeignet für den
Dramendichter, der vorwärtsschreitende Motive braucht: Antigone wird entgegen dem Gesetz
Polyneikes, koste es, was es wolle, begraben.
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