Elektronische Masterarbeiten

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Sauber, unpolitisch und professionell !?
Das „veröffentlichte“ Bild der Kriminalpolizei
des Dritten Reiches in Westdeutschland am
Beispiel der Publikationen Bernd Wehners
zwischen 1949 und 1989
Masterarbeit
von
Erik Glaeser
Betreuer: Dr. Wolfgang Schulte
Zweitprüfer: Ansgar Burchard
Saarbrücken, 20. Juli 2013
Inhaltsverzeichnis:
1.
Einleitung
4
2.
Die Kriminalpolizei als Teil des nationalsozialistischen Machtund Vernichtungsapparates
7
Die Kriminalpolizei in der Konsolidierungsphase (1933-1936) Gleichschaltung, personelle Kontinuitäten und der Kampf gegen
das „Berufsverbrechertum“
10
2.1
2.1.1 Organisation
2.1.2 Personal
2.1.3 Aufgaben/Tätigkeiten
2.2
Die Kriminalpolizei in der Phase von Expansion und Kriegsvorbereitung (1936-1939) - Unter Himmler vom Preußischen Landeskriminalpolizeiamt zum Reichskriminalpolizeiamt und dem
„Völkischen Polizeibegriff“
2.2.1 Organisation
2.2.2 Personal
2.2.3 Aufgaben/Tätigkeiten
2.3
Die Kriminalpolizei im Krieg (1939-1945) - Als Teil des
Reichssicherheitshauptamtes zwischen Personalmangel, Aufgabeninflation und Eskalation
2.3.1 Organisation
2.3.2 Personal
2.3.3 Aufgaben/Tätigkeiten
2.4
3.
3.1
Fazit
10
12
13
16
16
18
20
23
23
25
26
29
Die Publikationen Bernd Wehners zur Kriminalpolizei des Dritten Reiches zwischen 1949 und 1989
31
„Das Spiel ist aus - Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen
Kriminalpolizei“ (Der Spiegel 1949/1950)
36
3.1.1 Organisation
3.1.2 Personal
3.1.3 Aufgaben/Tätigkeiten
3.1.4 Fazit
37
38
40
40
3.2
„Im Namen des Gesetzes. Ein Kripochef zieht Bilanz“ (Rheinische Post 1970)
42
3.3
„Erlebte Kripo. Ein Rückblick auf 35 Jahre Kripodienst“ (Polizei+Verkehrsjournal 1972-1976)
43
1
3.4
„Dem Täter auf der Spur. Die Geschichte der deutschen Kriminalpolizei“ (Gustav Lübbe 1983)
3.4.1 Organisation
3.4.2 Personal
3.4.3 Aufgaben/Tätigkeiten
3.4.4 Fazit
3.5
„Vom Unrechtsstaat ins Desaster. Die Rolle der Kriminalpolizei
im Dritten Reich“ (Kriminalistik 1989)
3.5.1 Organisation
3.5.2 Personal
3.5.3 Aufgaben/Tätigkeiten
3.5.4 Fazit
4.
4.1
Rezeption und Legendenbildung
Fachbeiträge
46
47
47
48
50
51
51
52
54
56
57
4.1.1 Walter Zirpins: Die Entwicklung der polizeilichen Verbrechensbekämpfung in Deutschland (1955)
4.1.2 Hans Jess: Die Not der Kriminalpolizei (1956)
4.1.3 Friederike Wieking: Die Entwicklung der weiblichen
Kriminalpolizei von den Anfängen bis zur Gegenwart
(1958)
4.1.4 Wolfgang Ullrich: Verbrechensbekämpfung (1961)
4.1.5 Paul Dickopf/Rolf Holle: Das Bundeskriminalamt
(1971)
4.1.6 Rudolf Sieverts/Hans Joachim Schneider: Handwörterbuch der Kriminologie (1977)
4.1.7 Hans Groß/Friedrich Geerds: Handbuch der Kriminalistik (1978)
4.1.8 Herbert Kosyra: Die deutsche Kriminalpolizei (1980)
4.1.9 Robert Harnischmacher/Arved Semerak: Deutsche Polizeigeschichte. Eine allgemeine Einführung in die
Grundlagen (1986)
4.2
45
Sonstige Veröffentlichungen
57
58
59
60
62
62
63
63
64
65
4.2.1 Frank Arnau: Das Auge des Gesetzes. Macht und Ohnmacht der Kriminalpolizei (1962)
4.2.2 Alexander Harder: Kriminalzentrale Werderscher Markt
(1965)
4.2.3 Hans Bernd Gisevius: Wo ist Nebe? Erinnerungen an
Hitlers Reichskriminaldirektor (1966)
4.2.4 Jörg Andreas Elten: Deutschland Deine Kripo (1967)
4.2.5 Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS (1967)
4.2.6 Armand Mergen: Die BKA-Story (1987)
2
65
65
67
68
69
70
4.2.7 Jochen von Lang: Die Gestapo. Instrument des Terrors
(1990)
4.3
5.
5.1
Legendenbildung
71
Motive, Funktionen und Folgen
Motive und Funktionen
Folgen
78
80
81
82
5.2.1 Personal
5.2.2 Mentalitäten und Einstellungen
5.2.3 Kriminalpolizeiliche Praxis/Konzepte
6.
74
77
5.1.1 Individuelle Ebene
5.1.2 Organisatorische Ebene
5.1.3 Gesellschaftliche Ebene
5.2
71
83
84
86
Schluss
91
Abkürzungsverzeichnis
95
Quellenverzeichnis
98
Literaturverzeichnis
99
Anhang 1: Kurzbiographien
111
Anhang 2: Kriminalfälle
118
Erklärung
3
1. Einleitung:
Losgelöst von der Frage, ob es so etwas wie eine „objektive“ Wahrheit überhaupt
gibt, ist die Vorstellung, die wir uns von der Realität machen, entscheidender als
die Realität selbst. Aus diesem Grund gibt es schon seit vielen Jahrhunderten
Kämpfe um die Deutungshoheit hinsichtlich der Darstellung von Gegenwart und
Geschichte. Meist geht es hierbei um Aufbau oder Erhalt von Macht und Einfluss.
So versucht die katholische Kirche seit ihrer Gründung, die Geschichte und ihre
Rolle darin in ihrem Interesse zu interpretieren und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Insbesondere bei gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen erhält die
(Um-)Deutung „der“ Wahrheit eine besondere Bedeutung und Intensität. So war
das deutsche Volk nach dem Zusammenbruch von 1945 geschlagen, traumatisiert
und stand buchstäblich vor den Trümmern seiner Politik. Vor dem Hintergrund
des Neuaufbaus, der Gründung von BRD und DDR sowie des heraufziehenden
Ost-West-Konfliktes entstand schnell ein Klima des Verschweigens und Verdrängens der jüngsten Vergangenheit. Darin sahen sich die Deutschen plötzlich nicht
mehr als Täter, sondern als Opfer:
Das klassische Vergangenheitsmodell [...] entspricht der Raumschifftheorie des
Nationalsozialismus, die in etwa besagt, dass 1933 ein UFO gelandet ist, aus dem
‚die Nazis‘ ausgestiegen sind, das deutsche Volk und besonders seine Eliten verführt und zu beispiellosen Verbrechen verleitet haben, um dann, nach dem Holocaust und dem verlorenen Krieg, einfach wieder abzufliegen und ein diffus schuldbewusstes, im Ganzen aber doch unschuldiges und erheblich irritiertes Volk zurückzulassen (Welzer 2007, 562).
Auch der deutschen Kriminalpolizei gelang es schnell, sich dieser Geschichtsklitterung anzuschließen. Obwohl sie ein wichtiger Teil des staatlichen Machtapparates war, stufte der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg (IMG) lediglich
die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die Schutzstaffel (SS) und den Sicherheitsdienst (SD) als verbrecherische Organisationen ein und verbot diese (Vgl. Wildt
2002, 750-755). Hierbei hatte die Kripo das „Glück“, dass die Alliierten kein besonderes Interesse an den Opfern ihrer Kriminalpolitik hatten (Vgl. Wagner 2002,
154f.). Viele ihrer Maßnahmen wurden justiziell nicht aufgearbeitet. Ebenso profitierte sie davon, dass ihre „im Wortsinne mörderische Strategie“ (Wagner 1996,
9) im „toten Winkel geschichtswissenschaftlichen Interesses“ lag (Reinke 2008,
149). So bestimmten lange Zeit Publikationen außerhalb der Geschichtsschrei-
4
bung als sogenannte „Public History“ (Vgl. Bösch/Goschler 2009, 7-23) das Bild
der westdeutschen Gesellschaft über „Hitlers Kriminalisten“.1
Bei diesen Veröffentlichungen stößt man häufig auf den Namen von Dr. Bernd
Wehner. Das ehemalige Mitglied des Reichssicherheitshauptes (RSHA) und der
SS schrieb zwischen 1949 und 1989 mehrere Beiträge zur Geschichte der Kriminalpolizei des Dritten Reiches. Ob er tatsächlich längere Zeit das „Monopol auf
die Darstellung der Kripo-Geschichte im Nationalsozialismus“ hatte (Wagner
2002, 10), kann nicht abschließend bewertet werden. Jedoch transportierte er 1949
erstmals (damals noch anonym) mit seiner 30-teiligen Spiegel-Serie „Das Spiel ist
aus - Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei“ Botschaften
und Bilder zu Hitlers Kriminalpolizei in große Bereiche der „neuen“ westdeutschen Gesellschaft. Er
huschte in schnoddrigem Kasinoton über die heiklen Aspekte der Kripogeschichte
hinweg, um sich desto intensiver kriminalistischen Ermittlungserfolgen in spektakulären Mordfällen zu widmen und den vermeintlich unpolitischen Charakter sowie die Distanz der Kriminalisten zu Gestapo und SS zu betonen. Wenig wurde
völlig verschwiegen, aber durch Formulierungen und Gewichtungen alles Problematische bis zur Unkenntlichkeit heruntergespielt. (Wagner 2003, 185)
Ähnliche Stilmittel und Botschaften finden sich auch in anderen westdeutschen
Publikationen. Vorliegende Arbeit befasst sich mit den Werken Bernd Wehners
als bundesrepublikanisches „Modell“ der Geschichtsschreibung zur Reichskriminalpolizei2, ihrem Einfluss auf die Aussagen anderer Autoren, den zugrundeliegenden Motiven sowie den daraus resultierenden Folgen.
Bei der Beschäftigung mit der Geschichte der Kriminalpolizei stellt man schnell
fest, dass ihre Traditionslinien manche gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozesse überdauern. Viele „frühere“ Themen und Aspekte beeinflussen die
heutige kriminalpolizeiliche Arbeit: So bestimmt der in der Weimarer Republik
eingeführte Kriminalpolizeiliche Meldedienst (KPMD) noch heute maßgeblich
die Auswertearbeit der Kriminalpolizei. Dieser Meldedienst basiert auf dem kriminologischen Konzept des „Berufsverbrechers“, aufgrund dessen die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ im Dritten Reich eingeführt wurde (Vgl. Ahlf
2002, 2; Ziffer 2.1.3). Weiterhin gehen diverse aktuelle Befugnisse auf national-
1
2
Buchtitel des Werkes von Patrick Wagner zur Kriminalpolizei des Dritten Reiches (2002).
Deutsche Kriminalpolizei zwischen ihrer Verreichlichung 1936/1937 (Ziffern 2.1.1; 2.2.1) und
dem Kriegsende 1945.
5
sozialistische Gesetzgebung zurück (z.B. §§ 81 a, b StPO: Ausführungsgesetz
zum „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der
Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933; RGBL I 1933, 1000-1010)
und prägen immer noch die Alltagsarbeit. Auch in neueren kriminalpolitischen
Debatten wie um die Erweiterung der Sicherungsverwahrung (Stichwort: „Wegsperren, und zwar für immer!“) werden frühere Kontroversen aufgegriffen: Der
Streit um das „Bewahren“ in der Weimarer Republik führte kurz nach der Machtübernahme 1933 zur Einführung der Sicherungsverwahrung für „Gewohnheitsverbrecher“ (Vgl. Wagner 1988, 77ff.; Ziffer 2.1.3). Auch bei der Einführung des
§ 112a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr) gab es heftige Debatten aufgrund des Begriffs der „Vorbeugungshaft“ (Vgl. Terhorst 1985, 1). Die mangelhafte Kenntnis historischer Zusammenhänge - aber auch die bewusste Verwendung historisch „belasteter“ Begriffe - kann auf diese Weise durchaus sinnvolle
Maßnahmen nachhaltig diskreditieren (ebd., 2). So sollte man in der Diskussion
um die Ausweitung präventiver polizeilicher Befugnisse im Rahmen der „Vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ (Stichwort „Präventionsstaat“) zumindest
Hintergründe und Ausmaß der Eskalation der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ im Dritten Reich kennen, um entsprechend (sensibel) argumentieren
zu können.
Als Ausgangspunkt dieser Arbeit und „Kontrast“ zu dem „publizierten“ Bild der
Reichskriminalpolizei in Westdeutschland 3 wird zunächst der aktuelle Forschungsstand hinsichtlich der Organisation der Kriminalpolizei, ihrem Personal
sowie ihrer Beteiligung an dem nationalsozialistischen Unrechtsregime dargestellt
(Ziffer 2). Anschließend werden die unterschiedlichen Werke Wehners zur Kripo
im Dritten Reich zwischen 1949 und 1989 vor dem Hintergrund seiner Biographie
untersucht, auch in Bezug auf mögliche inhaltliche Entwicklungen (Ziffer 3). Im
nächsten Kapitel geht es um die Rezeption seiner Botschaften und Aussagen
durch andere Autoren und die damit verbundene Legendenbildung einer „sauberen, unpolitischen und professionellen“ Kriminalpolizei des Dritten Reiches in der
bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft (Ziffer 4). Als Abschluss werden
Motive und Funktionen dieser Publikationen dargestellt sowie die Folgen für die
3
In der DDR verlief die Aufarbeitung der kriminalpolizeilichen Vergangenheit nach einem anderen Muster. Diese Arbeit befasst sich nicht mit diesem Aspekt.
6
kriminalpolizeiliche Arbeit in der BRD aufgezeigt (Ziffer 5). Im Anhang finden
sich Kurzbiographien zu den wichtigsten im Text aufgeführten Mitgliedern der
der Kriminalpolizei. Darüber hinaus sind dort die öffentlichkeitswirksamsten
Kriminalfälle der NS-Zeit - mit Ausnahme der Attentatsversuche auf Adolf Hitler
- skizziert, welche Wehner regelmäßig in seinen Werken schilderte.
Grundlage dieser Arbeit sind neben aktuellen wissenschaftlichen Werken insbesondere Publikationen (Bücher, Zeitschriften), die zwischen 1949 und 1989 in
Westdeutschland veröffentlicht wurden. Darüber hinaus wurden auch Beiträge
und Gesetzestexte aus der nationalsozialistischen Zeit sowie einige Archivalien
ausgewertet. Als wissenschaftliche Methode kam die Hermeneutik als „Kunstlehre der Interpretation von schriftlich fixierten Texten“ zur Anwendung (Brockhaus
2006, Bd. 12, 348). Ziel dieser „Theorie des Verstehens und Methodologie der
Interpretation“ ist es, die Intention des Verfassers sowie die „subjektive“ Wahrheit des Textes zu erfassen und ihn in den bestehenden historischen Kontext einzuordnen, um auf diese Weise ein möglichst objektives Bild über das Forschungsobjekt zu erhalten (ebd.). Hierzu werden Texte und Dokumente besonders vor
dem Hintergrund der Biographie des Verfassers, des Zeitpunktes der Fertigung
und Veröffentlichung sowie der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen analysiert und bewertet.
Neben wörtlichen Zitaten wurden in dieser Arbeit auch solche Begriffe in Anführungszeichen gesetzt, die im Nationalsozialismus zum üblichen Sprachgebrauch
zählten, heute jedoch einen verharmlosenden, diskriminierenden oder rassistischen Charakter besitzen.
2. Die Kriminalpolizei als Teil des nationalsozialistischen Machtund Vernichtungsapparates:
Die Polizei war lange Zeit kaum Gegenstand professioneller historischer Forschung. Erst seit Mitte der 1980er-Jahre entwickelte sich langsam eine „Neue Polizeigeschichte“ mit einer Vielzahl von öffentlichkeitswirksamen Publikationen
(Vgl. Reinke 2008, 143). Auch der „Blick auf die Tätigkeit der Kriminalpolizei
im ‚Dritten Reich‘ [war, d. Verf.] von professioneller Verdrängung und geschichtswissenschaftlichem Desinteresse, Apologie und Amnesie blockiert.“
(Roth 2009, 539) Hinzu kam, dass vorhandenes wissenschaftliches Interesse meist
7
der Gestapo galt (Vgl. Reinke 2008, 144f.). Seit Beginn der „Neuen Polizeigeschichte“ ist jedoch ein verstärktes Interesse an der Geschichte der Kriminalpolizei im Dritten Reich zu registrieren (Vgl. Reinke 2000, 52). So erschienen unter
anderem wissenschaftliche Beiträge über kriminalpolizeiliche Opfergruppen 4 ,
rechtliche Aspekte5, das Vorgehen der Einsatzgruppen6 sowie Einzel-7 und Sammelbiographien8. Grundlegend zur Geschichte der Kriminalpolizei sind die Veröffentlichungen von Patrick Wagner.9 Ergänzt werden diese Werke durch umfangreiche regionale Untersuchungen.10
Als zentrale kriminalpolizeiliche Einrichtung der BRD befasst sich das Bundeskriminalamt (BKA) seit einigen Jahren mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte und veröffentlichte in diesem Zusammenhang bislang mehrere Werke.11
Das Projekt der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster (DHPol) mit dem
Titel „Die Polizei im NS-Staat“ setzte sich mit der Entgrenzung staatlicher Gewalt
im Nationalsozialismus auseinander und stellte auch die Rolle der Kriminalpolizei
und ihren Beitrag an den Verbrechen des Nationalsozialismus dar.12
4
Beispielhaft: Luchterhandt, Martin 2000: Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der
nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“. Lübeck (Schmidt-Römhild).
5
Beispielhaft: Werle, Gerhard 1989: Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung
im Dritten Reich. Berlin, New York (Walter de Gruyter).
6
Beispielhaft: Rhodes, Richard 2004: Die deutschen Mörder. Die SS-Einsatzgruppen und der
Holocaust. Bergisch-Gladbach (Gustav Lübbe).
7
Beispielhaft: Kiess, Walter 2011: Der Doppelspieler. Reichskriminaldirektor Arthur Nebe zwischen Kriegsverbrechen und Opposition. Stuttgart (Gatzanis).
8
Beispielhaft: Wildt, Michael 2002: Generation des Unbedingten. Das Führungskops des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg (Hamburger Edition).
9
Wagner, Patrick 1996: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher: Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Hamburg (Hans
Christians); Wagner, Patrick 2002: Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der
Nationalsozialismus. München (Beck).
10
Beispielhaft: Buhlan, Harald; Jung, Werner (Hrsg.) 2000: Wessen Freund und wessen Helfer?:
die Kölner Polizei im Nationalsozialismus. Köln (Emons).
11
BKA (Bundeskriminalamt) (Hrsg.) 2008: Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte.
Dokumentation einer Kolloquienreihe. Köln (Luchterhand); Baumann, Imanuel; Reinke, Herbert; Stephan, Andrej u.a. 2011: Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik. Köln (Luchterhand).
12
Schulte, Wolfgang (Hrsg.) 2009: Die Polizei im NS-Staat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Frankfurt am Main (Verlag für
Polizeiwissenschaft); DHPol (Deutsche Hochschule der Polizei); Dierl, Florian; Hausleitner, Mariana u.a. (Hrsg.) 2011: Ordnung und Vernichtung - Die Polizei im NS-Staat. Eine Ausstellung
der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster, und des Deutschen Historischen Museums, Berlin vom 01. April bis 31. Juli 2011 (Ausstellungskatalog). Dresden (Sandstein). Darüber hinaus
gaben die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) und die DHPol 2012 Unterrichtsmaterialien zu diesem Thema mit dem Titel „ ‚Nicht durch formale Schranken gehemmt‘ - Die deutsche
Polizei im Nationalsozialismus“ heraus.
8
Trotz vieler Publikationen existieren zu einigen Facetten der kriminalpolizeilichen
Arbeit im Dritten Reich nur wenige Erkenntnisse. So wurde die Arbeit der regionalen Dienststellen - besonders in den besetzten und annektieren Gebieten - bislang kaum untersucht. Dies ist vor allem auf die schlechte Quellenlage zurückzuführen (Vgl. Reinke 2000, 53). Zudem lag der Fokus bislang auf der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“; das Vorgehen im Rahmen der hergebrachten
Strafverfolgung sowie das Verhältnis zur Staatsanwaltschaft (StA) und der übrigen Justiz blieb lange Zeit weitgehend unbeachtet (Vgl. Reinke 2008, 146).13 Unabhängig von diesen Einschränkungen kam es jedoch zu einer „intensiven wie
objektiven Auseinandersetzung mit den Schattenseiten deutscher Polizei“ (Kunz
2010, 16), welche auch die Kripo als einen „integralen Bestandteil des NSTerrorapparates“ (Roth 2009, 539) stärker in die öffentliche Wahrnehmung rückte.
Der Prozess der „Entzivilisierung der Polizeiarbeit“ (Heuer 2008, 65) wurde dabei
maßgeblich durch zwei Aspekte geprägt: Verreichlichung und Entstaatlichung der
Kriminalpolizei. 14 Unter Verreichlichung versteht man die Zentralisierung des
ehemals föderal angelegten Polizeiwesens, den reichsweiten Zugriff auf alle Organisationeinheiten durch eine Zentralinstanz sowie eine straffe, standardisierte
Aufbau- und Ablauforganisationen (Vgl. Wilhelm 1997, 63). Unter Entstaatlichung wird die Herauslösung der Polizei aus der regulären Verwaltung, die sukzessive Beseitigung justizieller Kontrolle sowie die Verschmelzung von Polizeiund Parteieinheiten zu einem „Staatsschutzkorps“ verstanden. Parallel zu diesen
inhaltlichen Prozessen kann die Entwicklung der Kriminalpolizei auch in verschiedene zeitliche Phasen eingeteilt werden.15
13
Thomas Roth befasst sich in seiner Dissertation auch mit dem Aspekt der Strafverfolgung sowie
dem Verhältnis zwischen Kriminalpolizei und Justiz am Beispiel der Stadt Köln: Roth, Thomas
2010: „Verbrechensbekämpfung“ und soziale Ausgrenzung im nationalsozialistischen Köln.
Köln (Emons). Darüber hinaus wird derzeit ein Projekt zur kriminalpolizeilichen Arbeit in Berlin
durchgeführt (Vgl. Dobler, Jens; Reinke, Herbert 2009: Sichere Reichshauptstadt? Kripo und
Verbrechensbekämpfung 1933-1945. Aus: Schulte, Wolfgang (Hrsg.) 2009: Die Polizei im NSStaat. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Deutschen Hochschule der Polizei in
Münster. Frankfurt am Main (Verlag für Polizeiwissenschaft). S. 655-685.)
14
Die anderen Sparten der Polizei waren von diesen Prozessen gleichermaßen betroffen.
15
Wagner (2009, 29) spricht in einem aktuelleren Beitrag von fünf Phasen der Polizeigeschichte
im Dritten Reich. In seinem 2002 erschienenen Buch zur Kriminalpolizei wählt er dagegen drei
Phasen: Machtergreifungsphase 1933 bis 1936, die Wende zur Gesellschaftsbiologie 1937 bis
1942 sowie die Kripo in der Katastrophengesellschaft 1942 bis 1945. Wilhelm spricht in seinem
1997 erschienenen Buch ebenfalls von drei Entwicklungsschritten: Zugriff der Nationalsozialisten auf die Polizei, die Verreichlichung der Polizei und ihre Verschmelzung mit der SS sowie die
9
2.1
Die Kriminalpolizei in der Konsolidierungsphase der Diktatur (1933-1936) Gleichschaltung, personelle Kontinuitäten und der Kampf gegen das „Berufsverbrechertum“:
2.1.1 Organisation:
In der Weimarer Republik fiel die Polizeihoheit fast ausschließlich in die Zuständigkeit der einzelnen Länder (Vgl. Tuchel/Schattenfroh 1987, 45). Preußen hatte
dabei im Länderverbund aufgrund seiner Bevölkerung und Fläche eine exponierte
Vormachtstellung (ebd., 46).16 Insgesamt gab es 140.000 Polizeibeamte im Deutschen Reich, davon 90.000 in Preußen (ebd., 47). Das Berliner Polizeipräsidium
war mit 22.000 Beamten die größte Polizeibehörde im Reich und verfügte 1932
über 2360 Kriminalbeamte (Vgl. Liang 1977, 142; Tuchel/Schattenfroh, 53). Dort
war auch seit 1925 das Preußische Landeskriminalpolizeiamt (PLKPA) 17 angebunden, welches als Zentralstelle die landesweite Standardisierung der kriminalpolizeilichen Arbeit vorantreiben und den Informationstausch zwischen den nachgeordneten Dienststellen sowie den anderen Landeskriminalämtern (LKÄ) des
Deutschen Reichs gewährleisten sollte (Vgl. Liang 1977, 140).18 Professionalisierung und Spezialisierung gab es bei der Kriminalpolizei grundsätzlich nur in größeren Städten mit ausreichenden Personal- und Sachmitteln. Die Kripo in Berlin
nahm dabei reichsweit eine Vorreiterstellung ein (Vgl. Wagner 1996, 80-86).
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten übernahm Hermann Göring als
Reichsminister ohne Geschäftsbereich kommissarisch die Leitung des preußischen Innenministeriums (Vgl. Wilhelm 1997, 37).19 In der Folge kam es zur na-
Machtausweitung der Polizei im Kriege. Für vorliegende Arbeit wird zur Darstellung des aktuellen Forschungsstandes die Einteilung 1933-1936, 1936-1939 und 1939-1945 verwendet. Hierbei
werden jeweils die Bereiche Organisation, Personal sowie Aufgaben/Tätigkeiten betrachtet.
16
Die Darstellung des Aufbaus der gesamten Kriminalpolizei in den Ländern der Weimarer Republik kann an dieser Stelle aufgrund deren Vielfältigkeit und dem „Nebeneinander“ von kommunalen und staatlichen Kriminalpolizeidienststellen nicht erfolgen. Aufgrund der besonderen
Bedeutung - auch für die spätere Entwicklung im Dritten Reich - beschränkt sich die Darstellung
auf die Kriminalpolizei in Preußen bzw. Berlin (Vgl. Wagner 2002, 12f.).
17
In allen Ländern der Weimarer Republik wurden bis 1930 solche zentralen Landeskriminalbehörden bzw. Landeskriminalämter (LKÄ) eingerichtet (Vgl. Wagner 1996, 116).
18
Das PLKPA hatte bereits reichsweite Aufgaben: Führung einer zentralen Fingerabdruckkartei,
Zentralstelle für Falschmünzerei, Verbrechen in Schnellzügen sowie Mädchenhandel und Pornographie. Vergleichbare Zentralstellen gab es bei den LKÄ in München („Zigeunerangelegenheiten“) und Dresden (zivile Vermisste, Identifizierung von Leichen) (Vgl. Liang, 140f.).
19
Die Übernahme erfolgte aufgrund der Notstandsgesetzgebung der Weimarer Reichsverfassung.
Bereits im Sommer 1932 übernahm die Reichsregierung im Rahmen des sogenannten „Preußen-
10
tionalsozialistischen Gleichschaltung aller Länder nach Vorbild des „Preußenschlages“.20 Am 30. Januar 1934 gingen die Hoheitsrechte der Länder mit dem
„Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ (RGBL I 1934, 75) auch formell auf das
Reich über. Reichsinnenminister Wilhelm Frick beanspruchte in der Folge das
Recht der Polizeihoheit und die unmittelbare Befehlsgewalt über die Polizeien der
entmachteten Länder (Vgl. Wilhelm 1997, 61). Somit hatten die Nationalsozialisten spätestens zu diesem Zeitpunkt über das Reichsinnenministerium zentralen
Zugriff auf alle Länderpolizeien einschließlich der Kriminalpolizei.21
Für die künftige Organisation der Kriminalpolizei hatten die Nationalsozialisten
keine eigenen Vorstellungen und Programme (Vgl. Wagner 2008, 98). Vielmehr
griffen sie auf die Vorstellungen führender Kriminalbeamter aus der Weimarer
Republik zurück, die seit Jahren eine starke kriminalpolizeiliche Zentralstelle mit
eigenen Weisungsbefugnissen sowie eine reichsweite Standardisierung und Professionalisierung der Kriminalpolizei forderten (Vgl. Wagner 1996, 111-114).22 In
der Folge wurde das PLKPA im Dezember 1934 aus dem Berliner Polizeipräsidium herausgelöst und damit zur „Keimzelle des künftigen Reichskriminalpolizeiamtes“ (Wagner 1996, 233).
Zwischen Reichsinnenminister Frick und dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler23 entbrannte währenddessen ein Machtkampf um die Führung der Deutschen
Polizei. Himmler gewann die Auseinandersetzung und wurde am 17. Juni 1936
zum „Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des
Inneren“ (RFSSuChdDtPol.) ernannt (RGBL I 1936, 487f.). Er war vom Status
formell einem Staatssekretär unter Frick gleichgestellt, faktisch meist nur Adolf
Hitler weisungsgebunden (Vgl. Wilhelm 1997, 75f.). Damit waren die Grundla-
schlages“ kommissarisch die preußische Regierungskompetenz. Dabei wurden auch mehrere leitende Polizeibeamte von Preußen und Berlin entlassen (Vgl. Wilhelm 1997, 32-36).
20
Die Maßnahmen des sogenannten „Preußenschlages“ dienten „den nationalsozialistischen
Machthabern als Vorbild für die Übernahme der Polizeigewalt durch Reichskommissare auch in
den außerpreußischen Ländern.“ (Wilhelm 1997, 36)
21
Zusätzlich erfolgte am 01. November 1934 die Zusammenlegung des Preußischen Innenministeriums mit dem Reichsinnenministerium unter Reichsinnenminister Frick.
22
Tatsächlich wurde bereits 1922 zum Kampf gegen das reisende „Berufsverbrechertum“ das
„Reichskriminalpolizeigesetz“ vom Reichstag verabschiedet (RGBL I 1922, 593). Die tatsächliche Einrichtung des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) mit reichsweiten administrativen und
operativen Zuständigkeiten wurde jedoch aufgrund des Widerstands von Preußen und Bayern nie
vollzogen (Vgl. Wagner 2002, 19).
23
Himmler war es gemeinsam mit Reinhard Heydrich gelungen, nach der Machtübernahme die
Befehlsgewalt über die Politischen Parteien aller Länder an sich zu ziehen. Am 20. April 1934
wurde er auch Inspekteur der Geheimen Staatspolizei Preußens (Vgl. Wilhelm 1997, 43f.).
11
gen für eine Verreichlichung der Polizei einschließlich der Kriminalpolizei geschaffen (Vgl. Wagner 1996, 234): „Die Bestellung des Reichsführers SS zum
Chef der Deutschen Polizei am 17. Juni 1936 brachten deren endgültige Umwandlung in ein Instrument der Führergewalt.“ (Mallmann/Paul 1991, 280) Zugleich
begann damit für die Kriminalpolizei der Prozess der „Entstaatlichung und Verklammerung mit der SS“ (ebd.).
2.1.2 Personal:
Im Rahmen der Gleichschaltung sowie aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (RGBL I 1933, 175) wurden in allen Sparten der
Polizei und in allen Laufbahngruppen Beamte entlassen. Bei der Kriminalpolizei
Preußens waren insgesamt 103 Beamte (1,5 %) betroffen, im Bereich der höheren
Beamten 70 (11,1 %) (Vgl. Dams 2004, 480). Bei den Kriminalisten gab es somit
eine große personelle Kontinuität: „Von wirklich tiefgreifenden personellen Umbrüchen wird man freilich nicht sprechen können.“ (ebd.)
„[D]er Prozess der politischen Gleichschaltung in den ersten Monaten des Dritten
Reiches [wurde, d. Verf.] zum größten Teil von der Polizei selbst abgewickelt“
(Liang 1977, 184). Im Frühjahr 1932 gründeten führende Beamte der Berliner
Kriminalpolizei die Fachschaft Kriminalpolizei innerhalb der Nationalsozialistischen Beamten-Arbeitsgemeinschaft (NSBAG), welche in der Wahl zum Beamtenausschuss des Berliner Polizeipräsidiums im Dezember 1932 alle Sitze für die
Vertreter der höheren Kriminalbeamten gewann (Vgl. Wagner 2002, 50f.). 24 Nach
der Machtergreifung der Nationalsozialisten traten viele Kriminalbeamte der
NSDAP bei (Vgl. Wagner 1996, 185).
Die meisten Kriminalbeamten waren keine überzeugten Nationalsozialisten, die
Motive für den fast reibungslosen personellen Übergang von der Republik zur
Diktatur waren vielfältig. Liang (1977, 170) spricht von einer Wechselbeziehung
zwischen „antirepublikanischen Gefühlen“ und „beruflicher Unzufriedenheit“.
Die schlechte Beförderungssituation, Überstundenberge, die schlechte Ausstattung und die Nichtwürdigung der Arbeit führten zu einer „chronische[n] Unzufriedenheit“ bei den Beamten (Dams 2004, 479). Viele Beamten „haderten“ auch
24
Wagner (2002, 50) spricht davon, dass die „Machtergreifung der Nationalsozialisten [...] innerhalb der Berliner Kriminalpolizei schon im Dezember 1932“ begann.
12
mit den rechtsstaatlichen Grenzen der Republik, dem bürokratischen Alltag sowie
negativ verlaufenen Ermittlungen, die als persönliche Niederlagen verstanden
wurden (Vgl. Wagner 1996, 181; Wagner 2002, 38f.). Vor diesem Hintergrund
sahen besonders höhere Kripo-Beamte die Machtübernahme der Nationalsozialisten als Möglichkeit, durch eine Verschärfung der Kriminalpolitik und eine größere Autonomie der Kriminalpolizei die Kriminalität effektiver zu bekämpfen, gar
zu besiegen (Vgl. Wagner 1996, 137-145). Zudem eröffneten sich ihnen viele
neue Aufstiegsmöglichkeiten (Vgl. Dams 2004, 481).
Unterhalb der kriminalpolizeilichen Führungseliten gab es zahlreiche Beamte, die
unter den neuen Machthabern wie bisher weiterarbeiteten (ebd., 482), sei es zur
Sicherung der eigenen existenziellen Grundlage oder aus gruppendynamischen
Motiven: So führte ein „Klima gegenseitiger Verdächtigung und Selbstrechtfertigung“ (Roth 2009, 548) zu einem hohen Anpassungsdruck der Beamten vor Ort.
Daneben versuchten die neuen Machthaber, durch beginnende weltanschauliche
Schulung der Beamten sowie eine positive Propaganda über die effektive und
schlagkräftige Kriminalpolizei die Beamten vor Ort in das Regime zu integrieren
(ebd., 550 f.).
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass das kriminalpolitische Vorgehen der Nationalsozialisten und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten in großen Teilen der
Kriminalpolizei begrüßt wurden (Vgl. Dams 2004, 482; Roth 2009, 551-555).
Trotz aller Kontinuitäten hatte die Kriminalpolizei mit personellen Problemen zu
kämpfen: So verlor sie bis 1935 2.000 Beamte an die Geheime Staatspolizei und
verfügte im April 1936 nur noch über 8.300 Beamte (Vgl. Wilhelm 1997, 73f.).
Der akute Personalmangel wurde mit Rationalisierungsprozessen (Vgl. Wagner
1996, 196f.) sowie Neueinstellungen teilweise kompensiert.
2.1.3 Aufgaben/Tätigkeiten:
Viele während der Weimarer Republik in Berlin gemachten kriminalpolizeilichen
Erfahrungen und die daraus resultierenden Strategien und Konzepte waren maßgeblich für das künftige reichsweite Vorgehen der Kriminalpolizei (Vgl. Wagner
1996, 189). Die ersten Monate nach der Machtübernahme standen zunächst im
13
Fokus kurzfristiger Maßnahmen sowie der „Begleichung alter Rechnungen“. 25
Ziel der weiteren mittel- und langfristigen kriminalstrategischen Maßnahmen war
der Kampf gegen das „Berufsverbrechertum“ (Vgl. Wagner 2002, 56). 26 Nach
Ansicht von führenden Kriminalisten dieser Zeit war eine relativ geringe Zahl von
„Berufsverbrechern“ für das Gros der Kriminalität verantwortlich (Vgl. Wagner
1996, 21). Sie waren der Überzeugung, mit der „Vernichtung des Berufsverbrechertums“ auch die Kriminalität in Gänze beseitigen zu können (Vgl. Wagner
2002, 58f.).
Den rechtlichen Rahmen hierzu schufen die „Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes“ vom 04. Februar 1933 (RGBL I 1933, 35) und die „Verordnung
zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933. Sie setzten wichtige
Grundrechte außer Kraft und gaben der Polizei erweiterte Eingriffsbefugnisse
(Vgl. Wilhelm 1997, 37 ff.). Insbesondere die letztgenannte sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“ (RGBL I 1933, 83) wurde vielfach als Begründung und
Rechtfertigung für polizeiliche Maßnahmen und ministerielle Anordnungen herangezogen: Eine Vielzahl von Erlassen, Richtlinien und Anordnungen als „Ausfluß der institutionellen Ermächtigung des Führers [...] reichten als alleinige
Rechtsgrundlage polizeilichen Einschreitens aus.“ (Terhorst 1985, 59)
Im Bereich des Polizeirechts entwickelte sich der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung zu dem der Rechtmäßigkeit der Verwaltung; das Zweckmäßigkeitsprinzip hielt Einzug (Vgl. Fangmann 1984, 194; Terhorst 1985, 49), Ergänzt
wurde diese Entwicklung durch „die schrittweise Beseitigung verwaltungsrechtlicher Kontrolle der Polizei bis 1939“ (Fangmann 1984, 198). Im Straf- und Strafprozessrecht wurden Beschuldigtenrechte beschnitten, mit dem „Gesetz gegen
gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933 die unbefristete Sicherungsverwahrung im An-
25
Die Berliner Kriminalpolizei nutzte die Machtergreifung, um massiv gegen die Ringvereine
vorzugehen, die man jahrelang vergeblich mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft hatte. Nun
wurden die Ringvereine aufgelöst und es kam zu mehreren großen Razzien in einschlägigen Milieus, insbesondere in der Einbrecherszene (Vgl. Wagner 1996, 194f.; Wagner 2002, 57f.).
26
Der maßgeblich von dem Kriminologen Franz von Liszt und dem Kriminalisten Robert Heindl
geprägte Typ des „Berufsverbrechers“ hatte sich auf die Begehung eines Deliktes mit einem individuell zuzuordnenden Modus Operandi spezialisiert und agierte überregional bzw. reichsweit.
Er galt als nicht resozialisierbar (Vgl. Wagner 1996, 19-25).
14
schluss an die Strafverbüßung eingeführt sowie der Strafrahmen27 erhöht (RGBL I
1933, 995-999). Die Kriminalpolizei begann, sich von der StA und der Justiz zu
emanzipieren. Das Weisungsrecht der StA wurde nach und nach „völlig ausgehöhlt“ (Majer 1984, 144).28 Dies gipfelte in einem Runderlass von Himmler vom
28. Oktober 1942, in dem die Bestellung von Polizeibeamten als Hilfsbeamte der
Staatsanwaltschaft nicht mehr für erforderlich gehalten und der Polizei eine institutionelle Generalermächtigung erteilt wurde:
Kraft der ihr gestellten Aufgabe, die deutsche Volksordnung zu sichern, ist die Pol.
verpflichtet und befugt, alle die Maßnahmen zu treffen, die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich sind. (MBliV 1942, 2087f.)
Parallel dazu verlor die repressive Zielrichtung der kriminalpolizeilichen Arbeit
zunehmend an Bedeutung; der Schwerpunkt verlagerte sich auf die „Vorbeugende
Verbrechensbekämpfung“, die „ihrem Begriff nach alle Maßnahmen der Polizei
[umfasste, d. Verf.], die auf Verhinderung künftiger Verbrechen abzielten, also
nicht den Bereich der Verbrechensverfolgung betrafen.“ (Werle 1989, 488) Hierunter fielen die polizeiliche Beobachtung samt der Anordnung polizeilicher Auflagen sowie die polizeiliche „Vorbeugungshaft“, welche regelmäßig mit der Einweisung in ein (nichtstaatliches) Konzentrationslager (KZ) einherging (Vgl. Terhorst 1985, 81f.).
Mit Schnellbrief des preußischen Ministerpräsidenten vom 13. November 1933
die „Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft gegen Berufsverbrecher“ betreffend wurden die Maßnahmen in Preußen eingeführt (LAS Abt. Pol 669, Az. II C
II 31 Nr. 356/33).29 In Ergänzung zur prozessualen Sicherungsverwahrung standen Berufs-und Sexualdelinquenten sowie Rückfalltäter nun auch im Fokus der
neuen Kriminalprävention (Vgl. Wagner 1996, 199). Die Kriminalisten erhielten
27
Mit dem Gesetz vom 24.11.1933 wurde das Strafniveau auf bis zu 15 Jahre Zuchthaus ausgedehnt (RGBL I 1933, 995). In den kommenden Jahren wurde für eine Vielzahl von Delikten die
Todesstrafe eingeführt. Sie wurde „zum Fixpunkt des Strafenkatalogs und sollte als universell
einsetzbares Vergeltungs- und Einschüchterungsmittel dienen.“ (Roth 2010, 61)
28
Tatsächlich gab es schon lange vor dem Dritten Reich die Forderung nach einer Stärkung der
Position der Kriminalpolizei im Strafverfahren. Dies gipfelte in der Forderung der Abschaffung
der StA zugunsten der Kriminalpolizei. Diese Forderung konnte jedoch selbst während der NSDiktatur nicht durchgesetzt werden (Vgl. Majer 1984, 144f.; Wagner 1996, 143f.).
29
Ergänzt wurde dieser Erlass durch mehrere weitere Vorschriften des Preußischen Innenministeriums bzw. des Reichs- und Preußischen Innenministeriums (u.a. LAS Abt. Pol. 669, Az. II C II
Nr. 22.37/34 vom 10.02.1934, III C II 8 Nr. 163/34 vom 17.12.1934) sowie einem Erlass über
die „Planmäßige Überwachung der auf freiem Fuß befindlichen Berufsverbrecher“ vom
10.02.1934 (LAS Abt. Pol. 669, II C II 22 Nr. 38/34). Die preußischen Erlasse wurden von den
meisten Ländern bis 1936 übernommen (Vgl. Terhorst 1985, 101).
15
ihr eigenes „Verhaftungsrecht im Interesse der Verbrechensvorbeugung“ (Terhorst 1985, 80): Der Kriminalbeamte vor Ort wählte die Betroffenen aus, der Leiter der Landeskriminalpolizeistelle traf die letztliche Entscheidung über die
Durchführung der Maßnahmen (Vgl. Wagner 1996, 203f.). Der Ausschluss des
Rechtsweges ermöglichte ein schrankenloses kriminalpolizeiliches Handeln (Vgl.
Terhorst 1985, 54ff.).
Die Maßnahmen der ersten Jahre waren im Besonderen auf Spezialprävention
ausgerichtet. Mit abgestuften, selektiven Maßnahmen wie der Erteilung von Auflagen, der Androhung von „Vorbeugungshaft“ und der Verhaftung „schwerer Fälle“ sollten die einzelnen „Berufsverbrecher“ von der Begehung weiterer Straftaten
abgehalten werden (Vgl. Reinke 2008, 150). Darüber hinaus war eine generalpräventive Wirkung auf das gesamte kriminelle Milieu beabsichtigt. Bis 1937 wurden 3.000 „Berufsverbrecher“ in KZs eingewiesen. Weitere 6.000 Rückfalltäter
befanden sich in Sicherungsverwahrung (Vgl. Wagner 2008, 98). Ab 1936/1937
kam es dann zu einer steigenden ideologischen Aufladung des kriminalpolizeilichen Vorgehens (Vgl. Reinke 2000, 56).
2.2
Die Kriminalpolizei in der Phase von Expansion und Kriegsvorbereitung
(1936-1939) - Unter Himmler vom Preußischen Landeskriminalpolizeiamt
zum Reichskriminalpolizeiamt und dem „Völkischen Polizeibegriff“:
2.2.1 Organisation:
Unmittelbar nach der Übernahme der Deutschen Polizei durch Himmler kam es
zu nachhaltigen Umorganisationen. Am 26. Juni 1936 wurde durch Runderlass
von Himmler die Geschäftsbereiche der Polizei in Ordnungs- und Sicherheitspolizei aufgeteilt (Vgl. Wilhelm 1997, 76).30 Das Hauptamt Sicherheitspolizei (SIPO)
in der Stellung einer Ministerialinstanz unter Leitung von Reinhard Heydrich
gliederte sich in das Amt Verwaltung/Recht unter Werner Best und die Ämter
Kriminalpolizei und Politische Polizei, welche Heydrich in Personalunion führte
(ebd., 79). Ziel war die „völlige Verschmelzung von Polizei und SD zum nationalsozialistischen Staatsschutzkorps.“ (Wagner 1996, 244) Zusätzlich wurden am
20. September 1936 Inspekteure der Sicherheitspolizei (IDS) eingesetzt, welche
30
Hierzu wurde als Spitzengliederung die aus der SS entliehene Bezeichnung „Hauptamt“ verwendet (Vgl. Wilhelm 1997, 76).
16
regionale Koordinations- und Aufsichtsfunktionen hatten (RMBliV 1936, 1343f.).
Ab 1938 wurden als weitere Zwischeninstanz Höhere SS- und Polizeiführer
(HSSPF) installiert, welche im Mobilmachungsfall die gemeinsame Führung aller
SS- und Polizeikräfte „als Generalbevollmächtige des Reichsführers-SS und
Chefs der Deutschen Polizei“ in einem Gebiet verantworteten (Wilhelm 1997,
109). Diese Ämter übernahmen meist Nichtkriminalisten aus der SS. Sie konnten
auf diese Weise direkt Einfluss auf die Arbeit der Kripo nehmen (Vgl. Wagner
1996, 246f.).
Im Bereich der Kriminalpolizei kam es am 20. September 1936 zur „Neuordnung
der Staatlichen Kriminalpolizei“ (RMBliV 1936, 1339-1343). Das PLKPA erhielt
reichsweit die fachliche Leitung über alle Kriminaldienststellen.31 Die deliktisch
orientierten Reichszentralen wurden als Nachrichtensammel- und Auswertestellen
zentral beim PLKPA angebunden (ebd., 1339f.). 32 Der reichsweite Aufbau der
staatlichen Kriminalpolizei wurde standardisiert und umfasste drei hierarchische
Ebenen33: Dem PLKPA waren die Kriminalpolizeileitstellen nachgeordnet, welche wiederum die Aufsicht über die Kriminalpolizeistellen ausübten. 1936 gab es
14 Kriminalpolizeileitstellen und 51 Kriminalpolizeistellen (Vgl. Wagner 1996,
235f.). Die regionalen Dienststellen blieben jedoch organisatorisch in die örtlichen Verwaltungsstrukturen integriert. Am 16. Juli 1937 wurde das PLKPA dann
in Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) umbenannt (RMBliV 1937, 1152-1164) und
erhielt reichsweite Exekutivbefugnisse (ebd., 1153). Arthur Nebe, seit 1935 Leiter
des PLKPA, wurde Leiter des RKPA und damit ranghöchster Kriminalbeamter
des Dritten Reiches. Sein Stellvertreter wurde Paul Werner (Vgl. Wagner 2002,
75 und 89).
31
Aufgaben des PLKPA waren insbesondere die Gewährleistung einer einheitlichen Geschäftsführung, die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen sowie die Gewährleistung
der Weiterbildung. Hierzu war es auch befugt, „in die Geschäftstätigkeit der staatlichen und
kommunalen Kriminalpolizeien [...] Einsicht zu nehmen“ (RMBliV 1936, 1339).
32
Reichszentralen zur Bekämpfung von: Geldfälschung, Rauschgiftvergehen, Vermissten und
unbekannten Toten, unzüchtigen Bildern, Schriften und Inseraten, internationalem Mädchenhandel, internationaler Taschendiebe, Glücks- und Taschenspieles, dem „Zigeunerunwesen“, Kapitalverbrechen (Mord, Brand, Katastrophen), reisenden und gewerbsmäßigen Betrügern und Fälschern, reisenden und gewerbsmäßigen Einbrechern. Zudem wurde mit Geheimbefehls Himmlers am 10.10.1936 die „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“
eingerichtet (RMBliV 1937, 1153; Vgl. Grau 2003, 130).
33
Die Nennung von örtlichen staatlichen Kriminalabteilungen (in Städten mit mehr als 50.000
Einwohnern) als vierte Ebene unterhalb der Kriminalpolizeistellen erfolgte in dem Erlass von
1936 nicht. Sie wurden jedoch in dem Erlass vom 16.07.1937 aufgeführt. Laut dieses Erlasses
unterstanden diese Abteilungen dem örtlichen Polizeiverwalter (RMBliV 1937, 1153 und 1155).
17
Ziel dieser Neuordnung war der Aufbau eines „flächendeckende[n] Netz[es] kriminalpolizeilicher Dienststellen“ (Wagner 2002, 76). Das RKPA wurde zu einer
„Zentrale“ der Sicherheitspolizei mit starkem Einfluss auf die nachgeordneten
Dienststellen und deren Arbeit (Vgl. Banach 2002, 97).
Die Weibliche Kriminalpolizei (WKP) wurde ebenfalls neu aufgestellt.34 Am 24.
November 1937 wurde beim RKPA ein Referat „Weibliche Kriminalpolizei“ unter Friederike Wieking sowie reichsweit WKP-Dienststellen eingeführt (RMBliV
1937, 1828f.; Vgl. Blum 2009, 520). Die WKP war insbesondere für kriminalpolizeiliche Maßnahmen im Zusammenhang mit Kindern und weiblichen Jugendlichen zuständig (RMBliV 1937, 1829).35
Mit Erlass vom 06. März 1939 wurde die räumliche Einrichtung des Kriminaltechnischen Instituts der Sicherheitspolizei (KTI) beim RKPA zum 01. Oktober
1938 bekanntgegeben (RMBliV 1939, 556ff.).36 Die Leitung übernahm der Chemiker Dr. Walter Heeß. Als Zentralorgan der SIPO war es „zuständig für alle
kriminaltechnischen Untersuchungen und Begutachtungen auf physikalischen,
chemischen und sonstigen naturwissenschaftlichen Gebieten“ (ebd., 556) und hatte die Aus- und Weiterbildung von Spezialisten zu gewährleisten (ebd., 557).
2.2.2 Personal:
Nach der organisatorischen sollte auch die personelle Zusammenführung erfolgen:
Die Führung der SIPO plante, einflussreiche Positionen in der Polizei durch loyale
SS-Führer zu besetzen (Vgl. Wilhelm 1997, 93). Daneben sollten möglichst viele
Polizeiangehörige in die SS aufgenommen werden. Hierzu erließ Himmler am 25.
Juni 1938 einen Erlass, der die Übernahme von Polizisten in die SS und die sogenannte „Dienstrangangleichung“ genau regelte (RMBliV 1938, 1088-1091):
34
Die WKP war in den 1920er-Jahren zur Stärkung des sozialen Aspektes polizeilicher Arbeit
eingeführt worden. Nach der Machtübernahme wurde ihr Fortbestand in Frage gestellt, da arbeitende Frauen - insbesondere bei der Polizei - nicht ins Weltbild der Nationalsozialisten passten
(Vgl. Götting 2009, 483-486. und 492).
35
„Der neue Anknüpfungspunkt für die Einbeziehung einer weiblichen Polizei in das NSPolizeisystem war der Gedanke der Kriminalprävention.“ (Blum 2009, 519) So war sie unter anderem zuständig für „die Erfassung kriminell und sexuell gefährdeter Kinder und weibl. Minderjähriger im Rahmen der allgemeinen vorbeugenden Tätigkeit der Kriminalpolizei“ (RMBliV
1937, 1829). Hierzu wurde auch am 01.07.1939 eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität“ beim RKPA eingerichtet und der WKP angegliedert. 1940 gab es bereits 2.000
Datensätze (Vgl. Wagner 1996, 273).
36
In der Aufbauphase war das KTI zunächst in Stuttgart untergebracht.
18
Apologeten der Kripogeschichte haben nach 1945 behauptet, der SS angehörende
Kriminalisten seien häufig ohne ihr eigenes Zutun, quasi automatisch im Rahmen
der ‚Dienstrangangleichung‘ in die Schutzstaffel aufgenommen worden. (Wagner
1996, 246)
Die Aufnahme in die SS erfolgte jedoch freiwillig, höchstens konnte sich einer
ablehnende Haltung negativ auf die weitere Karriere aus. Die Mehrheit der leitenden Kriminalbeamten wurde in die SS aufgenommen (ebd.). 37
Parallel dazu drängte eine neue Generation von Führungskräften in die SIPO. Diese Beamten waren erst nach der Machtübernahme eingestellt worden. Banach
(2002, 328f.) beschreibt den „Vertreter des neuen Kriminalkommissars“ als nach
1900 geboren, in der Weimarer Republik geprägt und bereits frühzeitig mit Hilfe
des Nationalsozialismus auf der Suche nach einem sicheren Ordnungsrahmen als
Gegenpol zu den Wirren der Republik. Mehr als der Kriminalbeamte, der schon in
der Weimarer Republik seinen Dienst versah, war er mit der weltanschaulichen
und rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten verhaftet und sah in der Polizei
in erster Linie das politische Instrument zur Realisierung dieser Utopien.
Die Aus- und Weiterbildung wurde nach den Richtlinien der Chefs der SIPO reformiert.
Zentrale
Ausbildungsstätte
war
das
Polizeiinstitut
in
Berlin-
Charlottenburg, welches 1937 in „Führerschule der Sicherheitspolizei“ umbenannt
wurde (Vgl. Banach 1994, 90). Hier erfolgten bereits nach der Machtübernahme
getrennte Ausbildungslehrgänge für angehende Kommissare der Kriminalpolizei
und der Gestapo; nun wurde dort die gesamte neue Führungsschicht von SS und
Polizei gemeinsam ausgebildet (ebd.). Ziel war die Unterstützung des „Umbaus
der Sicherheitspolizei zu einem nationalsozialistischen Instrument“ (Banach 2002,
109). Daneben wurde der einfache und mittlere Vollzugsdienst von Gestapo, Kripo und SD an der Sicherheitspolizeischule in Fürstenberg ausgebildet (Vgl. Banach 1994, 91 ff.).
Zur „Schaffung einer einheitlichen Überzeugung und Auffassung der Arbeit“
wurden gemeinsame Schulungen von Mitarbeitern der Gestapo, der Kripo und des
SD durchgeführt (Banach 1994, 92). Zusätzlich erfolgten gegenseitige Hospitatio-
37
Banach und Wilhelm sehen dies anders: Banach (2002, 129) spricht von einem Automatismus;
die Aufnahme war prinzipiell freiwillig, dennoch gab es Druck, notfalls drohte die Entfernung
aus dem Amt. Auch hätten Dienststellen Aufnahmeanträge ohne Wissen des Betroffenen ausgefüllt (ebd.). Wilhelm (1997, 95) spricht von einem massiven Druck auf Kriminalbeamte ab dem
Jahr 1938 mit einer möglichen Konsequenz des Ausscheidens aus der SIPO.
19
nen während der Ausbildung und bei Kommissionen (Vgl. Wagner 1996, 245).
Auf diese Weise wurde die „weltanschauliche Aufladung“ der kriminalistischen
Tätigkeit gefördert (ebd., 246). Nach Kriegsbeginn gewann die weltanschauliche
Schulung weiter an Bedeutung. Diese
sollte die neuen und alten Polizeibeamten mit den nationalsozialistischen Glaubensgewißheiten versehen und sie widerspruchslos an die Autorität der Staatsführung und deren Anordnungen glauben lassen. (Banach 2002, 115)
Dies geschah für die Führungselite in „SS-Ausleselagern“, „SS-Führerlagern“ und
in „Führerlagern der Sicherheitspolizei“ (Vgl. Banach 2002, 101-104). Die geplante völlige Verschmelzung von Polizei und SS durch eine gemeinsame Laufbahn gelang jedoch nur ansatzweise. Das langfristige Ziel der „Schaffung eines
neuen Führerkorps“ wurde nicht erreicht (Banach 2002, 122; Wagner 1996, 244).
Vor Kriegsbeginn verfügte die Kriminalpolizei über 12.202 Kriminalbeamte und
377 Kriminalbeamtinnen. 302 Beamte arbeiteten im RKPA (Vgl. Wagner 1996,
236).
2.2.3 Aufgaben/Tätigkeiten:
Die bisherigen Maßnahmen gegen „Berufsverbrecher“ brachten nicht den erhofften Erfolg: 1937 war die Kriminalität wieder auf dem Stand von 1927 (Vgl. Wagner 2008, 99). Führende Kriminalbeamte forderten daraufhin, die kriminalpräventiven Maßnahmen reichsweit einheitlich zu organisieren sowie die „Verschärfung
des Terrors gegen Randmilieus“ (Wagner 1996, 254).
Unterstützt wurden diese Forderungen durch die Kriminologie, die keine unpolitische Wissenschaft mehr war, sondern gezielt an der Legitimation der NSIdeologie arbeitete (Vgl. Dürkop 1984, 98). Kriminalbiologische Kriminalitätstheorien verdrängten die soziologischen (ebd., 112). Der Gegenstand der Forschung war nicht mehr das Verbrechen, sondern der (genetisch bedingte) Tätertyp
(ebd., 108). So begann man, die potentiellen Täter in dem „viel größeren biologischen ‚Bodensatz der Bevölkerung‘ “ zu suchen (Wagner 2008, 99).38
Innerhalb des Erbstroms einer Bevölkerung finden sich dann vielerorts solche
N e s t e r v o n A s o z i a l e n und Erbminderwertigen, die nun nicht nur die Brutstätten des Verbrechens, sondern auch die b i o l o g i s c h e n B r u t s t ä t t e n sind,
38
Hierzu wurde auch 1938 beim RKPA eine „Zentralstelle für kriminalistische Sippenschaftsforschung“ eingerichtet (Wagner 1996, 271).
20
aus denen die Asozialen und geborenen Verbrecher hervorgehen. (Ritter 1941, 39,
Hervorheb. i.O.)
Neben den nach außen gerichteten ethnischen Rassismus trat nun auch ein sozialer, der Differenzierungen innerhalb der „Volksgemeinschaft“ vorsah (Vgl. Sedlaczek 2003, 225).39 Nicht mehr das Recht des Einzelnen stand im Fokus, sondern
das Recht der Gemeinschaft, des Volkes (Vgl. Terhorst 1985, 24).
Die Polizei ist heute das Schutzkorps, das den Schutz der Gemeinschaft im Inneren
zu gewährleisten hat und Leben und Entwicklung des Volkes vor jeder Störung und
Zerstörung bewahren und schützen soll. Schutz bedeutet aber nicht nur, einen
Feind v e r f o l g e n , eine Straftat aufklären, Schutz, wie wir diesen Begriff heute
verstehen, heißt v o r b e u g e n d und verhütend wirken. Nur so kann die Polizei
wahrer Freund und Helfer des Volkes sein. (Nebe 1938, 4f., Hervorheb. i.O.)
Dieser „Völkische Polizeibegriff“ verstand die Polizei als eine Art „Arzt des deutschen Volkskörpers“, der dessen Schutz und Gesundheit verantwortete.
Unter Himmler und Heydrich wurden die Forderungen der Kriminalisten nach
Ausweitung der Kriminalprävention rasch umgesetzt: Im Jahr 1937 verhaftete die
Kriminalpolizei in einer konzertierten Aktion 2.000 „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ und lieferte sie in KZs ein (Vgl. Wagner 1996, 254f.).40 Die Maßnahme auf Befehl Himmlers war „eine Art Initiation“ (Wagner 1996, 256), welche in eine „umfassende gesellschaftsbiologische Mission der Kriminalpolizei“
(Wagner 2008, 99) mündete.
Im Juni 1938 führte die Kripo eine weitere Festnahmeaktion unter dem Namen
„Aktion Arbeitsscheu Reich“ durch (LAS Abt. Pol. 671, RKPA Az. 6001/295.38
vom 01. Juni 1938; Vgl. Wagner 1996, 279-292).41 Dabei sollten pro Kriminalpolizeileitstelle „mindestens 200 arbeitsfähige und als asozial betrachtete Männer in
Vorbeugungshaft“ genommen und in ein KZ deportiert werden (Wagner 1996,
279).42 Die Kripo übertraf die Vorgaben und nutzte die Aktion auch zur „Entsorgung unliebsamer Elemente“: So wurden etwa 9.000 Menschen inhaftiert, darunter auch solche, die nicht in das Raster fielen (Vgl. Wagner 1996, 290).
39
Wagner (1996, 265) spricht auch vom „hygienische[n] Rassismus“.
In der Forschung ist umstritten, ob diese Maßnahmen ihre Ursache in einem Arbeitskräftemangel der KZs hatten. In diesem Fall hätte eine Verzahnung zwischen polizeilichen Maßnahmen
und dem (ökonomischen) Wachstum der KZs bestanden (Vgl. Wagner 1996, 255f.).
41
Bei einer ersten vergleichbaren Maßnahme inhaftierte die Gestapo zwischen dem 21. und dem
30. April 1938 etwa 1.500 Menschen (Vgl. Wagner 1996, 279).
42
Auch hier sollte der Grund in erster Linie in einem steigenden Bedarf an Arbeitskräften im expandierenden KZ-System liegen. Zudem war ein disziplinierender Effekt auf die Arbeitsmoral
der „Volksgemeinschaft“ beabsichtigt (Vgl. Wagner 1996, 287f.).
40
21
Grundlage dieser und künftiger Maßnahmen der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ war der „Grunderlass“ des Reichs- und Preußischen Ministers des
Inneren vom 14. Dezember 1937 (LAS Abt. Pol. 671, Az. Pol. S-Kr. 3 Nr.
1682/37 - 2098 - ) und die hierzu ergangenen Ausführungsbestimmungen des
RKPA vom 04. April 1938 (LAS Abt. Pol. 671, Az. 6001 250/38). Damit wurde
„erstmals eine reichseinheitliche Regelung der Vorbeugungshaft und planmäßigen
Überwachung“ geschaffen (Werle 1989, 489). Der Erlass orientierte sich überwiegend an den bisherigen preußischen Bestimmungen und war bis Kriegsende
fast unverändert in Kraft (ebd., 489f.). Der Handlungsrahmen der Kripo wurde
erweitert, neue „Zielgruppen“ kamen hinzu: So konnten neben „Berufs- und Gewohnheitsverbrechern“ auch „Asoziale“, „Gemeingefährliche“ und andere „unerwünschte“ Gruppen mit Maßnahmen belegt werden (Vgl. Terhorst 1985, 134 ff.).
Die Kriminalpolizeistelle vor Ort ordnete die Maßnahme an, die Kriminalpolizeileitstelle prüfte im Rahmen der Fachaufsicht. „Vorbeugungshaft“ musste zudem
durch das RKPA bestätigt werden. Besonders die als „asozial“ Klassifizierten
fielen nun verstärkt in das Raster der Kripo. 43 Als genetisches „Reservoir des
Verbrechertums“ und „Feind des Volkskörpers“ mussten die „Asozialen ausgemerzt“ werden (Vgl. Ayaß 2005, 58f.):
Da das Verbrechertum im Asozialen seine Wurzeln hat und sich fortlaufend aus ihm
ergänzt, hat der Erlass [...] vom 14. Dezember 1937 [...] der Kriminalpolizei weitgehende Möglichkeiten gegeben, neben den Berufsverbrechern auch alle asozialen Elemente zu erfassen, die durch ihr Verhalten der Gemeinschaft zur Last fallen und sie
dadurch schädigen. (LAS, RKPA Az. 6001/295.38 vom 01. Juni 1938)
Auch Homosexuelle gerieten nun stärker in den Fokus dieser Kriminalprävention.
Ab 1934 waren sowohl Gestapo und Kripo bereits für die Strafverfolgung auf
diesem Gebiet zuständig (Vgl. Wagner 2002, 83f.). 44 Nun wurden sie auch verstärkt als „Asoziale“, „Gewohnheitsverbrecher“ oder „Gemeingefährliche“ im
43
Die Begriffe „Asoziale“ und „Gemeinschaftsfremde“ wurden identisch verwandt. Es handelt
sich hierbei nicht um eine klar definierte Gruppe, sondern eine „von außen auferlegte, extrem
abwertende Sammelbezeichnung für abweichendes Verhalten sehr unterschiedlicher Form.“
(Ayaß 2005, 52) Hierunter konnten Bettler, Obdachlose, Arbeitslose, Alkoholiker, ledige Mütter,
freizügige Frauen, Prostituierte, Zuhälter, auffällige Jugendliche usw. fallen. Letztlich entschied
die Kripo, wen sie für „asozial“ hielt. Die Kripo führte bereits seit 1933 eine Vielzahl von repressiven und diskriminierenden Maßnahmen gegen Personen aus den Randbereichen der Gesellschaft durch. Ab 1938 kam es dann zur weiteren Radikalisierung (Vgl. Ayaß 2005, 52-61).
44
Strafrechtlich einschlägig war § 175 RStGB Im Jahr 1935 wurde dieser verschärft (Vgl. Grau
2003, 130). Mit der Einrichtung einer Reichszentrale beim PLKPA bzw. RKPA wurden bis 1940
40.000 vorbestrafte oder verdächtige Homosexuelle zentral registriert (Vgl. Stiftung Topographie des Terrors 2010, 235).
22
Rahmen der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ überwacht und/oder interniert. Ziel der Kriminalpolitik gegen Homosexuelle war primär „Umerziehung“:
Durch hohe Strafen sollten sie vom Ausleben ihrer Sexualität abgebracht werden
(Vgl. Grau 2003, 140). Bei Rückfällen drohte Kastration oder die Deportation in
ein KZ (ebd.). So wurden durch Kripo und Gestapo etwa 10.000 Homosexuelle in
KZs deportiert, von denen die Hälfte starb (Vgl. Baumann u.a. 2011, 304f.).
2.3
Die Kriminalpolizei im Krieg (1939-1945) - Als Teil des Reichssicher-
heitshauptamtes zwischen Personalmangel, Aufgabeninflation und Eskalation:
2.3.1 Organisation:
Mit Erlass vom 27. September 1939 wurde unmittelbar nach Kriegsbeginn das
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) eingerichtet. Es kam per Erlass Himmlers zur
Zusammenlegung des Hauptamtes SIPO mit dem SD-Hauptamt (S-V 1 Nr.
719/39 - 151 - I 1, abgedruckt in: Rürup 1993, 71). Chef des RSHA war zunächst
Heydrich, nach dessen Tod 1942 wurde Ernst Kaltenbrunner die Leitung übertragen (Vgl. Wilhelm 1997, 118). Erstmalig kam es somit zu einer Zusammenlegung
von SS-Organisationseinheiten mit denen der Polizei. Die „Zentrale des nationalsozialistischen Unterdrückungs- und Vernichtungsapparates“ (Wilhelm 1997,
118) war „eine über die ganze Stadt verteilte Vielzahl von Organisationen und
Behörden aus dem Verfolgungsapparat“ (Tuchel/Schattenfroh 1987, 104). Das
RKPA ging fast unverändert unter der Bezeichnung „Verbrechensbekämpfung“ in
dem Amt V des RSHA auf. Die Leitung übernahm Arthur Nebe (Vgl. Wildt 2002,
301). Das Amt V blieb bis Kriegsende weitgehend unverändert. Anfang 1941 kam
es zu einer organisatorischen Straffung. 45 1944 wurde aufgrund der gestiegenen
Bedeutung von Kriegswirtschaftsstraftaten eine Gruppe Wirtschaftskriminalität
(WI) eingerichtet (ebd., 321f.).
In den annektierten Gebieten wurden Kriminalpolizei(leit-)stellen eingerichtet.
1941 gab es 19 Kriminalpolizeileitstellen und 64 Kriminalpolizeistellen (Vgl.
Wagner 1996, 235f. und 306). In den besetzten Gebieten wurden Befehlshaber der
Sicherheitspolizei (BdS) eingesetzt. Diese „formten die Struktur des Reichssi-
45
Mit Stand 01. März 1941 gliederte sich das Amt V wie folgt: Gruppe A „Kriminalpolitik und
Vorbeugung“, Gruppe B „Einsatz“, Gruppe C „Erkennungsdienst und Fahndung“, Gruppe D
„KTI“ (Vgl. Rürup 1993, 80). Seit 1939 residierte das RKPA bzw. das Amt V in einem neuen
Gebäude am Werderschen Markt in Berlin (Vgl. Wildt 2002, 323).
23
cherheitshauptamtes en miniature nach, mit einer SD-, einer Gestapo- und einer
Kripoabteilung.“ (Pohl 2010, 346) Ihnen waren Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) unterstellt, welche die Polizeiarbeit vor Ort ausführten
(ebd.). In vielen besetzten Ländern blieb die einheimische Kripo im Dienst und
wurde von den Stäben des BdS überwacht (Vgl. Wagner 2002, 113).
Am 24. August 1943 wurde Himmler Reichsinnenminister (Vgl. Wilhelm 1997,
180). Am 07. September 1943 löste er die gesamten Kriminalpolizeidienststellen
aus der staatlichen Polizeiverwaltung heraus (MBliV 1943, 1595f.). Damit war
die Kriminalpolizei - analog der Gestapo - kein Teil der staatlichen Verwaltung
mehr und unterstand jetzt ausschließlich dem RSHA (Vgl. Wilhelm 1997, 123).
Am 21. Dezember 1941 wurde das „Kriminalbiologische Institut der Sicherheitspolizei im Reichskriminalpolizeiamt“ (KBI) unter der Leitung von Dr. Robert
Ritter installiert (MBliV 1942, 41ff.). Der Einrichtung ging eine langjährige Zusammenarbeit zwischen Ritter und dem RKPA voraus. Insbesondere Nebes Stellvertreter Paul Werner, der für die „konzeptionelle und praktische Radikalisierung
kriminalpolizeiliche[r] Tätigkeit im Dritten Reich“ verantwortlich war, unterhielt
enge Kontakte mit Ritter (Wildt 2002, 316). Mit Nebe und Werner verband Ritter
die Überzeugung, dass „im ‚Asozialentum‘ das Verbrechertum wurzele.“ (ebd.,
319)
Ritter leitete seit 1936 eine Forschungsstelle beim Reichsgesundheitsministerium
und betrieb dort Forschungen über Sinti und Roma.46 Für das RKPA erstellte er in
dieser Funktion Gutachten hinsichtlich der „rassistischen Zuordnung von Zigeunern“ (ebd.). Nach der Institutionalisierung der Zusammenarbeit sollte das KBI
die Erfassung der nichtsesshaften Bevölkerung fortführen, Sippenforschung hinsichtlich „asozialer“ und krimineller Elemente zum Zwecke der „Vorbeugenden
Verbrechensbekämpfung“ betreiben und die Jugendkriminalität in Kriegszeiten
untersuchen (Vgl. Luchterhandt 2000, 207 und 229). Der Schwerpunkt der Arbeit
des KBI lag ab 1941 jedoch auf der Sichtung und Begutachtung von jugendlichen
„Gemeinschaftsfremden“ in den sogenannten „Jugendschutzlagern“ (Vgl. Luchterhandt 2000, 230; Ziffer 2.3.3).
46
Die „Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ (RHF) untersuchte
reichsweit Personen aus der Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma. Diese waren „anthropometrisch zu erfassen und rassisch zu kartographieren.“ (Wildt 2002, 318)
24
Am 28. September 1943 wurde das „Kriminalmedizinische Zentralinstitut der
Sicherheitspolizei“ (KMI) mit Sitz in Wien eingerichtet (MBliV 1943, 1533ff.).
Als wissenschaftliche Forschungsstelle war es dem RKPA (Amt V) angegliedert
und unter anderem zuständig für die „wissenschaftliche Bearbeitung und Weiterentwicklung aller kriminalmedizinischen Forschungsgebiete“, die „Erteilung von
Richtlinien der im Bereich der Sicherheitspol. anfallenden kriminalmedizinischen
Fragen“ sowie die „kriminalmedizinische Untersuchung polizeilich besonders
interessierender Fälle“ (ebd., 1535).47 Die volle Funktionsfähigkeit des KMI wurde jedoch aufgrund des Endes des Hitlers-Regimes nie erreicht (Vgl. Herber 2006,
248-252; Wildt 2002, 352f.).
2.3.2 Personal:
Das Führungspersonal des Amtes V zeigte deutliche Unterschiede zu anderen
Ämtern des RSHA: Die Führungselite kam überwiegend aus Beamtenfamilien des
oberen Mittelstandes. Die meisten hatten Abitur, ein Studium abgeschlossen oder
zumindest begonnen. Zehn Führungskräfte hatten einen Doktorgrad erworben.
Zwei Drittel des Personals hatte bereits in der Weimarer Republik Dienst geleistet. Zudem war der Altersschnitt deutlich höher (Vgl. Wildt 2002, 210f.). Die
„neuen Kriminalkommissare“ (Banach 2002, 328f.; Ziffer 2.2.2) als nachrückende
Führungselite machten somit mehrheitlich ihre Karriere in den anderen Ämtern
des RSHA oder im „Außeneinsatz“.
Die Kriminalpolizei kämpfte im Krieg mit massiven Personalproblemen: Sie stellte Personal für die Einsatzgruppen (Ziffer 2.3.3.), die Geheime Feldpolizei und
die Stäbe in den besetzten Gebieten (Vgl. Wagner 1996, 305). Nach dem Einmarsch in die Sowjetunion verschärfte sich die Personalsituation dramatisch: Die
Belegschaft im Reich schrumpfte 1942 um 60 % (Vgl. Wilhelm 1997, 169). Um
dies zu kompensieren, reaktivierte man 2.000 pensionierte Kriminalisten. Dies
führte wiederum zu einer Überalterung der Beamtenschaft (Vgl. Wagner 1996,
309). Weiterhin bemühte man sich verstärkt um die Einstellung von Angestellten
und führte Rationalisierungsmaßnahmen durch (ebd.). So stellte man den kriminalpolizeilichen Meldedienst teilweise ein und bearbeitete Bagatelldelikte nicht
47
Laut Wagner (1996, 391) soll die Einrichtung des KMI zum Zwecke künftiger Massensterilisationen im Rahmen des „Gemeinschaftsfremdengesetz“ (Ziffer 2.3.3) erfolgt sein.
25
mehr (Vgl. Wagner 1996, 310; Wilhelm 1997, 167). Verschärft wurde die Situation zusätzlich, indem der Krieg neue Aufgabengebiete für die Kripo brachte.
2.3.3 Aufgaben/Tätigkeiten:
Der Krieg bestimmte die Arbeit der Kripo zwischen 1939 und 1945 wesentlich.
Neben den bisherigen Aufgaben traten neue Aufgaben zur „Sicherung der Heimatfront“ (Wagner 1996, 311). Die Kriminalität im Reich stieg massiv an. Ein
zentrales Betätigungsfeld der Kripo wurde die Verfolgung der „Kriegswirtschaftsdelikte“ (Vgl. Wagner 2002, 116-119).48 Der einsetzende Bombenkrieg ab
Mitte 1942 verschärfte die Lage nochmals dramatisch. Neben der Identifizierung
Getöteter hatte die Kripo mit massenhaften Plünderungen in den Ruinen zu kämpfen (Vgl. Wagner 1996, 315). Zudem explodierte der Schwarzmarkt. Die „Zersetzung des sozialen Terrains der Großstädte durch die Folgen des Bombenkrieges“
wurde eine wesentliche Rahmenbedingung kriminalpolizeilichen Handels in
Deutschland (ebd., 323).
Darüber hinaus wuchs die Zahl flüchtiger, vertragsbrüchiger Zivilarbeiter,
Zwangsarbeiter und Kriegsflüchtlinge enorm.49 Die „Kriegsfahndung“ wurde eine
zentrale Maßnahme der Kripo (ebd., 314).
Die Kriminalpolizei negierte die gesellschaftlichen Ursachen der steigenden Kriminalität weitgehend und setzte weiter auf ihre kriminalbiologischen Theorien
(ebd., 324f.).50 Die Anwendung der kriminalpräventiven Vorschriften wurde auf
48
Mit dem Beginn des Krieges erließen die Machthaber diverse „Rationalisierungs- und Bewirtschaftungsvorschriften“ zur weitgehenden Aufrechterhaltung eines „friedensmäßigen Lebensstil[s]“ (Wagner 2002, 117). Von den mit Strafe bedrohten Vorschriften war vor allem die gesellschaftliche Mitte betroffen. Ab 1941 stieg die Zahl der registrierten Delikte sprunghaft an
(ebd.). Mit der Schaffung einer Gruppe WI im Amt V reagierte man 1944 organisatorisch auf die
wachsende Bedeutung dieser Delikte (Ziffer 2.3.1).
49
Die deutsche Kriegswirtschaft war zwingend auf Zwangsarbeit angewiesen. Der Begriff
„Zwangsarbeit“ ist nicht klar umrissen; er umfasst KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilangestellte mit unterschiedlichen Intensitäten der Zwangsausübung. Ausländische Zivilarbeiter waren mit maximal fünf Millionen Personen die größte Gruppe in Deutschland. Hinzu kamen zwei
Millionen Kriegsgefangene im Sommer 1944. Die Zahl eingesetzter KZ-Häftlinge ist nicht einschätzbar (Vgl. Herbert 2001, 17ff.). Die Ahndung von Zwangsarbeitern erfolgte zunächst durch
die Gestapo, später auch eigenständig durch die Kripo (Vgl. Wagner 1996, 341). In den letzten
Kriegsmonaten soll es zu Massenexekutionen von Zwangsarbeitern durch Gestapo und Kripo
gekommen sein. Es gibt hierzu jedoch nur wenige Forschungen (Vgl. Herbert 2001, 25).
50
Die Arbeiten an einem „Gemeinschaftsfremdengesetz“ blieben aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten sowie dem Kriegsverlauf in der Planungsphase (Vgl. Wagner 1988, 82-94). Mit dem
Gesetz sollte die Ausgrenzung und „Ausmerzung“ sozialer Randgruppen festgeschrieben werden. Hierunter fielen „alle angeblich gemäß Erbanlage devianten oder kriminellen Menschen“
(Wagner 1996, 386). Das Gesetz, dass neben der massenhaften Zwangssterilisation insbesondere
26
die annektierten Gebiete ausgeweitet (ebd., 334). Es kam zu einer weiteren Radikalisierung der Praxis der Deportationen (ebd., 343). 51 Aus Angst vor einer Verwahrlosung gewann die Überwachung von Kindern und Jugendlichen im Krieg an
Bedeutung (Vgl. Blum 2009, 522). Es wurden sogenannte „Jugendschutzlager“ in
Moringen und Uckermark eingerichtet 52 , für welche das RKPA zuständig war
(Vgl. Blum 2009, 525; Sedlaczek 2003, 228ff.). Das Referat WKP im RKPA hatte
das Vorschlagsrecht zur Inhaftierung „asozialer“ und „krimineller“ Jugendlicher
(Vgl. Sedlaczek 2003, 231). Die Maßnahmen richteten sich gegen sozial nicht
angepasste, „unerziehbare“ Kinder und Jugendliche (ebd., 225 und 229). Der Lageralltag war hart und von Zwangsarbeit geprägt (Vgl. Blum 2009, 527). Bis 1945
gab es mindestens 2.400 Insassen (Vgl. Wagner 1996, 376). Insgesamt wurden 89
Todesfälle registriert, tatsächlich dürfte die Zahl höher sein (Vgl. Sedlaczek 2003,
239). Das KBI nahm Untersuchungen in den Lagern vor, klassifizierte und selektierte die Jugendlichen, was auch die Deportation in ein „reguläres“ KZ zur Folge
haben konnte (Vgl. Wagner 1996, 379 ff.).
Auch die kriminalpolizeilichen Maßnahmen gegen „Zigeuner“ wurden im Krieg
weiter verschärft. Nach Lewy (2001, 37f.) kann man drei Phasen der „Zigeunerpolitik“ im Dritten Reich unterscheiden: Die erste Phase von 1933 bis 1937, die
mit der Verstärkung von Kontrollen und mit Schikanen verbunden war. Die zweite Phase ab 1937, als die „Zigeuner“ unter die Maßnahmen der „Vorbeugenden
Verbrechensbekämpfung“ fielen.53 Die dritte Phase begann mit dem „Zigeunergrunderlass“ vom 08. Dezember 1938, in dem die rassische Minderwertigkeit der
„Zigeunermischlinge“ festgestellt wurde und verschiedene Maßnahmen angezeigt
wurden (abgedruckt in: Zimmermann 2006, 18.). Alle sesshaften und nichtsesshaften Sinti und Roma waren seit diesem Zeitpunkt durch das RKPA zu erfassen
die Ermordung solcher Personen vorsah, sollte das Projekt der Kriminalpolizei für die gesellschaftliche Neuordnung nach dem Krieg werden (ebd., 387f. und 396).
51
So wurde der Kreis der potentiell Betroffenen ausgeweitet. Das RKPA ordnete am 01.09.1939
die Deportation „Wehrunwürdiger“ ins KZ an (Vgl. Kiess 2011, 93; Wagner 1996, 331).
52
Das Lager in Moringen wurde im August 1940 für männliche, das Lager in Uckermark 1942 für
weibliche Insassen eingerichtet. Im polnischen Lódz (Litzmannstadt) wurde im Dezember 1942
ein „Polen-Jugendverwahrlager“ eingerichtet, in dem die Insassen „germanisiert“ werden sollten
und Zwangsarbeit verrichten mussten. Ob das RKPA für dieses Lager - in dem es vermutlich 500
Tote gab - verantwortlich war, konnte nicht abschließend geklärt werden (Vgl. Benz 2007, 590;
Sedlaczek 2003, 240ff.). Bernd Wehner (1989, 667f.) behauptete, das RKPA wäre für das Lager
in Lódz verantwortlich gewesen (Ziffer 3.5).
53
Seit 1938 wurden über 2.000 „Zigeuner“ als „Asoziale“ in die KZs gebracht (Vgl. Zimmermann
2006, 17).
27
(Vgl. Lewy 2001, 95f.). Spätestens zu diesem Zeitpunkt ging es nicht mehr um
gesellschaftliche Anpassung, sondern um biologische „Bekämpfung“ (Vgl. Zimmermann 2006, 13).54 Mit Kriegsbeginn wurde die Freizügigkeit der „Zigeuner“
erheblich eingeschränkt; jegliche Reisebewegungen mussten von den örtlichen
Behörden genehmigt werden. (Vgl. Luchterhandt 2000, 139-155). Die Kriminalpolizei setzte zunächst auf deren Zwangsumsiedlung ins „Generalgouvernement“
nach Polen (Vgl. Zimmermann 2006, 17).55 Dann ordnete das Amt V am 29. Januar 1943 auf Befehl Himmlers die Deportation von „Zigeunermischlingen, RòmZigeuner und nicht deutschblütigen Angehörigen zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ in das KZ Auschwitz an (RSHA V A 2 Nr. 59/43 g, abgedruckt
in: Stiftung Topographie des Terrors 2010, 224). 19.300 von insgesamt 22.000 der
daraufhin nach Auschwitz deportierten „Zigeuner“ wurden dort umgebracht (Vgl.
Zimmermann 2006, 26).56 Weiterhin geriet diese Gruppe in den Fokus einer anderen Mordmaschinerie.
Die Einsatzgruppen hatten bereits beim Einmarsch in Österreich und der Tschechoslowakei hinter dem Heer „mobile Sicherungsaufgaben“ übernommen (Vgl.
Wilhelm 1997, 133f.). Ab 1939 wurden sie auch in den anderen eroberten und
besetzten Ländern eingesetzt (Vgl. Wildt 2002, 506-531). In Polen und der Sowjetunion erfolgte der umfangreichste und radikalste Einsatz der Einsatzgruppen:
So wurden in Polen erstmals „zivilisatorische Schranken“ eingerissen (ebd., 485).
Ausgestattet mit „größtmögliche[n] Handlungsfreiheiten“ verschärften die Einsatzgruppen ihr Vorgehen in der Sowjetunion nochmals deutlich (ebd., 541). Vier
Prozent des Personals wurden von der Kriminalpolizei gestellt; das Führungspersonal rekrutierte sich aus Gestapo, Kripo und SD (Vgl. Wagner 1996, 307f.).57
Als „ad hoc gebildete, motorisierte, nicht dauernd an den gleichen Standort gebundene Polizeiformationen eigenen Art“ (Krausnick 1985, 11) setzten sie „Hitlers Konzept der ‚völkischen Flurbereinigung‘“ (Wildt 2002, 419) gnadenlos um.
54
Grundlage hierfür waren insbesondere die Forschungen von Robert Ritter seit 1936 im RHF.
Dieser klassifizierte bis 1941 30.000 Menschen als „Zigeuner“ bzw. „Zigeunermischlinge“ (Vgl.
Wagner 1996, 274; Zimmermann 2006, 14f.).
55
Nach einer Unterbringung in Sammellagern wurden 1940 2.800 Sinti und Roma ins „Generalgouvernement“ deportiert. Im Herbst 1941 wurden 5.000 Roma aus dem Burgenland in das
Ghetto von Lodz gebracht, die in der Folge alle umkamen (Vgl. Zimmermann 2006, 17 und 19).
56
Wagner (2008, 96) nennt die Zahl von 30.000 deportierten Sinti und Roma.
57
Arthur Nebe führte zwischen Juni und Oktober 1941 die Einsatzgruppe B. Sie operierte hinter
der Heeresgruppe Mitte, die über Weißrussland bis nach Moskau vorstoßen sollte. In dieser Zeit
hatte seine Einsatzgruppe 45.000 Morde zu verantworten (Vgl. Kiess 2011, 270f.).
28
Ihr Auftrag war die „Liquidierung der politischen Führungsschicht und die Ermordung der kommunistischen Funktionäre und Juden“ (ebd., 560). Ihren „Säuberungsaktionen“ fielen auch „Zigeuner“ und „Asiatisch-Minderwertige“ zum Opfer
(Krausnick 1985, 8). Die Einsatzgruppen ermordeten mehr als eine Million Menschen (Vgl. Wilhelm 1997, 148).
Die Reichskriminalpolizei und ihre Institute waren zudem an EuthanasieMaßnahmen, Menschenversuchen 58 und der Entwicklung „unpersönlicher Tötungstechniken“ beteiligt (Rhodes 2004, 238). Insbesondere das KTI als „Labor
der Vernichtung“ (Wildt 2002, 321) beschaffte Gift für Euthanasiemaßnahmen
und entwickelte Techniken für Massentötungen mit Gas (Vgl. Kiess 2011, 50-54;
Wildt 2002, 328-332).59 Das KMI sollte Forschungen mit Giftmunition durchführen, der Leiter weigerte sich jedoch.60 Die Versuche wurden dann durch das KTI
im September 1944 an fünf Personen im KZ Sachsenhausen61 durchgeführt, von
denen drei starben (Vgl. Herber 2006, 246; Wildt 2002, 333f.).
2.4
Fazit:
„Verbrechensbekämpfung“ gehörte „nicht zu den zentralen Politikfeldern des na-
tionalsozialistischen Regimes.“ (Roth 2010, 610) Trotzdem zählte die Kriminalpolizei „zum Kern und Machtzentrum dieses völkischen Maßnahmenstaates.“
(Wagner 2009, 27)
Die Kontrolle der Kriminalität und die Verfolgung von ‚Verbrechern‘ wie sozialen
Randgruppen waren wesentliche Elemente nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik. (Roth 2010, 610)
58
So brachte der Leiter der Reichszentrale zur Bekämpfung des „Zigeunerunwesens“ auf Befehl
Nebes am 02. März 1944 30 „Zigeuner“ zur Durchführung von Fleckfieber-Impfstoffversuchen
ins KZ Buchenwald; bei denen sechs Personen starben (Vgl. Kiess 2011, 283f.).
59
Die Entwicklung der Gaswagen stellte dabei eine „neue Dimension“ des Massenmordes dar
(Kiess 2011, 270). Während seiner Zeit als Leiter der Einsatzgruppe versuchte Nebe, Tötungsmethoden zu entwickeln, die für seine Untergebenen nicht so „belastend“ waren. Hierzu führte er
mit Hilfe des KTI zunächst in Minsk Experimente mit Sprengstoff und stationären Gaskammern
durch (Vgl. Rhodes 2004, 239). Da diese nicht erfolgreich und ineffektiv bzw. immobil waren,
wurde mit Hilfe von Mitarbeitern des KTIs LKWs mit luftdichten Behältnissen entwickelt, in
denen Auspuffgase eingeleitet werden konnten (Vgl. Rhodes 2004, 240; Wildt 2002, 330ff.).
Solche „mobilen Gaskammern“ kamen bereits 1940 in Polen zum Einsatz, dort verwendete man
jedoch Kohlenmonoxid (Vgl. Rhodes 2004, 241). Hierbei wurden mehrere tausend Geisteskranke getötet (Vgl. Kiess 2011, 54). Im November und Dezember 1941 kamen die „weiterentwickelten“ Gaswagen bei den Einsatzgruppen und in Chelmo zum Einsatz (Vgl. Wildt 2002, 332).
60
In anderen Fällen war der Widerstand des KMI wohl nicht so groß. Der angebliche Massenmörder Bruno Luedkte starb im April 1944 in der Obhut des KMI nach Untersuchungen unter ungeklärten, offensichtlich verbrecherischen Umständen (Vgl. Wagner 2002, 7-9).
61
Das KTI unterhielt dort eine Außenstelle für die Durchführung von Menschenversuchen (Vgl.
Wildt 2002, 334).
29
Eine unter Himmler zentralisierte, im RKPA verreichlichte und in das RSHA integrierte Kriminalpolizei wurde ein wirkungsvolles Werkzeug des NS-Staates und
vollzog
Präventivmaßnahmen zum Schutz der nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘,
d.h. vor allem zum Schutz ihrer vermeintlichen biologischen Substanz sowie ihres
möglichst reibungsfreien Funktionierens als Leistungsgemeinschaft. (Wagner
2009, 25)
Die Kriminalbeamten arbeiteten in der großen Mehrzahl unter den neuen Machthabern wie gewohnt weiter, begrüßten die neue Kriminalpolitik oder nutzten die
neu gewonnenen Spielräume zur Realisierung eigener Ideen und Konzepte. Es
war hierbei eine zunehmende Ideologisierung und Radikalisierung der kriminalpolizeilichen Arbeit bis hin zur „Umsetzung eines gesellschaftsbiologischen Präventivkonzeptes“ festzustellen (ebd., 33). Hierbei gingen die Kriminalisten oftmals eigeninitiativ über den vorgegebenen Handlungsrahmen hinaus, um sich
„störender Elemente“ zu entledigen (Vgl. Wagner 1996, 253). An die Stelle äußerer Antriebe und Reize war ein „polizeiliche[s] Drängen nach einer Perfektionierung des Vorbeugungsprinzips“ getreten (Roth 2005, 75). So wurde die Möglichkeit der KZ-Deportation genutzt, um den eigenen Zuständigkeitsbereich „zigeunerfrei“ zu machen (Vgl. Zimmermann 2006, 24). Erschienen justizielle Urteile
zu „liberal“, wurden sie mit präventiven Maßnahmen „korrigiert“:
Die Vorbeugungshaft wandelte sich langsam von einem bei schlagartigen Auskämmaktionen eingesetzten Mittel zu einer kontinuierlich und bürokratisch organisierten Alltagsmethode der Kriminalisten im Dienste des praktischen Polizierens
vor Ort. (Wagner 1996, 294)
80.000 Menschen wurden von der Kripo als „Verbrecher“ oder „Asoziale“ in
KZs verschleppt, mehrere Zehntausend fanden hierbei den Tod (Vgl. Wagner
2008, 96). Zusätzlich deportierte die Kriminalpolizei weit über 20.000 Sinti und
Roma, die fast alle in der Folge umkamen (ebd.). Diese Deportationen wären ohne
die Kriminalpolizei nicht möglich gewesen. 62 Von der Beamtenschaft gab es keinen Widerstand, vielmehr fanden die Maßnahmen eine hohe Akzeptanz (Vgl.
Zimmermann 2006, 25). Die Kriminalbeamten wurden über den Tod der Personen
informiert, die sie in KZs eingewiesen hatten. Sie mussten sich daher im Klaren
sein, „daß die Einweisung in Vorbeugungshaft einem Todesurteil sehr nahe kam.“
62
Auch bei Deportationen von Juden leistete die Kriminalpolizei (WKP) aktiv Hilfe in Form von
Durchsuchungen vor Beginn des Transportes (Vgl. Götting 2009, 483; Wagner 1996, 252).
30
(Wagner 1996, 339) Trotzdem wählten sie auch Personen aus, die körperlich von
vorneherein keine Chance zum Überleben hatten (ebd., 340). Zudem wurden kriminalpolizeiliche „Vorbeugungshaftbefehle“ durchaus mit dem Zusatz „Rückkehr
nicht erwünscht“ versehen (Vgl. BpB/DHPol 2012, 101).
Die „Arbeit“ in den „Jugendschutzlagern“, die Beteiligung an Menschenversuchen, Euthanasiemaßnahmen und den Massenmorden der Einsatzgruppen belegen
darüber hinaus die Pervertierung der Kriminalprävention sowie die stetige Radikalisierung und Entzivilisierung kriminalpolizeilicher Arbeit auf der Grundlage
eines menschenverachtenden Weltbildes. Hierfür stand der Kripo ein „methodisch
entgrenzte[s] Handlungsrepertoire“ zur Verfügung, dass dem der Gestapo sehr
ähnelte (Reinke 2008, 151). Tatsächlich gab es zwischen den beiden Organisationen durchaus Neid und Kompetenzgerangel auf allen Ebenen, was meist zu einer
Verschärfung der Verfolgungspraxis zu Lasten der Betroffenen führte (Vgl. Wagner 1996, 248). Jenseits dieser Rivalitäten unterstützte man sich jedoch bei der
Alltagsarbeit:
Wenn irgendwo im Ressort-Dschungel des Dritten Reiches von vertrauensvoller
Zusammenarbeit zwischen zwei Institutionen die Rede sein kann, dann traf dies auf
das Verhältnis zwischen Kripo- und Stapo-Stelle zu. (Mallmann/Paul 1991, 284)
So wurde auch die Kriminalpolizei zum „Vollstrecker der nationalsozialistischen
Vernichtungspolitik“ (Wagner 2009, 34), verantwortlich für unsagbares Leid und
den Tod Zehntausender.
3.
Die Publikationen Bernd Wehners zur Kriminalpolizei des
Dritten Reiches zwischen 1949 und 1989: 63
Bernd (Bernhard) Wehner wurde am 15. Dezember 1909 in Gera geboren. 64 1930
machte er sein Abitur und studierte dann Rechtswissenschaften an den Universitäten Erlangen und Köln. 1934 legte er sein erstes juristisches Staatsexamen am
63
Die Veröffentlichung mit dem Titel „Die Kriminalpolizei gestern, heute und - vielleicht - auch
morgen“, welche 1969 in dem Fachblatt „Deutsche Polizei“ in den Ausgaben April, Mai und Juni erschien, bleibt unberücksichtigt. Es handelte sich um einen Vortrag, den Wehner vor der
„Rechts- und Staatswissenschaftlichen Vereinigung“ in Düsseldorf am 23. Januar 1969 hielt.
Der Beitrag enthält auch einen Abriss über die Geschichte der Kriminalpolizei, wobei die Zeit
zwischen 1933 und 1945 trotz Ankündigung nahezu unerwähnt bleibt.
64
Eine Vielzahl der Angaben entstammen der Personalakte Bernd Wehners aus seiner Zeit bei der
Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, HSA-PE Nr. 7299). Andere Fundstellen werden gesondert ausgewiesen.
31
Oberlandesgericht Düsseldorf ab, 1935 promovierte er zum Thema Tarifrecht. Als
Student trat er 1931 in die NSDAP und die SA ein (Vgl. Mix 2011a, 672). Seine
Mitgliedsnummer war 518.544 (Vgl. Schneider 2011, 323). Er galt somit als „
‚alter Parteigenosse‘ “ (Noethen 2002, 381).
Zwischen Juli 1934 und April 1935 arbeitete er als Rechtsberater für die Einheitsgewerkschaft Deutsche Arbeitsfront. Am 01. Mai 1935 wurde er in die Kriminalpolizei Essen aufgenommen. Vom 01. September 1936 bis zum 20. März 1937
besuchte er den Kommissarslehrgang am Polizeiinstitut Berlin-Charlottenburg
(später „Führerschule der Sicherheitspolizei“, Ziffer 2.2.2). Danach kehrte Wehner nach Essen zurück und wurde am 16. September 1937 zur Kriminalpolizeileitstelle Berlin in die dortige Mordkommission versetzt. Am 01. Dezember 1937
wurde er zum Kriminalkommissar ernannt.
Im Herbst 1939 leitete er eine Sonderkommission des RKPAs, welche die Übergriffe von Polen auf Volksdeutsche am sogenannten „Bromberger Blutsonntag“
untersuchen sollte (Vgl. Mix 2011a, 673).65 Diese Unterstützung der nationalsozialistischen Propaganda war seiner Karriere nicht abträglich (ebd.).
Am 01. Januar 1940 wurde Wehner ins Amt V des RSHA versetzt. Dort war er
nach eigenen Angaben zunächst einige Monate bei der Reichszentrale zur Bekämpfung von Betrugsdelikten eingesetzt. Dann wurde er der Leiter der Reichszentrale zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen (Vgl. Klee 2003, 660). Diese
Funktion hatte er bis Kriegsende. 1942 wurde er in die SS aufgenommen (Mitgliedsnummer 414.073) und erhielt den Dienstgrad eines SS-Sturmbannführers
(Vgl. Noethen 2002, 381). Am 01. Juni 1943 wurde er zum Kriminalrat befördert.
Wehner war als „Mordspezialist“ des RKPAs (Wehner 30.03.1950, 24) eigenen
Angaben zufolge an einer Vielzahl von Ermittlungen in Deutschland, den besetzten Gebieten sowie im KZ Buchenwald auch gegen NSDAP- und SS-Mitglieder
65
Aus dieser Arbeit stammte auch das 1942 von ihm herausgegebene Werk „Die polnischen Greueltaten - Kriminalpolizeiliche Ermittlungsergebnisse“. Hierzu wurde Bernd Wehner im Jahr 1964
durch die StA Mannheim vernommen. Im Vorwort des Werkes wurde die Zahl von 58.000 vermissten oder getöteten Deutsche erwähnt. Dies war eine deutliche Übertreibung. Wehner behauptete später, dass er als Gesamtzahl der betroffenen Personen 6.300 angegeben hätte. Erst im
Nachhinein wäre die Zahl - angeblich auf unmittelbaren Befehl von Adolf Hitler - korrigiert
worden (Vgl. Krausnick 1985, 267).
32
beteiligt (Ziffer 3.1.2). „Der Grundsatz vor niemanden zu ducken, habe ich damals zur Maxime meines Handelns gemacht.“ (Wehner 16.04.1970, 3)66
Wehner gehörte zur „Elite der Sicherheitspolizei“ (Noethen 2002, 381) und war
bei Kollegen und Vorgesetzten wegen seines fachlichen Könnens aber auch wegen seiner politischen Zuverlässigkeit geschätzt (ebd.).
Unmittelbar nach Kriegsende wurde er in Salzburg gemeinsam mit Paul Werner
festgenommen (Vgl. Schneider 2011, 323).
Hinsichtlich möglicher Beteiligungen an Verbrechen ist nur wenig belegt. Kogon
zitierte in seinem Buch „Der SS-Staat“ aus einem Dokument des KZs Buchenwald, wonach Wehner bei einem Versuch anwesend war, bei dem vier sowjetischen Häftlingen Gift verabreicht wurde (Vgl. Klee 2003, 660). Kogon (1974,
306) zog die Aussage in späteren Auflagen wieder zurück. Wehner hätte ihm gegenüber glaubhaft versichert, nicht persönlich an dem Versuch teilgenommen zu
haben.67 Wagner (2002, 7-9) schreibt, dass Wehner an der Vertuschung der Todesumstände des angeblichen Massenmörders Bruno Luedkte beteiligt war. Sowohl in Bezug auf die Menschenversuche im KZ als auch hinsichtlich der Todesumstände Luedktes und deren Verschleierung gab es keine (strafrechtliche) Untersuchungen zur Beteiligung und Verantwortlichkeit Wehners.
Zwischen 10. Juli 1945 und 03. April 1946 war Wehner in den Lagern Westertimke und Fallingborstel interniert (Vgl. Mix 2011a, 673). Anschließend arbeitete
er für die Briten als Kraftfahrer in Goslar (Vgl. Schneider 2011, 323). Ende der
66
So ermittelte er nach dem Attentat auf Heydrich im Juni 1942 in Prag (Vgl. Mix 2011a, 673;
Schneider 2011, 321f.) Nach dem Attentatsversuch auf Adolf Hitler war er Mitglied der Sonderkommission „20. Juli 1944“. In der Tatortgruppe erhob er den objektiven Tatbefund im Führerhauptquartier (Vgl. Schneider 2011, 321f.). Wehner war auch an den Fahndungsmaßnahmen
nach seinem untergetauchten Chef Nebe beteiligt (Vgl. Mix 2011a, 673).
67
Tatsächlich führte Wehner Ermittlungen im KZ Buchenwald gegen SS-Standartenführer Karl
Koch (Leiter) und den Arzt Dr. Hoven wegen des Verdachts des Mordes durch (Vgl. Banach
2002, 172). Im Spiegel beschrieb Wehner (23.02.1950, 24-28) ausgiebig diese Ermittlungen und
erwähnte auch den Versuch an den vier Personen, die seinen Angaben nach bereits für die Todesstrafe vorgesehen waren. Der Versuch hätte am Jahreswechsel 1943/44 stattgefunden; Wehner hätte jedoch nicht persönlich daran teilgenommen und diesen auch nicht angeordnet. Zudem
wären die Personen nicht gestorben, noch nicht mal krank geworden. In seinem Buch berichtete
Wehner (1983, 237), der Versuch wäre vom Leiter der Gestapo Heinrich Müller angeordnet
worden. Um die Versuche zu verhindern, hätte Nebe ihn (Wehner) ins KZ geschickt. Er hätte die
Versuche jedoch nicht unterbinden können. Rathert (2001, 134) beschreibt in seinem Buch die
Anwesenheit von Wehner bei Menschenversuchen am 30./31.12.1943 im Zusammenhang mit
der Verbrennung von vier Häftlingen mit Phosphor aus Fliegerbomben und verweist auf ein entsprechendes Tagebuch des Hygiene-Institutes der Waffen-SS (Fleckfieber-/Virusforschung).
Aufgrund des Datums dürfte es sich um den gleichen Vorfall handeln.
33
1940er-Jahre und zu Beginn der 1950er-Jahre arbeitete er als Autor beim Spiegel
unter Rudolf Augstein. Am 31. Januar 1951 wurde er im Entnazifizierungsverfahren von einem Ausschuss in Braunschweig in die Kategorie V (entlastet) eingestuft.
Am 01. August 1951 wurde Wehner in die Dortmunder Kripo im Rang eines
Kriminaloberinspektors eingestellt. Wehner fiel unter Art. 131 GG (Vgl. Noethen
2002, 382; Ziffer 5).68 Am 01. August 1952 wurde er wieder Beamter auf Lebenszeit und am 05. Januar 1953 zum Kriminalhauptkommissar befördert. Zeitweilig
leitete er die Dortmunder Kriminalinspektion II.
Zwischen dem 25. August 1953 und dem 13. November 1953 besuchte er den
zweiten Kriminalratsanwärterlehrgang des damaligen Polizeiinstituts in Hiltrup.
Am 01. Oktober 1954 übernahm er zuerst vorläufig die Leitung der Kripo Düsseldorf, behielt diese Funktion aber bis zu seiner Pensionierung am 31. März 1970.
Am 06. April 1955 wurde er zum Kriminalrat befördert. Es folgten Beförderungen
zum Oberrat (10. März 1958) und Direktor (31. März 1966).
Seine Beurteilungen waren stets sehr gut bis herausragend. Ihm wurde „ein großes
kriminalistisches Wissen und Können“ bescheinigt. Er machte viele Überstunden,
war stets erreichbar und „mit Leib und Seele Kriminalbeamter“. Er nahm an Tagungen beim BKA und am Polizeiinstitut in Hiltrup teil und war bundesweit als
Kriminalexperte anerkannt. So sprach er am 24. Oktober 1968 vor dem Innenausschuss des Bundestages zum Thema „Probleme der Verbrechensbekämpfung“. 69
1956 erschien in einer Zeitschrift der Gewerkschaft „Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr“ (ÖTV) ein pseudonymer Artikel, der ohne Nennung von Namen oder persönlichen Angriffen einen Großteil der kriminalpolizeilichen Führungselite von Nordrhein-Westfalen (NRW) als ehemalige Reichskriminalbeamte
bezeichnete, die sich nur nach den alten Befugnissen sehnen würden und keine
überzeugten Demokraten wären (Vgl. Noethen 2002, 491). Parallel verlas am 14.
Juli 1956 auf dem Bundesparteitag der SPD in München der Bundestagsabgeord68
In seinem Gesuch auf Wiedereinstellung vom 01. Juli 1951 beschrieb Wehner detailliert seinen
bisherigen polizeilichen Werdegang. Hierbei erwähnte er jedoch nie die Begriffe „Reichssicherheitshauptamt“ oder „SS“ sowie seine Mitgliedschaft in der NSDAP. Wehner gab immer nur an,
Mitglied des Reichskriminalpolizeiamtes gewesen zu sein. Auch in anderen Unterlagen der Personalakte (bis 1956) finden sich diese Begriffe nicht.
69
Wehner, Bernd 1968: Probleme der Verbrechensbekämpfung. Referat vor dem Innenausschuß
des Deutschen Bundestages am 24.10.1968. In: Kriminalistik, 22. Jg. (1968), H. 12, S. 630-634.
34
nete Willi Könen aus Düsseldorf eine Liste mit 24 leitenden Kripo-Beamten aus
NRW, welche der SS angehört haben sollen. Darüber hinaus tauchte eine anonyme Liste mit 27 Namen von Kriminalbeamten samt ihren Lebensläufen in der NSZeit auf. In beiden Listen war Wehner genannt (ebd., 492). Wehner und andere
Betroffene stellten Strafanzeige wegen falscher Anschuldigung, Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung gegen Könen sowie die Verfasser des Artikels
bzw. der Liste (ebd.). In der darauf folgenden Untersuchung wurden fast alle Genannten aufgrund der „Legende von der Dienstgradangleichung“ entlastet (ebd.;
Ziffer 2.2.2).70 Die Untersuchungen zur Person Wehners erstreckten sich auch auf
folgenden Sachverhalt, der sich aus einer Beiakte seiner Personalakte ergibt:
Am 02. Juli 1957 erschien die Ostberliner Zeitung „BZ am Abend“ mit einem
groß aufgemachten Artikel, der Wehner als Gestapo-Mann und „rechte Hand von
Heydrich“ bezeichnete. Wehner hätte eine Vielzahl von Menschen ins KZ eingeliefert. Der Artikel nannte als Quelle einen Leserbrief, der am 29. Juni 1957 in der
Verbandszeitschrift des VVN 71 „Die Tat“ erschien. Wehner erstattete Anzeige
gegen den verantwortlichen Redakteur sowie den unbekannten Leserbriefschreiber. Fast zeitgleich gab eine Person am 10. August 1957 im Rahmen eines Entschädigungsverfahrens an, Wehner hätte ihn im Jahre 1940 ins KZ gebracht. 72
Diese Person bestritt später, den Leserbrief verfasst zu haben. Wehner gab in der
Folge mehrere Stellungnahmen ab. Hierbei stellte er seinen Werdegang und seine
Funktionen im RKPA dar, vermied aber die Begriffe „Reichssicherheitshauptamt“
und „SS“. Bei der betroffenen Person hätte er zwar während seiner Zeit bei der
Reichszentrale für Betrugsdelikte durchsucht und diesen auch vernommen, jedoch
keine weitere Maßnahmen getroffen. Am 15. Januar 1958 teilte das Innenministerium NRW Wehner den Abschluss der Ermittlungen mit. Er hätte keine straf- und
disziplinarrechtlichen Konsequenzen zu befürchten.73
70
Eine weitere Kampagne der ÖTV zu Führungseliten in NRW hatte 1959 ein großes Medienecho,
jedoch keine nennenswerten personellen Konsequenzen zur Folge (Vgl. Wagner 2002, 149ff.).
71
In der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ gab es offensichtlich eine Vielzahl von
Kommunisten. Sie war einigen Bundesländern verboten (Vgl. Mix 2011a, 679).
72
Diese Person wurde 1940 aufgrund eines Korruptionsverdachtes ins KZ Sachsenhausen gebracht
und versuchte nun, eine Entschädigung hierfür zu erhalten.
73
Nach eigener Einschätzung waren die Anschuldigungen in der Zeitung „Die Tat“ teilweise widerlegbar und damit in Gänze diskreditiert. Das Aufgreifen des Themas in der „Ostzonenpresse“
(Angabe Wehners in seiner Stellungnahme) brachte die Vorwürfe zudem in der Nähe einer
Kampagne der DDR gegen westdeutsche Führungseliten. Gegen die Person mit den Entschädigungsansprüchen wurden parallel Ermittlungen zum Beleg seiner Unglaubwürdigkeit durchge-
35
Nach seiner Arbeit für den Spiegel war Wehner weiterhin publizistisch tätig. Neben seinen Werken zur Geschichte der Kriminalpolizei verfasste er zu anderen
kriminalistischen Themen eine Vielzahl von Berichten in der Fachzeitschrift
„Kriminalistik“ und schrieb auch ein Buch über die Dunkelfeldproblematik.74 Von
1967 bis 1987 war er Schriftleiter der „Kriminalistik“. Er erhielt die BeccariaMedaille der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft in Silber (1966) und in
Gold (1984) (Vgl. Mix 2011a, 675).
Nach dem Krieg gelang es Wehner, in die „gutsituierte Mitte der bundesdeutschen
Zivilgesellschaft“ zu gelangen (Schneider 2011, 323). Mit Ausnahme der oben
geschilderten Ermittlungen zu seiner Person Ende der 1950er-Jahre konnte er in
der BRD seine Kariere in der Kriminalpolizei ohne größere Probleme fortsetzen.
Wehner starb am 31.12.1995 ist in Düsseldorf (Vgl. Klee 2003, 660).
3.1
„Das Spiel ist aus - Arthur Nebe. Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei“ (Der Spiegel 1949/1950):
Diese mit 30 Folgen längste jemals im Spiegel veröffentlichte Serie erschien zwischen dem 29. September 1949 und dem 20. April 1950 (Vgl. Hachmeister 1998,
329). Wehner schrieb von „Großtaten der Kriminalisten im Kampf gegen das
Verbrechen und ihrer Vereinnahmung durch das Regime“ (Mix 2011a, 672). Sie
wurde von Rudolf Augstein selbst redigiert (Vgl. Hachmeister 2002, 108) und
fand in der Leserschaft offensichtlich große Resonanz (Vgl. Augstein 1950, 3).
Gemäß der damaligen Arbeitsweise des Spiegels blieb der Autor unerwähnt;
Wehner schrieb über sich in der dritten Person (Vgl. Hachmeister 1998, 330).
führt. Es stellte sich heraus, dass diese bereits vielfach vorbestraft war, Lücken im Lebenslauf
hatte und sich zudem in ihren Aussagen wiedersprach. Darüber hinaus gab Karl Schulz als damaliger Leiter des LKAs Bremen (und früherer leitender Mitarbeiter der Reichszentrale für Betrugsdelikte) als Leumundszeuge Wehners am 03.01.1958 eine schriftliche Stellungnahme ab. Er
bestätigte, dass die betroffene Person nicht während der Ermittlungen des RKPAs ins KZ gebracht worden war. Die Gestapo hätte den Fall übernommen und diesen dort eingeliefert. Er bezeichnete die Person als „üblen ‚Korruptionisten‘, der eher zu lasch als zu scharf angefasst worden ist“.
74
Wehner, Bernd 1957: Die Latenz der Straftaten (Die nicht entdeckte Kriminalität). Schriftenreihe des Bundeskriminalamtes. Wiesbaden. Zudem schrieb er auch folgenden Beitrag: Wehner,
Bernd 1959: Fahndung in der Praxis. Aus: Taschenbuch für Kriminalistik (Band IX) 1959. Hamburg (Verlag Deutsche Polizei). S. 251-267. Offensichtlich war er auch als Berater tätig: Für den
Regisseur Jürgen Roland und dessen Fernsehserie „Stahlnetz“ (Vgl. Noethen 2002, 382) sowie
für die Stern-Artikelserie „Deutschland deine Kripo“ (Ziffer 4.2.4). Seine letzte fachliche Veröffentlichung war ein Beitrag über seine Zeit als Leiter der Kripo-Düsseldorf (Wehner, Bernd
1990: Wiederaufbau der Kripo nach 1945 - Eine sehr persönliche Erinnerung. Aus: Lisken, Hans
(Hrsg.) 1990: Polizei in Düsseldorf 1989. Düsseldorf. S. 78-91.).
36
Wehner beschrieb die Entwicklung der deutschen Kripo von den Anfängen im
Kaiserreich bis zu der des Dritten Reiches, die in seinen Augen „vervollkommnet“
war (29.09.1949, 22). Als Aufhänger benutzte er „atemberaubende[…] Verbrechensserien“ (ebd.), die er den Lesern plastisch und kleinteilig, mit Skizzen und
Bildern versehen, nahebrachte. Der Erzählstil ähnelt dabei einem saloppen,
„schnoddrigen Casino-Ton“ (Hachmeister 1998, 330). Häufig verwendete Wehner
typische Begriffe der NS-Zeit („Volksschädling“). Den meisten Raum nehmen
Darstellungen mehr oder minder spektakulärer Kriminalfälle ein, in deren Rahmen weitergehende, oftmals anekdotenhafte Ausführungen zu organisatorischen
Entwicklungen, politischen Rahmenbedingen und beteiligten Personen gemacht
werden. Hauptfigur der Serie ist Arthur Nebe als ranghöchster Kriminalbeamter
und Leiter des RKPAs bzw. des Amtes V im RSHA.
Für die einzelnen Fortsetzungen der Serie diente der Lebensweg Nebes zwar als roter Faden. Häufig wurden aber die ‚Leistungen‘ der Kriminalpolizei ohne sichtbaren Bezug zum Protagonisten geschildert. (Schulte J. E. 2009, 27)
Die detaillierten, mit vielen Zitaten versehenen Falldarstellungen geben der Serie
den Charakter eines Kriminalromans und sollen dem Leser vermitteln (oder vortäuschen), dass es sich um „ein Stück gelebte Wirklichkeit im Bericht“ handelt
(Augstein 1949, 3).75 Mehrfach gleitet die Serie ins Obskure ab, beispielhaft bei
der Beschreibung, wie Heydrich an seinem Totenbett dem anwesenden Himmler
Verse rezitierte (Vgl. Wehner 09.02.1950, 28).
In seinem „großen surrealen Pandämonium“ (Hachmeister 1998, 330) machte
Wehner eine Vielzahl von Aussagen zur Organisation, zum Personal und zu Aufgaben und Tätigkeiten der damaligen Kriminalpolizei. 76
3.1.1 Organisation:
Als Ausgangspunkt schilderte Wehner die Kriminalitätsbekämpfung in den
1920er-Jahren, welche „an den durch die Republik gezogenen engen Grenzen“ litt
(20.10.1949, 20). Die Kripo wäre den Verbrechern unterlegen gewesen. Das
PLKPA wäre nur eine an die „Berliner Polizei angeschlossene ‚Briefkastenbehör-
75
Tatsächlich war die Quellenbasis von 54 Interviews mit Zeitzeugen „besonders problematisch,
da sie in der Masse offensichtlich von ehemaligen Mitarbeitern und Freunden des Autors (und
Nebes) abgegeben wurden.“ (Schulte, J. E. 2009, 29)
76
Als Beleg werden nur Datum des jeweiligen Spiegelheftes und Seitenzahl angegeben.
37
de‘ “ gewesen, die „in einem Zimmerchen des Polizeipräsidiums untergebracht“
war (29.09.1949, 24).
Als Kontrast beschrieb er die Kripo im Dritten Reich, welche „die hervorragenden
Kriminalpolizeien Oesterreichs, Frankreichs und der Tschechoslowakei überrundete, von Englands berühmten Institut Scotland Yard nicht zu reden“ (29.09.1949,
22). Wehner fuhrt fort, dass die internationale Fachwelt das 1937 geschaffene
RKPA als oberste Nachrichten- und Kontrollinstanz mit Weisungsrechten bewunderte, welches in der Lage war, die überregionale Kriminalität effektiv zu bekämpfen (24.11.1949, 28; 01.12.1949, 26). Insbesondere das KTI wäre die „Krone seiner [Arthur Nebes, d. Verf.] Schöpfung“ gewesen, es hätte „wirklich phantastisch“ gearbeitet (01.12.1949, 25). Nebe wäre auch stolz auf die Arbeit „seines
ausgezeichneten kriminalbiologischen Instituts“ gewesen (16.03.1950, 28). Wehner resümierte, dass bei Kriegsbeginn „Nebe eine intakte, vorzüglich arbeitende
Kripo vorweisen“ konnte (22.12.1949, 26).
Auch nach der Integration in das RSHA war laut Wehner die Unabhängigkeit der
Kripo nicht gefährdet: Das RSHA bestand nur auf dem Papier, kein SS-Mann
wäre jemals Beamter geworden (01.12.1949, 23). Aus diesem Grunde wäre bei
den Nürnberger Prozessen das Amt V des RSHAs (Kripo) nicht als verbrecherische Organisation angesehen worden (ebd., 23f.).
3.1.2 Personal:
Wehner gab an, dass die Leute um Arthur Nebe alle keine überzeugten Nationalsozialisten waren: „Es gibt in der ganzen Berliner Kripo keinen Beamten, der
mehr Nationalsozialist als Kriminalist ist.“ (01.12.1949, 22). So hätte Albert
Widmann vom KTI sogar dem Führer widersprochen, wenn es um die Sache ging
(23.03.1950, 31).
Die Angleichung der Dienstränge von Polizei und SS erfolgten nach Wehner automatisch (01.12.1949, 23); Kriminalbeamte hätten aber nie eine SS-Uniform getragen (ebd., 28).
Für Wehner war Nebe „der einzige Polizeigeneral, der kein wirklicher SS-Führer
war.“ (29.09.1949, 22) Er wäre „mehr Kriminalist als Nationalsozialist und Widerständler zusammengenommen“ gewesen (ebd.), der „unglücklich in den
Machtapparat“ geraten war und sich aus diesem „Teufelspakt“ nicht mehr befrei38
en konnte (17.11.1949, 24). Nach Ansicht Wehners spielte er den gefügigen Nazi,
um die Kripo erfolgreich vor Einflüssen von Gestapo und SS zu bewahren
(01.12.1949, 22). Durch die Abordnung zur Einsatzgruppe wäre er dann von
Heydrich zum „Massenhenker“ gemacht worden (09.02.1950, 22). Wehner stellte
fest,
dass
Nebe
vom
„anständigen,
ehrgeizigen
Ausrottungshäuptling“
(02.02.1950, 25) zum „wichtigste[n] Informant[en] der Widerstandsbewegung“
wurde (16.03.1950, 31).
Sein Stellvertreter Paul Werner war laut Wehner „der gute Geist der Kriminalpolizei, [...] ein pflichttreuer Mann“ (01.12.1949, 24), der gegen seinen Willen befördert wurde (ebd., 23). Er hätte bei Streitereien zwischen Kripo und Gestapo
stets vermittelt und dabei eine „segensreiche Sorge“ an den Tag gelegt (ebd., 24).
Als Leiter des KBIs war für Wehner „Dr. Dr. Ritters Fachwissen nicht zu ersetzen“ (ebd., 23). Dieser hätte nicht aus Kirche austreten wollen, stattdessen wäre es
ihm gelungen, mit Hilfe von Nebe Pfarrer aus dem KZ Dachau zu befreien
(16.03.1950, 28).
Karl Schulz erhielt nach Wehner nicht seine verdiente Beförderung, weil er kinderlos war (01.12.1949, 23). Dabei hätte er rücksichtslos gegen Partei und Wehrmacht ermittelt und wäre später Leiter der Gruppe WI „Wirtschaftsdelikte“ geworden (12.01.1950, 22).
Wehner war nach eigenen Angaben der „Nebesche Mordspezialist“ (12.01.1950,
24), welcher während des Krieges „die Fahne der Kripo“ hochhielt (23.03.1950,
27). In vielen diffizilen Fällen hätte er auch gegen Mitglieder von NSDAP und SS
ermittelt und dabei trotz aller Widerstände auf die kriminalistische Lösung des
Falles gesetzt. Hierbei hätte er sich auch einem Parteigerichtsverfahren der
NSDAP stellen müssen (12.01.1950, 23-26; 19.01.1950, 22ff.). Sein „kriminalistische[r] Ehrgeiz“ wäre stets Wehners Leitmotiv geblieben (23.03.1950, 31).
Nebe hätte bei vielen problematischen Kriminalfällen Wehner geschickt, „der ihm
schon manche Kastanie dieser Dicke aus dem Feuer geholt hatte.“ (09.02.1950,
22) So hätte er in Kreta durch seine kriminalpolizeilichen Ermittlungen ein
„halbwegs befriedetes Land“ hinterlassen (02.02.1950, 27). Laut Wehner erwarb
sich die Kripo dadurch „ehrliche Verdienste in allen besetzten Ländern Europas
um die Aufklärung kriminalistischer Tatbestände, die allerdings manchmal heftig
ins Politische hinüberspielten“ (ebd.).
39
3.1.3 Aufgaben/Tätigkeiten:
Einen Großteil der Serie besteht aus Schilderungen von Kriminalfällen, so dass
der Eindruck entsteht, die Kripo des Dritten Reiches hätte lediglich - im Gegensatz zur Kripo der Weimarer Republik auch erfolgreich - Straftaten aufgeklärt und
Schwerverbrecher gefasst. Sonstige Aktivitäten der Kripo erwähnte Wehner nur
am Rande. Er führte die Statistik der „Vorbeugungshaft“ an, die - ohne Angabe
von Gründen - besonders bedeutsam für Nebe war (22.12.1949, 26). 77 Zudem
erwähnte er das Referat für „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, welches
Listen von KZ-Insassen („Berufsverbrecher“, „Wilddiebe“) erstellte, um diese an
die Front zu schicken (16.03.1950, 26f.).
Auch weitere Themen riss er lediglich an: So berichtete er von der „Verschärften
Vernehmung“ der Gestapo, welche Nebe und Werner für die Kripo vehement ablehnten (24.11.1949, 28). Er sprach über die „Sonderbehandlung“ durch die Gestapo („auf der Flucht erschossen“), durch die Heydrich zu niedrige justizielle
Strafen „korrigierte“ (05.01.1950, 25; 12.01.1950, 22).
Die Tätigkeit der Einsatzgruppen umschrieb er mit der Durchführung von Pogromen gegen Juden. Er erwähnte die Tätigkeit von Nebe als Leiter der Einsatzgruppe B. Dieser hätte die Statistiken gefälscht und seine Männer zu Erschießungen
motiviert (02.02.1950. 24f.). Zudem beschrieb er das Testen von Gaskammern
durch Nebe und dessen Anteil an der Entwicklung der Gaswagen (ebd., 25f.).
Über die Zustände im KZ Buchenwald findet sich folgende Passage:
Natürlich kam auch das Schicksal Hunderter und Tausender von Häftlingen zur
Sprache. Die Begriffe Mord, Folterungen, Bestialitäten und sonstige Scheußlichkeiten schwirrten in der KZ-Luft wie die Fliegen über verwahrlosten Dunghaufen. (23.02.1950, 26)
Wehner war im Rahmen seiner Ermittlungen dort gewesen.
3.1.4 Fazit:
Eine von Wehners Kernaussagen war, dass nach 1933 eine effektive Organisation
geschaffen wurde, in der kriminalpolizeiliche Aufgaben professionell bewältigt
77
Aus dieser ging hervor, dass zwischen dem 31.12.1937 und dem 31.12.1938 die Zahl der „Vorbeugungshäftlinge“ von 2.809 auf 12.921 stieg, darunter auch eine Vielzahl „Asozialer“. Hinzu
kamen 3.231 Personen, welche planmäßig überwacht wurden. Weitergehende Erklärungen oder
Hintergründe erwähnte Wehner nicht.
40
werden konnten. Diese Arbeit reduzierte er auf die (meist) erfolgreiche Aufklärung von Kriminalfällen gegen allen Widerstand (22.12.1949, 24). Andere Beteiligte des Ermittlungsverfahrens oder geänderte gesetzliche Rahmenbedingungen
blendete er weitgehend aus oder ließ sie unkommentiert: So berichtete er regelmäßig über die Hinrichtung der gefassten Täter, ohne dies zu werten.
Die „Herren von der politischen Fakultät“ (24.11.1949, 28) - die Gestapo - versuchten sich nach Wehner verstärkt in die Arbeit der Kriminalpolizei einzumischen. Trotz Sonderbefugnissen, welche die Kriminalbeamten vehement ablehnten, hätte die Gestapo jedoch seinen Angaben nach nur aus „Schmalspurdetektive[n]“ bestanden (20.04.1950, 21), die der Kripo „in keinem Augenblick das
Wasser reichen“ konnten (05.01.1950, 23).
Sonstige Facetten des Repressionsalltag werden nur kurz angerissen: Wehner
sprach von der Notwendigkeit der Verstärkung der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ und erwähnte lapidar, dass die vor 1933 diskutierte „dauernde Verwahrung“ nach 1936 die Einweisung in ein KZ bedeutete (24.11.1949, 28). Über
die Situation in den KZs wäre die Kriminalpolizei zwar informiert gewesen
(23.02.1950, 26), Nebe hätte jedoch nichts dagegen ausrichten können
(22.12.1949, 24).78 Den Massenmord der Einsatzgruppen bezeichnete er für die
eingesetzten Beamten als „Schlammassel“ (02.02.1950, 27) und für Nebe als Leiter der Einsatzgruppe B als „fürchterlichste Zeit seines Lebens.“ (ebd., 24)
Wehner setzte bei seinen Schilderungen mehrere Stilmittel ein: Kurzes Erwähnen
und Anreißen, Verharmlosungen, saloppe, euphemistische Ausdrücke und falsche
Angaben. Widersprüchlichkeiten ließ er meist unkommentiert stehen. Zudem
nutzte er Gegensatzpaare: Kripo (gut, professionell, ermittelnd) - Gestapo
(schlecht, politisch, prügelnd und mordend), Weimarer Republik (schlechtes, föderales System, dem Verbrecher weit unterlegen) - Drittes Reich (zentrale Steuerung, einheitliche Standards, auf Augenhöhe mit den Verbrechern).
Betrachtet man jedoch den derzeitigen Forschungsstand, war sein größtes Stilmittel das Weglassen: So erwähnte er zwar die Erosion des Rechtsstaates, sagte aber
nicht, dass die Kripo die neuen Freiheiten ebenfalls nutzte. Er sprach kurz über
die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, sagte aber nicht, dass die Kriminal78
Das hielt Wehner jedoch nicht davon ab, KZ-Insassen als „grobe Schwindler und Volksschädlinge“ zu bezeichnen (29.09.1949, 20).
41
polizei hierfür zuständig war, der Kriminalbeamte vor Ort die „Vorbeugungshaft“
anordnete und damit über Leben und Tod der Betroffenen entschied. Die Verantwortung der Kripo für die Deportation zehntausender Sinti und Roma nach
Auschwitz und die Repressionen gegen „Asoziale“, Homosexuelle, Jugendliche,
Zwangsarbeiter und entflohene Kriegsflüchtlinge ließ er unbeachtet. Auch die
Beteiligung des KTIs an Euthanasie und der Entwicklung „humaner“ Tötungsarten sowie die Forschungen des KBIs als Grundlage von Deportationen und Mordaktionen blieben unerwähnt. Kein Wort verlor er über das erbbiologische Paradigma der kriminalpolizeilichen Arbeit, den Terror gegen soziale Randgruppen als
angebliche Träger krimineller Gene und die Arbeit am Gesetz gegen „Gemeinschaftsfremde“. Denn nur auf diese Weise gelang es ihm - trotz aller Widersprüchlichkeiten - bei seiner Aussage zu bleiben: Die Kripo konzentrierte sich auf
ihre originäre Tätigkeit der Verbrechensaufklärung. Sie war gefestigt genug, sich
in dem Regime zu behaupten (29.09.1949, 22).
Neben ausführlicher Eigenwerbung charakterisierte er die (meisten) Kriminalisten
als unpolitisch und professionell. Über Nebe finden sich eine Vielzahl teils sehr
widersprüchlicher Aussagen: Mal war er ein Menschenfreund, mal ein Judenschikanierer (13.10.1949, 29). Nebe „segelte als oberster Fach-Kriminalist unter eigener Flagge“ (22.12.1949, 27), lag jedoch ständig im Kampf mit seiner Umgebung:
Wie sollte ein so ängstlicher Mann wie Arthur Nebe in dieser Bruthölle der Macht
sein reines Herz bewahren und auf das richtige Pferd setzen? Das war unmöglich.
Es war nicht unmöglich. Nebe bewies es. Man mußte sich auf sein Fachgebiet beschränken, man mußte unentbehrlicher Spezialist und im übrigen eine Nummer
sein. Dann konnte man sein Gewissen entlasten. (ebd.)
Und laut Wehner traf dies auch auf die gesamte Kripo des Dritten Reiches zu: Sie
war zwar kein Hort des Widerstandes, da sie überwiegend aus Familienvätern,
nicht aus „Helden und Märtyrer[n]“ bestand (01.12.1949, 22). Aber mit der Konzentration auf die vorbehaltlose, professionelle und weitgehend rechtsstaatliche
Aufklärung von Straftaten sowie der Fahndung nach Verbrechern hätte sich die
Kripo - im Gegensatz zu Gestapo, SS und SD - ihr reines Gewissen erhalten.
3.2
„Im Namen des Gesetzes. Ein Kripochef zieht Bilanz“ (Rheinische Post
1970):
Vom 09. April 1970 bis zum 04. Juni 1970 erschien diese 29-teilige Serie in der
Rheinischen Post aus Düsseldorf. Die Beiträge wurden jeweils auf Seite 3 veröf42
fentlicht und erschienen unregelmäßig mehrfach die Woche. Sie waren zweispaltig und jeweils mittig mit einem Bild versehen.
In der Serie finden sich zunächst überwiegend Fälle aus der Zeit Wehners bei der
Kriminalpolizei in Düsseldorf. Später beschrieb er auch Fälle aus dem Dritten
Reich, die bereits aus der Spiegel-Serie bekannt waren. So stellte er in den letzten
Folgen detailliert seine Ermittlungen nach dem 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier sowie die anschließende Fahndung nach dem mutmaßlichen Mitverschwörer
Nebe dar. Der Sprachstil war insgesamt deutlich sachlicher als bei der SpiegelSerie, was möglicherweise daran lag, dass Wehner unter seinem eigenen Namen
und in der Funktion des gerade pensionierten Leiters der Düsseldorfer Kripo
schrieb.79 Zudem zwang ihn der begrenzte Platz zu deutlichen Kürzungen. So gibt
es nur wenige allgemeine Angaben zur Organisation der Reichskriminalpolizei:
Diese bezeichnete er als „komplett.“ (29.04.1970)80 Aber auch dort wären Fehler
gemacht worden, „die selbst in einer dezentralisierten Polizei hätten vermieden
werden können.“ (ebd.) Wehners Fokus lag wieder auf der Effektivität einer starken kriminalpolizeilichen Zentralinstanz: In der letzten Folge sprach er über die
aktuelle Situation der Kriminalpolizei und sah neben Personalproblemen, finanziellen Engpässen insbesondere die Erfordernis der organisatorischen Weiterentwicklung: „Das Bundeskriminalamt muß heraus aus der Rolle einer reinen Briefkastenbehörde und sollte [sic] (auf die Verbrechensaufklärung beschränktes) Weisungsrecht erhalten.“ (04.06.1970)
3.3
„Erlebte Kripo. Ein Rückblick auf 35 Jahre Kripodienst“ (Polizei+Verkehrsjournal 1972-1976):
Der Schwerpunkt dieser 37-teiligen Serie81 liegt auf der Darstellung von Kriminalfällen aus der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der BRD. Die Fälle
vor 1945 hatte Wehner bereits in der Spiegel-Serie geschildert.82 Auch der Aufbau
und die Detailliertheit der Darstellung wirken vertraut; ganze Passagen wurden
79
Als „Erkennungszeichen“ war über jeder Folge seine Dienstmarke mit der Nr. 1 abgebildet.
Als Beleg wird nur Datum der jeweiligen Ausgabe der Rheinischen Post angegeben.
81
Die erste Folge erschien im Heft 4 des Jahres 1972 (April). Zu dieser Zeit erschien die Fachzeitschrift noch monatlich. Mit Beginn des Jahres 1974 wurde auf einen zweimonatigen Erscheinungszyklus umgestellt. Die letzte Ausgabe erschien im Heft 4 des Jahres 1976 (August).
82
Einen Großteil der Serie nehmen der Fall Sass, die Ermittlungen nach dem Attentat vom 20. Juli
1944 sowie die anschließende Fahndung nach Nebe ein.
80
43
übernommen. 83 Sprachstil, Wortwahl und ein Layout ohne Bilder und Skizzen
sind jedoch im Vergleich zur Spiegel-Serie sachlicher. Trotz weniger Angaben zu
Organisation und Personal ähneln sich die Aussagen zur Kriminalpolizei des Dritten Reiches und zu deren Chef Nebe.
Wehner beschrieb kurz die Entwicklung des RKPAs ab 1936, zeigte die Organisation auf und zitierte aus den amtlichen Erlassen bezüglich deren Aufgaben
(3/1973, 38-42).84 Er riss die Zusammenlegung mit Gestapo und SD im RSHA an.
Diese hätte jedoch keine tiefgreifenden Veränderungen für die Kripo gebracht.
Lediglich der Briefkopf hätte sich geändert. Zudem wäre es einfacher gewesen, an
Autos der Gestapo zu kommen (3/1973, 40). Ab 1939 wäre es dann zu einer automatischen Angleichung der Dienstränge von Polizei und SS gekommen (3/1973,
40). Er selbst wäre nur interniert worden, da er Kriminalrat aus dem RSHA war.
Tatsächlich hätte er nur dem RKPA angehört (3/1976, 32).
Obwohl es „prächtige Männer auch bei der Stapo“ (1/1972, 34) gab, war sie laut
Wehner der Gegenspieler der Kripo. Sie hätte im Gegensatz zur Kripo ganz offiziell „prügeln“ dürfen (1/1976, 52f.).
Für Wehner war Nebe Widerstandskämpfer, Opportunist und „Schreibtischmörder“ (1/1972, 34). Er hätte eine „beschämende[...] und fast speichelleckende[...]
Unterwürfigkeit“ gegenüber der SS-Führung an den Tag gelegt (3/1973, 40).
Hier wollte er Chef einer nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitenden Kripo
sein, dort ahmte er den selbstsicheren SS-Führen nach, die sich als Herren über
Tod und Leben nicht nur gebärdeten. (4/1974, 78)
Er wäre krank, gar schizophren geworden: „Kriminalist Nebe macht von nun an
zackige Anstalten, den SS-Führer Nebe zu verdauen. Was ihm letztlich nie gelingen wird.“ (ebd.) Er „half sich damit, daß er als SS-Führer keine Kenntnis von
Dingen nahm, die er als Kripochef angeordnet hatte.“ (6/1975, 52)
Die Stilmittel ähneln denen der Spiegel-Serie: Kurzes Anreißen, Widersprüchlichkeiten, Schwarz-Weiß-Bilder und Verharmlosungen. So beschrieb Wehner
zwar die Entwicklung des Gaswagens mit Hilfe von Nebe, verschwieg aber, wo
diese eingesetzt wurden und welche Folgen dies hatte (5/1974, 74-78). Die Tätig-
83
Im Gegensatz zur Serie in der Rheinischen Post stand Wehner hier mehr Platz zur Verfügung.
Trotzdem finden sich in der Serie mehrere Hinweise auf eine spätere Erörterung des Themas. die
dann doch nicht erfolgte. Wehner entschuldigte dies in der letzten Folge (4/1976, 64).
84
Als Beleg werden nur Heftnummer sowie Seitenzahl angegeben.
44
keit der Einsatzgruppen verharmloste er erneut als „Schlammassel“ (5/1974, 76).
Auch bei dieser Serie ist das schlichte Weglassen einer Vielzahl von Fakten das
dominierende Mittel: Keine „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, kein biologistisch begründeter staatlicher Terror gegen gesellschaftliche Randgruppen und
Zwangsarbeiter, keine „Jugendschutzlager“, keine Deportationen von Sinti und
Roma usw.
Vielmehr erweckt die reine Darstellung der Fälle erneut den Eindruck einer nach
„rechtsstaatlichen Grundsätzen“ arbeitenden Kriminalpolizei, die sich auf die
kriminalistische Falllösung gegen alle Widerstände 85 konzentrierte und an den
Greueltaten des Regimes - im Gegensatz zur Gestapo - nicht beteiligt war.
3.4
„Das Spiel ist aus. Die Geschichte der deutschen Kriminalpolizei“ (Gustav
Lübbe 1983):
Im Vorwort des Buches bescheinigte der ehemalige Präsident des BKAs Horst
Herold dem Autor eine „unbeirrte moralische Wachheit und […] fachliche Autorität“, welche ihm „den Respekt und die Bewunderung aller Kriminalisten eingetragen“ hätte (7). 86 87 Wehner dokumentiere in seinem Buch das „unablässige Bemühen der Kriminalpolizei [...], den Wettlauf mit dem Verbrechen durch organisatorische Anpassung und ständige Verfeinerung der kriminalistischen Untersuchungsmethoden zu gewinnen.“ (ebd.)
Wehner stellte die Entwicklung der Kriminalpolizei von ihren Anfängen in der
Kaiserzeit bis zu Beginn der 1980er-Jahre dar. Ähnlich der Spiegel-Serie dominieren detaillierte Falldarstellungen. Die Fälle vor 1945 waren bereits Gegenstand
der Spiegel-Serie. Sie wurden zum Teil gekürzt dargestellt, andere Passagen wurden sinngemäß oder wörtlich aus der früheren Veröffentlichung übernommen.
Zudem zitierte Wehner regelmäßig aus dem Werk von Heinz Höhne von 1967
(Ziffer 4.2.5). Zwischen die Falldarstellungen fügte er einige Kapitel ein, die sich
85
Tatsächlich finden sich erneut zwei Falldarstellungen, bei denen Wehner eigenen Angaben zufolge gegen SS- und Parteimitglieder ohne Rücksicht auf deren Amt ermittelt hatte.
86
Da grundsätzlich in diesem Unterkapitel nur aus Wehners Buch zitiert wird, wird als Beleg nur
die Seitenzahl angeben. Sonstige Quellen werden vollständig ausgewiesen.
87
Herold kam in seinem Vorwort zu dem Schluss, dass die Rolle der zentralisierten Kriminalpolizei im Dritten Reich und ihre Beteiligung an Verbrechen die „zentrale Kommandolösung abgewertet“ und für die kommenden Jahrzehnte diskreditiert hat (Wehner 1983, 8). Er plädierte angesichts der geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine exekutive Stärkung des
Bundeskriminalamtes (ebd.).
45
mit den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie der Entwicklung der kriminalpolizeilichen Organisation befassen.
Viele Dialoge, Anekdoten und vorgeblich vertrauliche Details der Ermittlungsarbeit sollen das Buch laut Buchumschlag zu einem „erregende[n] Bericht eines
Insiders zur Arbeit der deutschen Kriminalpolizei“ machen, welcher zugleich informiert als auch unterhält. Die objektive, neutrale Information tritt dabei in den
Hintergrund, die Sprache ist jedoch gegenüber der Spiegelserie deutlich sachlicher. An einigen Stellen findet man wieder den bekannten saloppe, verharmlosende Sprachstil: Die Einsatzgruppen waren ein „ ‚buntscheckige[r] Haufen‘ von
3000 Mann“ (265). Nach der Ermordung der Brüder Sass („auf der Flucht erschossen“) „blieb ein ungutes Gefühl“ (193). Um der „bedrückenden KZAtmosphäre“ im Rahmen seiner Ermittlungen in Buchenwald zu entgehen, ließ
Wehner Zeugen nach Weimar bringen (239). Der größte Teil des Buches widmet
sich der Kriminalpolizei des Dritten Reiches (153 - 268):
3.4.1 Organisation:
Mit der Reichskriminalpolizei hätte sich „der Traum weitsichtiger Kriminalisten
und Polizeifachleute aus der Weimarer Zeit in fast ungeahntem Umfang verwirklicht“ (161). Mit der Gliederung von RKPA, Kriminalpolizeileitstellen und Kriminalpolizeistellen „war ein ‚Stahlnetz‘ über das ganze Deutsche Reich gespannt.“ (162) Das RKPA mit den angegliederten Reichszentralen hätte reichsweite Exekutivrechte besessen, wäre jedoch personell nur unzureichend ausgestattet gewesen, um selbständig Ermittlungen durchführen zu können (163f.).
Beim RKPA wäre das KTI eingerichtet geworden, welches die Durchführung von
Lehrgängen für Spezialbeamte und die Einführung kriminaltechnischer Untersuchungsstellen bei allen Kriminalpolizeistellen verantwortet hätte (203). Die Neuordnung und Vereinheitlichung der WKP im gesamten Reich stellte laut Wehner
einen „Markstein der Frauenarbeit in der Polizei“ dar (166).
Zudem beschrieb Wehner die Planungen zur Verschmelzung von SS und Polizei
zu einem Staatsschutzkorps (207). Das erste „äußere[...] Anzeichen“ hätte dabei
die Dienstrangangleichung dargestellt, bei der höhere Polizeibeamte nach und
nach in die SS übernommen wurden (208). 1939 wäre das RSHA geschaffen worden, wobei die Zusammenlegung von SD und Polizei nur auf dem Papier erfolgt
wäre (ebd.).
46
3.4.2 Personal:
Die Beamten sahen nach Wehner keine Notwendigkeit zum Widerstand gegen die
Nationalsozialisten, sie waren an Befehl und Gehorsam der Kaiserzeit gewohnt
und in der Masse unpolitisch (156). So hätte die Ausführungsebene geringen Anteil an organisatorischen und personellen Veränderungen in der Kripo gehabt
(206). Nur wenige hätten den Namen von Nebe gekannt, „der sicher nicht mehr
Nationalsozialist als besessener Kriminalist war“ (201) und dessen „Servilismus“
(194) die Kripo vor Einflüssen von Gestapo und SS bewahrte.
Die Ausführungen von dessen Stellvertreter Paul Werner88 hätten Wehner betroffen gemacht. Diese würden aber nicht dessen Einstellung entsprechen. Vielmehr
hätte es sich bei Werner um einen „ ‚Durchschnittsmenschen‘ in den Jahren des
braunen Terrors [gehandelt, d. Verf.], der die Gesinnungsproklamationen um so
lauter von sich gab, je weniger er an sie glaubte.“ (201) Auch „die Alliierten fanden nach dem Zusammenbruch keinen Makel an diesem Mann, obwohl sie sich
sehr intensiv mit ihm in einem englischen Sonderlager befaßt haben“ (201).
3.4.3 Aufgaben/Tätigkeiten:
Unter den Nationalsozialisten wäre es zu einer „rigorose[n] Kampfansage an das
Verbrechen“ gekommen (176). Revolutionärer als die Zentralisierung der Polizei
war nach Wehner der Wandel des Polizeibegriffes bzw. des Polizeiverständnisses
(194). Die Eskalation der Vorbeugungspraxis wäre mit der Ausweitung der Zielgruppen einhergegangen. Wehner konstatierte, dass die Erhaltung der Gesundheit
der Volksgemeinschaft zur obersten Maxime polizeilichen Handelns wurde
(200f.). Mit den neuen Möglichkeiten hätte die SS-Führung auch die Zustimmung
erfahrener Kriminalisten gewonnen, welche bislang dem neuen politischen System eher abwartend gegenüberstanden (195).
Bereits durch preußische Erlasse von 1933 und 1934 (die auch in den anderen
Ländern Anwendung fanden) war es laut Wehner möglich, Auflagen gegen „Berufsverbrecher“ zu verhängen oder „Vorbeugungshaft“ in KZs anzuordnen (198).
Eine solche Einweisung wäre jedoch nur bei Auflagenverstößen ausgesprochen
worden (199). Nach der Meinung Wehners war das Ziel die „Abschreckung“ des
88
Wehner zitierte Passagen aus einem Beitrag von Paul Werner aus dem Jahre 1939 über „Nationalsozialistische Verbrechensbekämpfung“ (201).
47
einzelnen Verbrechers sowie der Gesellschaft im Allgemeinen (199). In der Praxis
wären diese Vorschriften „mit althergebrachter Gelassenheit“ umgesetzt worden,
man hätte sich durchaus mal auf der Bettkante niedergelassen, um mit dem polizeilichen Gegenüber zu plaudern (ebd.). „Kriminalbeamte waren schon immer
Pragmatiker.“ (ebd.) Und die Arbeit der WKP war für Wehner schon immer auf
Prävention angelegt, sie hätte sich problemlos in die Kriminalpolitik des Dritten
Reiches eingefügt (166) Als Folge musste sich laut Wehner die WKP nach dem
Krieg für die „Jugendschutzlager“ rechtfertigen, „die man nach 1945 den Konzentrationslagern zuordnen wollte.“ (ebd.)
Heydrich hätte die Erlasse genutzt, „um den Vorbeugungsgedanken weiterzuspinnen und in menschenverachtender Weise in die Tat umzusetzen.“ (199) Über die
tatsächlichen Konsequenzen dieser Kriminalpolitik hätten viele Kriminalbeamte
nichts wissen wollen:
Was mit Gestapo und erst recht mit KZ zu tun hatte, war auch den Beamten der
Kripo suspekt. Auf das Wort KZ reagierten sie in gleicher Weise wie die meisten
Deutschen damals - mit Verdrängungsmechanismen, geboren aus der Furcht vor
etwas Schrecklichem, das man zwar ahnte, aber nicht kannte, von dem sich jeder
einzelne in unbestimmter Weise bedroht fühlte, und dem man aus dem Wege zu
gehen suchte. (234)
Kriminalbeamte wären auch zu den Einsatzgruppen abgeordnet worden (265).
Nebe, der sich laut Wehner freiwillig zur Leitung einer Einsatzgruppe gemeldet
hatte, hätte die Zahlen der Erschießungen gefälscht und hilflose Menschen in Irrenhäusern vergast (266). Heydrich hätte diese Idee aufgegriffen und Vergasungswagen konstruieren lassen (267).
Die Polizei war nach Ansicht Wehners an dem Schicksal der „Zigeuner“ beteiligt.
Die polizeilichen Repressionen gegen die „Zigeuner“ würden heute eine „Hypothek“ für die Polizei darstellen (124). Die Nationalsozialisten, die sich „in ihrem
Rassenwahn zur Ausrottung der Zigeuner hinreißen ließen“, wurden nach der
Aussage Wehners durch die Polizeieliten hierzu gedrängt (ebd.).
3.4.4 Fazit:
In der Einleitung schrieb Wehner, dass ein völliges Beseitigen der Kriminalität
nicht möglich wäre, auch nicht mit den präventiven Maßnahmen des Dritten Reiches (15). Trotz dieses „Eingeständnisses“ findet man erneut bekannte Stilmittel
48
wie Verharmlosungen, Beschönigungen, Fehldarstellungen, unkommentierte Widersprüche und vor allem das Weglassen relevanter Informationen:
Zwar erwähnte Wehner nun die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, welche
durchaus von vielen begrüßt wurde. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass die Kripo
hierbei nur eine Nebenrolle spielte und mit den KZ-Einweisungen - die ja anfänglich seiner Ansicht nach nur bei Auflagenverstößen angeordnet wurde - lediglich
am Rande zu tun hatte. Vielmehr bleibt die „Gelassenheit“ in Erinnerung, mit
denen die Kriminalbeamten die Vorschriften umsetzten. Es war ja Heydrich, der
für die spätere Eskalation der Prävention verantwortlich war. Dass diese Konzepte
von leitenden Kriminalbeamten wie Paul Werner nicht nur reaktiv umgesetzt,
sondern maßgeblich von ihnen entwickelt und gefordert wurden, dass die Kriminalisten das Instrument der „Vorbeugungshaft“ in der Praxis radikal auch in ihrem
eigenen Interesse nutzten und somit wissentlich für die Qualen und den Tod Tausender in den KZs verantwortlich waren, ließ Wehner unerwähnt. 89 Seiner Meinung nach wussten die Kriminalbeamten nichts über die Zustände in den KZs, da
sie dies verdrängten. Und die eigenen „Jugendschutzlager“ waren ja keine KZs.
Die Aktionen der Einsatzgruppen riss Wehner in einem kurzen Abschnitt an. Die
Beteiligung der Institute an verbrecherischen Aktionen erwähnte er nicht. So war
die Polizei zwar an dem „grauenvolle[n] Schicksal“ der „Zigeuner“ beteiligt
(124), Art und Umfang der Maßnahmen und die Rolle der Kriminalpolizei fanden
bei Wehner keine Erwähnung. Vielmehr zitierte Wehner umfangreich aus kriminologischen und polizeilichen Schreiben zur „Behandlung der Zigeunerfrage“, die
mit Vorurteilen und Diskriminierungen durchsetzt sind (125f.). Wehner sah sich
1983 außerstande, diese Aussagen zu werten, geschweige denn ein Wort über die
Ermordung der „Zigeuner“ mit Hilfe der Kripo zu verlieren (126).
Am Ende bleiben zwei Kernaussagen: Eine einheitliche und zentralistische Organisation ist das Maß der Dinge, denn die „Schwächen des Föderalismus bei der
überörtlichen Verbrechensbekämpfung“ (279) sind mit Gegenmaßnahmen wie
beispielsweise der AG Kripo nur zu mildern (ebd.). Diese Botschaft wirkt wie
89
Im ersten Nachkriegskapitel sprach Wehner über die Entlassung von 6.000 „Gewohnheits- und
Berufsverbrecher“ aus dem KZ, welche zur Explosion der Kriminalität nach dem Krieg maßgeblich beitrug (269). Die Zahl ist zu gering, die Deportation von „Asozialen“ ließ er unberücksichtigt (Vgl. Wagner 2002, 172).
49
eine Provokation, da Wehner „im ganzen Buch die Form der Verfolgung vom
Schicksal der Verfolgten“ völlig abkoppelte (Dingel 1988, 176).
Zudem war die Kripo für Wehner strikt von SS, SD und Gestapo zu trennen. Das
RSHA bestand für ihn nur auf dem Papier, die Übernahme der SS-Dienstgrade
erfolgte automatisch. Und bei der Aufklärung von Straftaten als eigentlicher
Kernkompetenz der Kripo hätte man „im nationalsozialistischen Deutschland
durchaus kriminalistische Bemühungen zur Wahrheitsfindung und juristische
Überlegungen [gefunden, d. Verf.], wie sie auch heutiger Rechtsauffassung entsprechen würden.“ (189) Für Wehner sorgten Himmler und Heydrich mit Absicht
für das Ende der effektiven, zentralisierten deutschen Kripo, da sie die Kriminalbeamten mit der Übernahme in die SS formell an die Ideologie des Nationalsozialismus banden und damit deren Arbeit politisierten und diskreditierten (155). Und
die Gestapo blieb für ihn der ewige Gegenspieler der Kriminalpolizei, welcher
voll Neid auf deren Arbeit und Ansehen in der Bevölkerung blickte. Folgerichtig
hätte Wehner ein Übernahmeangebot vom Leiter der Gestapo abgelehnt (226).90
3.5
„Vom Unrechtsstaat ins Desaster. Die Rolle der Kriminalpolizei im Dritten
Reich“ (Kriminalistik 1989):
Diese siebenteilige Serie über die Geschichte der Kriminalpolizei während der
nationalsozialistischen Diktatur erschien in dem Fachmagazin „Kriminalistik“. In
den ersten Folgen überwiegt die Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Lage in der Weimarer Republik und der Anfangszeit des Dritten Reiches.
Ausführlich beschrieb Wehner die letzten Monate der Republik, die Machtübernahme der Nationalsozialisten und die Konsolidierung der Diktatur. Hiermit wollte er belegen, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Republik war, es im
Jahr 1933 keine Revolution gab und die Kriminalpolizei nach dem 30. Januar
1933 einfach ihre Arbeit fortführte (260f.). 91
Darstellungen einzelner Kriminalfälle finden sich nicht mehr. Wehner schrieb zur
Organisation der Kriminalpolizei, ihrem Personal, ihren Aufgaben sowie der kriminalpolizeilichen Praxis. Hierbei zitierte er mehrfach seine früheren Publikatio-
90
91
Dieses Detail konnte oder wollte er offensichtlich in der Spiegel-Serie nicht erwähnen.
Da grundsätzlich in diesem Unterkapitel aus dieser Serie zitiert wird, erfolgt als Beleg nur die
Seitenzahl. Sonstige Quellen werden vollständig ausgewiesen.
50
nen sowie das Buch Heinz Höhnes zur SS (Ziffer 4.2.5). Durch die inhaltliche
Beschränkung ist der Stil überwiegend sachlich und neutral.
3.5.1 Organisation:
Die Kripo hätte ihre „beste Zeit in der Weimarer Republik“ gehabt (583) Nach der
Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wäre eine „vom politischen Geschehen weitgehend unabhängige Aufbauzeit“ gefolgt, da die Kripo für die Nationalsozialisten nur „Nebensache“ war (ebd.). Das „einschneidendste Ereignis für
die Kripo“ war für Wehner die Einrichtung des RSHAs (ebd.). Hierbei hätte sie
„kaum andere Funktionen als die Bauern im Schachspiel“ gehabt (584). Es wären
jedoch keine Mitglieder des SD zu (Kriminal-)Beamten gemacht worden (583).
3.5.2 Personal:
Das Gros der Führungselite der Kripo war für Wehner politisch deutschnational
und rechts eingestellt. Sie hätten die neuen Möglichkeiten unter den Nationalsozialisten zur Entwicklung einer „effektiven“ Verbrechensbekämpfung nutzen
und/oder Karriere machen wollen (402). Im Gegensatz dazu wären die unteren
Ränge meist republikanisch und bei weitem nicht so engagiert wie ihre Führung
gewesen (ebd.). Laut Wehner erfolgte nach der Machtübernahme die Säuberung
von republikanischen Beamten durch die Polizei selbst (340). Es wäre zu Verrat,
Denunziationen und Opportunismus in der Beamtenschaft gekommen (402). Allerdings war laut Wehner die Zahl der entlassenen Beamten nicht hoch (402; 548).
Es hätte durchaus Kripo-Beamte gegeben, welche die NS-Ideologie mitgetragen
hätten (665): „Die Eiferer in der (Kriminal-)Polizei, die ihres Vorteils wegen blinden Gehorsam geleistet haben, waren ganz sicher in der Minderheit“ (666). Die
Mehrheit der Beamten hätte sich den Verhältnissen angepasst (ebd.). Denn die
Kripo hatte nach Ansicht Wehners „keinen Stauffenberg“ 92 , die Familienväter
hätten überwogen (665). Bei den Ermittlungen vertrat man laut Wehner aber
durchaus auch gegen Widerstände die kriminalistische Sichtweise und wiedersprach auch Heydrich, wenn dies notwendig war (ebd.). Niemand hätte hierdurch
92
In der Spiegel-Serie war Stauffenberg für Wehner noch „ein politischer Wirrkopf. Wäre dieser
eindrucksvolle Initiator und Organisator des Putsches voll zum Zuge gekommen, ständen die
Russen heute nicht an der Elbe, sondern mindestens am Rhein.“ (23.03.1950, 26)
51
ernsthafte Konsequenzen zu befürchten gehabt, auch nicht bei der Verweigerung
von Befehlen im Rahmen des Osteinsatzes (ebd.).
Ab 1937 mussten nach Wehner Kripo-Beamte auf Lehrgängen in Uniform teilnehmen; anschließend wären sie automatisch in die SS aufgenommen worden
(404). In den letzten Jahren hätten alle Kripo-Beamten SS-Uniformen getragen
(260). Wehner führte aus, dass die Eingliederung der Kripo in die SS jedoch keine
weiteren Folgen hatte (697).
Arthur Nebe und Paul Werner hielten nach Aussage Wehners die Kripo vor den
Einflüssen von SS und Gestapo fern (668). Wehner wäre selbst erschrocken gewesen, als er zum ersten Mal vor einigen Jahren die Ausführungen Werners von
1939 las (ebd.). Aber Werner wäre kein Nationalsozialist gewesen (ebd.), eher der
Prototyp des „ ‚Durchschnittsmenschen‘ in jenen Jahren, der die Gesinnungsproklamationen umso lauter von sich gab, je weniger er an sie glaubte.“ (667)
Friederike Wieking, die Leiterin der WKP, war für Wehner „hochgeschätzt“ und
wollte „für die gefährdeten Kinder und Jugendlichen [...] das Beste tun“ (668).
Auch die Einweisung in die „Jugendschutzlager“ wäre gut für die Betroffenen
gewesen, diese wären ansonsten in ein KZ gekommen. Wehner glaubte nicht, dass
Wieking dort Kinder und Jugendliche foltern ließ (ebd.).
3.5.3 Aufgaben/Tätigkeiten:
Die Kriminalpolizei ging laut Wehner gegen den Terror der Anfangsjahre durch
SS, SA und Gestapo nicht konsequent vor (551). In den ersten Jahren hätte der
Fokus der Verbrechensbekämpfung auf der Gruppe der „Berufsverbrecher“ gelegen. Im Bereich des Strafrechts und des Strafprozessrechts gab es nach Aussage
Wehners einige neue Gesetze, darunter das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933. Es hätte jedoch keine explizit nationalsozialistische Gesetzgebung
gegeben. Wehner beschrieb, dass die Kripo die Gesetze weit auslegte, auch zugunsten der Festgenommenen (603). Diese Praxis, obwohl Unrecht, wäre von den
Kriminalbeamten nicht als Unrecht empfunden und eingestuft worden (ebd.).
Aufgrund der preußischen Gesetze des Jahres 1934 (präventive polizeiliche
Überwachung), welche auch in den anderen Ländern eingeführt wurde, hätte die
Kriminalpolizei größere Befugnisse erhalten. Bei Verstößen gegen erteilte Aufla52
gen wäre auch die Einweisung in ein KZ möglich gewesen (602). Für Wehner
wurden die Vorschriften jedoch „mit althergebrachter Gelassenheit in die Praxis
umgesetzt.“ (ebd.)
Für die Erweiterung der Präventionsmaßnahmen auf andere Gruppen (666) und
der Entwicklung zur „ ‚nationalsozialistische[n] Verbrechensbekämpfung‘ “ (601)
hätten Nebe und Werner alleine die Verantwortung getragen und mit dem neuen
Polizeibegriff „der Gelassenheit der Praxis“ (666) ein Ende gesetzt.
Auch Jugendliche wären nun zum Objekt polizeilicher Maßnahmen geworden. So
wurden nach Wehner „Jugendschutzlager“ in Moringen (August 1940) und
Uckermark (Juni 1942) eingerichtet, in denen ähnliche Bedingungen wie in einem
Konzentrationslager herrschten (258; 667). Das RKPA hätte über die Einlieferung
von Kindern und Jugendlichen in diese Lager und deren weiteren Verbleib entschieden. So hätte auch die Möglichkeit bestanden, die weitere Vollstreckung in
einem KZ anzuordnen (258).
Das RKPA verstand seine Lager als Chance für diejenigen Jugendlichen, die durch
den Grad ihrer Verwahrlosung einen Gefahrenherd für die übrigen minderjährigen
‚Zöglinge‘ darstellten, die man aber dennoch nicht grundsätzlich in ein KL einweisen wollte. (258)
Auch über die Praxis in den KZs hätten die Kriminalbeamten Bescheid gewusst.
Laut Wehner bekamen sie Fernschreiben über das Schicksal der Eingelieferten
und zogen dabei oft den Schluss, „daß die Betreffenden eines unnatürlichen Todes
gestorben sind.“ (665)93
Die Kripo wäre an den Massentötungen der Einsatzgruppen beteiligt gewesen, bei
denen etwa 1 Million Menschen starben (258; 698). Nebe hätte sich freiwillig als
Leiter der Einsatzgruppe B gemeldet und wäre auch für die Vergasung von Menschen mit Hilfe des KTIs verantwortlich gewesen (402).
Die Bekämpfung der „Zigeuner“ wäre erst 1943 aufgrund einer Anordnung des
KBIs in den Fokus der Kripo geraten und hätte die Deportation nach Auschwitz
zur Folge gehabt (701f.). Wehner wusste wie die meisten Kriminalbeamten nichts
davon. Nur einige „Schreibtischtäter“ wären für die Deportationen verantwortlich
gewesen (702).
93
In der Serie finden sich auch Zahlen über das Ausmaß des industriellen Massenmordes in den
KZs (258).
53
3.5.4 Fazit:
Trotz erkennbarer Fortschritte, die „Verstrickung auch der Kripo mit den Verbrechen des SS-Staates“ (ebd.) zu belegen, hinterlässt auch diese Publikation einen
zwiespältigen Eindruck. Fehler, Widersprüche und Auslassungen trüben das Bild
der Darstellung: Für die Ausweitung der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ waren alleine Nebe und Werner verantwortlich, aber wer ordnete die einzelnen Maßnahmen an, die meist den Tod des Betroffenen zur Folge hatte? Besonders die Relativierungen zu Werner, Wieking und den einzelnen „Schreibtischtätern“ bei den Deportationen der Sinti und Roma sowie die Verharmlosung der
„Jugendschutzlager“ als „bessere Alternative zum KZ“ grenzen an Zynismus.
Auch die detaillierte Schilderung des „schrittweisen Selbstmord[s]“ der Weimarer
Republik (335), der gesellschaftlichen Ablehnung der Republik, und der politischen Ränkespiele bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten vermittelt den
Eindruck, dass die Polizei zwangsläufig in die Diktatur rutschte und dann weitgehend schuldlos zum Werkzeug der Politik wurde.94
Und ein zentrales Thema griff Wehner erneut auf: Die Abgrenzung der Kripo zu
Gestapo und SS. Die Arbeit der Gestapo war ein „widerliche[s] Geschäft“ (403).95
Sie hätte dabei foltern dürfen (583; 601). Die Kripo dagegen legte laut Wehner
ihre Befugnisse durchaus auch zugunsten des Betroffenen aus (603). Er gab zwar
jetzt zu, dass Kriminalbeamte SS-Uniformen trugen, jedoch wäre dies die einzige
Folge der Eingliederung in die SS gewesen: Die Übernahme des SS-Dienstranges
erfolgte automatisch. Die Kripo kam ohne ihr Zutun ins RSHA, SD-Beamte wurden keine Kriminalisten.
Im Gegensatz zu früheren Publikationen behauptete Wehner jedoch zum ersten
Mal nicht, dass es für eine effektive Kriminalitätsbekämpfung zur Organisation
der Reichskriminalpolizei keine Alternative gibt.
94
Ähnliche Ausführungen machte auch das damalige Mitglied der Kriminalistik-Redaktion
Waldemar Burghard in seinem Begleitwort zur Serie (1989, 259). Die Polizei wäre lediglich das
„Werkzeug“ der Politik. Die politischen Kräfte würden alleine bestimmen, ob das polizeiliche
Handeln eher liberal oder totalitär ist. Weiterhin beklagte er, dass die Polizei die gesellschaftliche Funktion des „Prügelknabe[n] für die Sünden jener Zeit“ einnimmt, während die Justiz „mit
dem Mantel der Liebe zugedeckt wird.“ Burghard war der Auffassung, dass die Rolle der Polizei
im Dritten Reich von liberalen Kräften in der gesellschaftlichen und politischen Debatte dazu
missbraucht wurde, der Polizei erforderliche Befugnisse zu verweigern.
95
Das Zitat findet sich identisch bei Heinz Höhne (Ziffer 4.2.5).
54
Vergleicht man alle Veröffentlichungen, ist durchaus eine Entwicklung zu registrieren. So beinhalten insbesondere die letzten Publikationen - zumindest ansatzweise - Aspekte, die Wehner bis dahin schlichtweg ignorierte: Die „Vorbeugende
Verbrechensbekämpfung“, der neue Polizeibegriff, die Verantwortlichkeit der
Kripo für die Deportation der Sinti und Roma, die Beteiligung von KTI und KBI
an verbrecherischen Maßnahmen sowie das Ausmaß des Massenmordes der Einsatzgruppen und in den KZs. Diese Entwicklung kann sowohl mit der Art und
Weise der Veröffentlichung (nicht mehr anonym, Fachmagazin), mit veränderten
persönlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen
sowie mit geänderten Motiven und Funktionen (Ziffer 5) zusammenhängen.
Besonders in der letzten Veröffentlichung von 1989 bleibt der Eindruck haften,
dass Wehner seine „Zugeständnisse“ und „Korrekturen“ am Bild der Kripo mit
der stärkeren Betonung eines anderen Motivs gleich wieder relativierte: Die Kriminalpolizei wäre ohne ihr eigenes Verschulden im großen gesellschaftlichen
Konsens in die Diktatur geraten und dort lediglich ein Werkzeug der Machthaber
gewesen, das die Maßnahmen ohne eigene Überzeugung exekutieren musste:
Das was an der Kriminalpolitik des Nationalsozialismus besonders menschenverachtend war, sei also der Kripo gewissermaßen von außen aufgezwungen und von
ihr nur äußerlich angenommen worden. (Wagner 1996, 14)
Täter wurden so zu Opfern, die tatsächlichen Opfer blieben nur reine Objekte
kriminalpolizeilicher Maßnahmen (Vgl. Schulte, J.E. 2009, 28).
Und Wehners Kernbotschaften blieben über die Jahre weitgehend konstant:

Die zentrale, einheitlich organisierte Verbrechensbekämpfung des Dritten
Reiches war der föderal organisierten bei der Bekämpfung von „Berufsund Gewohnheitsverbrecher“ weit überlegen.

Die Kriminalpolizei (und ihre Beamten) gehörte nur formell der SS an. Im
Gegensatz zur Gestapo, zur SS und zum SD war sie ideologisch neutral,
beschränkte sich auf ihre Aufgaben und ihre weitgehend rechtsstaatlichen
Befugnisse und war nicht direkt an den Exzessen dieser Zeit beteiligt.

Die Kernkompetenz der Kriminalpolizei, die auch am ehesten ihrem beruflichen Selbstverständnis entsprach, war die professionelle, rücksichtslose
Aufklärung von Straftaten gegen alle Widerstände.
55
Diese Botschaften (oder Teile davon) wurden in den vergangenen Jahrzehnten
von vielen Personen wiederholt. Auf diese Weise bildeten sie die Grundlage für
die Legende von der „sauberen, unpolitischen und professionellen Kriminalpolizei“ und waren exemplarisch für das Bild der Reichskriminalpolizei in der BRD.
4. Rezeption und Legendenbildung:
Nachfolgende Publikationen wurden in den Nachkriegsjahrzehnten in der BRD
veröffentlicht. Ob die Spiegel-Serie (oder andere Publikationen Wehners) Grundlage und Quelle all dieser Werke war, kann nicht zweifelsfrei belegt werden. Sie
entsprechen nicht heutigen wissenschaftlichen Standards. Meist verfügen sie nicht
über Zitationen im Fließtext und Literaturverzeichnisse. Trotzdem finden sich in
allen Publikationen Aussagen und Muster, die ein beschönigendes Bild der Kriminalpolizei des Dritten Reiches zeichnen und Argumentationslinien und Stilmittel der Spiegel-Serie aufgreifen. Insbesondere in den Werken von Harder und Gisevius (Ziffer 4.2.2; 4.2.3) sind deutliche Parallelen erkennbar. Bei Höhne (Ziffer
4.2.5) wird Wehner zitiert, meist aber nur bei der Darstellung chronologischer
Ereignisse im Rahmen von Kriminalfällen.96 Auch in neueren Werken mit höheren wissenschaftlichen Standards finden sich noch Zitate der Spiegel-Serie.97
Bei den hier aufgeführten Beiträgen handelt es sich ausschließlich um sogenannte
„Public History“, d.h. Werke außerhalb der Geschichtsschreibung (Vgl.
Bösch/Goschler 2009, 7-23). Historiker haben lange Zeit die Rolle der Kripo im
Dritten Reich nicht beachtet. In diesem Vakuum bestand die Möglichkeit, das
Geschichtsbild im eigenen Interesse zu beeinflussen.98
96
Wehner wiederum zitierte in seinen Publikationen von 1983 und 1989 aus dem Werk von Höhne
(Ziffern 3.4; 3.5). In dem Literaturverzeichnis seines Buches von 1983 finden sich daneben ohne
Zitation im Fließtext die Werke von Zirpins (Ziffer 4.1.1), Wieking (4.1.3), Harder (4.2.2) und
Gisevius (Ziffer 4.2.3).
97
Die Spiegel-Serie wird auch hier in der Regel bei der detaillierten Darstellung von Fällen zitiert
(Beispielhaft Wildt 2002, 302; Kiess 2011, 93 und 313; Rathert 2001, 161 und 170). Einige Autoren weisen hierbei auf fehlerhafte Darstellungen Wehners hin (Vgl. Haasis, Hellmut G. 2002:
Tod in Prag. Das Attentat auf Reinhard Heydrich. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt). S. 210).
98
Einen vergleichbaren Beitrag für die Geschichte der Ordnungspolizei im Dritten Reich leistete
Paul Riege mit seinem Werk „Kleine Polizei-Geschichte“. Ihm gelang es, die Beteiligung der
uniformierten Polizei an den Massakern der Einsatzgruppen völlig auszublenden (Vgl. Schenk
2001, 295f.). Auch mit der Kriminalpolizei und der Gestapo befasste sich Riege kurz und beschränkte sich auf die Feststellung, „daß der Gestapo im Laufe der Zeit Rechte eingeräumt wurden, die die althergebrachten Grenzen einer wohlverstandenen Polizeigewalt erheblich überschritten.“ (Riege 1966, 132f.) Auch hier wurde der Gestapo die alleinige Verantwortung für die
„Grenzüberschreitungen“ des Dritten Reiches übertragen.
56
Unterschieden wird dabei zwischen Fachbeiträgen, die von Kriminalbeamten oder
für eine kriminalistisch vorgebildete Leserschaft geschrieben wurden (Ziffer 4.1)
sowie sonstigen Beiträgen, die für ein breiteres Publikum bestimmt waren und oft
auch in romanhafter Form erschienen (Ziffer 4.2). Als Belege in den einzelnen
Unterkapiteln werden grundsätzlich nur die Seitenzahlen des jeweils behandelten
Werkes aufgeführt. Sonstige Quellen werden wie gewohnt angegeben.
4.1 Fachbeiträge:
4.1.1 Walter Zirpins: Die Entwicklung der polizeilichen Verbrechensbekämpfung
in Deutschland (1955):
Zirpins gehörte der Kriminalpolizei des Dritten Reiches an. Er war unter anderem
Lehrer von Wehner am Polizeiinstitut in Berlin-Charlottenburg, von 1940 bis
1941 Kripochef im polnischen Lódz und in den letzten Jahren des Hitlerregimes
auch im RSHA beschäftigt. Nach dem Krieg war er Autor und Informant für den
Spiegel, wurde 1951 Referent für die Kriminalpolizei im niedersächsischen Innenministerium, dann Leiter der Kripo in Hannover, später Leiter der Landeskriminalpolizei Niedersachsen (Vgl. Schenk 2001, 315; Wildt 2002, 769f.).
Zirpins schrieb bereits während der NS-Zeit „Fachbeiträge“ 99 ; auch nach dem
Krieg veröffentlichte er neben dem hier behandelten Buch eine Vielzahl von Beiträgen, insbesondere zur Wirtschaftskriminalität. 100 In seinem Buch befasste er
sich unter der Überschrift „Die Weiterentwicklung von der Verbrechensbekämpfung zur Verbrecherbekämpfung“ auch mit der Kriminalpolizei des Dritten Reiches (34-45). In dem Buch finden sich keine Zitationen der Spiegel-Serie. Es verfügt auch nicht über ein Literaturverzeichnis.
Zirpins schilderte die Problematik des „Berufsverbrechers“ und sah die Erlasse
zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ als „wichtigste […] Anordnung
99
Seine Erfahrungen als Kripo-Leiter in Lódz beschrieb er 1941 in der Zeitschrift „Kriminalistik“
in einem zweiteiligen Beitrag mit dem Titel „Das Getto in Litzmannstadt, kriminalpolizeilich
gesehen.“ Ohne die verbrecherische und menschenverachtende Einrichtung des Ghettos zu beurteilen, beschrieb er die kriminalpolizeiliche Tätigkeit als „eine Arbeit, die immer unter den
denkbar ungünstigsten, schwierigsten und schmutzigsten Verhältnissen vor sich geht, die aber
andererseits als Neuland reizt und ebenso vielseitig wie interessant und vor allem beruflich
dankbar, d.h. befriedigend ist.“ (1941, 112) Hierbei hatte die „Zusammenpferchung von Kriminellen, Schiebern, Wucherern und Betrügern auch sofort ihre b e s o n d e r e n k r i m i n a l p o l i z e i l i c h b e d e u t s a m e n E r s c h e i n u n g s f o r m e n gezeitigt“ (ebd., 98, Hervorh. i.O.).
100
Viele Beiträge erschienen in den 1950er und 1960er-Jahren in der Zeitschrift „Kriminalistik“.
57
[…] auf kriminalpolizeilichem Gebiete“ (35). Der Fokus der Polizei richtete sich
von nun an auf den Verbrecher „ d u r c h t o t a l e s E r k e n n e n u n d E r f a s sen des Gegners in seiner Gesamtheit und durch seine U ns c h ä d l i c h m a c h u n g . “ (37, Hervorh. i.O.)
Die Reichskriminalpolizei war laut Zirpins von der Gestapo getrennt und wurde
„unmittelbar nach ihrer Gründung harten Bewährungsproben durch die ihr im
zweiten Weltkriege gestellten Aufgaben ausgesetzt, die sie aber glänzend bestanden hat.“ (40) Bei den Machthabern hätte sie aufgrund ihrer steten Ausrichtung
auf der Erforschung der Wahrheit „immer einen schweren Stand gehabt […] und
[wurde, d. Verf.] stets als fünftes Rad am Wagen behandelt“ (45).
Daß sich die deutsche Kriminalpolizei trotzdem eine in aller Welt (sogar nach
Kriegsende von den Besatzungsmächten) anerkannte verantwortungsvolle Stellung
erworben hat, lag an ihrer von Berufsethos getragenen Erkenntnis von den zwingenden Notwendigkeiten einer modernen Verbrechensbekämpfung und an der von
ihr stets im Gedanken an Rechtsbewußtsein, Selbstverantwortung und Achtung vor
der Menschenwürde entwickelten modernen Bekämpfungsweise. (ebd.)
Nach dem Krieg hätte der Zusammenbruch der Kripo und die Freilassung von
„Berufsverbrechern“, „Asozialen“ und „Landfahrern“ zu einem rasanten Anstieg
der Kriminalität und chaotischen Verhältnissen geführt (46).101
Zirpins zeichnete das Bild einer nach rechtsstaatlichen und ethischen Grundsätzen
arbeitenden „modernen“ Kripo, welche die Menschenwürde stets achtete (!) und
für ihre Leistung bewundert wurde. So viel Unverfrorenheit und Zynismus legte
nicht mal Wehner an den Tag, der seine Botschaften verdeckter transportierte.
„Glücklicherweise“ gelang laut Zirpins trotz Widerstände noch der Transfer von
kriminalistischer Erfahrung in die Bundesrepublik und verschaffte so der Kripo
neuen Aufschwung. Er schloss mit einem Plädoyer, der Kripo nun auch die notwendigen Befugnisse an die Hand zu geben (65).
4.1.2 Hans Jess: Die Not der Kriminalpolizei (1956):
Dieser Beitrag des ehemaligen Präsidenten des BKAs (1952-1954) wurde im Mai
1956 in der Zeitschrift „Kriminalistik“ über die „Kriminalpolizei als Stiefkind der
101
So blieb laut Zirpins auch das Problem der „Zigeunerbekämpfung“ bestehen, einzig Bayern
hätte hierfür eine „sicherheitspolizeilich befriedigende Lösung“ gefunden (65 , Ziffer 5.2.3).
58
Verwaltung“ (149) veröffentlicht. In dem Text ging Jess auch auf die Kriminalpolizei des Dritten Reiches ein:102
Auf dem Gebiete der Kriminalpolizei schuf er [der NS-Staat, d. Verf.], beraten von
den alten, erfahrenen und fachkundigen preußischen Kriminalbeamten, eine sehr
zweckmäßige, für die Verbrechensbekämpfung brauchbare und übersichtliche
Reichskriminalpolizei. (150)
Er führte weiter aus, dass die Kripo
nichts zu tun hatte mit der politischen Polizei des nationalsozialistischen Regimes,
der berüchtigten Geheimen Staatspolizei, die völlig abgetrennt vom Amt V im Amt
IV des Reichssicherheitshauptamtes unter dem Titel ‚Gegnererforschung und
-bekämpfung‘ organisiert war. Trotzdem wurden die Untaten der Gestapo nicht nur
von den Siegermächten, sondern auch von vielen Deutschen der Kriminalpolizei
angelastet, was zur zumindest zeitweisen Ausschaltung wertvoller Fachkräfte beim
Aufbau der deutschen Kriminalpolizei nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945
geführt hat. (ebd.)
Jess führte weiter Klage über einen „überspitze[n] Föderalismus“, der den Aufbau
einer wirkungsvollen, einheitlichen und möglichst zentralisierten Kriminalpolizei
verhindert hätte (ebd.). Zudem beklagte er sich über den Nachwuchs: In Preußen
und während des Dritten Reiches hätte man es verstanden, qualifizierten Nachwuchs auch für die Leitungsfunktionen anzuwerben und auszubilden (152).
Obwohl nicht selbst Protagonist der Reichskriminalpolizei, griff Jess die angebliche Effektivität ihrer zentralisierten Organisation auf und trennte die Kripo nachdrücklich von der verbrecherischen Gestapo.
4.1.3 Friedericke Wieking: Die Entwicklung der weiblichen Kriminalpolizei in
Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (1958):
Wieking war Leiterin des Referats WKP im RKPA. Nach Kriegsende wurde sie
für fünf Jahre in Buchenwald interniert und kehrte nicht mehr in den staatlichen
Dienst zurück. Sie beschrieb in dem Buch die Geschichte der WKP bis zum Ende
des Hitler-Staates. Der zweite Teil wurde von Grete Gipkens verfasst und befasste
sich mit dem Aufbau der WKP ab 1945.103 Er bleibt an dieser Stelle unberück-
102
Jess zitierte nicht die Spiegel-Serie.
Gipkens war während des Dritten Reiches bei der WKP und nach dem Kriege maßgeblich am
Wiederaufbau der WKP in NRW beteiligt. Sie schrieb unter dem Titel „Strukturwandlungen der
Weiblichen Polizei“ 1949 einen Aufsatz in der Zeitschrift „Kriminalistik“. In diesem blieb
Gipkens (1949, 135) vage, was die Grundlagen der Arbeit der WKP im Dritten Reich betraf: „Es
erübrigt sich, auf die Richtlinien näher einzugehen, sie sind in Fachkreisen weitgehend bekannt.“
Hinsichtlich der Arbeit der WKP wurde sie auch nicht konkreter: „Es [das Misstrauen der männlichen Kollegen, d. Verf.] hat sich jahrelang erhalten und wurde nur zögernd abgelegt, wenn
103
59
sichtigt. Das Buch enthält ein Literaturverzeichnis, im Text gibt es jedoch nur
wenige Zitationen. Die Spiegel-Serie erwähnte Wieking nicht.
Wieking wollte die Entwicklung der WKP jenseits von Frauenrechten und sonstigen politischen Ideen in Gänze darstellen:
Vielmehr ist hier etwas gewachsen und organisch entwickelt zunächst allein aus
dem Willen zu karitativer Arbeit an kriminell oder sexuell gefährdeten Menschen,
und zwar dies neuen Erkenntnissen gemäß in sich allmählich erneuernden Formen.
(5)
Für Wieking stellt die Einrichtung einer WKP auf Reichsebene einen „Markstein
in der Entwicklung der Frauenarbeit bei der Polizei“ dar (56).104
Sie beschrieb die Notwendigkeit der Maßnahmen auf Grundlage der neuen „Polizeiverordnung zum Schutz der Jugend“ aufgrund der steigenden Jugendkriminalität im Krieg (68.). Die Einrichtung der „Jugendschutzlager“ betrachtete sie in diesem Zusammenhang als eine Notwendigkeit, da im Krieg eine Lücke bei potentiellen Unterbringungsmöglichkeiten bestand (69). Ohne diese Lager wären die
Jugendlichen in ein KZ gekommen (70f.).
Dem Rufe der Jugendschutzlager haben die Geschehnisse in den Konzentrationslagern, denen man sie - unberechtigterweise - nach 1945 zuordnen wollte, sehr zum
Schaden gereicht. (71)
Die Lager hätten ihre Berechtigung gehabt:
Wenn auch bei der kurzen Zeit ihres Bestehens ein abschließendes Urteil über die
Jugendschutzlager nicht gegeben werden kann, so darf doch wohl darauf hingewiesen werden, daß beide Lager neben ihrer Aufgabe der Bewahrung asozialer Minderjähriger ihren Auftrag, einen letzten Erziehungsversuch an ihnen durchzuführen,
verantwortungsbewusst und gewissenhaft ausgeführt haben. (74)
Wieking als oberste Verantwortliche für die Lager erwähnte nicht die dortigen
Verhältnisse, die Zwangsarbeit, die Forschungen des KBIs, die Überführung in
„reguläre“ KZs sowie die dortigen Todesfälle. Wehner griff die Argumentationslinie Wiekings in seinen letzten beiden Publikationen weitgehend auf.
4.1.4 Wolfgang Ullrich: Verbrechensbekämpfung (1961):
Das Buch wendet sich laut Klappentext vornehmlich an Polizei- und Kriminalbeamte, Staatsanwälte und Rechtsanwälte und beschäftigt sich auch mit der Ge-
auch schließlich der intensiven und konsequenten Arbeit der WKP […] die Anerkennung nicht
versagt bleiben konnte.“ (ebd.)
104
Das gleiche Zitat findet sich in dem Buch von Wehner ohne Zitation (1983, 166).
60
schichte der Kriminalpolizei des Dritten Reiches (238-254). Im Vorwort beklagte
Ullrich die Zerschlagung der zentralen Polizeistruktur nach dem Krieg und die
geringen Kompetenzen des BKAs (VII und VIII).105
Ullrich schilderte die Entwicklung zum RKPA und die Einrichtung des RSHAs
(240-246). Er betonte die Wichtigkeit der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung und zitierte dabei die Richtlinien des RKPA (239). Weiterhin führte er aus,
dass die Kriminalpolizei nicht die Methoden der Gestapo übernahm (ebd.).
Auch die WKP und deren Aufgaben finden Erwähnung:
Obgleich die Möglichkeiten einer Verbrechensverhütung von Seiten des Entwicklungsproblems gering sind, bot sich doch für die Weibliche Kriminalpolizei ein reiches Betätigungsfeld in der Ausschaltung schädlicher Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung gewisser Kinder und Jugendlicher.“ (247)
Die Entwicklung der Kripo war 1939 für Ullrich vorerst abgeschlossen. „Bei
Kriegsausbruch war die deutsche Kriminalpolizei eine technisch und organisatorisch gut entwickelte Institution.“ (249) Während des Krieges hätte die Kripo in
den besetzten Gebieten „eines besonderen Maßes an Takt nicht entbehren [können, d. Vef.], denn ohne Zusammenarbeit - das stellte man bald fest - ließ sich
eine wirksame Verbrechensbekämpfung nicht durchführen.“ (250) Ullrich bedauerte, dass die erforderliche Verreichlichung der Kripo gerade unter den Nationalsozialisten vollzogen und daher für die Nachkriegszeit diskreditiert wurde (253).
Insgesamt stellte Ullrich die Entwicklung sachlich dar. Verschiedene Zitationen
einschlägiger Erlasse und Richtlinien geben dem Werk einen wissenschaftlichen
Anstrich. Trotzdem verzerrt die stark verkürzte Darstellung mit bekannten Aussagen das Bild über die tatsächliche Rolle der Kripo des Dritten Reiches. 106
105
Hierbei zitierte er den Text von Jess (Ziffer 4.1.2) und einen Aufsatz von Wehner aus der Kriminalistik des Jahres 1957 mit dem Titel „Die Notwendigkeit einer zentralen Verbrechensbekämpfung“ (Ziffer 5.1.2).
106
Bereits 1955 hatte Ullrich im Rahmen eines Vortrages an der Universität des Saarlandes Ausführungen zur Kripo des Dritten Reiches gemacht: Nach der allgemeinen Darstellung der organisatorischen Entwicklung kam er zu dem Schluss, dass durch „die Bildung der Reichskriminalpolizei, den Untergang des Föderalismus in Deutschland durch die nazistische Vormachtstellung
[…] auf organisatorischem Gebiet für die Kriminalpolizei das geschaffen [wurde, d. Verf.], was
zu einer modernen Verbrechensbekämpfung notwendig war: die zentrale Lenkung der KriminalExekutive.“ (Ullrich 1955, 306) Dem Ende des Krieges wäre dann die Dezentralisierung der
Kripo gefolgt einhergehend mit dem Anstieg der Kriminalität durch die „Freilassung von Berufsverbrechern, die sich z.T. mit dem Mäntelchen eines politisch Verfolgten tarnten“, was zu
einer Kriminalität „von unvorstellbarem Ausmaß“ führte (ebd.).
61
4.1.5 Paul Dickopf/Rolf Holle: Das Bundeskriminalamt (1971):
Dieses Buch erschien anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung des BKAs. Die
Verfasser sind der damalige Präsident (Dickopf) und der Vizepräsident (Holle)
des BKAs. Beide besuchten 1938 gemeinsam einen Kommissarslehrgang der
„Führerschule der Sicherheitspolizei“ (Ziffer 2.2.2) und gehörten nach dem Krieg
zur Gruppe der „Charlottenburger“, die maßgeblich Einfluss auf den Aufbau und
die Entwicklung des BKAs hatten (Vgl. Schenk 2001, 66ff.; Ziffer 5.2). Das Buch
enthält Aussagen zur Entstehung der Reichskriminalpolizei (24-30).
Nach der Darstellung von Entwicklung, Organisation und Aufgaben schlossen die
Autoren mit der Feststellung, dass die „Reichskriminalpolizei […] in ihrer ursprünglichen Form als bedeutender Fortschritt in der Bekämpfung besonders des
reisenden Verbrechertums angesehen“ werden muss (30). Durch die reichsweite
Vereinheitlichung und Standardisierung wäre „die Kriminalpolizei zu einer äußerst wirksamen Waffe im Kampf gegen das gewerbs- und gewohnheitsmäßige
Verbrechertum“ geworden (ebd.).
Diese stark verkürzte Darstellung einer „effektiven“ und „fortschrittlichen“ kriminalpolizeilichen Organisation im Dritten Reich wurde verbunden mit einer Kritik
an den Zuständen nach dem Krieg: Eine „überörtliche Verbrechensbekämpfung“
war ohne Zentralinstanz kaum möglich (37). Auch nach Einrichtung des BKAs
hätte es aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen noch ein „Ungleichgewicht
zwischen Verbrechertum und Kriminalpolizei“ gegeben (117). Beide Autoren
verbanden dies mit der Hoffnung auf eine bessere materielle und personelle Ausstattung sowie eine Stärkung der operativen Kompetenz des BKAs, damit „die
Kriminalpolizei in der Bundesrepublik ihrer Aufgabe gerecht werden kann.“
(117f.)
4.1.6 Rudolf Sieverts/Hans Joachim Schneider: Handwörterbuch der Kriminologie (1977):
Dieses Werk beschäftigt sich auch mit der Geschichte der Kripo des Dritten Reiches. Als Quellen werden Jess (Ziffer 4.1.2) und Ullrich (Ziffer 4.1.4) genannt.
Durch die Entwicklung zur Reichskriminalpolizei „gelang es bald, die schwere
Kriminalität erheblich zurückzudrängen.“ (27) Dabei wären „Kriminalpolizei und
62
Staatspolizei [...] bis zum Zusammenbruch in ihren Zuständigkeitsbereichen völlig voneinander getrennt“ gewesen (28). Die Autoren kamen zu folgendem Fazit:
Durch die Zentralisation der kriminalpolizeilichen Aufgabe auf Reichsebene [...]
wurde die Kriminalpolizei im Kampf gegen das nicht bodenständige Verbrechertum, insbesondere den Berufs- und Gewohnheitsverbrecher, zu einem äußerst
wirksamen Instrument der Verbrechensbekämpfung. Dies wurde auch im Ausland
allgemein anerkannt. (ebd.)
Auch hier findet sich eine Botschaft Wehners: die Notwendigkeit einer zentralen
kriminalpolizeilichen Organisation zur Bekämpfung des „Berufsverbrechertums“.
4.1.7 Hans Groß/Friedrich Geerds: Handbuch der Kriminalistik (1978):
In der 10. Auflage dieses kriminalistischen Standardwerks (Band 2) findet sich
ohne Quellenangaben eine ähnlich klingende, stark verkürzte und beschönigende
Darstellung der Reichskriminalpolizei:
Alles in allem war die Kriminalpolizei somit weitgehend verselbständigt und zu einer wirksamen Waffe im Kampf gegen die Kriminalität und insb. gegen gewerbsund gewohnheitsmäßige Verbrecher geworden, welche überörtliche Aktivitäten
entfalteten. (533f.)
Auf die Entwicklung ab 1939 (RSHA) wird nicht eingegangen, da „sie durch die
politischen Verhältnisse oder durch den Krieg bedingt“ waren (534).
Gesagt sei nur, um Mißverständnissen vorzubeugen, daß trotz der weitgehenden
Verselbständigung auch in dieser Zeit die Kriminalpolizei organisatorisch von der
Staatspolizei (Gestapo) getrennt blieb. (ebd.)
Abschließend erfolgte ein Abriss über Entwicklung und Aufgaben der WKP
(534f.) mit Zitaten aus den Werken von Wieking und Gipkens (Ziffer 4.1.3).
4.1.8 Herbert Kosyra: Die deutsche Kriminalpolizei (1980):
Kosyra war ein Mitarbeiter der Reichskriminalpolizei (u.a. Kripostelle Kattowitz) 107 und des BKAs. Sein Buch befasst sich vorwiegend mit der deutschen
Kriminalpolizei nach 1945. In dem Werk gibt es keine Zitationen. Im Anhang
findet sich eine Passage zur Kripo des Dritten Reiches. Kosyra schilderte darin
107
Bereits 1958 hatte er seine dortigen Erfahrungen in dem Werk „Mörder, Räuber und Banditen.
Das polnisch-oberschlesische Bandenwesen während des zweiten Weltkrieges 1939/45“ in bester
propagandistischer Machart verarbeitet. Hierbei schilderte er unter Verwendung typischer nationalsozialistischer Begriffe den Kampf der deutschen Polizei „gegen ein entfesseltes Untermenschentum“ (9). In seinem Erfahrungsbericht gegen „Räuberbanden“ in Oberschlesien und Polen
wurden die Täter erneut zu Opfern gemacht: „Erschüttert stehen wir vor den Gedenktafeln der
von polnischer Verbrecherhand gefallenen Polizeibeamten.“ (13)
63
kurz die wichtigsten Eckdaten. Dann kam er - ohne entsprechende Zitation - zu
dem fast identischen Schluss wie Dickopf und Holle (Ziffer 4.1.5):
Sieht man von einigen Fehlentwicklungen ab, so kann man sagen, daß die auf der
alten preußischen Landeskriminalpolizeilichen Organisation aufgebaute reichskriminalpolizeiliche ein Fortschritt in der Bekämpfung vor allem des reisenden Verbrechertums war. (191)
Die Kripo wäre so „eine wirksame Waffe gegen das Verbrechertum“ geworden
(192).
4.1.9.Robert Harnischmacher/Arved Semerak:
108
Deutsche Polizeigeschichte.
Eine allgemeine Einführung in die Grundlagen (1986):
Laut Klappentext handelt es sich hierbei um ein Studienbuch. Es enthält ein Literaturverzeichnis und Zitationen im Text.109 Der inhaltliche Aufbau folgt jedoch
weder chronologischen Abläufen noch sinnhafter Logik und ist schwer nachvollziehbar. Zur Kripo im Dritten Reich finden sich nur wenige Angaben.
So wäre die Kriminalpolizei auch der „SS-mäßige[n] Ausrichtung“ ausgesetzt
gewesen. „Die Verbindung mit der SS (Verleihung von Dienstgraden ab 1940)
blieb vielfach nomineller Natur“ (105). Die Gestapo mit ihrem Instrument der
„Schutzhaft“ wäre für den Terror verantwortlich (104 und 106f.).
Der Krieg hätte auch für die Kriminalbeamten neue Aufgaben gebracht. Es war
laut Autoren „eine großartige Leistung, die viele Beamte bis zur körperlichen Ruinierung erbrachten, um noch das Chaos bis zum Untergang zu meistern.“ (105)
Hierbei hätten sich die Beamten laut „Büchern, die Tatsachenberichte enthalten
[…] fast durchaus gegenüber den aus politischen oder rassistischen Gründen Verfolgten menschlich und korrekt“ verhalten (106). So hätten sie oftmals dabei geholfen, „den Häftlingen ihr hartes Los sogar nach Kräften“ zu erleichtern (ebd.).
Die wirklichen Probleme wären erst nach dem Krieg entstanden. Der rasante Anstieg der Kriminalität hätte seinen Ursprung in der „Freilassung eines großen Teils
der Sicherungsverwahrten, der Berufsverbrecher und kriminellen Zigeuner sowie
Asozialen“ gehabt (131).
108
Harnischmacher schreibt regelmäßig Beiträge in der Zeitschrift „Kriminalistik“. Er hat laut
Cylex (Branchenbuch Deutschland) die Firma International Security and Media Consulting. Semerak war Polizeipräsident in Hamburg.
109
So wird auch das Werk von Zirpins zitiert (Ziffer 4.1.1).
64
Dieses Werk gibt der Gestapo die Verantwortung für die Verbrechen dieser Zeit,
glorifiziert die Arbeit der Kriminalbeamten vor Ort, lobt ihre Menschlichkeit und
diffamiert die Opfer kriminalpolizeilicher Arbeit.
4.2 Sonstige Veröffentlichungen:
4.2.1 Frank Arnau: Das Auge des Gesetzes. Macht und Ohnmacht der Kriminalpolizei (1962):
Der Schriftsteller befasste sich in seinem Buch auch mit Kripo des Dritten Reiches. In dem Werk gibt es keine Zitate. Nach einer allgemeinen Darstellung über
die organisatorische Entwicklung (61ff.) führte Arnau aus:
Zur Ehrenrettung der Kriminalpolizei sei erwähnt, daß die fachlich solide ausgebildete Beamtenschaft auch in den Jahren nach 1936 ehrlich bemüht blieb, weiter korrekt in den durch die Strafprozeßordnung abgesteckten Grenzen zu arbeiten. Herr
des Ermittlungsverfahrens blieb die Staatsanwaltschaft. (64)
Gestapo und Kripo waren laut Arnau
nicht identisch, ihre Beamten führten aber die gleichen Dienstgradbezeichnungen,
eine Tatsache, die später mit dazu beigetragen hat, die Kriminalpolizei in einem
nicht gerechtfertigten Maß zu diffamieren. (ebd.)
Somit griff er Wehners Motiv von der strikten Trennung der Organisationen auf.
4.2.2 Alexander Harder: Kriminalzentrale Werderscher Markt (1965):
Das Buch ist in Romanform gehalten und eine „Paraphrase zu der SPIEGELSerie“ (Kiess 2011, 370, Hervorh. i.O.). Der Schriftsteller Harder erzählte über
spektakuläre Kriminalfälle, welche schon Gegenstand der Spiegel-Serie waren.
Der Erzählstil samt detaillierten Dialogen und Anekdoten erinnert sehr an Wehners Werk.110 Einzelne Ausdrücke und Passagen wurden übernommen.111
Das Buch enthält keine Zitationen und kein Literaturverzeichnis. Zwischen die
Fälle fügte Harder Angaben über Organisation und Personal ein. Insbesondere
Arthur Nebe wird erwähnt, laut Klappentext der erste Kriminalpolizeichef, der
110
So berichtete auch Harder über die Suche nach Mussolini mit Hilfe eines Mediums.
So kann auch bei Harder die „Gestapo der Kriminalpolizei in fachlicher Hinsicht nicht das
Wasser reichen“ (20). Auch findet sich eine sehr ähnliche Beschreibung der Tatortarbeit nach
dem Attentat am 20. Juli. 1944, bei denen die Arbeit Wehners und dessen Begegnung mit Adolf
Hitler geschildert wird. (351-372) Gleiches gilt für die Ermittlungen Nebes 1939 in Polen sowie
die kriminalpolizeilichen Maßnahmen anlässlich des „Bromberger Blutsonntags“.
111
65
hingerichtet wurde, als ehrloser Verbrecher verschrien, aber in Wahrheit einer der
Wenigen, die die Möglichkeit hatten, gegen den Wahnsinn des Nazismus vorzugehen. Er bezahlte seinen Mut mit dem Leben.
In der Weimarer Republik gab es laut Harder die „personell vorzügliche, aber
organisatorisch unbefriedigende Berliner Kripo“, welche dann nach 1933 umgebaut wurde (112). Es wäre das RKPA entstanden, „mit all den tüchtigen Beamten
und den zahllosen technischen Hilfsmitteln, die ihm später den Ruf eines deutschen Scotland Yard verschafften“ (17). Nebe hätte „sich die besten Männer aus
der Kriminalpolizei des gesamten Reiches“ geholt (18). So wäre das „ideale Instrument zur Bekämpfung von Verbrechern“ entstanden, welches europaweit bewundert wurde (246 und 321).112
Laut Harder war Nebe der „bestgehaßte Mann“, da er konsequent Ermittlungen
gegen die SA und die SS durchführen ließ (129). Er hätte nur kriminalistischen
Ehrgeiz für die Aufklärung von Fällen entwickelt und die Kripo mit all seiner
Macht vor SS- und Gestapo-Einflüssen schützen wollen (208f.). Göring gegenüber hätte Nebe erklärt, dass
diese Geheime Staatspolizei ein Fiasko ist. Daß man ihr statt Kriminalisten nur alte
Nazis zuführt, die auf Grund ihrer niedrigen Parteinummer irgendwo untergebracht
werden müssen. Und daß diese Anwärter für die Gestapo oft Leute sind, die selbst
eine höchst kriminelle Vergangenheit haben. (134)
Himmler war für Harder der „‚Reichsheini‘, dem es nie gelang, auch die Kriminalpolizei zu einem seiner Unrechts-Instrumente zu machen“ (Bilduntertitel zw.
96 und 97).
Bei der Kripo hätte es die „korrekt denkenden und arbeitenden Beamten“ gegeben, während die Gestapo versucht hätte, alle Fälle im Interesse von SS und SD
an sich zu ziehen (161). Hierfür konnte sie nach Ansicht Harders „einsperren,
foltern und morden, ohne sich dafür verantworten zu müssen.“ (219)
Nebe hätte sich auf Drängen des Widerstandes für die Leitung der Einsatzgruppe
in der Sowjetunion gemeldet und dann dort die Erschießungszahlen gefälscht
(336f.). Schließlich wäre er Widerstandskämpfer gewesen: „Der Kriminalrat diente dem Teufel mit seinem Rat, um ihn am Ende vernichten zu können.“ (420) Mit
ihm ging auch sein „gewaltiges Reichskriminalpolizeiamt“ unter (ebd.).
112
Die Eingliederung in das RSHA erwähnte Harder nicht. Er benutzte nur den Begriff des
RKPAs.
66
Harder transportierte mit seinem Buch die gleichen Botschaften und „SchwarzWeiß-Bilder“ zur Kripo, Gestapo und SS wie Wehner. Auch er ließ alles „Überflüssige“ einfach weg sowie Widersprüche unkommentiert. Aufgrund der großen
Ähnlichkeit ist davon auszugehen, dass Harder sich bei seinem Werk stark an der
Spiegel-Serie „orientierte“.
4.2.3 Hans Bernd Gisevius: Wo ist Nebe? Erinnerungen an Hitlers Reichskriminaldirektor (1966):
Gisevius und Nebe kannten sich bereits seit 1933, als sie gemeinsam bei der Gestapo waren. Nach dem 20. Juli 1944 half Gisevius Nebe bei dessen Flucht nach
dem missglückten Attentat auf Hitler. Gisevius hatte bereits in dem 1946/1947
erschienenen Doppelband „Bis zum bitteren Ende“ versucht, die Person Nebes
und seine Rolle im Dritten Reich möglichst positiv darzustellen. Auch vor dem
Nürnberger Kriegsverbrecherprozess sagte er als Zeuge aus, dass Nebe aktives
Mitglied des deutschen Widerstandes war (Vgl. Kiess 2011, 363f.).
In dem Buch von 1966 schilderte Gisevius ausführlich Biographisches aus dem
Leben von Nebe während der NS-Zeit, seiner Beteiligung am Widerstand und
seiner Flucht. Hierbei zog er „noch einmal alle Register, um für seinen Freund
einzutreten und ihn reinzuwaschen.“ (ebd., 364) Der Erzählstil ist romanhaft, Gisevius erzählte aus seiner eigenen Perspektive. Die Aussagen sind teilweise widersprüchlich oder falsch. In dem Werk gibt es keine Zitationen, aber viele Abläufe und Einzelheiten schilderte Gisevius ähnlich wie Wehner in der SpiegelSerie.113 In dem Buch werden auch Aussagen zur Reichskriminalpolizei gemacht:
Im Juli 1936 wäre das Reichskriminalamt (RKA)Teil des Reichssicherheitshauptamtes geworden (23). „Fortan war das RKA ein Kronjuwel des SS-Imperiums.“
(ebd.) Laut Gisevius war es „eine Zentrale […], die den Vergleich mit so traditions- und erfolgreichen Rivalen wie Scotland Yard oder FBI nicht zu scheuen
brauchte.“ (ebd.)
Für Nebe als obersten Chef des RKAs wären „die berüchtigten Gestapomethoden
[...] das Ende jeder echten Kriminalistik“ gewesen (ebd.). Ihm „gelang das Kunststück, seine geliebte Kriminalpolizei mehr oder minder unbehelligt durch die
113
Beispielhaft die Zeit Nebes bei der Einsatzgruppe B (239-244).
67
Fährnisse der Gleichschaltung zu lavieren.“ (ebd.) Hierbei hätte er ständig versucht, Leute von der Gestapo zur Kripo zurückzuholen:
Ich kann die Male nicht zählen, wo Nebe mir mit Tränen im Auge berichtete, heute
sei er schon wieder von einem dieser Abkommandierten angefleht worden, ihn aus
seiner Hölle zur Kripo zurückzuholen. (28)
In kürzerer Form als bei Wehner und Harder finden sich auch bei Gisevius ähnliche Aussagen, besonders zur Abgrenzung zwischen Kripo und Gestapo.
4.2.4 Jörg Andreas Elten: Deutschland Deine Kripo (1967):
In der Illustrierten Stern wurde 1967 in den Heften 7 (12.02.) bis 14 (02.04) eine
Serie mit dem Titel „Deutschland Deine Kripo“ veröffentlicht. Verantwortlich für
die reich bebilderte Serie war Jörg Andreas Elten. Kernthema war die Überforderung der damaligen BRD-Kripo angesichts der gestiegenen Kriminalität. „Die
deutsche Kriminalpolizei, einst in der ganzen Welt bewundert, führt heute einen
aussichtslosen Kampf gegen das moderne Verbrechertum.“ (12.02.1967, 47)
In den ersten beiden Folgen kam auch Wehner als damaliger Chef der Kripo Düsseldorf zu Wort. So findet sich in der ersten Ausgabe folgende Aussage von ihm:
„Die Ganoven lachen uns aus.“ (ebd., 51) Dies läge seiner Meinung daran, dass es
„in der Bundesrepublik keine schlagkräftige Kripo, sondern ein Konglomerat von
Ortspolizeien“ gäbe (ebd., 56). Das BKA wäre leidglich „eine Spitzenbehörde
ohne Weisungsbefugnis.“ (19.02.1967, 50) Zu den Beamten des BKAs sagte
Wehner, dass diese seit 20 Jahren keine Vernehmung gemacht und keinen Tatort
gesehen hätten (ebd., 54).
Als Gegenmodell zu den elf Kriminalpolizeien der BRD (ebd., 50) samt des
„Kompetenzen-Wirrwarr[s]“ (ebd., 52) wurde die Kriminalpolizei des Dritten
Reiches erhoben: „Die deutsche Reichskripo - nicht zu verwechseln mit der berüchtigten Gestapo - was so vorbildlich organisiert, daß sie im Ausland viele Bewunderer fand.“ (ebd., 54) Nach dem Krieg führten keine sachlichen Überlegungen zur Zerschlagung dieser Organisationsform, mit der Folge, dass die deutsche
Kripo „ihre einst führende Stellung in der Welt“ verlor (ebd.).
Neben der Darstellung dieser organisatorischen Widrigkeiten wurden in den
kommenden Folgen personelle, materielle und finanzielle Probleme, die überbordende Bürokratie sowie die schleppende Computerisierung als Hauptgründe für
die Überforderung der Kripo identifiziert.
68
Offensichtlich war Wehner an der Erstellung dieses Artikels maßgeblich beteiligt.
So wurden neben seinen eigenen Aussagen eine Vielzahl von Bildern seiner Düsseldorfer Beamten im Rahmen eines Einsatzes sowie ein Bild von ihm abgedruckt. Daher kann es nicht verwundern, dass zentrale Botschaften von ihm (Gestapo vs. Kripo, Effektivität der Reichskriminalpolizei) in stark reduzierten Aussagen aufgegriffen wurden.
4.2.5 Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS
(1967):
Höhne war nach dem Krieg Mitarbeiter des Spiegels und besonders auf Nachrichtendienste spezialisiert (Vgl. Hachmeister 2002, 115 und 117). Dieses Buch basierte auf den Recherchen zu einer 22-teiligen namensgleichen Spiegel-Serie aus
den Jahren 1966/67. Sie gilt als „eine der einflussreichsten Veröffentlichungen
über die NS-Zeit.“ (Schulte, J. E. 2009, 43) Höhne verwendete an mehreren Stellen Zitate aus Wehners Spiegel-Serie (ebd., 45) „En passant wurden die Interpretationen der ‚Ehemaligen‘ verbreitet.“ (ebd., 45f.) In Höhnes Werk finden sich
auch Ausführungen zur Kripo des Dritten Reiches: „Nebes Kriminalpolizei gab
sich willig dem Sog eines polizeilichen Machtrausches hin, der die in Weimar
vertieften rechtsstaatlichen Skrupel fortspülte.“ (192)
Die meisten Aussagen betreffen jedoch das Verhältnis zur Gestapo:
Die Perversion der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung hatte schon gezeigt,
wieweit die Männer im RKPA-Haus am Werderschen Markt auf Sipo-Kurs gegangen waren. Dennoch blieb ein harter Kern der Distanz zu den Sipo-Herren in der
Prinz-Albrecht-Straße, den keine SS-Uniform zu beseitigen vermochte. (193).
Durch Opportunismus der „Nicht-Nazis […] und Antinazis“ bei der Kripo wäre es
gelungen, „die Arbeit des Reichskriminalpolizeiamtes weitgehend von der Gestapo freizuhalten.“ (ebd.)114 Diese wäre wiederum neidisch auf die Kripo gewesen:
Sie musste „einem widerlichen Geschäft“ nachgehen und war daher in der Öffentlichkeit - im Gegensatz zur Kripo - unbeliebt (ebd.).
Das RSHA war laut Höhne lediglich ein „ein schwacher Kompromiß [und führte,
d. Verf.] ein Schattenleben, offiziell durfte es niemand kennen.“ (237) Die Ver-
114
Hierbei zitierte Höhne die Spiegel-Serie von Wehner.
69
schmelzung von SIPO und SD hätte nur formal bestanden und wäre nur in Ansätzen verwirklicht worden (234).
Nebe war nach Aussage Höhnes einziger Freiwilliger für die Leitung einer Einsatzgruppe (327) 115 und schlug die Entwicklung des Gaswagens vor (336). Es
hätte massive Probleme gegeben, Personal für die Einsatzgruppen zu rekrutieren
(327f.).
Trotz einer für damalige Verhältnisse recht deutlichen Kritik an den Auswüchsen
der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ griff Höhne eine der zentralen
Thesen Wehners auf und stellte insbesondere die Opposition der Kripo zu Gestapo und SS heraus: Die Kripo erfreute sich im Gegensatz zur Gestapo in der Bevölkerung großer Beliebtheit und gehörte nur formell der SS an.
4.2.6 Armand Mergen: Die BKA-Story (1987):
Der Autor war nach eigenen Angaben Kriminologe an der Universität Mainz und
unterhielt guten Kontakt zum BKA in Wiesbaden (8). Das Buch entspricht jedoch
nicht wissenschaftlichen Standards. Es enthält zwar im Fließtext Zitationen, die
jedoch nicht eindeutig identifizierbar sind. In dem Kapitel über das Dritte Reich
(45-60) zitierte Mergen mehrfach Wehner. Da er ein Buch erwähnt, ist davon auszugehen, dass er sich auf das Buch „Das Spiel ist aus“ bezieht (51; Ziffer 3.4).
Mergen beschrieb die Entwicklung der Kripo bis 1939, die in „unangenehme Gesellschaft und in die Nähe des berüchtigten Sicherheitsdienstes“ geriet. (49). Die
Reichskriminalpolizei wäre die „Verwirklichung eines alten, guten Kriminalistentraums“, der jedoch „im Bösen“ verwirklicht worden wäre (51). Hierbei
kann nicht abgestritten werden, daß auch gestandene alte Kriminalisten aus der
Weimarer Republik den Ideen Heydrichs nahestanden. Besonders wenn es darum
ging, Wiederholungstäter unschädlich zu machen und Angriffen auf die ‚Volksgesundheit‘ energisch zu begegnen, wenn jedes Mitleid fallenzulassen war. (55)
Für die Umsetzung der kriminalpolitischen Ziele wäre jedoch nur die Führung der
Kripo verantwortlich gewesen; diese wären „servile Untertanen“ gewesen (51):
Hiermit sind die individuellen Kriminalbeamten nicht zu belasten. Sie taten wie befohlen ihre Pflicht, manche mehr, manche weniger [...]. Sie waren entweder gute
und erfahrene Kriminalisten oder überzeugte Nazis und SS-Männer. Nur selten waren sie beides. (51)
115
Hierbei zitierte Höhne die Spiegel-Serie von Wehner.
70
Trotz der Erwähnung der „Vorbeugungshaft“ blieb Mergens stark verkürzte Darstellung im Vagen und machte überwiegend die Führung der Kriminalpolizei für
das „Böse“ verantwortlich. Die ausführende Ebene hätte lediglich die Befehle von
oben befolgt. Die Realität sah leider anders auch. Auch in diesem Beitrag wird
zwischen Kriminalisten und SS-Männern bzw. Nationalsozialisten unterschieden.
4.2.7 Jochen von Lang: Die Gestapo. Instrument des Terrors (1990):
Der Journalist Lang schrieb laut Umschlag ein „Lehrbuch und eine Reportage
über die Herrschaftsmethoden und die Willkür der Täter.“ Es entspricht nicht wissenschaftlichen Standards; es hat kein umfassendes Literaturverzeichnis und keine
Zitationen im Fließtext. Gemäß dem Titel beschränkte sich der Autor auf die Darstellung der Gestapo als wichtigstes Terrorinstrument der Nationalsozialisten.
Hierbei schrieb er der Gestapo auch Aufgaben der Kriminalpolizei zu: So wäre sie
für die Verhaftung von „Zigeunern“, Kriminellen, „Asozialen“ und Arbeitsverweigerern verantwortlich gewesen (107f.). Erwähnt wurde nur die „Schutzhaft“
der Gestapo, die Kripo und ihre Methoden finden keine Berücksichtigung.
Damit schrieb auch Lang an dem geschönten Bild mit: Indem er die Gestapo alleine in den Fokus nahm und ihr auch Aufgaben der Kriminalpolizei zuschrieb,
konnte diese sich hinter ihrem übermächtigen Gegenpart verstecken und sich ihrer
Verantwortung für verbrecherische Maßnahmen einfach entziehen.
4.3 Legendenbildung:
Viele Autoren griffen mit ähnlichen Stilmitteln die (Teil-)Botschaften der Spiegel-Serie von 1949/50 auf. Dabei blieben Aspekte wie die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, der neue kriminalbiologisch orientierte „Völkische Polizeibegriff“ sowie die stetige Radikalisierung und Ideologisierung der kriminalpolizeilichen Praxis in den „für die breite Öffentlichkeit bestimmten Darstellungen“ meist
unberücksichtigt oder wurden nur kurz angesprochen (Reinke 2000, 56). Viele
Autoren stellten die herausragende Effektivität der Reichskriminalpolizei beim
Kampf gegen das „Berufsverbrechertum“ heraus, meist einhergehend mit einer
deutlichen Abgrenzung zur Gestapo und deren Methoden. Auch die Verbindung
mit SS und SD war, wenn überhaupt angesprochen, nur „formaler“ Natur. Lag der
Schwerpunkt wie bei Harder (Ziffer 4.2.2) darüber hinaus auf der Darstellung
großer Kriminalfälle, welche spektakulär von den Beamten des „deutschen Scot71
land Yards“ geklärt wurden, musste der Leser davon ausgehen, dass dies tatsächlich der Schwerpunkt der Arbeit der damaligen Kriminalpolizei war. Bei solchen
dokumentarischen Romanen kommt hinzu, dass sie mit ihrem Erzählstil und ihrer
Aufmachung ein breites Publikum ansprechen und zudem den Eindruck vermitteln, durchaus authentisch ein Stück Zeigeschichte darzustellen.116
So wurde die Kriminalpolizei nach und nach
als vermeintlich unpolitischer, von ideologischen Zwängen unbeeinflußter Polizeizweig stilisiert, der auch zwischen 1933 und 1945 - so der Tenor der Nachkriegsapologetik - primär auf die Sachprobleme einer effizienten Kriminalitätsbekämpfung ausgerichtet gewesen sei. (Reinke 2000, 56)
Verbunden wurde dieses Bild meist mit der Sorge über die stark wachsende Kriminalität nach dem Krieg und die unzureichende kriminalpolizeiliche Organisation nach der Zerschlagung der Reichs-Kripo. Hierbei wurde die steigende Kriminalität oft der Entlassung von „Berufsverbrechern“ aus den KZs angelastet. Die
von der Kripo eingewiesenen „Asozialen“ und die anderen Opfergruppen blieben
unerwähnt (Vgl. Wagner 2002, 172). Die Diffamierung der Opfer der Kriminalpolitik war möglich, da über die „Rechtmäßigkeit“ der KZ-Einweisung dieser Randgruppen in der (Mehrheits-)Gesellschaft Konsens bestand (Reinke 2000, 56).
Verstärkt wurde das Bild einer professionellen, unpolitischen und überwiegend
rechtsstaatlich agierenden Kriminalpolizei durch ihren vermeintlichen Gegenspieler: Die Gestapo nahm widerstandslos die Rolle des „Bösewichtes“ in der Geschichte an. Sie war verboten worden und existierte nicht mehr. Zudem gab es nur
wenige Menschen, die sich offen zu ihrer (freiwilligen) Mitgliedschaft bekannten
und gegen mögliche falsche Darstellungen Einspruch erhoben. So konnte fast das
gesamte Unrecht des NS-Staates auf die Gestapo und ihre verbrecherischen Methoden projiziert werden:
Apologeten der Kripogeschichte charakterisieren das Verhältnis der Kriminalbeamten zu ihren Gestapo Kollegen in diesem Zusammenhang gern als eines der
116
Tatsächlich wurden auch einzelne Kriminalfälle des Dritten Reiches als Grundlage für Romane
verwandt. So erschien 1959 das Buch „Nachts, wenn der Teufel kam“ von Willi Berthold. Es erzählt in Romanform die Geschichte des angeblichen Massenmörders Bruno Luedkte. Bereits
1956 wurde eine 15-folgige Artikelserie von Berthold mit dem gleichen Titel in der Münchner
Illustrierten veröffentlicht, 1957 wurde die Serie verfilmt (Vgl. Saupe 2009, 384-395). 1995 erschien Horst Bosetzkys Kriminalroman „Wie ein Tier. Der S-Bahn-Mörder“, der die Geschichte
des Frauenmörders Paul Orgorzow erzählt (ebd., 410-421). Neben dem Fall setzen sich die Romane auch mit dem politischen und gesellschaftlichen Umfeld auseinander und berichten auch
über die Ermittler. So reproduziert Bosetzkys Roman „das Bild einer Kriminalpolizei, die bei der
Kriminalitätsbekämpfung nichts als ihre Pflicht getan habe.“ (ebd., 417)
72
Konkurrenz zwischen unpolitischer Professionalität (der Kripo) und dumpfer Folterknechtsgewinnung verbohrter Nationalsozialisten (der Gestapo). (Wagner 1996,
248)
Auch die SS und der SD verschwanden 1945 samt ihrer Führung und ihren „echten, überzeugten“ Mitgliedern: Nur auf diese Weise konnten Kriminalisten nach
dem Krieg ständig wiederholen, dass sie „häufig ohne ihr eigenes Zutun, quasi
automatisch im Rahmen der ‚Dienstrangangleichung‘ in die Schutzstaffel aufgenommen“ wurden (ebd., 246), nur formell der SS angehörten und daher ab und an
eine Uniform tragen mussten.
So lieferte Bernd Wehner mit seiner Spiegel-Serie die Grundelemente, die viele
Personen in den nächsten Jahrzehnten aufgriffen und zu der „Legende von der
Kriminalpolizei als einer professionellen, aber unpolitischen Organisation unter
den Bedingungen der NS-Diktatur“ (Mix 2011a, 672) entwickelten.
Möglich machte diese Entwicklung auch eine Geschichtsschreibung, welche sich
jahrzehntelang nicht für die Geschichte der Polizei des Dritten Reiches interessierte bzw. diese auf die Geschichte der Gestapo verkürzte. So entstand in der
der öffentlichen Meinung der Nachkriegszeit [...] ein Bild von der Polizei unter den
Nationalsozialisten, in dem häufig nur die Gestapo mit ihren - vermeintlich immer
lange Ledermäntel und Schlapphüte tragenden - Beamten vorkam. (Reinke 2000,
57)
Der Mythos, der die Gestapo und ihre Beamten jahrzehntelang begleitete und sie
als „allwissend und allmächtig“ etikettierte, existierte bereits während der nationalsozialistischen Diktatur. Er wurde von den Machthabern zum Zwecke der
Herrschaftssicherung und zur Erhöhung der Denunziationsbereitschaft propagiert
(Vgl. Gellately 1996, 47-70). Nach dem Krieg hielt sich der Gestapo-Mythos unverändert in Deutschland und wurde zum Mantra, zum „mehrheitsfähigen, konsensstiftenden Glaubensbekenntnis und zum volkspädagogischen Instrument der
kollektiven politischen Entschuldigung.“ (Paul/Mallmann 1995, 4)
Hinter diesem „geschichtsklitternde[n] Exkulpationsmodell vom SS- oder Gestapo-Staat“ (ebd.) konnten Akteure innerhalb und außerhalb der Kriminalbeamtenschaft ihr weitaus kleineres Bild der „sauberen, unbelasteten“ Kriminalpolizei
erzählen, die zwar Teil des NS-Staates war, sich von diesem aber nie vereinnahmen ließ und stets wie der Schuster „bei ihren Leisten“ blieb. Hierbei stand die
Figur des Reichskriminaldirektors als höchstem Kriminalbeamten oftmals stell-
73
vertretend für die gesamte Kripo, gar für das ganze deutsche Volk: „Nebe verkörpert im Grunde, wenn es so was gibt, die Kollektiv-Seele des Deutschlands unter
Hitler: Anständig, aber ängstlich und ehrgeizig.“ (Wehner 01.12.1949, 22)
So gesellten sich die Kriminalpolizei und ihr oberster Chef zum betrogenen, missbrauchten und verführten Volk (Vgl. Schulte J.E. 2009, 29). Auf diese Weise gelang vielen Kriminalbeamten nach 1945 ein „Neuanfang“, die Integration in die
BRD und die Rückkehr in die neu aufgebaute Kriminalpolizei.
5. Motive, Funktionen und Folgen:
Als die erste Folge der Spiegel-Serie 1949 veröffentlicht wurde, hatte die deutsche
Polizei bereits viereinhalb Jahre alliierter „Säuberungspolitik“ hinter sich. Hierunter verstand man alle Maßnahmen, bei denen Polizeibeamte zumindest zeitweilig
aus ihrem Amt bzw. ihrer Funktion entfernt wurden (Vgl. Liebert 2001, 72). Es
handelte sich insbesondere um die Internierung, die Strafverfolgung und die Entnazifizierung (Vgl. Schulte W. 2003, 43-55). „Die überwältigende Mehrheit der
Polizeiangehörigen sah sich den ‚säuberungspolitischen Maßnahmen‘ der Alliierten ausgesetzt“ (Liebert 2001, 74). Hierbei unterschied sich trotz gemeinsamer
Absichtserklärungen der Alliierten117 der Umgang mit der NS-Vergangenheit in
der Praxis erheblich in den einzelnen Besatzungszonen (Vgl. Borgstedt 2009, 85).
Besonders bei den Amerikanern war das Beamtentum von den ersten „Säuberungswellen“ stark betroffen (Vgl. Frei 2001, 306f.).
Hinzu kam, dass staatliche Verwaltung und Polizei nach Kriegsende nicht mehr
existierten und die Alliierten mit „enormen Sicherheits- und Ordnungsprobleme[n]“ konfrontiert waren (Schulte W. 2003, 27). Man rechnete mit Unruhen.
Amerikaner und die Briten wollten zunächst Kriminal- und Ordnungspolizisten
grundsätzlich im Dienst belassen, um die Besatzungstruppen von polizeilichen
Aufgaben zu entlasten (Vgl. Noethen 2000, 576). Eine funktionierende Kripo
wurde benötigt (Vgl. Linck 2000, 192). So befand sich die alliierte Säuberungspolitik von Beginn an in einem „Dilemma“ (Schulte W. 2003, 39) und lavierte zwischen Normalisierung und konsequentem Vorgehen gegen Nationalsozialisten.
117
Man spricht auch von den vier D’s: Demokratisierung, Demilitarisierung, Dekartellisierung und
Denazifizierung (Vgl. Borgstedt 2009, 85).
74
Auf diese Weise kam es in den ersten Jahren zu großen personellen Fluktuationen
(ebd., 55f.), wobei bereits schon ab 1946 entlassene Beamten wiedereingestellt
wurden (Vgl. Wagner 1996, 405). Hierbei handelte es sich zunächst meist um
niedrige Dienstränge. Nach und nach wurden auch höhere Dienstränge wieder
eingestellt (Vgl. Noethen 2000, 585).
Zurück blieb eine Gruppe höherer Kriminalbeamter, die sich vor 1945 allzu eindeutig exponiert hatten, vor allem aber die Führungskader des früheren Reichskriminalpolizeiamtes (Wagner 2002, 155).
Ab 1947 ging die Gesetzgebung und die Durchführung der Entnazifizierung sukzessive auf die neu geschaffenen Bundesländer und den Bund über, die Alliierten
hatten jedoch noch Möglichkeiten, auf die Personalpolitik Einfluss zu nehmen
(Vgl. Noethen 2002, 275). Die Praxis der Entnazifizierung stieß jedoch nach in
nach in der deutschen Gesellschaft auf Widerstand (Vgl. Borgstedt 2009, 88-96).
Es entwickelte sich eine gesellschaftliche und politische „Schlussstrichmentalität“
(Hölzl 2011, 94), die dann Anfang der 1950er-Jahre fest in den Köpfen der Bundesbürger verankert war (Vgl. Frei 1997, 401). Durch eine „Mentalität der Aufrechnung“ (Liebert 2001, 96) begannen Deutsche, vermeintliches Unrecht der
Alliierten anzuprangern und sich mehr und mehr als Opfer und Verführte zu sehen
(ebd.). Diese Einstellung konnte sich angesichts des beginnenden Ost-WestKonflikts und seiner Institutionalisierung in der Gründung der beiden deutschen
Staaten weitgehend ungehindert entwickeln.
Das Entnazifizierungsverfahren wandelte sich zum Wiedereingliederungsprozess,
welcher „von einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung“ getragen wurde (ebd.,
101). Spätestens 1949 begann die letzte Phase der Entnazifizierung (ebd.). Nach
der Gründung der BRD fiel eine
Serie entsprechender Entscheidungen, die mit dem schon in den ersten Tagen der
Regierung Adenauer auf den Weg gebrachten Straffreiheitsgesetz ihren Anfang
nahm und knapp fünf Jahre später, nach der generösen Befriedigung der ‚131‘ und
der symbolisch hochbedeutenden Regelung des ‚Kriegsverbrecherproblems‘, in einer weitgehenden Amnestie für NS-Straftäter ihren Abschluß fand (Frei 1997,
397f.).118
118
Den Schlusspunkt setzte das am 10. April 1951 beschlossene „Gesetz zur Regelung der unter
Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen“. Es verpflichtete Länder und Kommunen, 20
Prozent ihres Personalbestandes mit ehemaligen Beamten aus der NS-Zeit zu besetzen. Die Quote wurde oft deutlich übertroffen (Vgl. Borgstedt 2009, 102).
75
Neben der Wiederherstellung des Rechtsfriedens (Vgl. Steinbacher 2010, 409)
sahen die politischen Entscheidungsträger insbesondere die Integration der NSEliten in die westdeutsche Gesellschaft als notwendig an:
Die Transformation der überwundenen diktatorisch geprägten Gesellschaftsordnung in eine demokratische konnte gegen diese Vielzahl der politisch Diskreditierten nicht gelingen, da diese nicht zuletzt wegen des Wahlrechts und der Pressefreiheit politische Entscheidungen beeinflussen konnten. (Borgstedt 2009, 86)
Die Entnazifizierung hatte ab diesem Zeitpunkt keinen Einfluss mehr auf die Personalpolitik der Polizeibehörden (Vgl. Noethen 2002, 353). Belastete Beamte,
Angehörige der Gestapo sowie Führungseliten gelangten spätestens über den Art.
131 GG wieder in den Polizeidienst, so auch Bernd Wehner (ebd., 381f.).
Hinsichtlich der (kriminal-)polizeilichen Organisation setzten die Alliierten auf
konsequente Demilitarisierung, Dezentralisierung und Kommunalisierung. Pläne
der Briten, Teile des RKPAs weiter zu verwenden119, scheiterten: Es existierte
nach Kriegsende genau wie weite Teile der übrigen polizeilichen Verwaltung
nicht mehr (Vgl. Linck 2001, 111f.).120 Mit Übernahme der Polizeigewalt durch
die Bundesländer am 01. Januar 1947 begann der Wiederaufbau der Polizeien
nach Vorbild der Weimarer Republik (Vgl. Schulte W. 2003, 64). Dies bedeutete
in erster Linie (Re-)Verstaatlichung und Zentralisierung der Polizei auf Landesebene (ebd., 96). 121 So wurden bald in allen Ländern als kriminalpolizeiliche
Zentralinstanzen Landeskriminalpolizeiämter (LKPÄ) bzw. Landeskriminalämter
(LKÄ) eingerichtet. Nach und nach wurden weitere Organisationentscheidungen
der Alliierten hinsichtlich der Polizei wieder zurückgenommen (ebd., 27). So
wurden auch bald Planungen zur Einrichtung einer kriminalpolizeilichen Zentralstelle in Wiesbaden aufgenommen (Vgl. Baumann u.a. 2011, 16f.). Bei der Einrichtung des künftigen BKAs stand ein zentraler kriminalpolizeilicher Nachrichtendienst im Fokus der Überlegungen (ebd., 18). Aus Angst vor einen starken
119
Hierbei waren sich die Briten aufgrund einer Analyse des RKPAs „vermutlich bewußt, daß die
Tätigkeit der genannten RKPA-Abteilungen nach angelsächsischer Rechtsauffassung verbrecherisch war.“ (Linck 2001, 109) Die deutsche Kriminalpolizei genoss trotzdem bei den Briten ein
hohes fachliches Ansehen (Vgl. Noethen 2000, 576).
120
Teile des RKPA flüchteten in den Raum Flensburg (Festung „Nord“), der Rest nach Süddeutschland/Österreich („Alpenfestung“) (Vgl. Linck 2000, 159-163; Steinbacher 2010, 406).
121
Werkentin (1984, 208f.) spricht in diesem Zusammenhang von „Restauration“. Insbesondere
der Schutz des Staates vor inneren und äußeren Bedrohungen und der Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zwecks Sicherung der staatlichen Herrschaft standen hierbei im Fokus politischen Handelns (Vgl. Werkentin 1988, 83).
76
Kripo-Zentralinstanz analog dem RKPA erhielt das BKA keinen Führungsanspruch und zunächst nur sehr eingeschränkte Exekutivbefugnisse (ebd., 323f.).
Genau in die Gründungsphase des BKA (ebd., 325) erschien die erste Folge der
Spiegel-Serie und startete die „offensive Vergangenheitsbewältigung der Kripo“
(Wagner 2008, 105) und eine „aktive Vergangenheitspolitik“ (Hölzl 2011, 93).
5.1 Motive und Funktionen:
Die (Haupt-)Intention der Spiegel-Serie wurde bereits bei deren Beginn durch
Rudolf Augstein im Vorwort skizziert: Das RKPA war eine „hervorragend angelegte[...] Organisation“ und sollte beim Aufbau des künftigen BKAs Vorbild sein
(Augstein 1949, 3). Hierzu sollten die Entscheidungsträger auch auf das Wissen
des damaligen Personals zurückgreifen und „die Eifersucht aus[...]schalten, die
eine überwiegende Mehrzahl erstklassiger Kriminalisten unter dem Vorwand
fernhält, sie hätten dem Regime gedient.“ (ebd.) Nach Abschluss der Serie wiederholte er seine Forderungen. Für ihn sollte die Serie den
Polizei-Verantwortlichen vor Augen [führen, d. Verf.], daß die Kriminalpolizei
zentrale Weisungsbefugnis für das gesamte Bundesgebiet notwendig hat, weitgehend unabhängig sein muß von den übergeordneten, nicht sachverständigen Polizeichefs, auf ihre alten Fachleute zurückgreifen muß, auch wenn diese mit einem
SS-Dienstrang ‚angeglichen‘ worden waren. (Augstein 1950, 3)
Die Publikation sollte unmittelbar Einfluss auf die Planungen zur Einrichtung des
BKAs nehmen sowie die RKPA-Beamten zurück in die Kripo bringen. Als mögliche Verwendung bot sich das BKA an: Bereits mit seinem Brief vom 04. Oktober
1949 an das Bundesinnenministerium (BMI) in Bonn hatte Paul Werner seine
Vorschläge zur Konzeptionierung des BKAs dargelegt und sich für seine alten
Kollegen eingesetzt (BAK B 106/17281, Az. BMI I 6 106/49 ). Er hielt sich für
diesen Schritt legitimiert, weil er „an maßgeblicher Stelle im Reichskriminalpolizeiamt am Auf- und Ausbau der Reichskriminalpolizei mitgearbeitet“ hatte (ebd.,
Hervorh. i.O.). Werner führte aus, dass der Zusammenbruch der Kriminalpolizei
1945 „naturgemäß für die Verbrechensbekämpfung einen schweren Rückschlag“
bedeutete (ebd.). Eine Dezentralisierung der Kriminalpolizei wäre insbesondere
für die „Bekämpfung des gefährlichsten Verbrechertums, der reisenden und ‚berufsmässigen‘ Verbrecher“ nicht sinnvoll. Mindestens müsse ein Bundeskriminalpolizeiamt mit exekutiven Befugnissen eingerichtet werden (ebd.). Die Reichskriminalpolizei und ihre Mitarbeiter nahm er kollektiv in Schutz:
77
Die augenblickliche Lage vieler dieser Männer ist unzweifelhaft unverdient und
unbillig. Ich will hier nicht von Schuld und Sühne sprechen, von Entschuldigung
gewisser Tatsachen, von der organisatorischen Verflechtung der Kriminalpolizei
mit der übrigen Polizei, namentlich der Geheimen Staatspolizei und der SS im Sinne der sogenannten Rangangleichung usw., wofür die Kriminalpolizei sicher nichts
kann; sie war ja im nationalsozialistischen Staat nie voll anerkannt und wurde bis
zuletzt mit Misstrauen verfolgt.“ (ebd., Hervorh. i.O.).
Werner schloss mit der Bitte um Wiedereinstellung seiner Ehemaligen,
weil es kaum vertretbar ist, erste Fachkräfte brachliegen zu lassen, aber auch um
der Männer willen, denen ihre Beamtenrechte nicht länger versagt werden sollten
und die zum Teil mit ihren Familien bittere Not leiden. (ebd., Hervorh. i.O.)
Der Brief fand im BMI keine große Beachtung; Werner erhielt eine Standardantwort.122 Dennoch hatte der „frühere SS-Oberführer [...] damit den Rahmen abgesteckt, in dem sich die intensive Vergangenheitsbewältigung der Kripo von nun an
lange Zeit bewegen sollte.“ (Wagner 1996, 10) Aufgrund zeitlicher und inhaltlicher Parallelen zwischen der Spiegel-Serie und dem Brief war die Vorgehensweise zwischen ihm und Wehner wahrscheinlich abgestimmt (ebd., 11).123
Wehner und der Spiegel verfolgten mit der Veröffentlichung der Serie Ziele auf
drei Ebenen: Im Bereich der individuellen Ebene der einzelnen Kriminalbeamten,
im Bereich der Kriminalpolizei als Organisation sowie im Bereich der deutschen
(Mehrheits-)Gesellschaft (Vgl. Schulte J.E. 2009, 28f.).
5.1.1 Individuelle Ebene:
Auf der individuellen Ebene kann als Motiv an vorderster Stelle die (normale?)
Reaktion auf eine „existenzielle[...] Krise“ angeführt werden (Frei 2001, 8). Wehner und viele seiner ehemaligen Mitarbeiter waren aus dem Beamtendienst entlassen worden und mussten ihren Lebensunterhalt in schwierigen gesellschaftlichen
122
So gab Max Hagemann als damaliger Referent für die Kriminalpolizei im BMI seinem Minister
zu verstehen, dass er Werner persönlich kenne. Dieser wäre ein „überzeugter Nationalsozialist“
gewesen. „Ein gewisses Gefühl für das Richtige und Zulässige liess in wohl die Grenzen wahren.“ Hagemann könnte sich nicht für eine Wiedereinstellung Werners aussprechen. Er schlug
seinem Minister ein allgemein gehaltenes Dankschreiben als Antwort vor, weitere Maßnahmen
erfolgten nicht (BAK B 106/17281, Az. I C, 106/49 vom 24.11.1949).
123
Werner und Wehner hatten sich bereits gegenseitig geholfen, ihre persönlichen Angelegenheiten zu „regeln“. So hatte Wehner im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens von Werner am
26.12.1947 eines eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass es dessen Verdienst gewesen wäre,
dass die Kriminalpolizei aus politischen Belangen herausgehalten wurde (Vgl. Stange/Wirth
2010, 248 und 252). In der Personalakte von Wehner wiederum findet sich eine „Erklärung an
Eides Statt“ von Werner vom 15.09.1948, in der er Wehner als „einer der fähigsten und erfolgreichsten Beamten der Kripo“ bezeichnete. Wehner wäre „unbestechlich und in jeder Weise korrekt.“ (LA NRW, Abteilung Rheinland, HSA PE 7299).
78
und wirtschaftlichen Verhältnissen auf andere Art und Weise bestreiten. Darüber
hinaus waren sie ein exponierter Teil des alten Regimes gewesen, hatten hierbei
auch strafbare, gar menschenverachtende Handlungen begangen und fürchteten
sich vor wie auch immer gearteten Repressalien der Alliierten und neuen Eliten
der deutschen Gesellschaft. Die Verschleierung, das Verschweigen sowie die Diffamierung der Opfer diente also dem Schutz vor Strafverfolgung (Vgl. Hölzl
2011, 94) oder sonstigen Ansprüchen Dritter. Hierbei half der Fokus auf den Terror der verbrecherischen Organisationen Gestapo, SS und SD, eigene Schuld und
Mitverantwortung zu negieren bzw. umzulenken. (Vgl. Reinke 2000, 57f.).124
Tatsächlich überstanden die meisten Kriminalbeamten, die „Säuberungspolitik“
der ersten Jahre ohne eine Ahndung ihrer Taten. Erst gegen Ende der 1950erJahre kam es mit der Einrichtung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ (ZStLJ) zu einer verstärkten strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern (Vgl. Mix 2011b, 83-86). Damit gewann
das Motiv des Schutzes vor Strafverfolgung wieder an Bedeutung.125
Hauptmotiv war jedoch zunächst die Rückkehr in den Staatsdienst und zur Kriminalpolizei. Wehner machte mit der Spiegel-Serie sehr viel Werbung in eigener
Sache. Er wollte unbedingt in die Kriminalpolizei zurück (Vgl. Kiess 2011,
368). 126 Aber er machte sich auch für die Wiedereinstellung anderer führender
Beamter der Reichskriminalpolizei stark (Vgl. Hachmeister 2002, 108).
Am 14. März 1951 erschien im Spiegel ein Artikel von ihm mit dem Titel „Revolver-Harry für Bonn“. 127 Nach teils höhnischer Kritik an dem schwedischen
Kriminalbeamten Harry Södermann, der als Berater der Bundesregierung im Zu-
124
Die Verteidigungslinien der Kriminalisten bestanden seit 1950 - analog der Spiegel-Serie - aus
drei Komponenten: Die „behauptete Unfreiwilligkeit der SS-Mitgliedschaft, die angeblich
selbstgewählte, auf Abscheu gegründete Distanz des professionellen Kriminalisten der NS-Zeit
gegenüber dem Gestapo-Schläger und seinen Chefs aus der SS-Führung sowie das behauptete
Festhalten der NS-Kriminalisten an rechtsstaatlichen Grundsätzen.“ (Wagner 2002, 169)
125
Der Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Bild der Kriminalpolizei des Dritten Reiches
und der Praxis der Strafverfolgung bei NS-Straftaten kann nicht belegt werden. Bei Wolfgang
Schulte (2003, 125) finden sich folgende Gründe für die geringe Verurteilungsquote: Die Verjährungsproblematik, die gesellschaftliche „Schlussstrich-Mentalität“, die NS-Vergangenheit der
Justiz, die Vernehmung der Beschuldigten durch eigene Kollegen, die schlechten rechtlichen
Rahmenbedingungen, fehlender Aufklärungswille der StA, fehlende finanzielle Mittel sowie
starke Zeugenbeeinflussungen.
126
So sprach er auch Anfang März 1950 persönlich bei Max Hagemann vor, um sich - vergeblich um eine Einstellung in das BKA zu bemühen (Vgl. Wagner 2002, 159).
127
Der Verfasser war nicht ausgewiesen, der Artikel stammte jedoch von Wehner (Vgl. Wagner
2002, 159).
79
sammenhang mit der Gründung des BKAs tätig war, sprach Wehner über die „Elite der alten Sherlock Holmes aus dem RKPA“, welche nach 1945 keine Anstellung mehr bei der Kriminalpolizei gefunden hatte (7). Laut Wehner war sie politisch unbelastet und hatten mit „Heydrich und der SS [...] weniger zu tun als Harry Södermann.“ (ebd.) Namentlich nannte er zehn leistungsfähige und hochqualifizierte Beamte, die vorzugsweise beim neuen BKA wieder eingestellt werden
sollten. In der derzeitigen Kripo wären kaum erfahrene Kriminalpolizisten vorhanden. Wehner schloss mit Beispielen, um zu dokumentieren, wie „unzulänglich
[bislang, d. Verf.] die personelle Auswahl [...] getroffen wurde“(ebd.). 128
Die Wiedereinstellung als Motiv verlor jedoch an Bedeutung. Viele Beamte kehrten nach und nach in unterschiedlichen Funktionen zur Kriminalpolizei oder zumindest in den Staatsdienst zurück.
5.1.2 Organisatorische Ebene:
Neben der individuellen Komponente war auch die Darstellung der Leistungsfähigkeit und rechtsstaatlichen Integrität der reichsweiten kriminalpolizeilichen
Aufbau- und Ablauforganisation relevant. Hauptzielrichtung der Spiegel-Serie
war die Beeinflussung der Organisation des BKA (Vgl. Hachmeister 2002, 110).
Das RKPA, seine Aufgaben, Befugnisse und Leistungen wurden positiv dargestellt und sollten Vorbild für die neu zu schaffende Bundesbehörde sein. Wenn
man den Föderalismus nicht verhindern konnte, musste zumindest eine Zentralinstanz mit starken Exekutivbefugnissen sowie bundesweite Standards für die
Kriminalpolizei geschaffen werden. 129 Dieses Thema blieb in den kommenden
Jahrzehnten Gegenstand kriminalpolitischer Diskussionen.
128
Dieser Artikel führte zu keiner großen Reaktion beim BMI. Max Hagemann gab zu allen aufgeführten Personen (darunter Zirpins, Wieking, Werner) eine persönliche Einschätzung ab. Nach
seiner Meinung böten diese Personen aufgrund ihrer früheren Stellung eine zu große Angriffsfläche für potentielle Kampagnen. Er riet daher von der (sofortigen) Einstellung dieser Personen ab.
Bei einigen potentiell Geeigneten sollte man abwarten, möglicherweise „wird sich die Übernahme solcher vorwiegend dem Gefühl nach als Nazi verrufene Leute geräuschlos ermöglichen lassen.“ (BAK B 106/17281, Az. BMI I C 1 vom 09.04.1951).
129
Bereits während der Spiegel-Serie erschien am 06. April 1950 ein weiterer Artikel im Spiegel
mit dem Titel „Stand von 1908“, der vermutlich ebenfalls von Wehner stammt. In dem Artikel
wird scharfe Kritik an dem Planungsstand zur BKA-Gründung geübt. Der Artikel kommt zu dem
Schluss, dass „ohne scharfe Konzentration in Zentralstellen in der Bundesrepublik und ohne
zentrale Exekution in gewissen Fällen keine kriminalpolizeiliche Arbeit ohne katastrophale
Mängel und folgenschwere Pannen zustandekommen wird.“ (Spiegel 06. April 1950, 7)
80
Im Mai 1957 erschien in der Zeitschrift „Kriminalistik“ ein Beitrag von Wehner
mit dem Titel „Die Notwendigkeit einer zentralen Verbrechensbekämpfung“
(164-167). Dort stellte er anhand von Praxisbeispielen Probleme dar, die sich seiner Meinung nach aus der föderativen kriminalpolizeilichen Struktur ergeben.
Zudem schilderte er sinkende Aufklärungsquoten; die Kriminalpolizei wäre nur
noch mit der Verwaltung der Kriminalität beschäftigt. Die Kriminalpolizei benötige ein
einheitliches organisatorisches Gefüge mit pyramidalem Aufbau, der sich [...] folgerichtig im Bundeskriminalamt fortsetzen muß, um schließlich in der internationalen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit zu enden. (167, Hervorh. i. O.)
Und Wehner meldete sich zehn Jahre später erneut zu Wort, um seiner Überzeugung von der Notwendigkeit einer starken Zentralinstanz das Wort zu reden. Seit
Beginn der Großen Koalition wurden viele Reformprojekte angestoßen. Unter
anderem wurde auch über Organisation, Aufgaben und Kompetenzen des BKAs
diskutiert, was zu Novellen des BKA-Gesetzes 1969 und 1973 führte (Vgl.
Baumann u.a. 2011, 336f.). In dieser Phase erschien 1967 das „Schwarzbuch“ der
Gewerkschaft der Polizei (GDP) mit dem Titel „Kapitulation vor dem Verbrechen? Eine Untersuchung über die Situation der Kriminalpolizei in Deutschland“,
an dem Wehner als Redakteur mitgearbeitet hatte. Hier wurde das rasante Ansteigen der Kriminalität beschrieben, in dessen Angesicht die Kriminalpolizei überfordert wäre. Als eine Lösung wurde die Stärkung des BKAs angesehen (Vgl.
GDP 1967, 91). Das gleiche Thema griff die 1967 erschienene Stern-Serie
„Deutschland, deine Kripo“ auf, an der auch Wehner beteiligt war (Ziffer 4.2.4).
So blieb das „erfolgreiche Modell“ des RKPAs als Blaupause für das BKA lange
ein wichtiges Motiv für die Darstellung der Kriminalpolizei des Dritten Reiches.
5.1.3 Gesellschaftliche Ebene:
Mit dem Bild der Kriminalpolizei als einer Organisation, die - ohne ihr Zutun - ins
System des Nationalsozialismus geraten war und dort nur ihre „Pflicht“ tat, stellte
Wehner sie auf die gleiche Stufe wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Sie wurde ebenfalls vom Täter zum Opfer (Vgl. Schulte J.E. 2009, 29).
Am meisten verbreitet war die Behauptung, es sei lediglich eine kleine skrupellose
Clique von fanatischen Parteiführern gewesen, die mit Hilfe von SS und Gestapo
über das Volk geherrscht habe und deren Befehlen auch die Funktionseliten hilflos
ausgeliefert gewesen seien. (Frei 2001, 10)
81
Bereits vorher bestand ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Kriminalpolizei zu schützen sei (Vgl. Reinke 2000, 57f.). Mit der Eingliederung der
Reichskriminalpolizei in die Mehrheitsgesellschaft konnte sie zudem ihre Verantwortung auf NS-Eliten, Gestapo und SS abwälzen, sich in die neue Gesellschaft integrieren und sich hinter mächtigen Bildern wie dem Gestapo-Mythos
(Ziffer 4.3) verstecken. In dieser Position verharrte sie fast das ganze 20. Jahrhundert. Die Apologeten ihrer Geschichte priesen nur die Leistungsfähigkeit ihrer
Organisation und die Heldentaten ihrer Mitglieder. Erst mit der einsetzenden Forschung und dem „Wegsterben“ der betroffenen Generation änderte sich das gesellschaftliche Bild über Hitlers Kriminalpolizei.
Insgesamt sind unterschiedliche Reichweiten festzustellen: Individuelle und organisatorische Motive und Funktionen verloren im Laufe der Zeit an Wertigkeit.
Verkürzte Darstellungen im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Verklärung
und Opferstilisierung gewannen an Bedeutung. Neue Forschungen sowie ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel zwangen jedoch selbst Apologeten wie
Wehner irgendwann, ihre Erzählungen zumindest teilweise zu korrigieren.
5.2 Folgen:
Nach eigener Einschätzung war der Einfluss Wehners und anderer Publikationen
auf die kriminalpolizeiliche Organisation in der BRD und auf die des BKAs gering. Das BKA war bei seiner Einrichtung lediglich eine kriminalpolizeiliche Informationssammel- und Auswertestelle mit begrenzten Eingriffsbefugnissen Nach
und nach erhielt es mehr Kompetenzen. Diese Entwicklung war auf geänderte
politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie neue Bedrohungsszenarien (Terrorismus) zurückzuführen. (Vgl. Baumann u.a. 2011, 18ff. und 324).
Das BKA benötigte durchaus erfahrene Experten des alten RKPAs und übernahm
auch viele von ihnen (Vgl. Schenk 2001, 168). Trotzdem gelang es Wehner nicht,
Beamte seines „Netzwerkes“, in leitende Positionen des BKA zu bringen.
Sie scheiterten allerdings nicht an ihrer Verstrickung in NS-Verbrechen, sondern
an einer konkurrierenden Gruppe etwas jüngerer, aber noch im Nationalsozialismus
beruflich sozialisierter Kriminalisten, die das gleiche Ziel verfolgte und sich bereits
vor Gründung der Bundesrepublik gut platziert hatte. (Wagner 2003, 187)130
130
Paul Dickopf nutze seine persönlichen Kontakte zum amerikanischen Geheimdienst, um diesen
von der Notwendigkeit einer kriminalpolizeilichen Zentralstelle in Deutschland zu überzeugen
82
Der Großteil der Gruppe um Wehner kam aber ab 1951 schnell bei Landesbehörden unter (ebd., 192).
Belegt werden kann ebenfalls nicht, dass das „publizierte“ Bild der Kriminalpolizei im Dritten Reich dazu beigetragen (oder in Einzelfällen ermöglicht) hat, Beamte der Reichskriminalpolizei wieder in den Staatsdienst aufzunehmen. Es ist
jedoch zu vermuten, dass es in Zeiten des Mangels an qualifiziertem Personal
einzelnen Verantwortlichen leichter gefallen sein dürfte, solche „altgedienten“
und erfahrenen Beamten wieder einzustellen. Zumindest im Falle von Wehner
wollte man nicht auf dessen Expertenwissen verzichten (Vgl. Noethen 2002,
382).131
Festzuhalten bleibt, dass bei der Polizei eine hohe „personelle [...] und strukturelle
Kontinuität über den 8. Mai 1945 hinaus“ gegeben war (Reinke 2000, 60). Mit der
Eingliederung alter Eliten ab 1949 misslang die geplante Entnazifizierung der
Polizei endgültig; die wiedereingestellten Beamten passten sich aber in das neue
System ein (Vgl. Schulte W. 2003, 53ff.). Das Aufgreifen von Weimarer Konzepten verstärkte den rückwärtsgewandten Charakter der neuen Polizei in der BRD,
da Organisation und Personal „die wesentlichen Bestimmungsfaktoren für Habitus, Arbeitsphilosophie und Selbstverständnis“ dieser Organisation sind (ebd., 28).
Auch bei der bundesrepublikanischen Kriminalpolizei waren Kontinuitäten bei
Personal, Einstellung sowie der kriminalpolizeilichen Praxis zu registrieren (Vgl.
Roth 2005, 82). Auf diese Weise blieben die „Muster einer autoritären, offensiven
und diskriminierenden Polizeiarbeit lebendig“ (ebd., 84).
5.2.1 Personal:
„Die Resozialisierung der NS-Kriminalisten“ (Wagner 2003, 179) führte dazu,
dass die alten „ ‚Seilschaften‘ aus dem RKPA“ die kriminalpolizeiliche Arbeit in
(Vgl. Baumann u.a. 2011, 16ff.). Er war mit Rolf Holle an entscheidender Stelle an den Planungen zur Gründung des BKA beteiligt (Vgl. Schenk 2001, 150-160). Das BKA entwickelte sich
maßgeblich aus dem Kriminalpolizeiamt für die Britische Zone in Hamburg (ebd., 133-139).
Dickopf und Holle waren zusammen in der „Führerschule der SIPO“. Nach Einrichtung des
BKAs gelangten eine Vielzahl Personen aus dem gemeinsamen Lehrgang in Schlüsselpositionen.
Im Amt nannte man sie nur die „Charlottenburger“ (ebd., 66-74).
131
Laut Wagner (2003, 193) bestimmten ab den 1950er-Jahren die kriminalpolizeilichen Eliten
weitgehend selbst, wer wieder eingestellt wurde bzw. wer in der Behörde Karriere machen durfte. Es war ausschlaggebend, ob man früher gegen die Organisationskultur und die informellen
Regeln der Gruppe verstoßen hatte oder nicht. Zudem kam der Fraktions- und Cliquenbildung in
dieser Gruppe für Einstellung und weitere Verwendung große Bedeutung zu.
83
der BRD maßgeblich beeinflussten (Linck 2001, 122). Fast alle Angehörige des
RKPAs fanden spätestens Anfang der 1950er-Jahre eine Anstellung bei der Kripo
in der BRD oder wurden regulär in den Ruhestand versetzt (Vgl. Wildt 2002,
769). Man traf sich regelmäßig auf Arbeitstagungen, Lehrgängen und Besprechungen und schütze sich gegenseitig vor Angriffen von außen (Vgl. Wagner
2002, 150 und 168f.). Beim BKA waren 1959 von 47 Beamten der Führungsebene nur zwei unbelastet (Vgl. Hölzl 2011, 94). Eine ähnliche Aussage traf auf die
kriminalpolizeiliche Elite des Landes NRW zu (Vgl. Noethen 2002, 492ff.). Auch
in den anderen Ländern gab es bei der Kriminalpolizei eine starke personelle Kontinuität (Vgl. Linck 2000, 340).
Die im NS-Staat begangenen Verbrechen verschwanden als dunkle Flecken in den
Lebensläufen ungebrochener deutscher Polizeikarrieren von Weimar bis zur Bundesrepublik. (ebd., 341)
Die „erfahrenen“ Mitarbeiter der Kriminalpolizei blieben jedoch potentiell angreifbar. Nach einer gewissen Schonfrist änderten sich Ende der 1950er-Jahre das
gesellschaftliche
Bewusstsein
und
der
Umgang
hinsichtlich
der
NS-
Vergangenheit. Die Gefahr von strafrechtlichen Ermittlungen erhöhte sich:
Je mehr die NS-Zeit zur Geschichte wurde, desto länger wurden die Schatten der
Vergangenheit. Sie erreichten nach und nach auch jene, die sich zunächst in Sicherheit wähnten. (Frei 2001, 10)
So kam es mit einer gewissen Verzögerung zu Anzeigen, Ermittlungen und öffentlichkeitswirksamen Skandalen, die Unruhe in den kriminalpolizeilichen Beamtenapparat brachten (Vgl. Wagner 2002, 149-152; Ziffer 3).
5.2.2 Mentalitäten und Einstellungen:
Die alten NS-Kriminalisten brachten ihr „mentale[s] Marschgepäck“ in die Kripo
der BRD mit (Wagner 2008, 96). Hierzu gehörte neben Gewalterfahrungen, der
politischen Einstellung, den alten kriminalpolizeilichen Konzepten (ebd.) auch die
soziale Einstellung der Beamten:
Scharf ausgeprägte Stereotype, ‚Ordnungs-‚ und ‚Sicherheitsansprüche‘, rigide
Sittlichkeits- und Moralvorstellungen und ausgreifende Verdachtsprojektionen
prägten das Alltagshandeln. (Roth 2005, 84)
Der Fokus blieb weiterhin auf „autoritäre[n] und obrigkeitsstaatliche[n] Traditionen und Usancen“ (Reinke 2000, 60). Die „Kriminalisierung sozialer Randgruppen“ wurde fortgesetzt (Roth 2005, 76). Prostituierte, Zuhälter, Homosexuelle,
84
Sinti und Roma, auffällige Jugendliche und „Arbeitsscheue“ blieben weiter im
Fadenkreuz der kriminalpolizeilichen Arbeit.132 In einem Beitrag in der Zeitschrift
„Kriminalistik“133 erfand Wehner sogar 1960 in Anlehnung an den Begriff des
„Landstreichers“ eine neue soziale Randgruppe, den „Stadtstreicher“:
Beiden ist der Unwille - und weniger die Unfähigkeit - zur Bindung irgendwelcher
Art, primär an die Familie und damit an die Wohnung, sekundär an geregelte Arbeit, um Familie und Wohnung unterhalten zu können, gemeinsam. (147)
Auch deuteten viele polizeiliche Übergriffe, diverse Schusswaffeneinsätze sowie
eklatante Verstöße gegen die Strafprozessordnung nach dem Krieg darauf hin,
dass die Beamten noch nicht alle in der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit
angekommen waren (Vgl. Noethen 2000, 591-594; Roth 2009, 579).
Es entwickelte sich eine rigide Organisationskultur mit hohem Anpassungsdruck.
Gemeinsame Überzeugungen, ein gewisser ‚Korpsgeist‘ und der Wille zur gegenseitigen beruflichen Absicherung sorgten dafür, dass es auch nach dem Ende der
NS-Herrschaft nicht zu offenen Konflikten über nationalsozialistische Verbrechensbekämpfung kam. (Roth 2009, 576)
Beamte mit anderen Einstellungen wurden ausgegrenzt (ebd., 577). Zudem orientierte sich die berufliche Sozialisation des Nachwuchses an althergebrachten Konzepten. Die Ausbildungsinhalte, die Gestaltung des Unterrichtes und die Rahmenbedingungen waren trotz Reformbemühungen immer noch stark autoritär und
obrigkeitsstaatlich geprägt und knüpften oft an die Traditionen von Weimar an.
Die Ausbilder hatten meist keine ausreichende pädagogische Ausbildung oder
waren Vertreter einer eher militärisch orientierten Ausbildung (Vgl. Baumann u.a.
2011, 27f.; Noethen 2002, 435-439; PFA 2002, 74-79, Schulte W. 2003, 87-95).
Die neu installierte politische Bildung als Folge der Entnazifizierungs- und Demokratisierungs-Politik der Siegermächte reduzierte sich auf die „kontinuierli-
132
Der Begriff der „Asozialen“ verlor nach dem Krieg an Bedeutung, jedoch wurde das begangene
Unrecht an dieser Gruppe konsequent ignoriert, verleugnet und verschleiert (Vgl. Roth 2005,
83).
133
Die Zeitschrift „Kriminalistik“ bot nach dem Krieg jahrzehntelang vielen Reichskriminalbeamten und anderen rechtskonservativen Personen eine Bühne, um ihre autoritären und rückwärtsgewandten Ansichten zu verbreiten. Die Zeitschrift erschien zum ersten Mal 1927 unter dem Titel „Kriminalistische Monatshefte“. In der NS-Zeit betreute der spätere erste BKA-Präsident
Max Hagemann die Zeitschrift, welche 1938 in „Kriminalistik“ umbenannt wurde und die Ideologie der nationalsozialistischen Verbrechensbekämpfung kritiklos propagierte. Nach dem Krieg
war Willi Gay, ehemaliger stellvertretender Leiter der Kripoleitstelle Köln, von 1952 bis 1967
verantwortlicher Schriftleiter. Gay war bereits in der Zeit von 1928 bis 1933 Schriftleiter der
„Kriminalistischen Monatshefte“ gewesen. Wehner übernahm die Funktion von Gay 1967 (Vgl.
Schenk 2001, 295; Wagner 2003, 189; Ziffer 3; Anhang 1).
85
che[...] Vermittlung formaldemokratischen Basiswissens.“ (Schulte W. 2003, 403)
Trotzdem wurde dabei der Grundstein für die Demokratisierung gelegt:
Wenn auch zu dieser Zeit vorwiegend formaldemokratische Einstellungen in der
Polizeiorganisation vorzufinden sind und das polizeiliche Handeln bestimmen, so
bildet die förmliche Beachtung demokratischer Grundsätze gleichwohl die Basis
für später einsetzende Reformprozesse und für eine weitergehende Entwicklung,
Verstetigung und Verinnerlichung von demokratischen Werten. (ebd., 157)
Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit stellt einen „Referenzpunkt für den
Demokratisierungsprozess in der Polizei“ dar (ebd., 119). Hier war jedoch festzustellen, dass lange Zeit „die personelle Kontinuität bei der Polizei eine Aufarbeitung ihrer Vergangenheit“ behinderte (Kunz 2010, 16). So unterband die polizeiliche Leitung in NRW, welche überwiegend aus ehemaligen NS-Beamten bestand,
die Vermittlung kritischer, objektiver Unterrichtsinhalte zur Polizei des Dritten
Reiches (Vgl. Noethen 2002, 482). Oftmals fand die Geschichte der Polizei im
Lehrplan überhaupt keine Berücksichtigung (ebd., 484). Auch innerhalb der Kriminalpolizei folgte die Aufarbeitung der eigenen Geschichte lange Zeit eigenen,
eindimensionalen Mustern und Sichtweisen (Vgl. Hölzl 2011, 92-96). Es ist davon auszugehen, dass dabei auch auf die Botschaften Wehners und seine Stilmittel
zurückgriffen wurde.
5.2.3 Kriminalpolizeiliche Praxis/Konzepte:
Nach dem Krieg gab es keine Kritik an der kriminalpolizeilichen Praxis der NSZeit (Vgl. Linck 2001, 123). In diesem Klima wurden die „professionelle[n] Standards“ einfach fortgeführt (Baumann u.a. 2011, 323). Auch die kriminalbiologischen Grundlagen wurden nicht grundsätzlich in Frage gestellt (Vgl. Linck 2000,
190). Kriminalbiologische Theorien waren in der Praxis jedoch bereits ab Mitte
des Krieges rückläufig, während sie an den Universitäten noch bis in die 1960erJahre vermittelt wurden (Wagner 2008, 101). Trotzdem gab es weiterhin einen
„kriminologische[n] Dogmatismus“ in der deutschen Kripo (ebd.). So blieb das
„Feindbild des ‚Berufsverbrechertums‘ “ auch nach 1945 maßgeblich für die Arbeit der Kripo (Roth 2005, 83; Ziffer 2.1.2). Das ehemals landesweite Agieren
dieses Verbrechertyps wurde lediglich um einen internationalen Aktionsraum erweitert. Bereits 1949 forderten führende Kriminalisten die (Wieder-)Einrichtung
kriminalpolizeilicher Zentralstellen in der Bundesrepublik analog der alten
Reichszentralen (Vgl. Linck 2001, 125). Der KPMD auf der Grundlage des Kon-
86
strukts des „Berufsverbrechers“ wurde nach „bewährtem“ Vorbild wieder aufgebaut (Vgl. Schenk 2001, 201f.)
Mit diesem kriminologischen Hintergrund versuchte man folgerichtig, das Konzept der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ wiederzubeleben (Vgl.
Noethen 2000, 596). Es ist nicht geklärt, wann die entsprechenden Erlasse der
NS-Zeit außer Kraft gesetzt wurden (Vgl. Linck 2000, 191). Kriminalisten vertraten durchaus nach dem Krieg auch die Ansicht, dass das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ vom 24. November 1933 (Ziffer 2.1.2) noch in Kraft wäre (Vgl.
Linck 2001, 126). Eine Überführung beider Vorschriften in das bundesrepublikanische Rechtssystem war jedoch nicht realisierbar. Ein (Landes-)Gesetzentwurf
scheiterte am Widerstand der Landesjustizministerien (Vgl. Linck 2001, 125).
In der Folge wurde versucht, die Vorschriften derart umzugestalten, dass sie mit
dem Grundgesetz vereinbar waren. So wollten Kriminalisten im Rahmen der Großen Strafrechtsreform Einfluss auf die Vorschriften der Sicherungsverwahrung
nehmen (Vgl. Wagner 2008, 102f.). Bei dieser Lobbyarbeit bewegte man sich
jedoch in einem Dilemma: Wie sollten die Vorzüge der Vorschriften offensiv gepriesen werden, ohne gleichzeitig die verbrecherische Repressionspraxis samt
eigener Beteiligung zu offenbaren (ebd., 105f.)? Man nutze die bekannten Methoden der Umschreibung und des Weglassens. So heißt es in einer 1955 veröffentlichten Schriftenreihe des BKAs zum Thema „Probleme der Polizeiaufsicht“:
Abschließend darf darauf hingewiesen werden, daß es nicht die überwachende Tätigkeit der Kriminalpolizei alleine war, die die Kriminellen vom Rückfälligwerden
abhielt, sondern daß vor allem die S c h w e r e d e r a n g e d r o h t e n S t r a f e ,
die Einweisung auf unbestimmte Zeit in Vorbeugungshaft, abschreckte. (Eschenbach/Leichtweiß 1955, 40, Hervorh. i.O.)
Der Begriff „KZ“ wurde vermieden, die eigene Verantwortung verschleiert und
die Zahlen korrigiert. Laut eines anderen Beitrages im gleichen Buch wurden nach
1945 lediglich 6.000 „Berufsverbrecher“ aus den KZs befreit (Vgl. Niggemeyer
1955, 102). Die deportieren „Asozialen“ blieben einfach unerwähnt (Vgl. Wagner
2002, 172). Auch in einem Beitrag in der „Kriminalistik“ aus dem Jahr 1956
wendete der Autor ähnliche Stilmittel an. Hier wurde von einem „energische[n]
Vorgehen gegen Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ gesprochen (Knoblauch
1956, 265). Das KZ als der Ort, an dem die „Vorbeugungshaft“ vollzogen wurde,
kam schlicht nicht vor.
87
In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß bei schuldhafter Nichtbeachtung
der Auflagen die Möglichkeit bestand, die betroffene Person in Vorbeugungshaft
zu nehmen. Das Gespenst der Vorbeugungshaft [...] hat zweifellos zu einer Einhaltung der erteilten Auflagen wesentlich beigetragen (ebd., 266).
Ohne überhaupt genau zu beschreiben, was die „Strafe“ vor 1945 eigentlich war,
wurde die neue Sanktionspraxis kritisiert: „Bedauerlicherweise sind die Strafen,
die seit 1945 über Berufs- und Gewohnheitsverbrechern ausgesprochen werden,
außerordentlich milde.“ (ebd.)
Trotz ihres defensiven Vorgehens konnte sich die Kripo mit ihren Forderungen
zur Sicherungsverwahrung nicht durchsetzen.134 So blieb letztlich nur der Rückgriff auf altes Datenmaterial der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ (Vgl.
Roth 2005, 84).
Die Verfolgung und Diffamierung der Opfer der Kriminalpolizei hielt auch nach
Ende des Krieges an (Vgl. Ayaß 2005, 51f.). Von Seiten der Gesellschaft unterstellte man der Kriminalpolizei gute Gründe, die für eine KZ-Einweisung von
„Berufsverbrechern“, „Asozialen“ und „Zigeunern“ sprachen (Vgl. Reinke 2000,
57f.). Diese Randgruppen waren der Mehrheitsgesellschaft schon immer „suspekt“ und blieben es auch. Hinzu kam, dass sich die Kripo selbst mit den Belangen und Ansprüchen der „Vorbeugungshäftlinge“ befassen durfte (Vgl. Wagner
1996, 406). So wurden berechtigte Schadensersatzanspruche schnell zu „Wiedergutmachungsbetrügereien“ (Vgl. Wagner 2002, 185f.).
Andere blieben weiterhin von dem „Damoklesschwert“ des Strafrechts und einer
strikten Verfolgungspraxis bedroht: Alleine zwischen 1953 und 1965 erfolgten
100.000 Anklagen wegen Homosexualität, fast die Hälfte der Angeklagten wurde
rechtskräftig verurteilt (Vgl. Baumann u.a. 2011, 305). Versuche der Entkriminalisierung in den 1950er-Jahren scheiterten vor dem Bundesverfassungsgericht
(BVerfG); Kriminalbeamte traten hierbei als Gutachter auf (ebd.).
Auch die Bekämpfung der „Zigeuner“ blieb ein kriminalpolizeilicher Schwerpunkt, wobei der vorangegangene Massenmord an ihnen einfach geleugnet wurde
(Wagner 2008, 100f.). So kam Hanns Eller, der vor 1945 für die Deportationen
134
Der Vorschlag sah Kriminalbeamte als Sachverständige im Prozess zur Klassifizierung der
Beschuldigten vor. Mit einer entsprechenden Einstufung des Beschuldigten durch die Kriminalisten sollte die Rechtsfolge „Sicherungsaufsicht/Sicherungsverwahrung“ bindend gekoppelt
sein. Somit wäre die Justiz zu einer „weitgehend willenlose[n] Subsumptionsmaschine“ degradiert worden (Wagner 2008, 103f.).
88
von „Sinti und Roma“ in Bayern verantwortlich war, noch 1954 in einem Beitrag
in der „Kriminalistik“ zu dem Schluss,
daß dieser Personenkreis infolge seiner Eigenheiten schon immer ein sicherheitspolizeiliches Problem dargestellt hat. Weder blutige Verfolgungen noch wohlmeinende Gesittungsbestrebungen haben das Wesen der Zigeuner zu ändern vermocht.
Während des Dritten Reiches wurde eine Anzahl zigeunerischer Personen wegen
ihrer teils asozialen, teils kriminellen Lebensweise als polizeiliche Vorbeugungshäftlinge in Kz-Haft genommen. Erst im Jahre 1943 wurde auch die familienweise
Einweisung von Zigeunern in Kz-Lager verfügt. Inwieweit und unter welchen Umständen hierbei Zigeuner ihr Leben lassen mußten, kann mangels konkreter Unterlagen nicht festgestellt werden. Soweit jedoch bekannt, wurden auch viele Zigeuner
ein Opfer von Seuchen, die zum Teil auf mangelhafte Unterbringung in den Lagern, zum Teil aber auf die persönliche und angeborene Unsauberkeit der Betroffenen selbst zurückzuführen ist. (Eller 1954, 126)
Die polizeilichen Schikanen gegen Sinti und Roma wurden nach dem Krieg einfach fortgesetzt. Aus den Reihen der Kriminalbeamten wurden Forderungen nach
einem härterem Vorgehen der Justiz und schärferen Gesetzen laut (Vgl. Lewy
2001, 332f.). Kriminalbiologische Unterlagen aus den rassistischen Forschungen
der RHF und des KBIs wurden der neuen „Zigeunerdienststelle“ München 1949
übergeben (Vgl. Winter 1988, 145). Der Begriff des „Landfahrers“ ersetzte den
des „Zigeuners“, die Praxis änderte sich dadurch nicht (Vgl. Zimmermann 1992,
365). Die Münchner Dienststelle, welche aus „erfahrenen“ Kriminalbeamten (unter ihnen auch der oben zitierte Eller) bestand, wurde am 22. Dezember 1953 in
„Landfahrerzentrale“ umbenannt; eine neue „Landfahrerverordnung“ wurde
Grundlage ihrer Arbeit. Sie hatte auf diesem Gebiet faktisch bundesweite Zuständigkeit. Von dort wurde das bundesweite Überwachungssystem wieder aufgebaut.
Erst 1965 wurde diese Dienststelle aufgelöst (Vgl. Hölzl 2011, 93).
Die Diskriminierung der Sinti und Roma dauerte jedoch an: Sie wurden noch lange in den EDV-Systemen, Fahndungsblättern und sonstigen Datenbeständen der
Kriminalpolizei mit Sondermerkern erfasst (Vgl. Baumann u.a. 2011, 269-273;
Zimmermann 1992, 369). In ihren Entschädigungsverfahren wurden Kriminalbeamte als Zeugen und Gutachter eingesetzt (Vgl. Zimmermann 1992, 366). Nicht
selten gelang es, die Wiedergutmachung auf diese Weise zu verhindern oder zu
verzögern (Vgl. Winter 1988, 145f.). Unterstützt wurden diese Bemühungen
durch ein BGH-Urteil von 1956, nachdem die Verfolgung und Deportation der
Sinti und Roma nicht rassistisch motiviert war (Vgl. Lewy 2001, 338). Das Urteil
wurde 1965 aufgehoben (Vgl. Baumann u.a. 2011, 251f.). Ermittlungen, welche
gegen Kriminalbeamte wegen ihrer Beteiligung an dem Massenmord an der
89
Gruppe der Sinti und Roma geführt wurden, blieben ohne Ergebnis (Vgl. Lewy
2001, 338).
Insgesamt bestand in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft kein
hohes Verfolgungsinteresse bezüglich der Verbrechen aus der nationalsozialistischen Zeit (Vgl. Hachmeister 2002, 111). Zudem ermittelte die Kriminalpolizei
zunächst nicht gegen eigene Kollegen (Vgl. Linck 2000, 339). Ende der 1950erJahre änderte sich das gesellschaftliche Klima langsam von „Verdrängen“ und
„Verschweigen“ zu „Aufklärung“ und „Sanktionierung der Verantwortlichen“.
Der Strafverfolgungsdruck auf Polizei- bzw. Kriminalbeamte erhöhte sich merklich (Vgl. Mix 2011b, 83-85.) Mit der Einrichtung der ZStLJ in Ludwigsburg
1958 wurde dieser Wandel institutionalisiert (Vgl. Liebert 2001, 98). Die betroffenen Polizeibeamten reagierten hierauf mit Diffamierungen gegenüber den
Ermittlern und der Boykottierung der strafrechtlichen Ermittlungen (Vgl. Hölzl
2011, 100; Schenk 2001, 250-260). Zu den Ermittlungen von Kriminalbeamten
gegen eigene Kollegen („Christenverfolger“) gibt es jedoch kaum Forschungen
(Vgl. Reinke 2008, 147).
Bis heute wurde nur ein geringer Prozentsatz der Polizisten für ihre Taten in der
NS-Zeit strafrechtlich zur Verantwortung gezogen (Vgl. Mix 2011b, 80). Diese
Aussage dürfte auch auf die Kriminalbeamtenschaft als Teilgruppe zutreffen.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die starke personelle Kontinuität in
der bundesrepublikanischen Kriminalpolizei für viele Jahre Auswirkungen auf die
vorherrschende Organisationskultur, auf die Mentalität und Einstellung der Mitarbeiter sowie die kriminalpolizeiliche Praxis hatte. Das stark autoritäre und obrigkeitsstaatliche Denken und Handeln wurde erst nach und nach aufgrund der Pensionierung der alten Kriminalisten-Generation, starker gesellschaftlicher Wandlungsprozesse („68-er Generation“) sowie der darauf folgenden polizeiinternen
Reformbemühungen in den 1970er-Jahren beseitigt. Bis zu dieser Zeit blieb der
„Geist“ von Weimar und auch der des Dritten Reiches innerhalb der Kriminalpolizei deutlich spürbar.
90
6. Schluss:
Hans Buchheim beschrieb bereits 1964 verschiedene Faktoren, welche insbesondere die Gestapo zu einem „totalitären Machtinstrument“ werden ließ:




Die Unterstellung unter einen außerstaatlichen uneingeschränkten Machtanspruch und damit die Lösung aus der Bindung der Gesetze und aus der institutionellen Disziplin staatlicher Verwaltung.
Daraus folgend die Verabsolutierung des Sicherheitsprinzips und Perversion
des Vorbeugungsprinzips.
Die Erweiterung der defensiven Arbeiten der Polizei zu einer Kompetenz der
positiven Gestaltung des öffentlichen Lebens.
Die ideologische Verallgemeinerung und Abstraktion politischer Gegnervorstellungen mit der daraus folgenden Ausweitung der polizeilichen Zuständigkeit auf die Gesinnung. (Buchheim 1964, 101, Aufzählung. i.O.)
Diese Aspekte trafen jedoch auch auf die Kriminalpolizei des Dritten Reiches zu:
Geleitet von der Utopie einer Gesellschaft ohne Kriminalität (Vgl. Wagner 1996,
408), im Kampf gegen die „Feinde des deutschen Volkskörpers“, gegen „Berufsverbrecher“, „Asoziale“, „Wehrunwürdige“ und sonstige deviante gesellschaftliche Randgruppen entwickelte sie - losgelöst von allen rechtsstaatlichen Fesseln eine „mörderische Praxis“ (Linck 2000, 190), der zehntausende von Menschen
zum Opfer fielen. Sowohl die kriminalpolizeilichen Führungseliten als auch die
Sachbearbeiter vor Ort nutzen die Möglichkeiten des neuen Regimes intensiv. Es
kam zu einer Ideologisierung und Entfesselung der kriminalistischen Arbeit. Gestapo und Kripo waren die „Erzengel der Volksgemeinschaft“ (Mallmann/Paul
1991, 283).
Lange Zeit wurden jedoch nur die Gestapo und die SS für die Taten der Schreckensherrschaft verantwortlich gemacht. Menschen wie Bernd Wehner gelang es
viele Jahre, die Rolle der Kriminalpolizei zu verharmlosen, zu beschönigen und
umzudeuten. „Kriminalistik als Selbstzweck erschien als Gegenpol zur nationalsozialistischen Überzeugungstat“ (Schulte J. E. 2009, 28). Wehner legte dabei mit
seiner großen Spiegel-Serie Ende der 1940er-Jahre die Grundzüge der nachfolgenden Geschichtsschreibung über die Kriminalpolizei fest.
Seine Botschaften, Motive und Stilmittel finden sich in vielen anderen Publikationen wieder. Sie trafen lange Zeit den „Nerv“ der Gesellschaft, welche sich selbst
von den Nationalsozialisten verführt und verraten fühlte. Erst neuere Forschungen, die beginnende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Machterosion
der belasteten Generation und damit einhergehend ein Bewusstseinswandel in der
91
deutschen Gesellschaft zwangen auch „Überzeugungstäter“ wie Wehner, ihre Erzählungen und Bilder zu korrigieren oder einfach zu schweigen.
Die Legende von der „sauberen, unpolitischen und professionellen Kriminalpolizei“ lässt Parallelen zur Geschichte einer anderen Organisation des Dritten Reiches erkennen. Die Wehrmacht galt lange Jahrzehnte als Einheit, die „ihre Pflicht
tat“, „sauber“ blieb, von „Erfolg zu Erfolg“ eilte und nur durch Hitler und andere
unfähige NS-Eliten in ihren Untergang getrieben wurde. Unzählige Publikationen
verhalfen dieser Erzählung zu einem übergreifenden gesellschaftlichen Konsens.
Der Gegenspieler war die hochgradig ideologisierte und fanatisierte Waffen-SS.
Sie wurde schnell als Verantwortlicher identifiziert, wenn neue Massaker und
Greueltaten öffentlich wurden. Erst aufgrund neuerer Forschungsergebnisse konnte gegen den starken Druck ihrer langsam „wegsterbenden“ Mitglieder das Geschichtsbild der Wehrmacht korrigiert werden.
Die Manipulation des Geschichtsbildes hatte verschiedene Motive und Funktionen. Neben der Integration in das gesamtgesellschaftliche Modell des „betrogenen“ Volkes standen insbesondere die Aspekte des Schutzes vor persönlichen
Repressalien sowie die Wiedereinstellung in den Staatsdienst im Vordergrund.
Letzterer traf auf einen hohen Bedarf an qualifiziertem Personal. So wurden viele
Kriminalisten wie Wehner wieder in die Kripo aufgenommen, starteten oft eine
zweite Karriere, waren angesehen und wurden in die neue Gesellschaft integriert.
Die hier geschilderten Prozesse der Reetablierung einer durch ihr Agieren im
Nationalsozialismus hochgradig belasteten Funktionselite [...] sind vermutlich typisch auch für die Wege anderer Funktionseliten aus der NSVolksgemeinschaft in die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft, ja vielleicht sind sie sogar paradigmatisch für die Verwandlung der NSVolksgenossen in das Staatsvolk der Bundesrepublik insgesamt. (Wagner
2003, 212)
Die politischen Entscheidungsträger sahen die Integration der belasteten Beamten
als „unvermeidlich für die Etablierung einer bürgerlichen Republik auf demokratischer Grundlage“ an (Liebert 2001, 71). Dieser Prozess wurde jedoch mit einem
„Verlust an moralischer Glaubwürdigkeit“ (Frei 1997, 100) sowie der Fortdauer
autoritärer, obrigkeitsstaatlicher und überholter Denkmuster in der staatlichen
Verwaltung erkauft. Auch die Organisationskultur und die Traditionslinien der
Kriminalpolizei überlebten auf diese Weise den 08. Mai 1945 und beeinflussten
die Praxis der kriminalpolizeilicher Arbeit noch lange Zeit.
92
Die neue fragile Demokratie wurde dabei durch diese Integration nicht ausgehöhlt. Es fand ein „Anpassungs- und Wandlungsprozeß“ auch der kriminalpolizeilichen Eliten statt (Liebert 2001, 71). Durch das permanente Rezitieren rechtsstaatlicher Glaubenssätze verinnerlichten die Beamten diese nach und nach (Vgl.
Wagner 2003, 212). Mitte der 1960er-Jahre waren die „erfahrenen“ Kriminalisten
des Dritten Reiches dann auch „mental“ in der Realität der BRD angekommen. So
ging
es nicht mehr um Allmachtsphantasien oder die kriminalitätslose Gesellschaft,
sondern um die mangelhafte Personalausstattung der Polizei, ihr Verhältnis zur
Staatsanwaltschaft, Probleme der Fahndung und der Öffentlichkeitsarbeit. (Wagner
2003, 179)
Die Geschichtsklitterung im Stile Wehners trug dabei auf eine durchaus fragwürdige Art und Weise zur Stabilisierung und Entwicklung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft bei. Sie ermöglichte den Kriminalbeamten, begangenes Unrecht
zu verdrängen und sich der Verantwortung zu entziehen (Vgl. Liebert 2001, 102)
und unterstützte mit der These der angeblich rechtsstaatlichen Tradition der Kriminalpolizei den Integrationsprozess der alten Eliten in die neue Gesellschaft.
Vor dem Hintergrund dessen, was tatsächlich während des Nationalsozialismus geschehen war, können diese defensiven Traditionslügen nur als dreist und moralisch
unerträglich erscheinen. Sie gehören aber dennoch - in Verbindung mit dem Konformitätsdruck von außen - zu jenen Faktoren, die eine Verwestlichung und Liberalisierung der bundesdeutschen Gesellschaft erst ermöglichten. (Wagner 2003, 213)
Diese Prozesse waren nicht auf die Kriminalpolizei beschränkt; vielmehr betrafen
sie die gesamte deutsche Nachkriegsgesellschaft. Unter der Legende des von Hitler und den Nazis „betrogenen und ausgenutzten Volkes“, welches eigentlich
weitgehend unschuldig geblieben war, integrierten sich selbst überzeugte Nationalsozialisten in die neue westdeutsche Nachkriegsgesellschaft.
Der spätere erste Präsident des BKAs Max Hagemann stellte 1948 in einem Buch
eigenen Angaben zufolge drei Schicksalsfragen über die Zukunft der Kripo. Insbesondere gelte es, „die in den 12 Jahren seit 1933 durch unbekümmerte Forschheit verursachten Fehler und Schäden in Zukunft zu vermeiden.“ (5) Wie wir heute wissen, war es nicht nur „unbekümmerte Forschheit“, die von den Nationalsozialisten bereitwillig ausgenutzt wurde. Vielmehr nahm die Kriminalbeamtenschaft aus eigener Überzeugung ihre Rolle an und hatte einen großen Anteil da-
93
ran, dass sie „ordnungsgemäß“ nationalsozialistische Vorgaben, aber auch eigene
Vorstellungen umsetzte.
In diesem Zusammenhang werden folgende Fragen stets aktuell bleiben: Ist es das
Wesen der (Kriminal-)Polizei, prinzipiell unpolitisch zu sein, und lediglich das zu
verfolgen, was der Staat vorgibt (Vgl. Dingel 1988, 176)? Gibt es keinen Spielraum, um sich offensichtlich menschenrechtswidrigen Anordnungen zu widersetzen? Kann sich eine demokratische Polizei als Träger des staatlichen Gewaltmonopols auf die Position zurückziehen, sie sei lediglich das Werkzeug der politischen Entscheidungsträger und exekutiere nur deren Ansichten? Wenn man diese
Fragen bejaht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die „Fehler“ und „Schäden“ der Vergangenheit auf die eine oder andere Weise wiederholen werden.
Vor diesem Hintergrund ist der politischen und geschichtlichen Bildung in der
Polizei eine größere Bedeutung als bisher beizumessen. Eine demokratische Polizei muss sich stets ihrem prekären Verhältnis zur Politik „als wesentliche konstitutive Rahmenbedingung“ bewusst sein (Schulte W. 2003, 7). Politisches und
soziales Wissen sind zur Entwicklung entsprechender Handlungskompetenzen
essentiell (ebd., 9f.). Nur auf diese Weise kann die Polizei mit ihrer Macht und
ihren Eingriffsbefugnissen in einem demokratischen Rechtsstaat verantwortungsvoll umgehen und sich nicht willenlos zum Vollstrecker einer wie auch immer
gearteten Politik machen. Ansonsten wird sie möglicherweise erneut auf „Spin
doctors“ wie Bernd Wehner angewiesen sein, die in der Lage sind, „objektive“
Wahrheiten in „subjektive“ Botschaften, Bilder und Deutungsmuster zu verwandeln. Nur wird dieser Kampf um die Deutungshoheit in Zeiten des Internets dann
wesentlich schwieriger und anspruchsvoller werden. Die Polizei sollte es nicht
darauf ankommen lassen.
94
Abkürzungsverzeichnis:
Abt.
Abteilung
Az.
Aktenzeichen
BAK
Bundesarchiv Koblenz
BdS
Befehlshaber der Sicherheitspolizei
BGH
Bundesgerichtshof
BKA
Bundeskriminalamt
BMI
Bundesministerium des Inneren
BpB
Bundeszentrale für politische Bildung
BRD
Bundesrepublik Deutschland
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DHPol
Deutsche Hochschule der Polizei Münster-Hiltrup
d. Verf.
der Verfasser
GdP
Gewerkschaft der Polizei
Gestapo
Stapo
Geheime Staatspolizei
Hervorheb. i.O.
Hervorhebung im Original
Hrsg.
Herausgeber
HSA
Hauptstaatsarchiv
HSSPF
Höhere SS- und Polizeiführer
IDS
Inspekteure der Sicherheitspolizei
IMG
Internationaler Militärgerichtshof
i.O.
im Original
Jg.
Jahrgang
95
KBI
Kriminalbiologisches Institut der Sicherheitspolizei im
Reichskriminalpolizeiamt
KdS
Kommandeure der Sicherheitspolizei
KL
Konzentrationslager
KMI
Kriminalmedizinisches Zentralinstitut der Sicherheitspolizei
KPMD
Kriminalpolizeilicher Meldedienst
Kripo
Kriminalpolizei
KTI
Kriminaltechnisches Institut der Sicherheitspolizei im
Reichskriminalpolizeiamt
KZ
Konzentrationslager
LA NRW
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
LAS
Landesarchiv Saarland
LKA/LKÄ
Landeskriminalamt/Landeskriminalämter
LKPA/LKPÄ
Landeskriminalpolizeiamt/Landeskriminalpolizeiämter
MBliV
RMBliV
Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Inneren (unterschiedliche Abkürzungen)
NRW
Nordrhein-Westfalen
NS
Nationalsozialismus
NSBAG
Nationalsozialistische Beamten-Arbeitsgemeinschaft
NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
ÖTV
Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr
PFA
Polizei-Führungsakademie Münster-Hiltrup
PLKPA
Preußisches Landeskriminalpolizeiamt
Pol.
Polizei
Abweichend: Abteilung Landesarchiv Saarland Pol. =
Politik
RFSSuChdDtPol.
Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei
96
RGBL
Reichsgesetzblatt
RHF
Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle beim Reichsgesundheitsamt
RKPA
RKA
Reichskriminalpolizeiamt
Reichskriminalamt
RSHA
Reichssicherheitshauptamt
RStGB
Reichsstrafgesetzbuch
RuPrMdI
Reichs- und preußischer Ministers des Inneren
SA
Sturmabteilung
SD
Sicherheitsdienst
SIPO
Sicherheitspol.
Sicherheitspolizei
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SS
Schutzstaffel
StA
Staatsanwaltschaft
StPO
Strafprozessordnung
ULB
Universitäts- und Landesbibliothek
Vgl.
Vergleiche
VVN
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
WI
Wirtschaftskriminalität
WKP
Weibliche Kriminalpolizei
ZStLJ
Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen
z.T.
zum Teil
ZuP
Zeitungs- und Pressearchiv
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RGBL I 1922, 1933 1934, 1936, Signatur ZR 30 PG
RMBliV, MBliV 1936, 1937, 1938, 1942, 1943), Signatur ZR 17 PG
Landesarchiv Saarland (LAS)
Abteilung Politik 669 (Erlasse, Schnellbriefe 1933-1934)
Abteilung Politik 671 (Erlasse, Schnellbriefe 1937-1938)
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LA NRW), Abteilung Rheinland,
Hauptstaatsarchiv (HSA) Düsseldorf
HSA-PE 7299 (Personalakte Bernd Wehner)
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Stadtarchiv Düsseldorf
Rheinische Post 1970, Bestand 6085
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110
Anhang 1: Kurzbiographien
Dickopf, Paul: geboren 1910, verstorben 1973
1928: Abitur, dann Studium der Rechtswissenschaften ohne Abschluss
1937: Einstellung bei der Kriminalpolizeileitstelle Frankfurt/Main
1938/1939: 13. Kommissarslehrgang „Führerschule der Sicherheitspolizei“
1939: Aufnahme beim SD im Rang eines SS-Untersturmführers
1939: Leitung des Erkennungsdienstes bei der Kriminalpolizeileitstelle Karlsruhe
ab 1940: Militärische Abwehr
ab 1949: Beratung des BMI im Zusammenhang mit der Einrichtung des BKAs
1950/1951: Sachbearbeiter beim BMI, danach Wechsel zum BKA
1951: Beförderung zum Regierungskriminalrat
1952: Übernahme der Leitung der Sicherungsgruppe BKA
1952: Beförderung zum Regierungskriminaloberrat
1952: Übernahme der Abteilung Ausland beim BKA
1965-1971: Präsident des BKAs
1971-1972 Berater des BMI in kriminalpolizeilichen Fragen
Quellen:
Klee 2003, 107
Schenk 2001, 49
Stiftung Topographie des Terrors, 402
Zachert 1991, 244
Gay, Willi: geboren 1890, verstorben 1975
1919: Einstellung als Polizeikommissar in Erfurt
1925: Versetzung zum Polizeipräsidium Berlin
1928: Leiter des Erkennungsdienstes beim Polizeipräsidium Berlin
1928-1933: Schriftleiter der „Kriminalistischen Monatshefte“
1930: Referent im preußischen Innenministerium
1934 bis 1945: Stellvertretender Leiter der Kripo Köln, zuständig für die Inspektion „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“
Ab 1945: Regierungsrat und Leiter der Kripo Köln
1948-1952: Innenministerium NRW, Beförderung zum Regierungs- und Kriminaldirektor
1952-1967: Schriftleiter der „Kriminalistik“
Quellen:
Noethen 2000, 590
Schenk 2001, 295
Wehner 1975, 147
111
Hagemann, Max: geboren 1883, verstorben 1968
Geheimrat
1909: Abschluss des Studiums der Rechts- und Staatswissenschaften, Dr. jur.
1918-1930: u.a. Leiter des Polizeiinstitutes Berlin-Charlottenburg, Leiter der Berliner Kriminalpolizei
Ab 1930: Oberverwaltungsgerichtsrat beim Preußischen Oberverwaltungsgericht,
Referent im preußischen Innenministerium für die Kriminalpolizei
1933-1945: Schriftleiter der „Kriminalistischen Monatshefe“ bzw. ab 1938 der
„Kriminalistik“
Ab 1949: Referent im BMI, Leiter der Unterabteilung „Öffentliche Sicherheit“
1951-1952: Erster Präsident des BKAs
Quellen:
Baumann u.a. 2011, 17
Wagner 2003, 189
Zachert 1991, 241
Heeß, Walter: geboren 1901, 1951 für tot erklärt
Diplom-Chemiker und SS-Standartenführer
Ab 1926: Chemisches Untersuchungsamt der Stadt Stuttgart
1. Mai 1933: Beitritt in die NSDAP, zwei Jahre Blockleiter in Stuttgart
1935: Leiter der Abteilung gerichtliche Chemie und Kriminaltechnik bei der
Chemischen Landesanstalt in Stuttgart, Keimzelle des künftigen KTIs
1938: Umzug des KTIs in das RKPA nach Berlin, Übernahme der Leitung
1938: Beförderung zum Regierungsdirektor
1939: Eintritt in die SS
Ab 1941: nebenamtlicher Dozent für gerichtliche Chemie an der Universität Berlin
Beteiligung an Probevergasungen sowjetischer Häftlinge im KZ Sachsenhausen
Beteiligung an der Entwicklung der Gaswagen
Beteiligung an Euthanasiemaßnahmen (Giftbeschaffung, Forschungen)
Quellen:
Klee 2003, 236
Wildt 2002, 323ff.
112
Holle, Rolf: geboren 1914
1937: Eintritt in die NSDAP
1937: Einstellung in die Kriminalpolizei von Halle/Saale
1938/1939: 13. Kommissarslehrgang der „Führerschule der Sicherheitspolizei“
1939-1945: nach eigenen Angaben Kommissariatsleiter in Erfurt und Berlin
Mitgliedschaft im RKPA/Amt V RSHA ist nicht belegbar
Ab 1945: Kriminaloberinspektor beim Kriminalpolizeiamt der Britischen Zone
Ab 1949: Beratung des BMI beim Aufbau des BKAs
1951: Übernahme ins BKA, Beförderung zum Regierungskriminalrat
1951: Leitung der Abteilung Inland
1953: Beförderung zum Kriminaloberrat, später Vizepräsident des BKAs
Quellen:
Baumann u.a. 2011, 17
Schenk 2001, 30, 49, 73, 131-133,137, 139
Jess, Hanns: geboren 1887, verstorben 1975
1912: Abschluss des Studiums der Rechts- und Staatswissenschaften, Dr. jur.
1919-1932: Leiter der Stadtpolizei Schwerin, Leiter des LKAs Mecklenburg,
Leiter der Polizeiabteilung im Innenministerium Mecklenburg
1933-1945: Aufgaben im Sozial- und Verkehrswesen, Bearbeitung von Kriegssachschäden
Ab 1949: Polizeivizepräsident und Leiter der Kriminalpolizei in Frankfurt am
Main
1952-1954: Präsident des BKAs
1954-1955: Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz
Quellen:
Schenk 2001, 48
Zachert 1991, 242
113
Nebe, Arthur: geboren1894, verstorben 1945
1. April 1920: Aufnahme in die Polizei Berlins
1923: Leitung des Rauschgiftdezernates des Berliner Polizeipräsidiums
1923: Ernennung zum Kriminalkommissar
1931: Eintritt in die NSDAP, die SS und die SA
1933: Beförderung zum Kriminalrat, Wechsel zum Geheimen Staatspolizeiamt
1934: Wechsel zum Preußischen Innenministerium
1934: Übertragung der Führung des preußischen Landeskriminalpolizeiamtes
1936: Übernahme der fachlichen Leitung der (Reichs-)Kriminalpolizei
1937: Leitung des RKPAs, Reichskriminaldirektor und SS-Gruppenführer
1939: Leitung des Amtes V im Reichssicherheitshauptamt
Beteiligung an Euthanasie-Verbrechen (Giftbeschaffung, Forschungen des KTIs)
Beteiligung an bzw. Anordnung von Menschenversuchen
Juni-Oktober 1941: Leitung der Einsatzgruppe B, Ermordung von 45.000 Menschen
August 1941: Beteiligung an Tötungen in Minsk durch Versuche mit Sprengstoff
und Auspuffgasen, die zur Entwicklung der Gaswagen führten
1944: Anordnung der Ermordung von 50 britischen Kriegsgefangenen
24. Juli 1944: Flucht nach dem Attentatsversuch auf Hitler
Januar 1945: Festnahme
März 1945: Todesurteil und Hinrichtung
Quellen:
Kiess 2011, 274-312
Klee 2003, 429f.
Wildt 2002, 301- 310
Wirth/Stange 2006, 766-773
Ritter, Robert: geboren 1901, verstorben1951
1921-1928: Abitur, Studium der Psychologie und Psychiatrie, Dissertation
1930: Promotion, Assistenzarzt an der Universitäts- und Nervenklinik Tübingen
1936: Leitung der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt (RHF)
Ab 1941/1942 : Leitung des neu gegründeten KBIs
Erfassung „asozialer“ und krimineller Sippen sowie „Gemeinschaftsfremder“
Mitarbeit an der Festlegung des Kreises der deportierten Sinti und Roma
Aufgrund seiner Gutachten wurden Sinti und Roma aus der Wehrmacht entlassen, sterilisiert und ins KZ deportiert
Quellen:
Luchterhandt 2000, 123-137
Wildt 2002, 316-319
Klee 2003, 499f.
114
Schulz, Karl: geboren 1908
Mitarbeiter im Reichssicherheitshauptamt, ab 1944 Leiter der Gruppe Wirtschaftskriminalität (WI) , SS-Sturmbannführer
Juni bis Oktober 1941: Adjutant und persönlicher Referent Arthur Nebes in der
Einsatzgruppe B (Juni bis Oktober 1941)
Oktober 1945: Leiter der Kripo Flensburg, dann Entlassung aus der Polizei
1947: Wiedereinstellung als Polizeiinspektor in der Polizei Schleswig-Holsteins
1949: Beförderung zum Kriminalpolizeirat, Übernahme der Leitung der Kripo in
der Polizeigruppe Schleswig-Holstein Nord
1952: Leiter des LKAs Bremen, Beförderung zum Oberregierungs- und Kriminalrat
Aufgrund der Vergasung von Geisteskranken in Minsk im Rahmen der Einsatzgruppentätigkeit gab es Ende der 1950er-Jahre Voruntersuchungen mit Schulz als
Beschuldigtem; das Ermittlungsverfahren wurde 1960 eingestellt.
Quellen:
Klee 2003, 569
Linck 2000, 159-162
Wildt 2002, 790-796
Widmann, Albert: geboren 1912
Chemiker, Obersturmbannführer
1937: Eintritt in die NSDAP
1938: Nach der Promotion Übernahme in das KTI
1939: Eintritt in die SS als Untersturmführer, Beförderung zum Regierungsrat
Ab 1940: Leiter des Referates Chemie Biologie im KTI
Nach 1945: Weiterarbeit in der Wirtschaft als Chefchemiker
Beschaffung von Medikamenten und Gift für Euthanasiemaßnahmen
Entwicklung technischer Möglichkeiten für Mord durch Vergasung
August 1941: Sprengstoffversuche sowie Bau einer stationären Gaskammer unter
Nebe in Minsk, Mitarbeit an der Entwicklung der Gaswagen
1944: Entwicklung von Giftgeschossen, Menschenversuche mit Giftmunition
1962 wegen der Morde mit vergifteter Munition zu 3,5 Jahren Haft verurteilt,
1967 wegen der Taten in Minsk zu 6,5 Jahren verurteilt. Unter Anrechnung des
früheren Urteils und der Untersuchungshaft wurde letztere Strafe gegen Zahlung
von 4000 Mark an eine Behinderteneinrichtung ausgesetzt.
Quellen:
Klee 2003, 675
Stiftung Topographie des Terrors, 114
Wildt 2002, 325-334
115
Wieking, Friederike: geboren1891, verstorben 1958
1921: Einstellung im Polizeipräsidium Berlin
1927: Beförderung zur Kriminalpolizeirätin, Leiterin der WKP Berlin
1937: Leitung des Referates WKP im Reichskriminalpolizeiamt
1939: Leitung der Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität
1941: Eintritt in die NSDAP
Ab 1940: Zuständigkeit für die „Jugendschutzlager“ in Uckermark und Moringen
Nach Kriegsende fünf Jahre Haft in Buchenwald, keine Rückkehr in den Staatsdienst.
Quellen:
Klee 2003, 675f.
Wildt 2002, 312f.
Werner, Paul: geboren 1900, verstorben 1970
Weimarer Republik: Nach dem Studium der Rechtswissenschaften Arbeit als
Staatsanwalt und Zivil- und Arbeitsrichter
1933: Eintritt in die NSDAP
1933: Leiter des Landeskriminalpolizeiamtes Baden in Karlsruhe
1937: Stellvertretender Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes
1937: Eintritt in die SS als SS-Oberführer
1939: Stellvertretender Leiter des Amtes V des Reichssicherheitshauptamtes
1941: Beförderung zum Ministerialrat
Als Gruppenleiter „Kriminalpolitik und Vorbeugung“ war Werner verantwortlich
für alle Maßnahmen der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“.
Als Verbindungsmann war er an Euthanasiemaßnahmen (Beratung, Beschaffung
von Tötungsmitteln) beteiligt.
Er war maßgeblich für die Eskalation der „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ verantwortlich und arbeite am „Gemeinschaftsfremdengesetz“ mit.
Ab 1951: Ministerialrat im baden-württembergischen Innenministerium
Anfang der 1960er-Jahre wurden strafrechtliche Ermittlungen gegen seine Person
ohne Ergebnis geführt.
Quellen:
Klee 2003, 670
Stange/Wirth 2010, 245-253
Wagner 1996, 265-279 und 384-393
Wildt 2002, 314ff. und 771
116
Zirpins, Walter: geboren 1901
SS-Obersturmbannführer
1927: Eintritt in die Kriminalpolizei nach Jurastudium und Promotion
1933: Wechsel zur Politischen Polizei nach Berlin
Im Anschluss: Lehrer und Stabsführer am Polizeiinstitut bzw. der „Führerschule
der Sicherheitspolizei“ in Berlin-Charlottenburg
1940 -1941: Kripochef im polnischen Lódz (Litzmannstadt)
1941-1945: Als Kriminaldirektor stellvertretender Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt (Lehrplangestaltung Schule)
März 1945: Kripochef in Hamburg
Nach dem 08.Mai 1945: Auf der Kriegsverbrecherliste Polens
Ende der 1940er-, Anfang der 1950er-Jahre: Arbeit als Informant und Autor für
den Spiegel
1951: Referent der Kriminalpolizei im niedersächsischen Innenministerium
1956: Leiter der Kriminalpolizei in Hannover
1960: Leiter des Landeskriminalpolizeiamtes Niedersachsen als Oberregierungsrat
Quellen:
Hachmeister 1998, 330
Klee 2003, 697
Mix 2011a, 673ff.
Schenk 2001, 315
Wildt 2002, 311 und 769f.
117
Anhang 2: Kriminalfälle
Der Fall Sass:
Ab 1927 kam es in mehreren Berliner Banken zu spektakulären Einbruchsversuchen, bei denen die Täter versuchten, die Tresore zu öffnen. Am
30. Januar 1929 gelang es ihnen schließlich, in die Safe-Räume der DiscontoGesellschaft in Berlin einzudringen und aus den dortigen Geldschränken etwa
40.000 Reichsmark in deutscher Währung, ca. 120.000 Reichsmark in Devisen,
Juwelen, gemünztes Gold sowie andere Schmucksachen zu entwenden.
Im Fokus der Berliner Kriminalpolizei standen schnell die arbeitslosen Brüder
Erich, Franz und Max Sass. Alle hatten bereits zu Beginn der 1920er-Jahre wegen geringfügiger Delikte Haftstrafen verbüßt und waren bereits bei den vorherigen Einbruchsversuchen in Verdacht geraten. Bei ihnen wurde durchsucht. Sie
wurden in Untersuchungshaft genommen. Kurze Zeit mussten sie aufgrund ungenügender Beweise wieder freigelassen werden.
Nach der Machtübernahme 1933 flüchteten Franz und Erich nach Dänemark,
Max beging 1935 in einem Gerichtsgefängnis Suizid. Am 23. Februar 1934 verübten Franz und Erich Sass einen Einbruch in eine Kopenhagener Zigarrenfabrik.
Hierfür wurden sie in Dänemark zu vier Jahren Haft verurteilt.
Nach Verbüßung der Haftstrafe wurden sie 1938 von Dänemark nach Deutschland ausgeliefert und umgehend festgenommen. Die alten Ermittlungen wegen
der Einbrüche wurden wieder aufgenommen. Das Landgericht Berlin verurteilte
sie im Rahmen der Hauptverhandlung vom 19. bis zum 27. Januar 1940 zu mehrjährigem Zuchthausaufenthalt. Unmittelbar nach dem Urteil wurden sie an die
Gestapo überführt.
Noch am 27. März 1940 wurden die Gebrüder Sass wegen „Widerstandes“ auf
der Flucht erschossen. „Nach Abschluß des Falles der Brüder Sass blieb ein ungutes Gefühl.“ (Wehner 1983, 193)
Quelle:
Wehner 1983, 76-93 und 185-193
Der Fall Opitz:
Zwischen 1928 und 1931 wurden in Braunschweig 64 Eisenbahnattentate - auch
mittels Schusswaffen - verübt. Anschließend kam es bis Ende 1933 zu 57 Raubüberfällen sowie drei Raubmorden. Dann riss die Serie plötzlich ab.
Im Winter 1935/1936 kam es zu kleineren Diebstählen im Braunschweiger
Stadtbad. Der Versicherungsangestellte Fritz Opitz wurde bei einer Tatausführung auf frischer Tat betroffen. Die Durchsuchung seiner Wohnung erfolgte erst
nach einigen Tagen. In dieser Zeit gelang es Opitz, Tatmittel aus der früheren
118
Serie verschwinden zu lassen.
Diese wurden jedoch einige Monate später gefunden. Mit Hilfe der Kriminaltechnik konnten diese Gegenstände sowohl einzelnen Taten der Serie sowie der
Person Opitz zugeordnet werden.
Opitz leugnete die Taten. Trotzdem wurde er aufgrund der objektiven Spurenlage
1937 wegen zwei Morden und 15 Überfällen zur Todesstrafe verurteilt. Nach
seiner Verurteilung legte er ein umfassendes Geständnis ab. Am 12. Oktober
1937 wurde er hingerichtet.
Quelle:
Wehner 1983, 93-110
Der Fall Götze:
Ende 1934 begann im Großraum Berlin eine Überfallserie auf Frauen, denen die
Handtasche entrissen wurde. Ab Juni 1935 kam es dann zu Anschlägen auf
Kraftwagen, bei denen zwei Räuber zunächst unter zu Hilfenahme von technischen Hindernissen, später auch mit Schusswaffen die Insassen der Fahrzeuge
ausraubten. Bis 1937 ereigneten sich auf diese Weise 96 Überfälle.
Hinzu kamen noch zahlreiche Überfälle auf S-Bahnhöfe, Stationskassen und
Tankstellen.
Im März 1937 wurde ein Polizeibeamter während einer Tatausführung von den
Räubern erschossen. Kurze Zeit später wurde ein zweiter Mord bei einem Überfall auf ein Liebespaar verübt. Im Jahr 1937 kam es zu weiteren Überfällen, bei
denen einige Opfer schwerverletzt wurden. Die letzte Tat der Serie ereignete sich
im Januar 1938. Hier wurde ein Lieferwagen überfallen. Insgesamt konnte man
der Serie 157 schwere Verbrechen, 13.000 Mark Beute, sechzehn Verletzte und
zwei Tote zuordnen.
Im Rahmen großangelegter Überprüfungen gelang es der Berliner Kriminalpolizei schließlich, im März 1938 aufgrund von Zeugenaussagen hinsichtlich einer
körperlichen Anomalie das Brüderpaar Max und Walter Götze als Täter zu identifizieren. Nach der Verhaftung kam es ab Juni 1938 zur Verhandlung. Am 22.
Juni 1938 wurde ein Gesetz erlassen (das sogenannte „Lex Götze“, dass Überfälle auf Kraftfahrer bzw. Straßenraub nachträglich mit dem Tod sanktionieren sollte, der heutige § 316a StGB). Am 24. Juni 1938 wurden die Brüder zum Tode
verurteilt, am 30. Juni 1938 hingerichtet.
Quelle:
Wehner 1983, 166-176
119
Der Fall Seefeld:
Zwischen 1933 und Februar 1935 verschwanden insgesamt 40 Kinder zwischen
Hamburg und Berlin, von denen viele später tot aufgefunden wurden. Ende Februar 1935 verschwanden erneut zwei zehnjährige Jungen im Bereich Schwerin.
Zu diesem Zeitpunkt begann man plötzlich, Zusammenhänge zwischen den Taten
zu sehen. Eine weitere Leiche wurde dann im März 1935 gefunden.
Man erstellte in der Folge ein Fahndungsersuchen an alle Polizeidienststellen
bezüglich eines älteren Mannes mit Hut. In einigen Fällen war eine solche Person
im Umfeld der Taten gesehen worden. Im Rahmen der Fahndung wurde ein
Hinweis auf Adolf Seefeld, einen umherziehenden Uhrmacher, gegeben. Nach
der Überprüfung seiner Person kam es zur Fahndung und Festnahme der Person.
Bei der Rekonstruktion seiner Wanderbewegungen konnten Parallelen zu den
Tötungsdelikten festgestellt werden.
Seefeld legte kein Geständnis ab. Am 21. Januar 1936 wurde er vom Schwurgericht Schwerin wegen Mordes in zwölf Fällen zur Todesstrafe verurteilt, seine
Hinrichtung erfolgte am 23. Mai 1936.
Quelle:
Wehner 1983, 176-185
Die Kassenbotenüberfälle von 1929 bis 1943:
Von August 1929 bis April 1940 kam es überall im Reichsgebiet zu Überfällen
auf Kassenboten. Hierbei wurden vier Boten erschossen. Zwölf Boten sowie drei
Passanten wurden schwerverletzt. Die Durchschnittsbeute pro Tat betrug 20.000
Mark. Zusammenhänge zwischen den Taten wurden erst 1935 entdeckt. Trotzdem gelang es erst 1943, die Täter zu identifizieren.
Einer der Täter, Franz Baumeister, wurde bei einer Einzeltat 1943 erschossen. Es
gelang, Baumeister mit der Serie in Verbindung zu bringen und potentielle Mittäter zu identifizieren. Im Rahmen der Fahndung gelang es, einen Mittäter festzunehmen, der sich jedoch in der Haft umbrachte. Der dritte Täter, Paul Baumeister, der Bruder von Franz, beging auf der Flucht Selbstmord.
Quelle:
Wehner 1983, 216-218
120
Die S-Bahn-Morde von Berlin:
Im Herbst 1940 wurden in Berlin zwei Frauen von einem Unbekannten aus der SBahn-Zug geworfen, blieben jedoch am Leben. Im Dezember 1940 wurden zwei
Frauenleichen im Bereich von S-Bahnhöfen gefunden. Zu diesem Zeitpunkt
konnte man Zusammenhänge zwischen den Taten erkennen. Zeugen sagten aus,
der Täter hätte eine Eisenbahnuniform getragen. Zudem stammte das Tatwerkzeug vom Bahngelände. Bis Juli 1941 kam es zu weiteren Taten: Eine Frau wurde vor einen S-Bahn-Zug gestoßen, weitere Frauenleichen wurden im Bereich der
S-Bahn-Strecke gefunden.
Bei der Überprüfung von Eisenbahnangestellten wurde Paul Ozgorow, ein altes
SA-Mitglied festgestellt. Bei der Überprüfung seiner Kleidung konnte an ihr Blut
festgestellt werden. Im Rahmen umfangreicher Vernehmungen legte er ein Geständnis ab. Er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Quelle:
Wehner 1983, 218-223
Der Fall Bruno Luedke:
Im Januar 1943 wurde die Leiche einer Frau im Köpenicker Stadtwald gefunden.
Der geistig minderbemittelte Bruno Luedke wurde im Rahmen der Ermittlungen
festgestellt. Er hielt sich öfters im Umfeld des Tatortes auf. Beim Versuch, ihn
zum Polizeipräsidium zu bringen, leistete er heftigen Widerstand. Luedke war bis
zu diesem Zeitpunkt wegen kleinerer Diebstähle und dem Beobachten von Frauen („Spannen“) kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten. Ihm wurde regelmäßig Schuldunfähigkeit attestiert.
Luedke gestand schnell den Mord an der Frau. Bei weiteren Überprüfungen sowie der Rekonstruktion von Luedkes Reisen wurden Zusammenhänge zu einer
Vielzahl von Frauenmorden hergestellt. Nach und nach gestand Luedke insgesamt 53 Morde und 3 Mordversuche zwischen 1924 und 1943 in Berlin, OstPommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Bayern und Norddeutschland.
Er wurde dem KMI in Wien zur Durchführung von Untersuchungen überstellt.
Dort starb er im April 1944 unter mysteriösen Umständen, offensichtlich auf Anordnung des Amtes V des RSHA.
Es wurden immer wieder erhebliche Zweifel an der Ermittlungsführung der Berliner Mordkommission sowie der Glaubwürdigkeit des Geständnisses erhoben.
Der Fall war Gegenstand mehrerer Publikationen (Film, Zeitung, Buch).
Quelle:
Blaauw 1994, 705-712
Wehner 1983, 241-244
121
Erklärung:
Saarbrücken, 20. Juli 2013
Hiermit erkläre ich, Erik Glaeser, dass ich meine Masterarbeit mit dem Titel
„Sauber, unpolitisch, und professionell !? - Das „veröffentlichte“ Bild der Kriminalpolizei des Dritten Reiches in Westdeutschland am Beispiel der Publikationen
Bernd Wehners zwischen 1949 und 1989“ selbständig verfasst, keine anderen als
die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt und alle Zitate kenntlich gemacht habe.
......................
(Erik Glaeser)
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