Maquette – erste Vorlesung – 1 {Maquette. Stadtansichten. Der entfremdete Raum} Fünf Vorlesungen zur kritischen Theorie der Stadt ¬ Wintersemester 2005 / 2006 [Maquette] 1. Vorlesung, 18. November 2005 *.* Kleine Vorbemerkungen über Absicht und Themen der Vorlesung – Verhältnis von Philosophie und Stadt – Antike, Mittelalter, Moderne – Die Veränderung des Stadtbildes um 1900 – Nietzsche, Bauhaus, Georg Simmel, Kritik des Großstadtlebens – Kritische Theorie der Stadt – Ausblick, cartesianisches Ego. Ausgehend von der in der Seminarankündigung bereits vorgestellten Unterscheidung zwischen dem cartesianisch rationalen und dem dialogischen Stadtmodell, welche der Architekturtheoretiker Paul Hofer (1909 bis 1995) Ende der siebziger Jahre einführt, versucht die Vorlesung eine »kritische Theorie der Stadt« zu entwickeln, als philosophische Ergänzung zum Seminarthema »Maquette«, was ›Skizze‹, ›Entwurf‹, ›Modell‹ bedeutet und in diesem Fall den Bauentwurf, beziehungsweise den städtebaulichen Entwurf meint. »Maquette« ist erst einmal kein philosophischer Begriff – die Philosophie spricht in verschiedenen Bedeutungen vom Entwurf als »Konzept« und es gibt einige Philosophien, die dieses Konzeptuelle, das Entwerfende in den Vordergrund rücken, etwa, namentlich auch nicht unbekannt, unternimmt dies Jean-Paul Sartre (1905 bis 1980) –, gleichwohl ist der Begriff »Maquette« philosophisch zu füllen, denn auch hier zeigt sich eine enge Verbindung zwischen der Architektur und der Philosophie, eine theoretische wie praktische Verbindung, die Maquette – erste Vorlesung – 2 bis weit in die Antike zurückzuführen ist. Und schon die Struktur dieser Verbindung ist für unser Thema von großem Interesse. [Abb. 1: Das antike Athen, Stadtplan] Deshalb zunächst eine kurze begrifflich-theoretische und skizzenhafte begriffshistorische Vorbemerkung, um die Fragestellung der Vorlesung ein wenig mehr zu problematisieren. Zunächst sollte klar sein, dass die Erfindung und Entwicklung der Philosophie ein Resultat der Stadt ist, genauer des städtischen Lebens, wie es sich bereits in der Antike entwickelt hat. Die Sophisten betrieben ihr Geschäft der Rhetorik, indem sie von Stadt zu Stadt zogen und Staatsmänner, überhaupt die herrschende Klasse, in weiser Rede unterrichteten. Erinnert sei hier an den berühmten Satz des Protagoras (ungefähr 480 bis 410 v. u. Z.): »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«, womit Protagoras meint, objektive Erkenntnis, vom Menschen unabhängige Erkenntnis ist nicht möglich und Weisheit beziehungsweise eben Erkenntnisse sind nur über die menschlichen Fähigkeiten der Redekunst, der Kraft der Überzeugung, der Rhetorik zu gewinnen. Die Sophisten, zu denen Protagoras gehört, sind typische Stadtmenschen. Sie sind freilich typische Stadtmenschen einer bestimmten Stadt, nämlich eben des antiken Stadtstaates und seiner politisch-sozialen Struktur sowie, im erweiterten Sinne, Architektur. Doch nicht nur diese frühen Philosophen sind für das städtische Leben typisch. Allein die Begriffe, die das städtische Leben und seine philosophischen Fragen charakterisieren, verweisen auf die enge Bindung zwischen Philosophie und Architektur. Da gibt es zunächst die Stadt selbst, die Polis, die eben zugleich auch Staat meint, wovon das heutige Wort der Politik sich ableitet. Man kann sagen, dass spätestens seit Platons hier maßgeblichen Schrift ›Politeia‹ die politische Philosophie auch immer von einer Architektur des Politischen begleitet wird. In dem Wort Architektur – was gemeinhin mit Baukunst übersetzt wird – steckt griechische ›árchein‹, und das heißt »der Erste sein, der Führer sein, der Oberste sein«; der Architekt ist eigentlich der Oberzimmermann. Es steckt aber auch das Wort ›arch¯é‹ darin, das »Regierung« oder »Herrschaft« bedeutet, ebenso auch »Anfang«, »erster Grund« und das »Prinzip«. Auf diese ›arch¯é‹ bezogen sich die frühen Kosmologien, etwa wenn Thales das Wasser als Urstoff postuliert oder Anaximenes das Weltprinzip in der Luft vermutet (Thales von Maquette – erste Vorlesung – 3 Milet lebte von 624 bis 546 v.u.Z.; Anaximenes lebte von 585 bis 525 v.u.Z.). [Abb. 2: Raffael (1483 bis 1520), ›Die Philosophenschule von Athen‹, 1510/11] [Abb. 3: Raffael, ›Die Philosophenschule von Athen‹, Skizze der darstellten Personen] [Abb. 4: Raffael, ›Die Philosophenschule von Athen‹, 1510/11] Philosophie beschäftigt sich also mit der Architektur der Welt und sofern diese kosmologische Weltordnung von der Politik bestimmt wird, auch mit der Architektur des Staates und des städtischen Lebens. Dies jedenfalls vollzieht sich mit der Begründung der Philosophie, mit der Etablierung des Begriffs der Philosophie und des philosophischen Berufes, der sich jetzt nicht mehr auf die Rhetorik stützt, sondern auf die Logik, auf das Denken. Auch in Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie und Stadt in dieser Entwicklung sind die drei großen Namen der antiken Philosophie von Bedeutung: Sokrates (469 bis 399 v.u.Z.), Platon (427 bis 347 v.u.Z.) und schließlich Aristoteles (384 bis 322 v.u.Z.). [Abb. 5: Raffael, ›Die Philosophenschule von Athen‹, 1510/11 – Ausschnitt: Euklid] [Abb. 6: Raffael, ›Die Philosophenschule von Athen‹, 1510/11 – Ausschnitt: Pythagoras] [Abb. 7: Raffael, ›Die Philosophenschule von Athen‹, 1510/11 – Ausschnitt: Sokrates] Sokrates hat keine Schriften hinterlassen; seine Philosophie ist durch Platon in Dialogen übermittelt; das von Hofer beschriebene dialogische Stadtmodell geht auf diese von Platon überlieferte Tradition der sokratischen Dialoge zurück, wobei man berücksichtigen muss, dass es sich bei diesen Dialogen nicht einfach nur um Gespräche handelt, sondern um eine Form des philosophischen Denkens, eine Form der Entfaltung der philosophischen Logik – die später als Dialektik übernommen wird –, bei der Rede- und Gegenrede auch wichtig sind in Maquette – erste Vorlesung – 4 Bezug auf den Ort, an dem dieser Dialog stattfindet: Die hier miteinander Diskutierenden sind philosophische Spaziergänger, die umherwandelnd diskutieren und die in der Rede auch auf den Ort, den Stadtraum, reflektieren, – ein umherschweifendes Erörtern, welches schon einiges mit den modernen Flaneur gemeinsam hat (nur das der Flaneur eben ein moderner Einzelgänger ist). Häufig jedenfalls geht Sokrates mit seinen Gesprächspartnern durch die Stadt. In Platons ›Phaidros‹ fragt eben dieser Phaidros: »Du aber, wunderbarer Mann,« – und gemeint ist freilich Sokrates – »zeigst dich ganz seltsam. Denn in der Tat, wie du auch sagst, einem Fremden gleichst du, der sich umherführen lässt, und nicht einem Einheimischen. So wenig wanderst du aus der Stadt über die Grenze, noch auch selbst zum Tore scheinst du mir herauszugehen.« Und Sokrates antwortet dem Phaidros: »Dies verzeihe mir schon, o Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber der Mensch in der Stadt …«1 [Abb. 8: Raffael (1483 bis 1520), ›Die Philosophenschule von Athen‹, 1510/11 – Ausschnitt: Platon und Aristoteles] Aristoteles formuliert im dritten Buch der ›Politik‹, dass der Staat beziehungsweise eben die Stadt »nicht bloß Gemeinschaft des Wohnorts ist oder nur zur Verhütung gegenseitiger ungerechter Beeinträchtigungen und zur Förderung des Tauschverkehrs da ist, sondern dass zwar dies alles vorhanden sein muss, wenn ein Staat [eine Stadt] entstehen soll, aber wenn es auch alles da ist, hiermit noch kein Staat [keine Stadt] vorhanden, sondern dass ein solcher erst die Gemeinschaft von Familien und Geschlechtern (genos) in einem guten Leben (eu zen) ist, zum Zweck eines vollendeten und sich selbst genügenden (autárkes) Lebens.«2 1 Platon, ›Phaidros‹, 230d, hier: Werke Bd. 4, Übersetzung Friedrich Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 1958, S. 13. 2 Aristoteles, ›Politik‹, III. Buch, 1280 b, 30–35; hier: Übersetzung Franz Susemihl, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 99. Maquette – erste Vorlesung – 5 Kurzum: seither ist das Verhältnis von Philosophie und Stadt, oder Philosophie und Architektur »wesentlich zentriert auf die Idee des guten Lebens. Das Menschsein realisiert sich Aristoteles zufolge durch die Praxis des alltäglichen Lebens hindurch, durch die Riten, Sitten und Gewohnheiten im Haus, in der Freundschaft und Nachbarschaft, durch Kulte und gemeinschaftliche Feste. Der Erscheinungsort gelingender Praxis ist«, wie Heinz Paetzold bündig schreibt, »die Stadt«.3 Diese gelingende Praxis, das gelingende Leben, ist eben nicht nur Thema der Philosophie, sondern ebenso der Architektur, die versucht, diesem Ideal des guten Lebens im gelingenden und guten Bau Ausdruck zu geben, beziehungsweise eigentlich nicht nur dieses Ideal zu repräsentieren, sondern es selbst zu verkörpern in der architektonischen Form. [Abb. 9: Gotische Kathedrale, Paris: Notre Dame; erbaut auf Anlass von Bischof Maurice de Sully zwischen 1163 und 1260.] Es kommt freilich nicht von ungefähr, dass im gesamten Mittelalter diese antike Tradition unter religiösem Vorzeichen fortsetzt wird in der Kathedrale, im Kirchenbau als Ausdruck, Zentrum und Manifestation des göttlichen Weltbaus, der – jetzt frei nach Augustinus (354 bis 430) – so genannten ›Civitas Dei‹, der ›Gottesstadt‹ (welche die katholische Kirche ist; im Gegensatz zur Teufelstadt, die Augustinus im heidnischen Römerreich sieht). Das Wort Kirche kommt von griechisch ›Kyriakón‹ und heißt »Herrenhaus«, das Wort Dom kommt von lateinisch ›domus‹, das »Haus« beziehungsweise das »Haus Gottes«; und in Kathedrale steckt das griechische ›hédra‹, »Sitz«, »Sessel«, auch »Wohnsitz«. [Abb. 10: Lyonel Feininger, ›Kathedrale des Sozialismus‹, BauhausManifest 1919] Diese Idee der Kathedrale als Gesamtkunstwerk, als architektonischer Weltbau, wird in der Moderne wieder aufgegriffen; gotische Formen 3 Heinz Paetzold, ›Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne‹, Wien 1990, S. 152. Maquette – erste Vorlesung – 6 kehren wieder in den Repräsentationsbauten des technischen Fortschritts (Bahnhöfe, Fabrikhallen etc.), aber auch in der architektonischen Kritik dieses Fortschritts (man denke an das ›Red House‹, das der englische Architekt 1859 für William Morris erbaute). Für das 1919 gegründete Bauhaus schließlich ist dieser im gotischen Kathedralenbau verkörperte Bezug zwischen Bauen und Denken, zwischen Architektur und Philosophie maßgeblich, wenn es im Manifest von Walter Gropius (1883 bis 1969) lapidar heißt: »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst.«4 Sowie: »Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.«5 Lyonel Feininger (1871 bis 1956) fertigte für Gropius’ Manifest die Titelgrafik an, einen Holzschnitt, der eine gotische Kathedrale zeigt. Was hier im Holzschnitt wie in dem formulierten Anspruch des Manifests seinen religiös und mythisch überhöhten Ausdruck findet, scheint zumindest der Idee nach eine Verbindung zwischen dem cartesianischen und dem dialogischen Stadtmodell vorzuschlagen; eine Verbindung, die aber eben in der mythischen Vorstellung verfangen bleibt, wonach der Stadtraum zumindest ideell und symbolisch vollständig in der Kathedrale aufgeht, beziehungsweise der Kathedralenbau mit dem 4 Walter Gropius, ›Bauhaus Manifest‹, 1919, in: Magdalena Droste, ›Bauhaus‹, Köln 1990, S. #ä#. 5 Gropius, ›Bauhaus Manifest‹, a.a.O., S. #ä#. Maquette – erste Vorlesung – 7 Stadtraum identisch ist – als Ökumene, als Gemeinschaft. Die Kirche ist das gute und gelingende Leben. Titel von Feiningers Holzschnitt war immerhin: »Kathedrale des Sozialismus«, wobei zu dieser Zeit die Rede vom Sozialismus nicht immer gleich bedeutend mit Kommunismus oder Marxismus war, und noch einige religiöse Färbung hatte. Dennoch: Das Bauhaus selbst beanspruchte eben, Ort und Ausdruck einer gelingenden Praxis zu sein. *** Von der antiken Polis und Philosophie zum Bauhaus ist es, auch mit dem Zwischenschritt des Mittelalters, ein ziemlich großer Sprung, theoretisch in Hinblick auf die Philosophie der Stadt ebenso wie praktisch in Bezug auf die Geschichte der Stadtentwicklung. So ist Feiningers Holzschnitt zum Bauhaus-Manifest deshalb bemerkenswert, weil das Bauhaus und seine Ziele ganz im Zeichen der Moderne standen und nach den programmatischen Ansprüchen eben nicht gotische Kathedralen neugebaut und renoviert, sondern die funktionalistische Zweck- und Wohnbauten perfektioniert werden sollten; das von Gropius selbst entworfene und 1926 zum Bezug fertig gestellte Bauhausgebäude in Dessau ist dafür exemplarisch. [Abb. 11: Bauhaus Dessau] [Abb. 11 a ff.: Bauhaus Dessau, verschiedene Ansichten] Die Moderne – und die architektonische Moderne, zu der eben das Bauhaus ganz zentral gehört –, ist wesentlich durch eine gänzlich neue Ordnung des städtischen Raums ebenso wie der Architektur des Einzelbaus gekennzeichnet. Die veränderten Funktionen von Wohnen und Arbeiten in der Stadt, die veränderten Strukturen des Lebens im Verhältnis von Stadt und Land, schließlich die veränderten Strukturen im Verhältnis von Stadt und Staat, finden ihre nachhaltige Gestalt in der fundamentalen Neuorganisation der städtischen wie baulichen Geografie und Räumlichkeit der Moderne. So wie die Entstehung der Philosophie ihren Ursprungsort in der (antiken) Stadt gefunden hat, so gehören moderne Philosophie und moderne Großstadt zusammen; mit einem Satz das hier in Frage stehende Problemverhältnis von Philosophie und Stadtarchitektur ist von dem modernen Urbanismus selbst nicht Maquette – erste Vorlesung – 8 trennbar. Was die massive Vergrößerung und Umstrukturierung der Städte seit dem 18. Jahrhundert zu Metropolen im 19. Jahrhundert und schließlich – wie Lewis Mumford (1895 bis 1988) sie bezeichnet6 – Megalopolen im 20. Jahrhundert bedingt, muss in jeder Hinsicht als Problemhorizont gesehen werden für die vom Bauhaus geforderte Architektur. Sie steht nämlich ganz im Zeichen einer allgemeinen Problematisierung des Großstadtlebens um 1900 oder seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die sich nicht nur im Städtebau und der Architektur abzeichnet, sondern in einer fundamentalen, ja revolutionären Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft, mit dem modernen Urbanismus, mit der mit dem Kapitalismus sich entwickelt habenden Metropole und dem Großstadtleben. Und man muss hinzusetzen: In theoretischer wie praktischer Weise. Die Stadt als Ganze gerät ins Blickfeld, etwa bei Camillo Sitte (1843 bis 1903), der 1889 ›Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen‹ veröffentlicht; als zweites Beispiel ist ihnen vielleicht auch die Gartenstadt-Konzeption von Ebenenzer Howard bekannt, die dieser 1898 in ›To-Morrow. A Peaceful Path To Real Reform‹ formulierte. In dieser Zeit gibt es zudem zahlreiche Neugründungen von Städten, die heute Metropolen sind – insbesondere in Afrika, Asien und Südamerika. Zum Beispiel: Belo Horizonte 1897 im brasilianischen Bundesland Minas Gerais. Neugründungen von Städten finden sich aber vor allem oder modernistischen Vorzeichen der sozialistischen Weltgesellschaft in der Sowjetunion; die Oktoberrevolution von 1917 ist auch unter städtebaulichen Gesichtspunkten ein bemerkenswertes Datum. Schließlich gemahnt die politisch-militärische Gewalt des Ersten Weltkriegs daran, dass ganze Städte auslöschbar sind – die Zerstörung von Hiroshima am 6. August 1945 hat diese Vernichtungsmöglichkeit im Zweite Weltkrieg durch die Atombombe grausam Wirklichkeit werden lassen. [Abb. 12: Atombombe.] 6 Vgl. Lewis Mumford, ›Megapolis. Gesicht und Seele der Groß-Stadt‹, Wiesbaden 1951. Maquette – erste Vorlesung – 9 *** [Abb. 13: Friedrich Nietzsche mit Paul Ree und Lou von Salome, 1882] Hatten wir mit Sokrates einen Philosophen kennen gelernt, der in der Stadt nach den Antworten seiner Fragen sucht, so ist Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) derjenige, der seinen Zarathustra explizit von der Stadt wegführt und in die Wälder des Gebirges gehen lässt, weil eben die Stadt – ganz anders als für Sokrates – nichts mehr über den Menschen verrät (›Also sprach Zarathustra‹, 1883 bis 1885 in Teilen als Privatdruck; 1886 vollständig herausgegeben). Zarathustra ruft den Tod Gottes aus und fordert den Übermenschen, der ein Mensch jenseits der Städte und ihrer Verdammnis sein soll; für die Stadt hat indes Zarathustra nichts übrig als Verachtung. Und selbst die Kritiker der Stadt, die in der Stadt geblieben sind, hält er für nicht besser. So weist Zarathustra einen »Narren« zurück, den er vor den Toren der »großen Stadt« trifft: dieser sei nicht besser als die Stadt, vor der er Zarathustra warnen möchte: »›Höre endlich auf! rief Zarathustra, mich ekelt lange schon deiner Rede und deiner Art! Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und zur Kröte werden musstest? Fließt dir nicht selber nun ein faulichtes schaumichtes Sumpf-Blut durch die Adern, dass du also quaken und lästern lerntest? … Ich verachte dein Verachten; und wenn du mich warntest, - warum warntest du dich nicht selber?«7 Und weiter lässt Nietzsche den Zarathustra sagen: »Also sprach Zarathustra; und er blickte die große Stadt an, seufzte und schwieg lange. Endlich redete er also: 7 Friedrich Nietzsche, ›Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen‹, Berlin o. J., S. 159 (Vom Vorübergehen). Maquette – erste Vorlesung – 10 [›]Mich ekelt auch dieser großen Stadt und nicht nur dieses Narren. Hier und dort ist Nichts zu bessern, Nichts zu bösern. Wehe dieser großen Stadt! – Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird! Denn solche Feuersäulen müssen dem großen Mittage vorangehn. Doch dies hat seine Zeit und sein eigenes Schicksal. – Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, zum Abschiede: wo man nicht mehr lieben kann, da soll man – vorübergehn! –[‹] Also sprach Zarathustra und ging an dem Narren und der großen Stadt vorüber.«8 Nietzsches Kritik am städtischen Leben und sein Entwurf eines neuen Menschen sind als radikaler Ausdruck des Kulturkonservatismus wie Kulturpessimismus dieser Zeit zu verstehen. Was mit Dekadenz bezeichnet wird, nämlich eine besondere urbane Lebensweise in den Dekaden um die und zur Jahrhundertwende, steht in aller Ambivalenz für das, was Nietzsche in Gestalt seines Zarathustras moniert: War von Anfang an das Leben der Proletarier in der kapitalistischen Großstadt von Armut, Elend und Trostlosigkeit gekennzeichnet, so ist nun – einhundert Jahre nach der französischen Revolution von 1789, die ja immerhin in einer frühen Metropole, nämlich in Paris ihren politischen Herd hatte, und welche die moderne städtische bürgerliche Gesellschaft samt Nationalstaat wesentlich prägte – das Bürgertum selbst von seinen eigenen Idealen und Realitäten zerrissen und entfremdet. Den Fortschritt des bürgerlichen Lebens in der Großstadt erfährt das Bürgertum als Rückschritt, als Krise genau der Individualität und Autonomie, die das bürgerliche Lebensideal doch eigentlich zunächst versprach. Die Stadt, zumindest die moderne Metropole, in der sich das Individuum als anonymer, bedeutungsloser Massenmensch wieder findet, wird nicht mehr als der Ort gelingender Praxis, als Ort des guten Lebens empfunden. Und wenn ich hier »empfunden« sage, dann ist dieser 8 Nietzsche, ›Also sprach Zarathustra‹, a.a.O., S. 159 f. Maquette – erste Vorlesung – 11 Aspekt, dass es sich bei der bezeichneten Entfremdung um eine Empfindung, um ein Gefühl handelt, von großer Wichtigkeit, weil damit zum Ausdruck kommt, inwiefern hier das Individuum selbst in seiner Entfremdung und Ortlosigkeit zerrissen und in der Krise ist. (Nur zur Erläuterung sei darauf verwiesen, dass bereits 1844 Karl Marx [1818 bis 1883] in seinen ›Ökonomisch-philosophischen Manuskripten‹ von Hegel [1770 bis 1831] den Begriff der Entäußerung übernimmt und damit eine Theorie der »entfremdeten Arbeit« entwirft, die eben keine ›gefühlte‹ oder ›empfundene‹ Fremdheit des Arbeiters meint, sondern eine strukturelle Entzweiung und Versachlichung im Akt des Produzierens.) [Abb. 14: »Looshaus«, Michaelerplatz (Wien, 1910): »Haus ohne Augenbauen«] Während uns heute der Funktionalismus genau als Ursache dieser Entfremdung erscheint, war er ja zunächst als architektonische Kritik und Mittel gegen die Entfremdung gemeint. Der moderne Großstadtmensch sollte sich überhaupt in der Großstadt wieder orientieren können, statt im Historismus der Fassaden sich zu verlieren. Die Forderungen des Funktionalismus richteten sich gegen das Ornament als Verbrechen, wie es Adolf Loos (1870 bis 1933) in seiner berühmten Formel 1908 beschrieb. Der Soziologe Georg Simmel (1858 bis 1918) benennt diese auch architektonische Zerrissenheit des Sozialen 1911 als »Tragödie der Kultur« – woran sich im Übrigen auch noch einmal ablesen lässt, wie eng mittlerweile Großstadtleben und das als ›Kultur‹ Bezeichnete synonym geworden sind. Simmel beschreibt dabei den Dualismus von Subjekt und Objekt, der der Idee der Kultur notwendig und deshalb tragisch innewohnt, als mit d e r Kulturentwicklung zunehmendes Auseinandertreten, als fortschreitende Entfremdung von subjektiven und objektiven Geist, wobei Geist hier in der Hegelschen Begriffsbedeutung selbst mit Kultur übersetzt werden kann. Was Simmel meint, lässt sich anschaulich an den vielfältigen Umbrüchen und Fortschritten der Moderne darstellen, etwa anhand der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften oder der modernen Kunst. Was die Newtonsche Mechanik bedeutet, das Fallgesetz und die Gravitation, ist im alltäglichen Leben durchaus leicht nachvollziehbar; anders verhält es Maquette – erste Vorlesung – 12 sich mit Relativitätstheorie (Albert Einstein: spezielle Relativitätstheorie 1905, und allgemeine Relativitätstheorie 1916) und Quantenmechanik (zwanziger und dreißiger Jahre von Max Planck, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und anderen entwickelt), physikalische Entdeckungen, die j a zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnisumbrüchen um die Jahrhundertwende gehören. Man braucht ferner kein großer Musikexperte sein, und muss Beethoven auch nicht mögen, um doch verstehen zu können, wie etwa in der Neunten Sinfonie (1823) – »Freude schöner Götterfunken … Seid umschlungen, Millionen! … Alle Menschen werden Brüder« etc. – sich textlich, aber vor allem auch musikalisch der bürgerliche Humanismus formuliert. Mit einer spätromantischen, monumentalen und doch brüchigen Sinfonie Gustav Mahlers, erst recht mit einer Komposition Alban Bergs oder Arnold Schönbergs nach Regeln der freien Atonalität, ist es schon schwieriger, und es ist Fachwissen erforderlich, um die Struktur dieser Musik in ihrem Aufbau begreifen zu können. Also, in Bezug auf Simmels Befund einer Tragödie der Kultur heißt das, dass sich der Einzelne kaum noch in der allgemeinen Kultur wieder findet, eben von ihr entfremdet ist, ebenso, wie aber die allgemeine Kultur, der objektive Geist, auch nicht mehr die individuellen Kulturbedürfnisse zu verkörpern vermag. Bereits 1903 hat Simmel dies in ›Die Großstädte und das Geistesleben‹ in Bezug auf das urbane Leben dargelegt – und ich zitiere einige längere Passagen aus dem Text. Simmel beginnt mit der Diagnose: »Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren – die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat.«9 9 Dieses und alles nachfolgenden Zitate von Simmel aus: ›Die Großstädte und das Geistesleben‹, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Band I. Gesamtausgabe Band 7, Frankfurt am Main 1995, S. 116–131. Maquette – erste Vorlesung – 13 Nun erfährt der Großstadtmensch auch konstitutive Veränderungen seines Geistes- beziehungsweise Seelenlebens (und man sollte bei Simmels Ausführungen daran denken, dass zur selben Zeit Sigmund Freud [1856 bis 1939] die Psychoanalyse entwickelt – 1900 [1899] erscheint die ›Traumdeutung‹) : »Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht … Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, i n dem Bewusstseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes. Daraus wird vor allem der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens begreiflich, gegenüber dem kleinstädtischen, das vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist … So schafft der Typus des Großstädters, – der natürlich von tausend individuellen Modifikationen umspielt ist – sich ein Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen: statt mit dem Gemüte reagiert er auf diese im wesentlichen mit dem Verstande, …« Der Verstandsmensch ist zugleich der kalkulierende, konfrontiert mit einer Gesellschaft, die ihre Geschäfte und ihren Verkehr anonym und abstrakt vollzieht: »Die Großstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen, weil die Mannigfaltigkeit und Zusammendrängung des wirtschaftlichen Austausches dem Tauschmittel eine Wichtigkeit verschafft, zu der es bei der Spärlichkeit des ländlichen Tauschverkehrs nicht gekommen wäre. Geldwirtschaft aber und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange. Ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen, in der sich eine formale Maquette – erste Vorlesung – 14 Gerechtigkeit oft mit rücksichtsloser Härte paart. Der rein verstandesmäßige Mensch ist gegen alles eigentlich Individuelle gleichgültig, weil aus diesem sich Beziehungen und Reaktionen ergeben, die mit dem logischen Verstande nicht auszuschöpfen sind gerade wie in das Geldprinzip die Individualität der Erscheinungen nicht eintritt …« [Abb. 15: Kaufhaus Wertheim, Berlin 1900; Alfred Messel (Architekt), Leipziger Platz] Kunde und Produzent kennen sich längst nicht mehr, wie es früher in der dörflichen Gemeinschaft war, denn: »Die moderne Großstadt aber nährt sich fast vollständig von der Produktion für den Markt, d. h. für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlichen Produzenten tretende Abnehmer. Dadurch bekommt das Interesse beider Parteien eine unbarmherzige Sachlichkeit, …« Der Großstädter ist durch einen »verstandesmäßig rechnende[n] wirtschaftliche[n] Egoismus« charakterisiert. Und das großstädtische Leben ist dafür der »nährendste Boden«: »Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden.« Hier treffen wir auf die für den Großstädter typische »Blasiertheit« – Simmels Wort für Dekadenz: »In ihr gipfelt sich gewissermaßen jener Erfolg der Zusammendrängung von Menschen und Dingen auf, die das Individuum zu seiner höchsten Nervenleistung reizt; durch die bloß quantitative Steigerung der gleichen Bedingungen schlägt dieser Erfolg in sein Gegenteil um, in diese eigentümliche Anpassungserscheinung der Blasiertheit, in der die Nerven ihre letzte Möglichkeit, sich mit den Inhalten und der Form des Großstadtlebens abzufinden, darin entdecken, dass sie sich der Reaktion auf sie versagen – die Selbsterhaltung gewisser Naturen, um den Preis, die ganze objektive Welt zu entwerten, was dann am Ende die eigene Persönlichkeit unvermeidlich in ein Gefühl gleicher Entwertung hinabzieht … Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen.« Maquette – erste Vorlesung – 15 Und schließlich, seine spätere These von der Tragödie der Kultur vorwegnehmend, schreibt Simmel: »Die Entwicklung der modernen Kultur charakterisiert sich durch das Übergewicht dessen, was man den objektiven Geist nennen kann, über den subjektiven, d. h., in der Sprache wie im Recht, in der Produktionstechnik wie in der Kunst, in der Wissenschaft wie in den Gegenständen der häuslichen Umgebung ist eine Summe von Geist verkörpert, deren täglichem Wachsen die geistige Entwicklung der Subjekte nur sehr unvollständig und in immer weiterem Abstand folgt. Übersehen wir etwa die ungeheure Kultur, die sich seit 100 Jahren in Dingen und Erkenntnissen, in Institutionen und Komforts verkörpert hat, und vergleichen wir damit den Kulturfortschritt der Individuen in derselben Zeit – wenigstens in den höheren Ständen – so zeigt sich eine erschreckende Wachstumsdifferenz zwischen beiden, ja in manchen Punkten eher ein Rückgang der Kultur der Individuen in Bezug auf Geistigkeit, Zartheit, Idealismus. Diese Diskrepanz ist im Wesentlichen der Erfolg wachsender Arbeitsteilung; denn eine solche verlangt vom Einzelnen eine immer einseitigere Leistung, deren höchste Steigerung seine Persönlichkeit als ganze oft genug verkümmern lässt.Jedenfalls, dem Überwuchern der objektiven Kultur ist das Individuum weniger und weniger gewachsen … Es bedarf nur des Hinweises, dass die Großstädte die eigentlichen Schauplätze dieser, über alles Persönliche hinauswachsenden Kultur sind.« Simmel schreibt über das Großstadtleben, aber er scheint nicht wirklich von dem Stadtraum zu handeln, lässt augenscheinlich Fragen der Architektur außen vor. Die luzide Erörterung des Raumes bildet indes ein eigenständiges Themengebiet Simmels.10 Hier ist allerdings deshalb so weiträumig zitiert worden, weil Simmel uns mit seinem Befund in mehrschichtiger Weise zum Problemverhältnis von Philosophie, Stadt und Architektur führt, wie es für diese Vorlesung Leitmotiv sein soll. 10 Vgl. Simmel, ›Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft‹, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Bd. II., Frankfurt am Main 1999, S. 687 ff. Maquette – erste Vorlesung – 16 Simmel beschreibt das Geistesleben in den Großstädten vor dem Hintergrund eines weitreichenden Strukturwandels der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft, der sich um die Jahrhundertwende abzeichnet und für das 20. Jahrhundert auch in Hinblick auf die Entwicklung moderner Großstädte maßgeblich ist: Er spricht vom Geldverkehr und meint damit die Ausweitung des Warentauschverkehrs auf alle Lebensbereiche; an dem Verhalten der Großstadtmenschen macht Simmel fest, was knapp ein halbes Jahrhundert zuvor Karl Marx als ›Kritik der politischen Ökonomie‹ herausgearbeitet hatte. Marx beschrieb im ›Kapital‹ (1867 ff.) Strukturen der ökonomischen Verselbstständigung, die letzthin, so eine Formulierung von Marx, das Kapital zum »automatischen Subjekt« machen.11 Zum Automatismus wird das Ziel der kapitalistischen Produktionsweise, der Kapitalismus wird Selbstzweck. So wie der moderne Geist nach Simmel ein rechnender Geist geworden ist, so ist die Rationalität der Moderne selbst eine kalkulatorische, eine »technologische Rationalität« (wie es Herbert Marcuse nennt; 1898 bis 1979), eine »instrumentelle Rationalität« (wie es Max Horkheimer nennt; 1885 bis 1973). Das Ziel der Produktion ist ökonomische Effizienz; maßgeblich für die Durchsetzung dieses Prinzips waren Henry Ford (1863 bis 1947) – er führt 1914 in die Produktion des Ford T1 das Fließband ein – und Frederick Winslow Taylor (1856 bis 1915), auf den das Prinzip des »One best way« nach der so genannten Arbeitswissenschaft zurückgeht. Beide haben Optimierungsverfahren in die Produktion eingeführt, die letztendlich gesellschaftsübergreifende Konsequenzen gehabt haben. Das Großstadtleben, das Simmel noch anhand von Charakteren der Blasiertheit und Reserviertheit beschreibt, findet seinen allgemeinen Ausdruck schließlich in einer Angestelltenkultur, die Siegfried Kracauer (1889 bis 1966) in eindrucksvollen Essays beschrieben hat: Die ökonomischen Optimierungsverfahren haben in den zwanziger Jahren Einzug in das Kulturleben gefunden. Dieses so genannte fordistische Paradigma der kapitalistischen Produktion hat, insofern es die gesamte moderne 11 Vgl. Karl Marx, ›Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie‹, MEW Bd. 23, 168 f., sowie S. 887 f. Maquette – erste Vorlesung – 17 Gesellschaft betrifft, auch seine Auswirkungen auf den Städtebau und die Architektur: Es sind die Widersprüche des Funktionalismus, die schließlich zu einer architektonischen Verarmung des Stadtlebens führen. Alexander Mitscherlich (1908 bis 1982) wird das viel später, nämlich 1965, die ›Unwirtlichkeit unserer Städte‹ nennen.12 Und Lewis Mumford beschreibt schon in den dreißiger und vierziger Jahren die Großstadt als technifizierte Riesenmaschine n.13 [Abb. 16: New York, nach Mumford] Eine kritische Theorie der Stadt setzt hier an. Die Formulierung einer kritischen Theorie, das sei in aller Kürze genannt, geht auf einen Aufsatz von Max Horkheimer zurück, den dieser 1937 als Direktor des längst in die USA emigrierten Instituts für Sozialforschung in der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, dem Institutsorgan, publiziert: Unter dem Titel ›Traditionelle und kritische Theorie‹ geht es um die Bestimmung einer auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang bezogenen Theorie, die zugleich ihre Forschungsbedingungen kritisch mit reflektiert: und zwar ausgehend von dialektischen Widersprüchen, deren selber widersprüchliche Bewegung als Geschichte erfasst werden muss. Die kritische Theorie ist explizit nicht wertfrei, sondern bezieht Position im Interesse der Menschen, nämlich in Hinblick auf die vorhandenen Möglichkeiten der Verbesserung des sozialen Lebens. Ihre Grundlagen findet sie vor allem in den Philosophien Kants und Hegels, in der Kritik der politischen Ökonomie von Marx, in der Theorie des Unbewussten und in der Psychoanalyse von Freud. Man kann sagen, dass in gewisser Weise der Befund von Simmel aufgenommen wird und selbst in die Theorie einbezogen wird. Horkheimer schreibt ins einem Aufsatz: »Zwischen dem Individuum und der Gesellschaft besteht … ein wesentlicher Unterschied. Dieselbe Welt, die für den Einzelnen etwas an 12 Vgl. Alexander Mitscherlich, ›Die Unwirklichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden‹, Frankfurt am Main 1965. 13 Vgl. zum Beispiel Mumford, ›Technics and Civilization‹, New York 1934; ferner: ›The Myth of Machine‹, zwei Bände: ›Technics and Human Delevopment‹, New York 1967; ›The Pentagon of Power‹, New York 1970. Maquette – erste Vorlesung – 18 sich Vorhandenes ist, das er aufnehmen muss und dem er Rechnung trägt, ist in der Gestalt, wie sie da ist und fortbesteht, ebenso sehr Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis. Was wir in der Umgebung wahrnehmen, die Städte, Dörfer, Felder und Wälder tragen den Stempel der Bearbeitung an sich. Die Menschen sind nicht bloß in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozess, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.«14 Mit seinem Freud und Kollegen Theodor W. Adorno (1903 bis 1969) schreibt Horkheimer gemeinsam die ›Dialektik der Aufklärung‹, ein Buch, das als programmatisch für das Konzept der kritischen Theorie gelten kann. In der 1947 veröffentlichten15 Gemeinschaftsarbeit bildet der Abschnitt ›Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug‹ das Zentrum. [Abb. 17: Broadway, nach Mumford] Gleich auf der ersten Seite dieses übrigens berühmten Abschnitts über die Kulturindustrie findet sich folgendes: »Die dekorativen Verwaltungs- und Ausstellungsstätten der Industrie sind in den autoritären und den anderen Ländern kaum verschieden. Die allenthalben emporschießenden hellen Monumentalbauten 14 Max Horkheimer, ›Traditionelle und kritische Theorie‹, in: ›Zeitschrift für Sozialforschung‹, Jg. 6 (1937), München 1980 (Reprint), S. 255. 15 1944 erschien bereits eine mimeografierte institutsinterne Ausgabe in den USA. 1947 erscheint dann beim Amsterdamer Verlag Querido eine 3.000-Auflage, bis das Buch durch die Studentenbewegung entdeckt wird; 1969 folgt dann eine erste Neuauflage. Maquette – erste Vorlesung – 19 repräsentieren die sinnreiche Planmäßigkeit der staatenumspannenden Konzerne, auf die bereits das losgelassene Unternehmertum zuschoß, dessen Denkmale die umliegenden düsteren Wohn- und Geschäftshäuser der trostlosen Städte sind. Schon erscheinen die älteren Häuser rings um die Betonzentren als Slums, und die neuen Bungalows am Stadtrand verkünden schon wie die unsoliden Konstruktionen auf internationalen Messen das Lob des technischen Fortschritts und fordern dazu heraus, sie nach kurzfristigem Gebrauch wegzuwerfen wie Konservenbüchsen. Die städtebaulichen Projekte aber, die in hygienischen Kleinwohnungen das Individuum als gleichsam selbständiges perpetuieren sollen, unterwerfen es seinem Widerpart, der totalen Kapitalmacht, nur umso gründlicher. Wie die Bewohner zwecks Arbeit und Vergnügen, als Produzenten und Konsumenten, in die Zentren entboten werden, so kristallisieren sich die Wohnzellen bruchlos zu wohlorganisierten Komplexen.«16 Horkheimer und Adorno beschreiben hier eine Stadt – und man stelle sich Los Angeles vor, wo beide Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre lebten – in der die fordistische Arbeitsteilung und ökonomische Effizienz auf die rationale Organisation des Stadtraums und des Städtebaus übertragen wurde, einschließlich der Slums und Vorstadtbungalows, der Trennung von Wohnort, Erholungsgebieten, Orten der Freizeit und kulturellen Unterhaltung, Transportwege, Einkaufszentren und Arbeitsstätten. Es geht um die Stadt als gesellschaftliche Totalität. *** [Abb. 18: Le Corbusier (1887 bis 1967), Plan für Paris (Plan Voisin)] Simmel nimmt die Stadt als Ganzes in den Blick; die von ihm, aber eben auch von der kritischen Theorie, von Adorno und Horkheimer bezeichneten Probleme der modernen Stadt sind nicht bloß architektonische, nicht allein nach Maßgaben der rationalen 16 Theodor W. Adorno und Horkheimer, ›Dialektik der Aufklärung‹, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt am Main 1997, S. 141. Maquette – erste Vorlesung – 20 Städteplanung zu lösen, sondern – ganz im Gegenteil – genau diese Rationalisierungen vermeintlicher Lösungen sind Teil des Problems. Was Simmel auch beschreibt, und was im Übrigen die kritische Theorie als Zentraltopos aufgreift, ist eine dramatische Veränderung, die der moderne Mensch, nämlich das Individuum, erfährt. Es ist die Krise genau der Vorstellung von Individualität, die grundlegend war für die Formierung des neuzeitlichen Denkens, der Neuzeit und Moderne überhaupt. Vorbereitet durch die Renaissance und ihren Humanismus, haben Philosophen wie vor allem René Descartes (1596 bis 1650) die theoretischen Fundamente der Neuzeit gelegt, indem nach dem Prinzip des philosophischen Zweifels das Individuum seine Selbstgewissheit als ›Cogito‹, als ›Ich denke‹ begründet; man spricht hier – benannt nach Descartes – vom cartesianischen Ich oder Ego. Und Descartes’ Philosophie ist freilich auch gemeint, wenn Paul Hofer vom cartesianisch-rationalen Stadtmodell spricht; eine ähnliche Beziehung zwischen Städtebau und Philosophie ergibt sich hier, wie bei dem dialogischen Stadtmodell, dessen Prinzip auf die antike Philosophie des sokratischen Dialogs zurückzuführen war. Das als cartesianisch-rational bezeichnete Modell ist allerdings auch in seiner historischen Verortung übereinstimmend mit dem Beginn und der Entwicklung der Neuzeit. Ich habe versucht, exemplarisch zu entfalten, wie sich das Verhältnis von Philosophie und Stadt von der Antike bis ins 20. Jahrhundert verändert hat, und inwiefern Architektur, Stadt und Philosophie miteinander verbunden sind, inwiefern sich aber auch diese Verbindung löst. Das Problem des cartesianisch-rationalen Stadtmodells ist aus der Perspektive der kritischen Theorie weniger dieses Modell selbst, als vielmehr die Krise des cartesianischen Ichs, des Scheitern des Individuums, das diese Stadt bewohnt. Davon sollen die nächsten Vorlesungen handeln: Das Verhältnis von Stadt und Individuum soll thematisiert werden unter den Gesichtspunkten der Wahrnehmung beziehungsweise des Blicks, des urbanen Subjekts, des individuellen und des sozialen Raums und des Nicht-Raums, der städtischen Utopie. Die von Hofer getroffene Unterscheidung zwischen dem cartesianischrationalen und dem dialogischen Stadtmodell soll dabei der Orientierung dienen: Im Labyrinth der Theorie wie auch im Labyrinth der Stadt.