Prof. Dr. Thomas Ruster Universität Dortmund Vorlesung im Wintersemester 2003/04 Christologie. Kann Jesus uns erlösen? Nicht zitierfähiges Vorlesungsmanuskript nur für den studentischen Gebrauch Inhaltsverzeichnis I. Hinführung 2 1) Die Krise der traditionellen Christologie 2) Wenn Erlösung – wovon muss die Welt erlöst werden? 3) Wie heute von Jesus Christus dem Erlöser reden? – Der Plan der Vorlesung 4) Grundlegende Literatur 2 3 3 5 II. Jesu einfaches Leben. Eine Rekonstruktion nach M.Limbeck 5 1) Das Markusevangelium als Quelle für das Leben Jesu 2) Die Anfänge: Die Ausbildung der Botschaft vom Reich Gottes 3) Die Verkündigung des Reiches Gottes und die Frage nach dem „Gericht“ 4) Der Weg zum Kreuz 5) Die Erfahrung der Auferstehung 5 6 9 12 15 III. Jesus in der Welt der Schriften 17 1) Die Ausgangslage 2) Jesus im biblischen Wirklichkeitsverständnis 17 19 IV. Jesus in der Welt der Völker. Jesus als Logos 29 1) Die Logoslehre der Apologeten 2) Die Christologie des Origenes 3) Der Weg zum Dogma von Chalcedon 29 32 32 V. Chalcedon – Ende oder Anfang der Christologie? Die Interpretation der chalcedonischen Formel durch Karl Rahner 37 VI. ... ein Licht zur Erleuchtung der Heiden, und eine Herrlichkeit für dein Volk Israel. Rückblick und Ausblick 44 1) Rückblick: aus der Welt der Schriften in die Welt der Völker 2) Ausblick 44 47 1 I. Hinführung 1) Die Krise der traditionellen Christologie Ertrag aus dem Artikel von PETER ROSIEN in Publik Forum Sept. 2003: „GOTT UNSER EIN UND ALLES?“ Das alte Modell, das dem christlichen Glauben bisher seine Identität gab, ist dem Bewusstsein der Menschen entschwunden und auch nicht mehr zu vermitteln, nämlich: Jesus Christus erlöst die Menschheit am Kreuz durch stellvertretende Sühne. Dies kann er nur, weil er Gottes Sohn ist, also göttlicher Natur. Ist aber Jesus Gott, dann kann Gott nicht mehr einfach als einer gedacht werden, er muss vielmehr als Einheit in der Vielheit gedacht werden. Das tut die Trinitätslehre („Ein Gott in drei Personen“). Die Lehre von der Inkarnation (Fleischwerdung/Menschwerdung) gibt Antwort auf die Frage, wie Gottes Sohn auf die Erde kam und Mensch wurde. Dies alles, was dem Christentum bisher seine Identität gab (Erlösung durch den Tod am Kreuz – Gottessohnschaft Jesu – Dreieinigkeit Gottes – Inkarnation) wird heute nicht mehr geglaubt, so Rosien. Die ganze Kreuzes- (Erlösungs-)theologie sei ohnehin nur eine Erfindung des Paulus. Das alte Modell widerspreche auch dem, was Jesus selbst von sich hielt (er habe sich nicht für Gottes Sohn gehalten), und es widerspreche dem Befund der Exegese. Wenn Kirche und Theologie an diesem Modell festhalten, begeben sie sich in einen dreifachen Widerspruch: • zwischen dem Glauben der Menschen heute und der kirchlichen Glaubenslehre (das heißt: Trinitätslehre behindert den Glauben) • zwischen dem, was Jesus verkündigte, und dem, was über ihn verkündigt wird • zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik bzw. Glaubenslehre An die Stelle dieses alten Modells des Erlösungsglaubens setzt Rosien ein anderes: Jesus verkündigte die unbedingte Güte Gottes und war bereit, für seine Überzeugung zu sterben. An Jesus glauben, das bedeutet für uns heute, an die Liebe Gottes zu uns zu glauben und diese Liebe in uns selbst zu entdecken, um daraufhin auch unsere Mitmenschen lieben zu können. Es ist mithin deutlich, vor welchen Herausforderungen die Christologie heute steht. Der gesamte bisherige Bestand des christlichen Glaubens, wie er über Jahrtausende gewachsen ist, ist erschüttert und zerfallen. Die überkommene Glaubenslehre bestimmt nicht nur nicht mehr das Bewusstsein selbst der gläubigen Christen und Christinnen (von den übrigen Menschen, die der Kirche fern stehen, gar nicht zu reden), sie steht auch unter dem Verdacht, die Wahrheit der Bibel seit jeher verkannt, verfälscht und verraten zu haben. Der Christus der kirchlichen Glaubenslehre war immer jemand ganz anderes als der biblische Jesus. Gottessohnschaft, Trinität und Sühnetod sind Konstrukte der Theologie, die niemals einen Rückhalt in der Schrift und bei Jesus selbst hatten. Eine ähnliche Kritik der Trinitätslehre aus fachtheologischer Sicht findet man bei KARL HEINZ OHLIG, EIN GOTT IN DREI PERSONEN? VOM VATER JESU ZUM ‚MYSTERIUM‘ DER TRINITÄT, Luzern 1999. Dazu kommt nun noch eine weitere Herausforderung. Wenn die alte Konzeption von Erlösung nicht mehr gilt, welche gilt dann? Kann die Theologie noch erklären, dass und wie Jesus die Welt erlöst hat? Und noch weiter gefragt: Ist das noch der christliche Glaube, dass Jesus der Erlöser ist? Können wir das überhaupt noch glauben in unserer unerlösten Welt? 2 2) Wenn Erlösung – wovon muss die Welt erlöst werden? Es gehört zum Begriff der Erlösung, dass die Menschen von etwas gelöst werden, das sie bindet. Sie sind an etwas gefesselt, von dem sie aus eigener Kraft nicht loskommen können. Diese Fessel hindert sie zu leben. Sie bindet sie an lebensfeindliche Mächte, an die Macht des Todes. Die alte Theologie hat gesagt: Erlösung geschieht als Befreiung von Sünde, Tod und Teufel. Diese drei Mächte wirken zusammen und können nur zusammen besiegt werden. Und das hat die alte Theologie richtig gesehen, denn genau diese drei Mächte treffen wir auch heute an, und sie verhindern gemeinsam, dass auf der Welt das Leben herrscht, das dort herrschen könnte. Man muss nur verstehen, was sich hinter diesen Begriffen heute verbirgt. Mächte, die den Tod bringen, das sind heute autonomisierte Funktionssysteme wie die Wirtschaft, das Finanzwesen, der Autoverkehr oder das Gesundheitswesen. Sie sind das geworden, was sie sind, weil sie von der Sünde der Menschen gelernt haben (nur Menschen können sündigen!). Sie haben sich darauf eingestellt, dass Menschen Sünder sind. In dem sie ihre Erwartungen am sündigen Verhalten der Menschen ausrichten, erzeugen sie zugleich die Erwartung, sich sündig zu verhalten. Im Zusammenspiel zwischen Menschen und sozialen Systemen wird die Sünde zum Normalfall, zur Norm, der sich kaum jemand noch entziehen kann. Kurzer Exkurs zum Thema Sünde: Sünde ist, ganz formal gefasst, die Selbstbehauptung auf Kosten anderer. Der Sünder lebt so, dass durch sein Leben andere und anderes Schaden nehmen. Dies geschieht dadurch, dass er seine Umwelt für seine Selbstbehauptung und Selbsterhaltung ausnutzt. Sünde ist immer Verstoß gegen das erste Gebot, weil der Sünder von den Menschen bzw. seiner Umwelt das verlangt, was ihm nur Gott geben kann. Der Sünder/die Sünderin vertauscht also Gott und Welt. Er/sie macht etwas in der Welt zu seinem Gott – genau das, was das erste Gebot verbietet.) Indem also die Sünde der Menschen über die Vermittlung durch die sozialen Systeme normativen Charakter annimmt, tritt sie den Menschen nunmehr als eigene, objektive Gewalt gegenüber. Sie können jetzt nicht nur, sie müssen jetzt sündigen (zumindest können sie sich aus eigener Kraft kaum dagegen wehren). Genau das meint die Theologie, wenn sie vom Teufel spricht (der Teufel ist nicht einfach das Böse, sondern die Kraft der Verführung zum Bösen!) Dazu: RALF D ZIEWAS, DIE SÜNDE DER MENSCHEN UND DIE S ÜNDHAFTIGKEIT SOZIALER SYSTEME, Münster 1999, bes. 182-192. Aus diesem Überblick ist zu ersehen: Erlösung haben wir heute immer noch und vielleicht mehr denn je nötig, wenn denn die Welt nicht völlig den Mächten des Todes und der Vernichtung anheim fallen soll (größtenteils ist sie es ja schon!). Und diese Erlösung muss zentral sein: Erlösung von unseren Sünden. Denn mit unseren Sünden geht alles los. Sie erst instruieren die sozialen Systeme zu sündhaftem Verhalten, sie erst lassen die teuflischen Mächte entstehen, durch die sich unsere Freiheit in den Zwang zum Tun des Bösen verwandelt. 3) Wie heute von Jesus Christus dem Erlöser reden? – Der Plan der Vorlesung Die alte Theologie hat also das Richtige getroffen, wenn sie darauf bestand, dass sich alles um die Erlösung von den Sünden dreht. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht diese Aussage: Jesus Christus ist der Erlöser, er hat die Menschen – die, die an ihn glauben – von ihren Sünden erlöst. Der Titel oder Name Christus (Gesalbter) ist ja eine griechische Übersetzung des hebräischen Worts Messias. Als Messias wurde der erwartet, der die Welt vom Bösen befreit und das Reich Gottes herbeiführt (bei aller Unterschiedlichkeit der Messiasvorstellungen im einzelnen). Das bedeutet, dass schon der Name Jesus Christus die Glaubensaussage enthält, dass Jesus der Erlöser ist. Um diese allerdings ungeheure Glaubensaussage (ein jüdischer Wanderprediger, der in Konflikt mit den Obrigkeiten geriet und wie ein Verbrecher gekreuzigt wurde, hat alle, die an ihn glauben, und das für alle Zeiten, von ihren Sünden und damit von der Versklavung an die Mächte des Todes erlöst) verständlich zu machen, war und ist die Theologie zu komplizierten Überlegungen genötigt. Sie musste und muss diese Aussage Menschen 3 verständlich machen, die in ganz verschiedenen gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Kontexten leben. Von daher hat sie eine Menge von teils recht aufwendigen Gedankenfiguren entwickelt. Die bekanntesten davon sind die oben genannten: Sühneopferlehre, Gottessohnschaft, Dreifaltigkeit, Inkarnation. Daneben gibt es noch unzählige weitere, aber die genannten haben in der Kirche eine gewisse zeitüberdauernde Gültigkeit gefunden, sie gelten als verbindliche Glaubenslehre. Wenn nun diese Glaubenslehren, wie P. Rosien sicher zu Recht behauptet, heute von den meisten Leuten/Christen nicht mehr angenommen werden, wenn sie nicht mehr Ausdruck unseres Glaubens sind, dann kann das einfach daran liegen, dass sie nicht mehr verstanden werden. Das bedeutet dann: Der Glaube der Kirche äußert sich heute in Formen, die nicht mehr verstanden werden (aus welchen Gründen auch immer). An dieser Stelle ist eine interessante Verlagerung der Arbeit der Theologie zu bemerken. Sie ist ja dazu da, Probleme mit dem Glauben zu lösen. Dazu hat sie in ihrer Geschichte verschiedene Theorie bzw. Problemlösungsformeln entwickelt. Z.B. die Inkarnation, die Trinität usw. Nun sind aber diese Problemlösungsformeln selbst wieder zu einem Problem geworden, und die Theologie muss sich ihrer eigenen Tradition als Problemstoff zuwenden. Soweit es sich hier also um ein Verstehensproblem handelt, ist es die Aufgabe der Theologie als kirchlicher Wissenschaft, Ausdrucksformen des Glaubens zu finden, die verstanden werden können (und dies zunächst unabhängig von der Frage, ob Menschen bereit sind, diesen Glauben, wenn sie ihn denn verstanden haben, auch zu teilen). Innerhalb der theologischen Fächer und Disziplinen fällt diese Aufgabe der Dogmatik – als Fach der systematischen Theologie – zu. Denn ihr Gegenstand ist das Dogma, die Lehre der Kirche. Die biblische Theologie hat darauf zu achten, dass das, was die Dogmatik jeweils als den Glauben der Kirche formuliert, auch in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift steht. Die historische Theologie überprüft den Zusammenhang mit der Geschichte der Kirche und ihrer Glaubensaussagen, denn es kann nicht sein, dass die Dogmatik plötzlich etwas völlig Neues formuliert. Die praktische Theologie untersucht, wie dieser Glaube vermittelt werden kann und was aus ihm für die verschiedenen Lebensbereiche folgt. Es wird sich aber zeigen, dass es sich nicht nur um ein Problem des Verstehens handelt. Das Unverständnis den alten Formeln gegenüber zeigt immer auch ein Unverständnis der Sache gegenüber an. Hier also: Können wir wirklich noch glauben, dass Jesus die Welt erlöst hat? Da muss ganz neu bedacht und theologisch verantwortet werden; es reicht nicht, die alten Formeln nur neu in interpretieren. Und da kommen wir auch nicht an der Frage vorbei, ob die alten Formeln die Sache (Jesus als Erlöser) wirklich richtig und zutreffend bezeichnet haben (wir werden das kritisch an der Formel des Konzils von Chalcedon prüfen). Die traditionelle Dogmatik ging üblicherweise so vor: Sie ging von den Aussagen der kirchlichen Lehrverkündigung aus und legte sodann zuerst deren Basis in der Schrift und dann ihre Entstehung und Bedeutung in der Theologie- und Dogmengeschichte dar. In einem dritten Schritt wurden offene Fragen, vor allem solche, die sich aus der Bestreitung der Lehren ergaben, mit Hilfe der theologischen Vernunft diskutiert. Dies war also der dogmatische Dreischritt: Begründung der Glaubensaussage in der Schrift – in der Tradition – mit der theologischen Vernunft. In dieser Vorlesung werde ich einen etwas anderen Weg gehen. Ich werde nicht von der kirchlichen Lehrverkündigung ausgehen, sondern von dem Leben und der ursprünglichen Botschaft Jesu selbst, soweit das heute historisch fassbar ist. Dann werde ich zu zeigen versuchen, wie die Worte und das Geschick von denen, die an ihn glaubten, aufgenommen und in ihr Wirklichkeitsverständnis übersetzt wurden ("Jesus in der Welt der Schriften"). Doch bald war es nötig, von Jesus auch zu Menschen zu reden, die nicht in der Welt der Schriften vertraut waren. Das Jesus-Zeugnis musste also in einen anderen Rahmen gestellt werden; davon handelt der Abschnitt "Jesus in der Welt der Völker". Wir gehen den Weg des Jesus-Zeugnisses unter den Völkern mit bis zum maßgeblichen christologischen Konzil von Chalcedon (451). Die Formel von Chalcedon ist dann die ganze christliche Geschichte über maßgeblich geblieben – erst heute hat sie ihre Bedeutung für den christlichen Glauben eingebüßt (s. den Artikel von P. Rosien). Ich werde an einem Beitrag von Karl Rahner zu zeigen versuchen, wie es dazu kommen konnte und was an die Stelle der alten Christologie getreten ist. Zum Schluss wird dann zu fragen sein, wie wir Jesus wieder da antreffen, wo er hingehört (in die Welt der Schriften), und wie wir selbst dorthin gelangen. 4 Indem wir nun also gleichsam von unten und von innen her durch die Theologiegeschichte (oder jedenfalls ein kleines Stück von ihr) wandern, wird immer klarer werden, was wir von ihren Wegen, Umwegen und Abwegen lernen können. Denn, so schwierig auch die Auseinandersetzung mit den vergangenen Gestalten des theologischen Denkens ist, es geht kein Weg daran vorbei, wenn es sich darum handelt, den christlichen Glauben für heute neu zu formulieren. Es kann keinen unvermittelten Sprung von der Bibel in die Gegenwart geben. Unsere theologischen Vorfahren haben uns Differenzierungsmöglichkeiten bereitgestellt, hinter die wir nicht mehr zurückgehen können (so wie auch in jeder anderen Wissenschaft auf den Stand der Forschung aufgebaut wird). Und dazu ist es auch die Aufgabe der Theologie, die Glauben der Kirche auszulegen – also den Glauben, der in den alten Formen seinen Ausdruck gefunden hat. Grundlegende Literatur : Limbeck, Meinrad: Christus Jesus. Der Weg seines Lebens. Ein Modell, Stuttgart: Kath. Bibelwerk 2003 Berger, Klaus: Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen/Basel: Francke ²1995 Theissen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoek&Ruprecht ²1997 Hauschild, Wolf-Dieter: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. I, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995 Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, 2 Bde., Gütersloh: Güterloher Verlagshaus 1990/München: Kaiser 1991 Texte zur Theologie, hg. von Wolfgang Beinert: Christologie I+II, bearbeitet von Karl-Heinz Ohlig, Graz-Wien-Köln: Styria 1989 Ferner verweise ich zur Ergänzung und Vertiefung auf die Skripte meiner Verlesungen Christologie (WS 1998/99) und Gotteslehre (WS 1999/2000), die beide im Server der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie (14) und im Server der Universität Dortmund zugänglich sind. - Weitere Literatur ist an den betreffenden Stellen angegeben. II. Jesu einfaches Leben. Eine Rekonstruktion nach M. Limbeck 1) Das Markusevangelium als Quelle für das Leben Jesu Die Möglichkeiten, die Evangelien als Quelle für Informationen über den historischen Jesus zu nutzen, werden von der heutigen Exegese wesentlich positiver eingeschätzt als früher. Vor allem das Markusevangelium überliefert Nachrichten, die nicht alle erfunden oder theologisch konstruiert sind. Limbeck führt folgende Gründe für die historische Verlässlichkeit des MkEv an: • • • • • • Eusebius von Caresarea (gest. 339 n.Chr.) teilt folgende Notiz des Papias von Hierapolis (um 130 n.Chr.) mit, der sich auf den Presbyter Johannes (zw. 70 u. 100 n.Chr.) beruft: [Limbeck S. 12] Angesichts dieser Kritik an Markus ist es unwahrscheinlich, dass Markus als Verfasser erfunden wurde, um dem ältesten Evangelium höheres Ansehen zu verschaffen. Markus ist ohne Zweifel der Johannes Markus aus Apg 12,12. Daraus ist zu ersehen: Er stammt aus Jerusalem (das erklärt Mk 14,51f); im Hause seiner Mutter traf sich die christliche Gemeinde, und auch Petrus verkehrte da. Nach Apg 12,15 war Markus der Begleiter wichtiger urchristlicher Persönlichkeiten auf deren Reisen. 1Petr 5,13 nennt ihn Petrus als seinen Begleiter und seinen „Sohn“. [Markus reist nach Apg 12,15 mit nach Antiochia. Nach Berger aaO. war Antiochia der zentrale Umschlagplatz für Informationen über Jesus im frühen Christentum. Man wird an Mahlzeiten denken können, bei denen ausführlich erzählt wurde, vgl. ebd. 9f.] Es spricht also nichts dagegen, dass Markus die Erzählungen der Apostel, vor allem des Petrus, in seinem Evangelium verarbeitet hat. Darauf deutet auch die auffällig herausgehobene Position des Petrus im MkEv, die theologisch gar nicht motiviert ist. Petrus hat wohl vor allem von den Ereignissen gesprochen, an denen er beteiligt war. Markus überliefert eine Menge Einzelheiten, die kaum erfunden sind und nicht erfunden zu werden brauchen, vgl. Limbeck 10f. Der Ablauf der Ereignisse im MkEv ist historisch stimmig, er scheint nicht einer theologischen Konstruktion folgen: 5 – Erstes öffentliches Auftreten, 1,14-3,6 – Die Gleichnisse, in denen Jesus seine Botschaft erklärt, 4,1-34 – Ereignisse in Galiläa und im näheren Umfeld, 5,1-7,23 – Erfolge und Konflikte – Wanderungen außerhalb von Galiläa, 7,24-10,31; hier geht es inhaltlich schwerpunktmäßig um die Bedingungen der Nachfolge – der Zug hinauf nach Jerusalem, 10,32-52 – Frage des rechten Umgangs in der Jüngerschar – Das Wirken in Jerusalem, 11,1-13,36 – wachsende Konfrontation mit den führenden Kreisen – Leiden und Auferstehung, 14,1-16,8 2) Die Anfänge: Die Ausbildung der Botschaft vom Reich Gottes Zu diesem Abschnitt vgl. Limbeck, 15-45. Limbeck rekonstruiert Jesu Leben so, als wüsste er (Limbeck) nichts von dem Ausgang dieses Lebens in Kreuz und Auferweckung, und als wüsste er nichts von dem christlichen Glauben, der in Jesus Gottes geliebten Sohn, den Sohn des Höchsten, den Messias und Retter der Welt sieht. Dieses Wissen von Ende her kann ja durchaus den Blick verstellen für eine genaue Wahrnehmung des Lebens Jesu. Jesus selbst wusste ja noch gar nicht, wohin ihn sein Weg führen würde. Er machte Erfahrungen, die auch für ihn neu waren. Er musste seine Aufgabe erst herausfinden. In dieser Perspektive versucht ihn Limbeck in den Texten neu zu entdecken. Das Erste, was wir erfahren, ist: Jesus geht zu Johannes dem Täufer und lässt sich von ihm taufen, Mk 1,9. Das ist nicht erfunden, denn für die frühen Christen war dies immer ein Problem – warum lässt sich Jesus, der Messias, von Johannes taufen, vgl. Mt 3,13-15. Jesus scheint aber von der Botschaft des Täufers angezogen worden zu sein. Diese lautete: Die Zeit ist voll – die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen, vgl. Mt 3,7-12. Johannes verkündete also, dass das Gericht Gottes über die Welt unmittelbar bevor steht. Er war ein Apokalyptiker. Und dass Israel davon nicht ausgenommen sein würde. Die Heilsgarantien, die einige in Israel glaubten zu haben (Abrahamskindschaft; Tempelkult) gelten also nicht mehr. Zur Bedeutung der Apokalyptik vgl. KARLHEINZ MÜLLER, ART. DIE JÜD. APOKALYPTIK , TRE Bd. 3, S. 202-225 (ausführlicher in DERS ., STUDIEN ZUR FRÜHJÜDIS CHEN APOKALYPTIK , Stuttgart 1991, 35-174); zu Johannes und Jesus auch: Christologie-Skript S. 7] Das übernimmt Jesus von Johannes: Die Zeit ist voll (Mk 1,15), und: Die Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern ist nicht mehr die zwischen Heil und Unheil, sie wird vielmehr von der Unterscheidung zwischen Sündern und Gerechten überlagert (das ist die Voraussetzung für die Zuwendung zu den Heiden), und: die Heilsgarantie des Tempelkults gilt nicht mehr (das ist hier mehr implizit gesagt, wird aber bei Jesus später ausdrücklich). Sodann erfahren wir: Jesus geht zum Täufer ohne seine Familie. Die Entscheidung, die er getroffen hat, wird offenbar von seiner Familie nicht mitgetragen. Er ist isoliert von seiner Familie. (Diese Isolation ist bezeichnend für sein Verhältnis gegenüber der Bevölkerung überhaupt. Er findet Anhänger nur bei den Randständigen) Vgl. Mk 3,20f; 3,31-35 und Christologie-Skript S. 6. Nach der Taufe wird Jesus weder ein Jünger des Johannes, noch geht er ins normale Leben zurück (das waren die beiden Möglichkeiten, die Johannes d.T. anbot, vgl. Lk 3,10-14), sondern er ging in die Wüste. Anlass dafür war offenbar eine besondere Gotteserfahrung, die sich nach der Taufe zutrug, vgl. Mk 1,10f (Mk schildert dies im Unterschied zu Mt als eine subjektive Erfahrung, die nach der Taufe stattfand – also nach dem, was Joh. d.T. getan hatte.) Als Jesus aus der Wüste zurückkommt, bringt er seine Botschaft auf die Formel: „Die Zeit ist voll, das Reich Gottes ist da. Kehrt um und vertraut auf das Evangelium“ (Mk 1,15). Diese Formel ist schwerlich eine Erfindung des Markus, etwa, wie oft angenommen wurde, eine Zusammenfassung seines theologischen Programms, denn er kommt weder dem Begriff (Umkehr; Vertrauen auf das Evangelium) noch der Sache nach jemals wieder darauf zurück. Markus wird das vermutlich von Petrus gehabt haben, der immer wieder davon erzählt hat. 6 Was hat Jesus nun dazu gebracht, die Botschaft des Johannes in dieser Weise umzuformen, d.h. aus der Gerichtsandrohung die Botschaft vom Evangelium zu machen? Mk berichtet kurz von der Versuchung durch den Satan in der Wüste, und dass Engel kamen und ihm dienten. Im LkEv spricht Jesus von einer Vision, und nur von dieser einen persönlichen Vision spricht er überhaupt in der Bibel, nämlich „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18). Diese Worte Jesu werden heute von sehr vielen Exegeten für authentisch gehalten. – Was ist damit gesagt? Der Satan ist im jüdisch-biblischen Verständnis nicht einfach eine gottwidrige Macht, er ist nicht der Böse oder der Anführer der bösen Mächte oder der Oberste der Dämonen, sondern er ist eine Figur, die im Himmel die Menschen vor Gott ihrer Vergehen anklagt. Der Satan ist der Chefankläger vor Gottes Gericht (vgl Ijob 1,6-12; Sach 3,1-4). Er ist nicht böse – er hat leider nur allzu oft Recht. Vgl. hierzu KLAUS BERGER, W OZU IS T DER TEUFEL DA ?, Gütersloh 1998, 52-59! Jesus hat also in einer Vision Gewissheit gewonnen, dass der Satan aus dem Himmel geworfen worden ist, dass also Gott die Anklagen gegen die Menschen nicht mehr länger beachtet. Er tritt ihnen nicht mehr als Richter gegenüber, sondern sieht über ihre Schuld hinweg. Damit haben die Menschen die Möglichkeit, unbelastet von ihrer Schuld wieder neu anzufangen; ihre schuldige Vergangenheit behindert nicht weiter ihre Gegenwart. Vgl. dazu auch Offb 12,10: „hinausgeworfen wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie bei Gott verklagte bei Tag und bei Nacht.“ Im gesamten einschlägigen biblischen und außerjüdischen Schrifttum zum Thema Gericht und Ankläger ist, darauf weist Berger hin, das Motiv von der Ausschaltung des Anklägers verbreitet. Der Satan kommt eigentlich nie zum Zuge. Aber zugleich ist auch in den apokalyptisch geprägten, asidäischen Kreisen (vgl. den genannten Art. von Karlheinz Müller!) das Bewusstsein von der nicht mehr zu tilgenden Schuld des Volkes gewachsen. Keiner kann vor Gott gerecht sein; und daraus erklärt sich, dass es in der Welt so schlecht aussieht. Nur ein Endgericht Gottes, bei dem dann vielleicht eine ganz kleine Schar von Gerechten übrigbleibt, kann hier ein Wendung schaffen (eben das war die Botschaft des Täufers gewesen). Jesus spricht nun gerade in diese apokalyptischen Kreise hinein: Der Ankläger ist aus dem Himmel gestürzt, Gott hält die Schuld nicht mehr nach. Und weil Jesus das mit der Ansage des Johannes verbindet, dass die Zeit voll ist, kommt er zu seiner Botschaft: „Die Zeit ist voll, das Reich Gottes ist da. Kehrt um und vertraut auf das Evangelium“ (Mk 1,15). Jesus verkündigt das, so heißt es, „nachdem Johannes überliefert worden war“ (Mk 1,14). Diese Formulierung „überliefert war“ begegnet auch 1Kor 11,23 („In der Nacht, in der der Herr Jesus überliefert wurde“) und meint hier wie auch an anderen Stellen, dass Gott selbst gehandelt hat (sog. Passivum divinum). Das bedeutet also: Jesus tritt erst dann mit seiner neuen Botschaft auf, als Gott der Verkündigung des Johannes ein Ende gemacht hat. Gegenüber Johannes verkündet Jesus eine völlig andere Einschätzung der Situation Israels. Anschließend ist nun bei Mk von der Berufung der ersten Jünger die Rede. In welcher Funktion werden sie berufen? Darauf gibt Mk 2,19 einen Hinweis. Entgegen dem üblichen Verständnis ist als der Bräutigam Gott selbst zu verstehen, der – nach Hos 2,16ff – seine Braut Israel (trotz ihrer Schuld!) in die Wüste führen wird, um sich ihr anzutrauen. Die „Freunde des Bräutigams‘ sind die, die den Bräutigam begleiten, wenn er die Braut vom Haus ihrer Eltern abholt, und die die Sänfte der Braut umringen und umtanzen. Als solche Freunde verstehen sich Jesus und die Jünger! (Es ist also nicht zu verstehen, dass Jesus der Bräutigam ist und die Jünger deswegen nicht fasten!). Jesus sucht nicht Jünger (in irgendeiner strategischen Absicht), er sucht Freunde, die sich mit ihm zusammen über die Hochzeit Gottes mit seinem Volk freuen. Sie wollen ihn auf seinem Weg begleiten. Jesus wollte mit seinen Freunden einfach nur leben und erleben, was er verkündigte. Mk 1,17 ist nicht, wie etwa in der Einheitsübersetzung, mit „Komm, folge mir nach!“, sondern wörtlich mit „Auf, hinter mich!“ zu übersetzen. – Limbeck macht für die Geschichte vom „reichen Jüngling“ (Mk 10,17-27) deutlich, dass es hier nicht um die gescheiterte Berufung eines Reichen geht, sondern um den vergeblichen Versuch, einen Freund zu gewinnen, vgl. 10,21: „Er begann ihn zu lieben“. 7 Was ist nun genau unter dem Reich Gottes bzw. dem Gottesreich zu verstehen, dessen Kommen Jesus verkündigte? In biblischer Überlieferung sind es mindestens folgende drei Elemente, die damit verbunden sind: • • • Gottes rettendes Eingreifen in die Geschichte zugunsten der Lebensmöglichkeiten seines Volkes Israel Die eindrücklichste Erfahrung davon war immer noch die Rettung der Israeliten aus dem Sklavenhaus Ägypten, aber auch die Erfahrung der geglückten Landnahme. Gott gibt ein Gesetz, das gut ist für das Leben. Wenn alle sich an dieses Gesetz halten, dann herrschen auf der Erde Friede, Gerechtigkeit und Wohlstand. Es liegt aber nicht in der Macht der Menschen, Gottes gutes Gesetz zu halten und gegen die Mächte der Sünde anzukommen, die davon abhalten. Gott selbst muss uns die Kraft geben, nach seinem Willen zu leben – das Gottesreich kommt wie ein Geschenk. Jesu Botschaft, wie sie sich in der Vision von dem Sturz des Satans in Verbindung mit der Erwartung des bald kommenden Endes darstellte, war nun: Gott greift rettend ein, indem er uns unsere Sünde nicht mehr zurechnet und uns befreit von den Folgen unserer Schuld. Gott kommt jetzt, um mit seiner untreuen Braut Israel Hochzeit zu feiern. Wir können wieder neu anfangen, so, als wenn wir im Stande der Unschuld angetroffen würden, wir können nach Gottes Willen leben – und sein Reich wird kommen. Und diese Möglichkeit besteht jetzt, jetzt können Menschen nach ihr leben. Achtung, an dieser Stelle trennen sich meine theologischen Wege von denen Limbecks, so sehr ich ihm auch für seine Rekonstruktion dankbar bin und ihr weiterhin folge. Limbeck versucht, die Gottesreichidee zu verallgemeinern, zu existenzialisieren. Er löst sie vom Glauben an Gott ab und macht eine allgemeine Lebensregel daraus: „Hallo, liebe Leute, wartet nicht länger darauf, dass das Leben euch morgen oder übermorgen endlich die Chance zum großen Glück mitbringen wird! Sie ist heute schon da! Euer Leben trägt im Kleinen wie im Großen jetzt schon seiner Anlage nach die Möglichkeit in sich, zu gelingen und vollkommen zu werden. Mach also nicht so weiter wie bisher. Vertraut doch bitte auf diese Botschaft.“ (S. 36 als Paraphrase von Mk 1,15). – Ich hingegen glaube nicht, dass das Leben selbst diese Chance usw. in sich trägt. Von den Folgen unserer Schuld kommen wir nur durch Gott los. Jesus verkündet keine Lebensweisheit sondern das Gottesreich. Jesus hat dann erlebt, was sich im Leben ändert, wenn man vom Vertrauen auf das Evangelium ausgeht. Davon berichten die Abschnitte über seine ersten Wunder, die auf die Berufung der Freunde folgen (Mk 1,21ff). Er erfährt an sich, dass unreine Geister ihn erkennen, dass er ihnen aber gebieten kann und sie ausfahren müssen (1,21-28). Er erfährt, dass er nicht nur die Schwiegermutter des Petrus, sondern auch viele andere Kranke heilen kann – und dass er damit mächtig Aufsehen erregt, was er aber nicht möchte (1,29-33). Mt 8,16 berichtet an dieser Stelle, dass Jesus alle Kranken heilen konnte. Offenbar ist Mk hier authentischer. Nachdem Jesus diese Erfahrungen mit seiner Heilungsmacht gemacht hat, zieht er sich erst einmal in der Nacht an einen einsamen Ort zurück, um zu überlegen, wohin es mit ihm gehen soll und wozu er berufen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass er sich nicht aufs Krankenheilen beschränken will, sondern in den umliegenden Ortschaften predigen will, „denn dazu bin ich ausgegangen“ (1,35-38). Er stellt fest, dass er einen an einer schweren Hautkrankheit leidenden Menschen („Aussätzigen“) heilen kann. Es wird ihm nun immer klarer, dass das Reich Gottes wirklich kommt (1,40-46). Übrigens hat Jesus hier gar keine Probleme mit den priesterlichen Reinheitsvorschriften. Bei der Heilung eines Gelähmten (2,1-12) trifft er auf einen Mann, der noch nicht einmal die Kraft hat, an seine Heilung zu glauben; nur die, die ihn begleiten, haben diesen Glauben. Dieser Mann ist gelähmt vor „Sünde“, und Jesus ist nun soweit erkannt zu haben, dass es zuerst auf die Vergebung der Sünde ankommt; die Lähmung verschwindet dann auch. Jesus merkt also, dass er den Menschen helfen kann, Gott neu und befreiend zu erleben. Er verkündet nicht nur etwas; das, was er verkündet, fängt durch ihn auch selbst an! Sünden vergeben zu können kommt aber einem einfachen Menschen nicht zu. Dies kann eigentlich nur Gott selbst oder in seinem Auftrag der Hohepriester. Wer ist also Jesus? Die 8 Stelle zeigt, dass er anfängt, sich mit der apokalyptischen Gestalt des Menschensohns zu identifizieren. Vom Menschensohn erwartete man in apokalyptischen Kreisen, dass er der endgültigen Gottesherrschaft vorangeht, indem er mit den Feinden abrechnet bzw. über sie richtet (es gab verschiedene Vorstellungen). Im Zusammenhang seiner Botschaft vom Sturz des Satans legt Jesus das Richten als ein Nachlassen der Sünden aus – das ist konsequent. Das Reich Gottes kommt also durch ihn, Jesus, selbst. Wo er ist, da ist auch schon die Wirklichkeit des Reiches, so merkt er. Und nun geht er auch zu den Zöllnern und Sündern (2,13f – Berufung des Levi – ; 2,15-17 – Mahl mit den Sündern –), um sie in die Wirklichkeit des Reiches hinein zu holen. Die Unterscheidung von Sünder und Gerechten, rein und unrein usw. mit ihren sozialen Konsequenzen macht angesichts der Botschaft Jesu keinen Sinn mehr. Das bedeutet: „Niemand näht einen Lappen ungewalkten Tuches auf ein altes Kleid ... niemand gießt neuen Wein in alte Schläuche“ (2,21f). Man kann nicht mehr so leben wie früher. Etwas Neues hat mit Jesus begonnen, das zeigt sich in seinen Heilungen und Wundern. Und damit ist auch die Zeit für ein neues Verhalten gekommen. Erinnern wir uns noch einmal daran, dass Jesus vom Täufer die Botschaft übernommen hatte: Die Zeit ist voll, die Zeit ist erfüllt. Er erwartete, dass Gott bald kommen und mit der Geschichte ein Ende machen würde. Und nun erlebte er, dass dieses Kommen Gottes sich in seinem, Jesu, Auftreten bereits vollzog. Auch von daher hatte er Anlass, sich mit der apokalyptischen Figur des Menschensohns zu identifizieren. Ein eindrückliche Darstellung der fortschreitenden Identifikation Jesu mit dem Menschensohn gibt FRIEDRICH-W ILHELM MARQUARDT, W AS DÜRFEN WIR HOFFEN, WENN WIR HOFFEN DÜRFTE N. EINE ESCHATOLOGIE B D. 3, Gütersloh 1996, 85-109. Gegen das Neue erhebt sich aber sogleich Widerstand (Pharisäer, Schriftgelehrte, seine Familie...); davon erzählt Mk 3. Konnte Jesus es dabei belassen, in der reinen Freude des Bräutigams (vgl. 2,18-20) weiter zu leben und zu lehren? 3) Die Verkündigung des Reiches Gottes und die Frage nach dem „Gericht“ Zu diesem Abschnitt vgl. Limbeck, 46-76. Limbeck räumt zunächst mit dem weitverbreiteten Vorurteil auf, Jesus habe sich in besonderer Weise den Armen, den Kranken, den Kindern, den Frauen und den Sündern zugewandt, um ihnen Gott nahezubringen. Dem sei nicht so gewesen. Zwar ist davon auszugehen, dass unter den Leuten, die zu Jesus gingen, viele arme, elende und verzweifelte Menschen waren, sicherlich mehr als reiche und zufriedene. Aber die Texte geben nicht her, dass Jesus sich diesen in besonderer Weise zugewandt hätte. Vielmehr reagiert er nur darauf, wenn man diese Menschen zu ihm bringt oder wenn sie ihn von sich aus bedrängen. „Sünder“, so stellt Limbeck gegen die gängige, sich vor allem auf Joachim Jeremias stützende Ansicht dar, waren keine verachtete Randgruppe der Gesellschaft. Unter Sündern sind die Frevler, die Übertreter des Gesetzes zu verstehen – und diesen geht es, so die bittere Erfahrung vieler frommer Juden, meistens sehr gut. Sünder haben wir also eher unter den Reichen und Mächtigen zu suchen. Dazu passt, dass Jesus mit „Zöllnern und Sündern“ zu Tisch lag (Mk 2,15-17). Es waren Leute, die ihn zum Essen einladen konnten. Aber „sie bedürfen des Arztes“, sagt Jesus: ihnen ist auszurichten, dass sie von Gott her nicht mehr unter Anklage stehen. Wenn Jesus also nicht, wie man gemeinhin annimmt, sich der sozialen Aufgabe stellt, was machte er dann? Antwort: Er verkündigte die Botschaft vom nahen Gottesreich, von dem er jetzt, nach seinen ersten Erfahrungen mit den Wundern etc., schon sagen konnte, dass es gegenwärtig ist, nämlich in seinen eigenen Handlungen. Alle sollten wissen, dass die Hochzeit mit Gott bevorsteht und man jetzt schon aus ihrer leben kann. „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen!“ (Lk 11,20) Für die Aufgabe der Verkündigung, die ihm absolut vordringlich war, suchte er Unterstützung, und deshalb „machte“ (berief) er die Zwölf. „Und Jesus stieg auf den Berg, und er rief die, die er wollte, und sie gingen weg zu ihm. Und er machte zwölf, damit sie mit ihm seien und damit er sie sende zu verkündigen und Macht zu haben, um die Dämonen auszutreiben“ (Mk 3,13-15) 9 Offenbar nahm Jesus an, dass bis erwarteten Ende noch Zeit blieb, und die wollte er nutzen, damit alle im Volk eine Chance hätten. Mk 4 folgen dann die Gleichnisse Jesu. Wir sehen also Jesus im Vollzug der Verkündigung, und offenbar war es typisch für ihn, dass er die Form des Gleichnisses wählte. Viele Gleichnisse handeln davon, dass aus etwas Kleinem wie von selbst etwas Großes wird; so das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30-32a), vom, Sauerteig (Lk 13,20f) oder von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-28). Jesus will klarmachen, dass das (gegenwärtige!) Gottesreich, auch wenn es erst in kleinen Anfängen da ist, weiter wachsen wird, und dass das, wie beim Wachsen in der Natur, von selbst geht. Die Menschen müssen gar nicht viel dazu tun. Mit den 'kleinen Anfängen' ist das gemeint, was Jesus selbst tut und erlebt, wenn er vom Gottesreich spricht. Limbeck hebt sehr hervor: Die Gleichnisse knüpfen an Lebenserfahrungen an. Jesus argumentiert gegenüber den Leuten nicht mit der Schrift. Die Schrift zieht er nur heran, wenn er Streitfragen zu klären hat, z.B. wegen der Ehescheidung (Mk 10,2-9) oder wegen der Totenauferweckung (Mk 12,18-27). (Limbeck schreibt, dass Jesus seinen Zuhörern die Augen dafür öffnen wollte, „dass seine Botschaft vom Leben bestätigt wurde“ (57) – hier ist wie durchgängig bei Limbeck nicht ganz klar, worauf man eigentlich vertrauen soll, auf das Leben oder auf Gott.) Auch die ermutigenden Aufforderungen Mt 7,7-11 (Bittet, so wird euch gegeben werden...) stützen sich auf Lebenserfahrungen. GERD THEIßEN, STUDIEN ZUR SOZIOLOGIE DES URCHRISTENTUMS, TÜBINGEN ³1989, 94, spricht diesbezüglich von einer „ausgesprochenen Bettlerweisheit“. Jesus hatte, wie Mt 7,9-11 zeigt, eine sehr positive und optimistische Einstellung in Bezug auf die Bereitschaft der Menschen, einander zu helfen, und diese Einstellung übertrug er auf Gott. Die spätere Überlieferung in den Evangelien ist da schon skeptischer. Lk 11,13b: Gott gibt nicht einfach ‚Gutes‘ denen, die ihn bitten, sondern nur den heiligen Geist; Lk 11,8: der Freund gibt dem Bittsteller nicht aus Güte, sondern um in Ruhe gelassen zu werden. Limbeck spricht von „Übermalungen“ des ursprünglichen Jesus. Die sehr positiven Erfahrungen, die Jesus im Weiteren macht (Mk 5,1-20: Heilung des Besessenen von Gerasa; 5,21-34: Heilung der blutflüssigen Frau und Erweckung der Tochter des Jairus), geben ihm Recht. Das Reich Gottes ist angebrochen. In dieser Gewissheit sendet er Mk 6,7-13 die Zwölf aus. Sie sollen die Menschen zur Umkehr aufrufen, Dämonen austreiben und Kranke heilen, ganz wie Jesus selbst; auf ihrem Weg sollen sie ganz auf die Gastfreundlichkeit und Friedlichkeit der Menschen vertrauen. – Die Aussendung der Zwölf zeigt zum einen, wie dringlich es Jesus mit seiner Botschaft ist – das Ende ist ja nahe, es ist keine Zeit mehr zu verlieren – , zum anderen, dass er eben nicht sich selbst verkündigt und in den Mittelpunkt stellt, sondern das Reich Gottes, und dass die Zwölf das Gleiche tun können wie er. Sehr ausführlich geht Limbeck auf das Thema Gericht ein. Die Frage ist: Glaubte Jesus wirklich an die bedingungslose Einladung aller Menschen zum Hochzeitsmahl Gottes, oder war die Zulassung doch an bestimmte Voraussetzungen, die im Gericht überprüft wurden, gebunden? Jesu ursprüngliche Botschaft scheint nun gewesen zu sein: Alle sind eingeladen, aber man kann sich selbst ausschließen, man kann zu spät kommen! In diesem Sinne sind das Gleichnis vom Festmahl in seiner ursprünglichen Fassung (Lk 14,16-24) und auch das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mt 25,1-10) zu verstehen. Zu spät zu kommen zu diesem Fest, das Gott für uns veranstaltet, das ist für Jesus schlicht dumm. Es kommt darauf an, die Chance, die sich jetzt bietet (und nur jetzt, denn Jesus erwartete ja das baldige Ende!), unbedingt zu nutzen. Davon handeln (nach Limbeck) das Gleichnis vom anvertrauten Geld (Mt 25,14-29 – auch wenn der Herr hart und ungerecht ist, hätte der Knecht seine Chance nützen müssen), das Gleichnis vom klugen Verwalter (Lk 16,1-8 – an dem Verwalter wird gelobt, dass er seine Chance nutzt) und das Gleichnis vom Schatz im Acker (Mt 13,44). Gerade indem es hier jedesmal um unmoralisches oder verbotenes Handeln geht, das Jesus empfiehlt, wird die Dringlichkeit dieses Handelns deutlich [Ich bin zu Mt 25,14ff und Lk 16,1ff nicht dieser Meinung Limbecks; doch das spielt hier keine Rolle]. Jesus war also der Meinung, dass alle Menschen zu dem nun bald bevorstehenden Mahl des Gottesreiches eingeladen sind (bildlich gesprochen), und dass man allenfalls sich selbst 10 ausschließen kann, wenn man zu spät kommt (d.h. indem man das Umkehrangebot Gottes nicht annimmt). Die Frage ist nun noch, ob er die Entscheidung für seine Person als Kriterium der Zulassung zum Reich Gottes nimmt. Muss man an ihn glauben? Das scheint nicht so zu sein, wenn man z.B. von Mk 9,38-45 ausgeht: „Denn wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ (bezogen auf einen Mann, der im Namen Jesu Dämonen austreibt). Und auch die Jüngeraussendung Mk 6/Mt 10 bezeugt: Es kam Jesus darauf an, dass die Botschaft ausgerichtet wird, egal von wem, und von an einem Glauben an ihn ist dabei nicht die Rede. Also auch in dieser Hinsicht gibt es kein Gericht (keine „letzte Prüfung“) vor dem Gottesreich. Nun ist aber, so bezeugen die nachösterlichen Texte der Evangelien und auch Paulus durchgehend, das Gerichtsthema in der frühchristlichen Verkündigung sehr präsent. Dafür gibt es verschiedene Gründe: • • • • im Alten Testament ist das Thema Zorn Gottes und Gericht sehr stark. Paulus z.B. greift das auf. Er kann sich das Kommen Gottes nur in Gnade und Zorn vorstellen, z.B. 1Thess 1,10; Röm 2,18. Christen wurden schon bald wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus als dem Sohn Gottes verfolgt. Sie erwarteten, dass sie vor aller Welt von Gott Recht bekommen würden. Vgl. Mt 5,11f: „Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt werdet ... Euer Lohn im Himmel wird groß sein ...“ Die Zerstörung Jerusalems im jüdisch-römischen Krieg (70 n.Chr.) konnte als Gericht über die Juden, die Jesus nicht angenommen hatte, verstanden werden; das Gerichtsmotiv hilft also, die Geschichte zu verstehen. Und es gab in den Gemeinden Probleme, die nur mit der Androhung des Gerichts gelöst werden konnten. Die letzten beiden Punkte werden an der matthäischen Umformung des Gleichnisses vom Gastmahl, Mt 22,1-14, sehr deutlich. Zum einen liegt darin eine Geschichtsdeutung: Der „König“ lädt zweimal ein (vor Ostern und nach Ostern), aber die Gäste kommen nicht nur nicht, sie misshandeln auch die Diener und bringen sie um (=Schicksal Christi und der Christen). Daraufhin lässt der König die Stadt der Gäste in Schutt und Asche legen (die Zerstörung Jerusalems wird also als Gerichtshandeln gedeutet)! Und nun ergeht die Einladung (für das immer noch bereitstehende Gastmahl!) an alle, also an die Menschen aus den Völkern. Zum anderen reagiert das Gleichnis auf innergemeindliche Probleme. In den Gemeinden gab es offenbar Konflikte um unbelehrbare Sünder, und die Frage war, wie mit ihnen umzugehen sei. Sollten sie aus der Gemeinde ausgeschlossen werden, vgl. Mt 18,15-18? Offenbar neigten viele in der Gemeinde zu einem harten Kurs. Das Gleichnis sagt dazu: Es gibt in der Gemeinde „Böse und Gute“, und das darf auch so sein. Aber einer wird von dem König zurechtgewiesen. Das ist der, der nicht das richtige Festgewand trägt. Im Kontext der matthäischen Theologie ist zu verstehen: Das ist einer, der auf die Vergebung, die er empfangen hat, nicht mit Vergebungsbereitschaft reagiert. An diesem vollzieht sich das Gericht (vgl. dazu Mt 6,14f: Wenn ihr Übertretungen erlasst, wird euch der himmlische Vater auch eure Übertretungen erlassen. Ferner Mt 18,21f: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal vergeben; Mt 18,23-35: Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner. Für Mt ist also das Thema Vergebung ganz wichtig, und er droht denen das Gericht an, die keine Vergebungsbereitschaft zeigen). So ergibt sich als Fazit zum Thema Gericht: Die vielen Gerichtsworte und Gerichtsgleichnisse gehen nicht auf Jesus selbst zurück, sondern entstammen der frühchristlichen Gemeindesituation (vor allem bei Mt). Ohne die Androhung des Gerichts konnte man mit den Problemen der Gemeinde offenbar nicht fertig werden. Jesu Botschaft vom nahe gekommenen Gottesreich aber kam ohne Gericht aus. Obwohl Jesus kein Gericht erwartet, hat er doch Erwartungen an das Verhalten der Menschen. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit seiner Botschaft vom angebrochenen Gottesreich. Limbeck achtet darauf, zu welchen Themen Jesus von sich aus Stellung nimmt und welche er nur auf Anfrage, zu seiner Verteidigung usw. aufnimmt, und kommt zum Ergebnis: Jesus hat von sich aus nur über das kommende Gottesreich gesprochen. Alle andere religiösen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen Themen beschäftigen ihn offensichtlich nicht; er geht darauf nur ein, wenn er dazu herausgefordert wird. Was sind nun die ethischen Weisungen, die Jesus von sich aus geboten hat? Es zeigen sich die folgenden: • • • nicht zu zürnen, Mt 5,21f nicht zu richten, sondern einander zu vergeben, Lk 6,37-42 auch die Feinde zu lieben, Lk 6,27-36 11 • • • • • • nicht die Frau des Nächsten zu begehren, Mt 5,27f absolut zuverlässig sein, Mt 5,37f („Eure Rede sei ja, ja; nein, nein“) einander zu dienen, gerade wenn man etwas Besonderes sein möchte, Mk 9,33-35; 10,35-40 keinen Anstoß geben, Mk 9,42f sich vor dem „Sauerteig der Pharisäer und Herodianer“ zu hüten, Mk 8,14f (das heißt hier: für den Glauben ein Zeichen, also Sicherheiten haben zu wollen) sich nicht unnötig zu sorgen, Mt 6,24-34. Alle diese Weisungen sind an den Kreis der Jüngerinnen und Jünger gerichtet. Also an die, für die die Gottesherrschaft bereits Gegenwart ist. Vgl. speziell zu Mk 10 und dem Problem der Ehescheidung unter Jüngerinnen und Jüngern: LUZIA SUTTER REHMANN, KONFLIKTE ZWISCHEN IHM UND IHR. SOZIALGESCHICHTLICHE UND EXEGETISCHE UNTE RSUCHUNGEN ZUR NACHFOLGEPROBLEMATIK VON E HEPAAREN, Gütersloh 2002, 31-128 Und von daher verstehen sich auch diese Weisungen: Sie geben das Verhalten an, das möglich, aber auch erforderlich ist, wenn man der Realität des Reiches Gottes gerecht werden will. Oder noch einfacher: Jesus gibt hier die Regeln an, ohne die das Zusammenleben in der Gruppe der Menschen, die mit ihm unterwegs sind, nicht möglich ist. Es ist ein Verhalten, das entsteht, wenn man auf die positive Kraft der Nähe Gottes vertraut und sich darauf einlässt, ganz daraus zu leben. Es ist nicht nötig, vorher das Böse und die Sünde auszuscheiden und zu vernichten. Es genügt, sich auf die neue Lebensgrundlage und das ihr entsprechende Verhalten einzustellen. Für Limbeck zeigt sich hier noch einmal, dass für Jesus das Thema Gericht keine Rolle spielt. Limbeck meint, dass auch heute jeder die Erfahrung mit diesen Weisungen Jesu machen kann, nämlich die Erfahrung, dass das Leben „ungeahnt Positives in sich birgt“, dass „unser Leben im Grund seiner Anlage nach die Möglichkeit in sich trägt, zusammenzufinden, sich aufzubauen und sich zu vollenden“ (S. 76). Hier ist sie wieder, die Limbecksche Uneindeutigkeit: Vertrauen wir mit Jesus auf Gott oder auf die Kraft des Lebens?? 4) Der Weg zum Kreuz Zu diesem Abschnitt Limbeck, 77-95 Jesus verkündigte, dass Gott bald kommen würde, dass der Bräutigam bald zum großen Hochzeitsmahl laden würde. Mit dieser Verkündigung erregte er in Galiläa großes Aufsehen, und er fand viel Zustimmung. Die Jerusalemer Priesterschaft und die Offiziellen des Judentums hatte hingegen noch keine Notiz von Jesus genommen. Zog er nun nach Jerusalem, um seine Botschaft auch ihnen auszurichten und ihre Reaktion herauszufordern? Und/oder wollte Jesus gezielt die Konfrontation mit den Autoritäten (auch den Römern!) herbeiführen, um Gott endlich zum Eingreifen zu veranlassen? Ist Jesus ungeduldig geworden? Wollte er Gottes Kommen, das auf sich warten ließ, veranlassen, indem er das eigene Leben aufs Spiel setzt, ja sich selbst als Opfer darbringt, um Gott zum Eingreifen zu zwingen? Dieser Ansatz bei FRIEDRICH HEER, DAS WAGNIS DER SCHÖPFERIS CHEN VERNUNFT, W IEN-KÖLNW EIMAR 2003, 113-118. Jedenfalls zieht er nicht als Festpilger nach Jerusalem. Das ist schon daraus zu ersehen, dass er und seine Jünger nicht die vorgeschriebenen Reinigungsriten machen (Tauchbad vor dem Eintritt in den Tempelbezirk). Es heißt nur lapidar, dass Jesus sich im Tempel alles ansieht (Mk 11,11 – von 11,1-10 her lässt sich sagen: Jesus hat Eingeweihte und Verbindungsleute vor der Stadt. Sein Eintritt in Jerusalem scheint eher eine konspirative Aktion zu sein. Er wird von den Festpilgern, nicht von der Stadtbevölkerung mit Jubel begrüsst). Es ist ihm klar, dass es in Jerusalem zu einer dramatischen Auseinandersetzung kommen wird, und er sucht sie bewusst. Mk 8,34 heißt es am Beginn des Weges nach Jerusalem: „Wenn einer hinter mir her nachfolgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir.“ Damit ist nicht allgemeine Bereitschaft zum Leiden gemeint. Das Kreuz war Hinrichtungsinstrument der Römer, nicht der Juden; also fürchtete oder erwartete Jesus, von den Römern hingerichtet zu werden, Das aber konnte nur passieren, wenn öffentlich den Tempel angriff (denn wegen abweichender Lehren drohte von jüdischer Seite höchstens die Verbannung). 12 Dass die Römer auf Konflikte um den Tempel äußerst empfindlich und gewaltbereit reagierten, war bekannt. Vgl. dazu G. THEIßEN, STUDIEN ZUR SOZIOLOGIE DES URCHRISTENTUMS aaO., 142-159. Die Stimmung in der Gruppe während des Wegs nach Jerusalem war dementsprechend beklommen, vgl. Mk 10,32-34. Jesus versucht sich unterdessen über seine Rolle und Bedeutung klar zu werden: Mk 8,2730. Die Frage, für wen die Menschen ihn halten, kann durchaus ernstgemeint gewesen sein. Jesus hatte erfahren, dass er zu besonderen Machttaten in der Lage war. Gott war ihm nahe. Konnte er annehmen, dass er der Messias war? Deshalb fragte er, für wen ihn die Menschen hielten. (Das Markusevangelium bringt in 9,2-9 den Bericht von der Verklärung Jesu, um die Klarheit anzuzeigen, die Jesus in diesen Tagen gewonnen hat.) Vielleicht dachte Jesus darüber nach, ob er der von Johannes dem Täufer angekündigte „Stärkere“ war. Die Rede von dem „Stärkeren“ gehörte offenbar zum Kernbestand der Verkündigung des Täufers, und sie stand in Zusammenhang mit der apokalyptischen Erwartung des Menschensohns. Hat sich Jesus jetzt mehr und mehr als Verkörperung des Menschensohns gedacht? Und wollte er in Jerusalem die Entscheidung über diese Frage erreichen? Auch im Jüngerkreis erwartete man, dass in Jerusalem etwas Entscheidendes passieren würde. Und Jesus weist diese Erwartung nicht zurück. Er sieht gewaltsame Konflikte voraus, an deren Ende vielleicht ein großes Mahl steht, und wohl auch ein kommendes Reich, in dem Gott herrschen wird, vgl. Mk 10,37-40. Die Konfrontation in Jerusalem Zu den Geschehnissen in Jerusalem nach Mk 11,7-13,2 vgl. auch die sehr instruktive Darstellung durch KUNO FÜSSEL/EVA FÜSSEL, DER VERSCHWUNDENE KÖRPER. NEUZUGÄNGE ZUM MARKUSEVANGELIUM , LUZERN 2001, 171-220. Jesus kommt wie gesagt nicht als Pilger nach Jerusalem. Das erste, was er tut, nachdem er sich alles gründlich angeschaut hatte (Mk 11,11 – Mt erspart seinen judenchristlichen Lesern diese für jüdische Ohren empörende Nachricht), ist, dass er die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel heraustreibt, Mk 11,15-18. Die Händler und Geldwechsler gehörten zum Opferbetrieb des Tempels, sie waren völlig zu Recht da. Der Tempel war nicht nur ein Ort des Gebets. Es ist also falsch, von Tempelreinigung zu sprechen. Dass Jesus die Händler hinaus treibt, war ein Angriff auf die Tempelopfer selbst. Mk 11,16 („und er ließ nicht zu, dass einer hindurchtrage ein Gefäß durch das Heiligtum“) ist ebenfalls als Kritik an den Tempelsitten zu verstehen. Während der Wallfahrten war es Sitte, die heiligen Geräte zur Schau zu stellen. Limbeck weist auf ein 1905 aufgefundenes apokryphes Evangelium hin, in dem ein Konflikt zwischen Jesus und einem Pharisäer wegen der Tempelgeräte ausführlich geschildert wird. Offenbar hat Mk hier die Erinnerung an einen historischen Vorfall bewahrt. Im Prozess gegen Jesus wird ihm vorgeworfen, er habe gesagt, er werde diesen von Händen gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen, nicht von Händen gemachten, aufbauen, vgl. Mk 14,58 u. 15,29f). Diese Äußerung passt in den Kontext der Austreibung der Händler. Sie bedeutet, dass Jesus die Präsenz Gottes im Tempel und seinem Kult (und die damit gegebene Heilsgarantie) überhaupt in Frage stellt. Die Konfrontation mit dem Tempel war also grundsätzlicher Art. Jesus musste damit rechnen, dass sowohl die jüdische wie die römische Obrigkeit darauf reagierten. Die letzten Gespräche und Auseinandersetzungen Da Gleichnis von den bösen Weinbergpächtern Mk 12,1-9 ist vom Ablauf her unwahrscheinlich (warum nimmt der Besitzer die Misshandlung seiner Knechte hin und schickt dann auch noch den Sohn?) und lenkt gerade damit die Aufmerksamkeit auf sich. Die Hörer können verstehen: Gott hat noch immer nicht bekommen, was ihm zusteht. Was wird er tun? Er wartet noch immer, aber nicht mehr lange. (Aus der Parabel ist wohl nicht zu 13 ersehen, dass Jesus sich mit dem Sohn Gottes identifiziert, auch wenn er selber in der Rolle des Sohnes darin vorkommen mag). Das Gespräch über die Steuer an die Kaiser mit den Pharisäern und Herodianern (Mk 12,13-17) schließt sich gut an: Wenn dies Gottes Weinberg ist, warum dann Steuern an den Kaiser? Jesus beantwortet die Frage in seinem Sinne: Gebt dem Kaiser, worauf er nach der Münze einen Anspruch hat, und gebt Gott, was Gottes ist (nämlich das Vertrauen auf das Evangelium). Die Sadduzäer fragen nach der Auferstehung (Mk 12,18-27). Ist es nicht sinnlos, an ein über-das-Leben-hinaus zu glauben, wenn mit dem Tod doch alles zu Ende ist? Auch die Tora (von der Leviratsehe) führt hier nur zu absurden Konsequenzen. Jesus wendet sich resolut gegen diese Verleugnung der Lebenskraft Gottes. Gott ist ein Gott der Lebenden, nicht der Toten; Jesus glaubt ja gerade an die todüberwindende Macht Gottes, das ist sein Evangelium. Zum Verständnis der Auferstehung in dieser Perikope vgl. LUZIA S UTTER REHMANN, W ENN DIE TOTEN SICH AUSRUHEN VOM TOTSEIN. EINE WIDERSTÄNDIGE SPRITUALITÄT, in: dies., Sabine Bieberstein, Ulrike Metternich, Sich dem Leben in die Arme werfen. Auferstehungserfahrungen, Güterloh 2002, 74-88 Die Frage nach den höchstem Gebot Mk 12,28-34 ist Zusammenfassung und Schlusspunkt dieser Streitreden. Es geht darum, Gott zu lieben und dann auch den Nächsten wie sich selbst lieben zu können (das ist im Einklang mit der Hauptüberlieferung der Tora: Jesus steht ganz auf jüdischem Boden!); das ist mehr als alle Brand- und Schlachtopfer (Kritik des Tempelkults – Jesus streitet innerhalb des Judentums um den rechten Weg Gott gegenüber). In der Liebe zu Gott erschließt sich das Leben, das er für uns bereithält (vgl. den Zusammenhang mit der letzten Perikope von der Auferstehung). Die Aussage über den Messias in Ps 110 (Mk 12,35-37) antwortet nicht auf eine Frage. Sei es, dass Jesus hier auf Unausgesprochenes reagiert, sei es, dass er von sich aus Klarheit schaffen möchte: Der Messias ist nicht der Sohn Davids (im Sinne einer Fortsetzung der Dynastie und einer Wiedererrichtung des davidischen Königtums). Jesus setzt sich von der gängigen Messiasvorstellung und –erwartung ab. Zu folgern wäre: auch ein Galiläer, auch Jesus kann der Messias sein. Jesu Haltung und Verhalten in seinen letzten Tagen Er sucht nicht die Auseinandersetzung mit den entscheidenden Instanzen (dem Hohepriester, dem Hohen Rat). Er hält sich an die, denen er zufällig im Tempel begegnet. Hier setzt er prophetische Zeichenhandlungen und –worte (wie sie ihm aus der prophetischen Tradition geläufig waren). Und dabei wird ihm klar, dass er sein Leben riskiert, dass er sich um Kopf und Kragen redet. Vgl. dazu Mk 14,3-8. Die zärtliche Salbung in Betanien deutet er als ein Salben zum Begräbnis, d.h. zum Tode. Seine letzten Tage sind vom Bewusstsein der entscheidenden Auseinandersetzung und der Krise erfüllt. Die Frage der Schriftgelehrten und der Ältesten „In welcher Vollmacht tust du dieses? Oder wer gab dir diese Vollmacht, damit du dieses tust?“ (Mk 11,28) steht über allem, was Jesus in diesen Tagen sagt und tut. Es ist, als wenn er die Antwort vom Himmel her erzwingen wollte. Mit seiner Lehre setzt er sich klar ab von den Schriftgelehrten und ihrer Autorität: Mk 12,38-40. Sie sind es ja, die die Häuser der Witwen auffressen. Im Zusammenhang damit ist wohl auch die folgende Perikope vom „Scherflein der Witwe“ zu verstehen. Jesus lobt nicht, dass die Witwe „ihr ganzes Leben“ in den Schatzkasten wirft, er lobt nicht ihre Selbstverleugnung nach dem Motto: Gott sieht nicht auf die Größe der Gabe sondern auf die Gesinnung, sondern er kritisiert (im Zusammenhang!), dass sie im System des Tempels überhaupt dazu angehalten ist, ihren ganzen Lebensunterhalt hinzugeben. Der Tempel nimmt den Armen noch das Nötigste, den Reichen aber nur von ihrem Überfluss (diese Auslegung nach Füssel/Füssel aaO. 213-215). Die Situation ist so zugespitzt, dass Jesus nicht mehr sicher sein kann, ob er noch länger mit der vollen Solidarität aller Jünger rechnen kann, vgl. Mk 14,10f. 17-21: Der Verrat des Judas. 14 Jesus ist in die volle Opposition zum religiösen und gesellschaftlichen Establishment gegangen. Eine Verständigung war nicht mehr möglich. Dazu war ein Eingreifen der Römer wegen der Auseinandersetzungen um den Tempel jederzeit möglich; Jesus brachte das ganze Volk in Gefahr. Die Bemerkung des Hohepriesters im JohEv (11,50) ist durchaus realistisch: "Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.". In dieser Situation tut Jesus nur noch eines: Er feiert mit seinen Jüngern das Mahl, Mk 14,22-25. Vom großen Hochzeitsmahl als der Wirklichkeit des Reiches Gottes hatte er ja immer wieder gesprochen. Nun verknüpft er beim Mahle ausdrücklich die eigene Hingabe (das Blut, das ausgegossene) mit dem kommenden Tag des Königtums Gottes. Darin liegt kein Opfergedanke, sondern Jesus gibt der Gewissheit Ausdruck, dass Gott auf seinen – Jesu – Tod hin endgültig eingreifen und kommen wird. "Dies ist mein Blut des Bundes, das ausgegossene für viele. Amen, ich sage euch: Nicht mehr trinke ich aus dem Ertrag des Weinstocks bis zu jenem Tag, wann ich ihn trinke neu im Königtum Gottes." Jesus setzt darauf, dass Gott ihn erwecken wird. Dann wird er vorangehen nach Galiläa (Mk 14,28 – dann wird das wahr werden, was in Galiläa begonnen hatte). Was aber geschieht? Die Jünger wachen nicht mit ihm in Gethsemane. Während er sich entschließt, den Weg zu gehen bis zum Ende, ist er von ihnen allein gelassen. Jesus wird von einem seiner Jünger verraten. Es wird ihm der Prozess vor dem Hohepriester gemacht (mit falschen Zeugen!). Petrus verleugnet ihn. Pilatus gibt der aufgehetzten Volksmenge nach, obwohl er weiß, dass Jesus unschuldig ist. Barabbas wird freigelassen, Jesus nicht. Hätte das nicht die Wende sein können: Das Volk befreit Jesus aus den Fängen der Mächtigen?! Den es aber befreit, ist der Aufrührer Barabbas – das heißt: Sohn des Vaters... Barabbas, die andere Möglichkeit Jesu. Er wird verspottet von den Soldaten. Er wird gekreuzigt. Die Vorübergehenden lästern ihn, sowohl das einfache Jerusalemer Volk (Mk 15,29f: weil er sich gegen den Tempel gewandt hatte) wie auch die Priester und Schriftgelehrten (15,31f: weil er sich für den Christus hielt). Auch die Mitgekreuzigten schmähten ihn. Finsternis wurde. Jesus schrie mit lauter Stimme nach dem Gott, der ihn verlassen hatte, und hauchte mit einem lauten Schrei seinen Geist aus. Gott hatte nicht eingegriffen. Das Gottesreich war nicht gekommen. Das Mk-Ev endet mit dieser Enttäuschung Jesu. 5) Die Erfahrung der Auferstehung zu diesem Abschnitt Limbeck 96-110 Folgen wir Limbeck noch einen letzten Schritt: in seiner Deutung der Auferstehung. Er fragt, unbeschadet der Auffassung, dass die Auferstehung ein Geschehen von Gott her ist und darum nicht weltlichen Maßstäben unterworfen sein kann, nach den subjektiven Voraussetzungen der Ostererfahrung. Im Neuen Testament sind folgende Beobachtungen zu machen: Paulus berichtet dezidiert von eigenen Erfahrungen mit dem Auferstandenen. Er hat den Herrn gesehen (1Kor 9,1), Christus ist ihm erschienen (1Kor 15,8). Woher aber wusste Paulus, dass es der 'Herr', dass es 'Christus' war? Hier liegt ja offenbar eine innere Erfahrung und Gewissheit vor, wie es Paulus auch bezeugt, wenn er sagt, dass es Gott gefiel, seinen Sohn "in mir" zu offenbaren (Gal 1,15), dass die Erkenntnis des göttlichen Glanzes aufstrahlt "in unseren Herzen" (2Kor 4,6). Ferner ist bei Paulus sehr bemerkenswert: Er versteht sein Christsein als ein mit-Christus-gestorben-sein und ein mitihm-auferweckt-sein (Gal 2,19f; Gal 5,24; Gal 6,14; Röm 6,3-8). Die Ostererfahrung ist bei unlöslich verbunden mit dem Erlebnis seines eigenen Todes. Das ist im Neuen Testament singulär. In den Evangelien zeigt sich: Die ersten Auferstehungszeugen sind Frauen, und ihnen begegnet immer zunächst ein Engel, um die Auferweckung Jesu zu verkünden (Mk 16,5; Mt 28,1.5; Lk 14,4,23; Joh 20,12). Den Männern aber begegnet kein Engel, sondern gleich der Auferstandene selbst. 15 Das MkEv überliefert an seinem ursprünglichen Schluss das Ostererlebnis der Frauen und endet dann so: "Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sei sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich sehr." Sie fürchten sich also so, dass sie niemandem davon berichten. Hat Markus nicht empfunden, wie "unbefriedigend" ein solches Ende seines Evangelium ist? Warum sollte er es also erfunden haben? Dazu ist auffällig: Ab einem bestimmten Zeitpunkt hören die Ostererscheinungen auf. Dieser Zeitpunkt scheint schon vor Paulus erreicht worden zu sein, vgl. 1Kor 15,3-8 (Apg 1,3 spricht von 40 Tagen, während derer Jesus den Seinen erschienen ist). Warum gingen die Erscheinungen nicht weiter? Deutung der Ostererfahrung als Überwindung von Nahtoderfahrungen Limbeck kann die genannten Phänomene gut deuten, wenn er sie auf sog. Nahtoderlebnisse bezieht. Er beruft sich auf eine großangelegte Untersuchung im Rahmen eines Forschungsprojekts unter der Leitung von Prof. Dr. Hubert Knoblauch. Darin zeigt sich: Etwa 4,5% der Bevölkerung haben sog. Nahtoderlebnisse, d.h. den Eindruck jenseits der Grenzen des Lebens gestanden und Kontakt mit einer transzendenten Wirklichkeit bekommen zu haben. Die Verteilung dieser Erlebnisse ist unabhängig von Bildung, Religion und sozialer Gruppe. Und diese Erlebnisse stellen sich auch ein unabhängig von körperlichen Todeserlebnissen, also von lebensgefährlichen Zuständen. Typisch für alle diese Erlebnisse sind drei Elemente: 1. das Gefühl, schockartig dem eigenen Tod gegenüberzustehen; 2. eine besonders angespannte Lage, physischer und/oder psychischer Stress, 3. die völlig unterschiedliche inhaltliche Verarbeitung dieser Erlebnisse, die offenbar von kulturellen Mustern und Bildern bestimmt ist. Dazu ist noch zu bemerken: Menschen wagen oft nicht, von diesen Erfahrungen zu sprechen, bevor dies im öffentlichen Bewusstsein akzeptiert ist. Für die Deutung der Ostererfahrungen lässt sich nunmehr sagen: – Der Tod Jesu brachte für die Jüngerinnen und Jünger eine Art Nahtoderlebnis. Ihre letzte prägende Erinnerung an ihn war ja das Abendmahl gewesen. Dort hatte er ihnen noch einmal seine ganz besondere Nähe zugesagt ("Nehmt, dies ist mein Leib"), und er hatte auf die bevorstehende herrliche Zukunft, die Ankunft des Reiches Gottes, hingewiesen ("Ich werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken..."). Die Gemeinschaft um Jesus hatte dort ihre höchste Intensität erreicht, und sie war auf Zukunft hin angelegt. Der Tod Jesu musste deshalb für die Jüngerinnen und Jünger einen Schock bedeuten – er hatte sie selbst in die Nähe des Todes gebracht. – Bei den Frauen am Grab stellte sich zuerst die innere Erkenntnis ein: Dieser Jesus lebt, und er wird sich ihnen dort zeigen, wo sie früher glücklich miteinander waren, in Galiläa. Es war der Engel, der himmlische Bote, der ihnen dieses Undenkbare denkbar gemacht hatte. Auf ihn beriefen sie sich, als sie (dann doch – denn sonst hätte es ja nicht berichtet werden können) davon erzählten. – Nachdem aber die Frauen davon erzählt hatten, nachdem also in der Öffentlichkeit des Jesus-Kreises davon gesprochen werden konnte, erfuhren auch die Männer die Gegenwart des Auferstandenen. Für die Verarbeitung ihres Nahtoderlebnisses standen den jüdischen Frauen und Männern biblische Deutungsangebote zur Verfügung. Der Engel steht für die Gegenwart der todüberwindenden Lebensmacht Gottes (vgl. nur Gen 22: Der Engel rettet Isaak auf dem Opferaltar; Ex 23,20: Der Engel schützt Israel vor den Völkern; 1Kön 19: Ein Engel rettet den zu Tode erschöpften Elia). Der dritte Tag ist biblisch der Tag, an dem Gott wieder neu zum Leben aufrichtet (vgl. Gen 22: Isaak wird am dritten Tag gerettet; Gen 42,18: Josef entlässt seine Brüder am dritten Tag aus der Gefangenschaft; Ex 19: Gott schließt mit Israel am dritten Tag einen Bund; Jona 2: der Fisch speit Jona am dritten Tag an Land; Hos 6,2: "Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück, am dritten Tag richtet er uns wieder auf, und wir leben vor seinem Angesicht."). - Die Ostererscheinungen ereignen sich in einer begrenzten Zeit – in jener Zeit, in der die Jüngerinnen und Jünger in einer besonders intensiven psychischen Anspannung standen. Bei Paulus ist wie gesagt das Erlebnis des Auferstandenen mit der Erfahrung des eigenen Sterbens und Neuwerdens verbunden. Er erfuhr, dass der Gekreuzigte der Auferstandene ist, oder anders: dass das, was für ihn ganz negativ, ja von Gott her verflucht war – das Gekreuzigtsein (vgl. Gal 3,13 mit dem Zitat Dtn 21,23) – nun das ganz Positive, der Inbegriff des rechten Lebens vor Gott oder der letzte Ausdruck der göttlichen Liebe geworden war. Er, 16 Paulus, der die Christen verfolgt hatte, weil er um die Reinheit des Glaubens kämpfte, er wechselte nun ganz auf die andere Seite, zu Jesus und den Christen, über. In der Begegnung mit dem Auferstanden (mit dem Gekreuzigten als Auferstandenen!) war er selbst als der, der er war, gestorben, und dann zu einem neuen Leben gelangt. Aus Saulus wurde Paulus (Apg 9). Man kann noch, über Limbeck hinaus, in diese Richtung weiter überlegen. Saulus/Paulus war ein gebildeter Jude aus Tarsus, ein Bürger der römischen Reiches. Ein Intellektueller, der dennoch "eiferte für die Überlieferungen der Väter über die Maßen" (Gal 1,14). Die Frage, ob man als Jude die Tora einhalten muss, war offensichtlich sein Hauptproblem, und dies ist verständlich, lebte er doch unter Nichtjuden, in der Diaspora, wo Gesetzesobservanz gerade unter Gebildeten etwas Befremdliches und Peinliches an sich haben musste. Paulus aber steigert sich in den Eifer für das Gesetz hinein, er zwingt sich, so zu leben, wie er es im Grunde eigentlich gar nicht will. Und kommt schließlich so weit, für die Wahrheit seines Glaubens Blut fließen zu lassen ("Und als das Blut deines Zeugen Stephanus vergossen wurde, stand ich mit Wohlgefallen dabei und verwahrte die Kleider seiner Mörder", Apg 22,20). In welchen Spannungen und Widersprüchen lebte dieser Mensch! Und da erlebt er nun, wie ihm der Gekreuzigte – und für ihn verband sich damit immer die Interpretation des Stephanus, d.h. eine Form der Glaubens, die sich von der strengen Bindung an das Gesetz gelöst hatte – erscheint und ihn fragt: Warum verfolgst du mich? Des Paulus Leben mit all seinen Widersprüchen bricht hier zusammen, eine Umwertung aller seiner Werte vollzieht sich. Er war mit Jesus dem Gekreuzigten gestorben und dann mit ihm zu neuen Leben erweckt. Heißt das alles aber nun, so Limbeck, dass die Auferstehung nur eine Einbildung, ein innerpsychischer Vorgang war? Dass also Jesus nicht wirklich auferstanden ist und nicht wirklich sitzet zur Rechten des Vaters? Dazu ist aber mit Paulus selbst nur zu sagen: Über die Gestalt des Auferstandenen, über sein Leben in der anderen Welt, können wir nichts sagen, denn das ist etwas, was sich unserer Welt entzieht. Vgl. 1Kor 16,35-50: "...Gesät wird in Verweslichkeit, erweckt wird in Unverweslichkeit". Über die Realität dieses anderen Lebens können wir nichts sagen, wir können nur fragen nach der psychischen Realität derer, die die Ostererfahrungen erleben und bezeugen. (Allerdings kann man nicht verkennen, dass im Duktus von Limbecks Ausführungen eine rein psychologische Deutung der Auferstehung das plausibelste ist.) III. Jesus in der Welt der Schriften 1) Die Ausgangslage Jesus hatte die Botschaft von der kommenden Königsherrschaft Gottes verkündet. Er hatte erlebt, wie sie durch ihn, durch das, was er tat, bereits hier und da Wirklichkeit wurde. Seine Botschaft trieb ihn in eine Konfrontation mit den herrschenden Instanzen des Judentums, vor allem mit der Institution des Tempels. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er in der Auseinandersetzung mit den führenden Kreisen Jerusalems einen Erweis von Gottes Seite zu seinen Gunsten, d.h. zu Gunsten seiner Botschaft, erwartete. Aber das hat er nicht mehr erlebt. Sein Leben endete mit einem Scheitern. Aus welchen Gründen auch immer: Einige seiner Jüngerinnen und Jünger waren von der Gewissheit erfüllt, dass Jesus lebt. Dass das Kreuz nicht sein Ende war. Und damit auch seine Botschaft nicht widerlegt war. Indem sie an Jesus festhielten, standen sie vor der Aufgabe, sein Ende am Kreuz so zu interpretieren, dass es keinen Widerspruch darstellte zu seiner Botschaft. Ja noch mehr: dass sich in dem, was bei seinem Leiden und bei seinem Kreuzestod geschah, seine Botschaft vom Gottesreich gerade bewahrheitete. Denn das waren sie ja von seinem Leben her gewohnt: dass sich durch sein Tun das realisierte, was er sagte. Auf dieser Linie musste auch das Geschehen des Kreuzes zu deuten sein. An dieser Stelle ein letzter Blick auf den Ansatz von Meinrad Limbeck, dem wir bisher soviel verdanken. Limbeck (vgl. dazu 111-116) sieht die Bedeutung Jesu darin, dass er mit seinem Leben ein Modell darstellt für gutes und glückliches Leben. Dieses Modell besteht darin, den "verborgenen Reichtum des gegenwärtigen Lebens" (115) zu entdecken. Jesus lebte ganz aus den "Möglichkeiten und den Notwendigkeiten des jeweiligen Augenblicks" (112). Die "verinnerlichte Wahrnehmung jener transzendenten Wirklichkeit" hatte ihn dazu befähigt "zu erkennen, dass sein gegenwärtiges Leben schon heute seiner Anlage nach zu jener positiven Gestaltung fähig ist, zu der das menschliche Leben 17 insgesamt unterwegs ist" – oder eben in der Sprache Jesu ausgedrückt: "dass das Reich Gottes da ist (Mk 1,16)" (112). Auf dieses Modell Jesu kann sich jeder Mensch einlassen – aber niemand muss es! Es ist eine Einladung, über die man nicht diskutieren kann, kein Zwang. Man kann es nur mit ihr ausprobieren, indem man versucht, so zu leben, wie Jesus gelebt hat. Indem man wie Jesus auf das Evangelium vertraut. Jesus hat eine Spur gelegt, der Menschen folgen können. Seine Bedeutung liegt darin, diese Spur gelegt zu haben und diese Erfahrung eröffnet zu haben. Hätte es ihn nicht gegeben, dann "kämen viele vielleicht gar nicht einmal auf die Idee, es zumindest einmal zu versuchen, ihre Gegenwart und ihr Leben im Licht jener zukünftigen, geschenkten Vollendung zu sehen. Und wie leicht geschieht es dann, nicht wahrzunehmen, dass eine positive, verbindende und aufbauende Gestaltung aufgrund der jeweiligen Anlagen tatsächlich möglich wäre" (112). Gegen eine Botschaft nach dem Motto "Positiv denken" sieht Limbeck seinen Modellgedanken durch zwei Elemente abgesichert: Zum einen hat Jesus nicht allen, die ihm nachfolgen, Erfolg verheißen; es ist vielmehr wie mit dem Sämann, der ausgeht um zu säen: Einiges fällt auf steinigen Boden... (Mk 4). Von daher gibt es damals wie heute gute Gründe, sich nicht auf den Weg Jesu einzulassen. Zum anderen stellt Jesus an die, die seinen Weg gehen wollen, hohe Anforderungen: Vater und Mutter verlassen und hassen, auch sein eigenes Leben hassen, sein Kreuz nehmen, allen Gütern entsagen (Lk 14,26-33) – kurz: allen jene Sicherheiten und Gewohnheiten ausschlagen, die normalerweise ein Leben ausmachen. Man muss bereit sein, mit allem zu brechen, was davon abhalten will, den eingeschlagenen Weg zu gehen. Zusammenfassend ist zu sehen: Limbeck tut genau das nicht, was die urchristliche Theologie (vor der gleich die Rede sein wird) tun wird: er hat das Leben Jesu nicht im Blick auf sein Ende, auf das Kreuz, gedeutet. Er lässt noch einmal den "galiläischen Frühling" mit seinen verheißungsvollen Möglichkeiten lebendig werden, allenfalls etwas überschattet von den späteren Erfahrungen im Leben Jesu. Aber dass der Verkünder der Botschaft vom nahegekommenen Gottesreich nun gerade eben nicht Umkehr und Vertrauen auf das Evangelium bewirkt hat, sondern Widerstand, der schließlich zu seine Kreuzigung führte, das kann doch beim Blick vom Ende her nicht übersehen werden. Wem kann ich denn die "Idee" vom verborgenen Reichtum des gegenwärtigen Lebens und seiner Anlage zur zukünftigen Vollendung im Ernst verkünden, wenn doch der Urheber dieser Idee so erbärmlich und einsam gescheitert ist? Mit anderen Worten: Limbeck hat überhaupt kein Verständnis für die Realität des Bösen in der Welt (wie immer man das ausdeuten mag), und damit auch kein Verständnis für die Macht der Sünde, die Menschen dazu bringt, den "verborgenen Reichtum des Lebens" zu verspielen und an den Tod auszuliefern, und damit hat es letzten Endes auch kein Verständnis für Gott, der für ihn, Limbeck, zu einer gesichtslosen "transzendenten Wirklichkeit" wird. Und weil er kein Verständnis für Gott hat, gerät ihm die Botschaft Jesu nun doch zu einem Programm nach der Art von "Think positiv", "Lebe jetzt!", "Entdecke deinen inneren Reichtum" etc. Solche Programm gibt es aber schon genug, und sie haben nichts beigetragen zur Erlösung der Welt von dem Bösen. Die Menschen, die an Jesus auch nach seinem Tod festhielten und seine Auferstehung bezeugten, hielten also daran fest, dass sein Evangelium weiterhin gültig war. Dieses lautete ja: Die Zeit ist erfüllt. Nahegekommen ist das Königtum Gottes Kehrt um und glaubt an das Evangelium (Mk 1,15). Wie nahm sich nun diese Botschaft im Lichte von Jesu Kreuz aus, wenn man im Lichte des Glaubens an seine Auferstehung davon ausging, dass das Kreuz nicht sein Ende war, sondern seine Botschaft gerade bewahrheitete? Dann musste es möglich sein, seine Botschaft gerade auf ihn selbst zu beziehen. Wir wollen zunächst einmal ganz grob die Perspektiven andeuten, die sich für die jungen Christen jetzt ergeben. Die Zeit ist erfüllt Jesus hatte gemeint: die Zeit ist reif, Gott wird sehr bald eingreifen. Jetzt konnte man verstehen: Gott hat schon eingegriffen, und zwar mit Jesus selbst. In ihm selbst ist die Erfüllung der Zeiten eingetreten. Sein Tod am Kreuz ist (im Lichte der Auferstehung!) das Eingreifen Gottes in die Geschichte. Wie immer auch Jesus zum Gericht Gottes gestanden hatte (s. dazu oben II,3) – mit der Tatsache des Kreuzes war die immer mit dem Kommen Gottes verbundene Erwartung des Gerichts auf unabwendbare Weise aktualisiert. Gott hatte Jesus Recht gegeben. Das Kreuz ist das Gericht – nicht einfach als Verurteilung derer, die Jesus gekreuzigt hatten, aber doch 18 so, dass damit Gottes Urteil über die Menschen gesprochen war. Wenn Gott sich zu diesem Gekreuzigten bekennt, dann kann man daran erkennen, wie er überhaupt zur Welt, zu Opfern und Tätern, zu Starken und Schwachen steht. Und nun konnte man auch denken, dass mit Jesus das Gericht kommt und er selbst der Richter ist. Nahegekommen ist das Reich Gottes Jesus erwartete, dass Gottes Reich sehr bald kommen würde. Jetzt konnte man sagen: Es ist bereits gekommen, und zwar in Jesus selbst. Reich Gottes, das heißt ja (s.o. II,2): Rettendes Eingreifen Gottes zugunsten seines Volkes – ein gerechtes und gutes Gesetz – ein Geschenk, denn Gott gibt auch noch die Kraft, dieses gute Gesetz entgegen den Kräften der Sünde zu halten. Jetzt musste gedacht werden können, wie all dies in Kreuz und Auferstehung in Erfüllung gegangen ist. Gott hatte den Verlorenen, den den Mächten des Bösen Preisgegebenen gerettet – er hatte das Gesetz, das Jesus in Wort und Tat gelehrt und gelebt hatte, d.h. gerade auch seine Bereitschaft, sich selbst für die Wahrheit von Gottes Reich hinzugeben, ins Recht gesetzt – Gott hat im Festhalten der Gemeinschaft mit Jesus die Kraft gegeben, nach diesem Gesetz zu leben. Kehrt um – Von Johannes dem Täufer und der ganzen Tradition her war die Umkehr mit dem Nachlass von Schuld und Sünden verbunden. Jesus hatte so gepredigt, dass Menschen trotz ihrer Schuld neu anfangen können, das Richtige zu tun. Wenn er nun selbst ans Kreuz geraten war, dann war die Macht von Schuld und Sünde ja offenbar doch immer noch stark genug gewesen, um das zu bewirken – die Vergangenheit (etwa in Gestalt der machtbewussten Jerusalemer Institutionen) hatte Jesus eingeholt. Wenn aber die Botschaft von der Umkehr, das heißt von der Vergebung der Sünden, wahr sein sollte, dann musste nun gedacht werden können, dass sich die Vergebung der Sünden am Kreuz selbst vollzieht, und von da aus dann Umkehr möglich ist. Jesus ist also gestorben "für unsere Sünden" (1Kor 15,3); und hier konnten sich alle die Motive vom Gottesknecht, vom geopferten Lamm, von der stellvertretenden Sühne usw. anlagern. glaubt an das Evangelium – Der Glaube an das Evangelium (nämlich dass die Zeit erfüllt und das Gottesreich nah, die Schuld vergeben ist) ist nun nichts anderes mehr als der Glaube an Jesus selbst, denn er selbst stand ja nun in Person und Geschick für dieses Evangelium ein. An Jesus zu glauben, das war nun eigentlich dasselbe wie an sein Evangelium zu glauben. Das aber bedeutete wiederum, dass der Glaube an ihn die Zugangsbedingung zum Reich Gottes war – und nichts sonst. Damit war das Thema "Heidenmission" gegeben: Wer wollte den Völkern jetzt noch verwehren, zu jenem Reich Zugang zu haben, wenn die Bedingung dafür nur der Glaube an Jesus war. Schon dieser erste grobe Überblick zeigt: Der nachösterliche Glaube unterscheidet sich erheblich von der vorösterlichen Verkündigung Jesu. Aber nach dem Kreuz wäre ohne diese Veränderungen die Kontinuität mit Jesus nicht zu wahren gewesen. Ein bloßes Festhalten an der vorösterlichen Verkündigung (in der Art, wie Limbeck das versucht) hätte gerade bedeutet, sie aufzugeben, denn sie war durch den Tod Jesu widerlegt. 2) Jesus im biblischen Wirklichkeitsverständnis Wie konnte es zu einer solchen Deutung Jesu kommen? Woher kam die Möglichkeit, in diesem Gescheiterten das zu sehen, was er für den Glauben bedeutet? Die Antwort ist: Durch die Schriften! Indem Jesus im Horizont der Schriften Israels verstanden wurde, wurde er zu dem, was er für die Glaubenden ist. Was hieß damals "Schriften"? Darunter sind alle Schriften des Alten Testaments zu verstehen, obwohl sie damals noch nicht kanonisiert waren. Auch eine Reihe von Schriften auf der Zeit zwischen den Testamenten konnte dazu gezählt werden. Die Tora, die fünf Bücher Mose, hatte aber schon kanonische Geltung, dazu auch, der Tora untergeordnet, die Prophetenschriften und einige von den Weisheitsschriften. Die zwischentestamentlichen Schriften sind zum großen Teil Auslegungen dieser älteren Schriften, oder sie setzen sie pseudoepigraphisch voraus. 19 Die Jüngerinnen und Jünger überwanden die Sprachlosigkeit nach Jesu Tod und Auferstehung nur durch die Schriften. Die Schriften gaben ihnen die Sprache und die Deutungsmöglichkeiten für das, was geschehen war. Einige Belege dazu: • Apg 17,11: Paulus und Silas kommen von Thessalonich, das sie wegen Konflikten mit den Juden verlassen mussten, nach Beröa. Von den Juden dort heißt es: "Diese waren freundlicher als die in Thessalonich; sie nahmen das Wort bereitwillig auf und forschten täglich in der Schrift, ob sich's so verhielte." Man forscht in der Schrift, um zu erkennen, wie sich etwas wirklich verhält:" Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten des jüdischen Denkens, dass sich die Realität nicht an den Naturgesetzen, sondern an der Tora ablesen lässt. Vgl. dazu J. TAUBES, VOM KULT ZUR K ULTUR, MÜNCHEN 1996, 44; A. STEINSALTZ, TALMUD FÜR JEDERMANN, BASEL/ZÜRICH 1995, 18f. Dieses jüdische Realitätsverständnis können wir für die Zeit Jesu ungebrochen voraussetzen. – Frage: Woran messen wir heute, was 'wirklich" ist? • • • • • Joh 7,52: Der Pharisäer Nikodemus erhebt im Rat der Pharisäer und Priester seine Stimme zugunsten Jesu. "Sie antworteten und sagten ihm: Bist du auch ein Galiäer? Forsche und sieh: Aus Galiäa steht kein Prophet auf." – Sie forschen nach, und sie täuschen sich. Es ist also jeweils erst zu klären, was in der Schrift steht. Das gilt auch für die Schriftzeugnisse, die auf Jesus bezogen werden. Lk 24,25-27: Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus erzählen dem Fremden die Ereignisse um Jesus in Jerusalem. Dieser (der sich später als Jesus herausstellt) sagt ihnen: "Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seiner Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht." – Hier erfahren wir zweierlei: 1. Jesu Schicksal, gerade auch sein Tod, wird von der Schrift her verständlich. Aus der Schrift ist zu ersehen, dass das alles so geschehen musste. Die Schrift gibt die innere Logik und Folgerichtigkeit des Geschehens an. 2. Jesus verhilft dazu, die Schrift zu verstehen und ihr zu glauben. Jetzt kann man glauben, was die Propheten gesagt haben. – Die Schrift und Jesus interpretieren sich gegenseitig. Lk 22,44-46: Jesus erscheint den Jüngern in Jerusalem. Sie erschrecken. "Er sprach aber zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich bei euch war: 'Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen'. Da öffnete er ihnen das Verständnis, so dass sie die Schrift verstanden, und sprach zu ihnen: So steht's geschrieben, dass Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage." Die Schrift ist die Klammer, die Brücke über den Tod Jesu hinweg. Sie steht für die Kontinuität zwischen dem Verkündiger und dem Verkündigten, sie macht seine vorösterlichen Worte nachösterlich verständlich. Apg 8,26-40: Philippus erklärt dem äthiopischen Kämmerer die Schrift. Und zwar die Stelle Jes 53,7: "Wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen zählen? Denn sein Leben wird von der Erde fortgenommen." Der Äthiopier fragt: "Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?" – Philippus aber tat seinen Mund auf und find mit diesem Wort der Schrift an und predigte ihm das Evangelium vom Jesus." – Wieder sehen wir: Die Schrift und Jesus interpretieren sich gegenseitig. Das Wort aus Jesaja vom Gottesknecht deutet für Philippus zweifellos Jesu Passion und Auferstehung bzw. Himmelfahrt (vielleicht waren es solche Zufälle wie die Begegnung mit dem Äthiopier, die die Christen auf diese Stellen brachten). Umgekehrt wird aber auch das dunkle Prophetenwort durch Jesus gedeutet: von ihm ist es also gesagt! 1Kor 15,3-5. Paulus gibt weiter, was er empfangen hat: "Christus ist für unsere Sünden gestorben gemäß der Schrift und ist begraben worden Er ist am dritten Tage auferweckt worden gemäß der Schrift und erschien dem Kephas, danach den Zwölf" 20 Dies ist offenbar formelhaft in der frühen Gemeinde. Sowohl das Sterben wie auch die Auferstehung sind nur wirklich und sind nur zu begreifen gemäß der Schrift. Es ist "Tatsache" innerhalb des Wirklichkeitsverständnisses der Heiligen Schrift. Anmerkung zum Begriff "biblisches Wirklichkeitsverständnis". Dieser Begriff stammt von F.-W. Marquardt und setzt voraus, dass es verschiedene Wirklichkeitsverständnisse gibt. Oder anders: Was wirklich ist, wird immer nur in bestimmten Verständnissen vo n Wirklichkeit erschlossen. Es gibt nicht "die" Wirklichkeit, es gibt nur verschiedene Konstruktionen von Wirklichkeit (systemtheoretisch gesprochen: Jedes beobachtende System beruht auf einer bestimmten System-UmweltUnterscheidung, und es beobachtet als Welt oder Wirklichkeit das, was von seiner Unterscheidung aus als Umwelt übrigbleibt). – Das biblische Wirklichkeitsverständnis kann man nicht einfach beschreiben (obwohl es Versuche gibt), man kann es nur über die Länge der Schriften kennenlernen. Für unsere Zwecke genügt es zu sagen: das biblische Wirklichkeitsverständnis ergibt sich aus den biblischen Geschichten, Gesetzes-, Gebets- und Weisheitstexten. Die Auferstehung ist also ein Ereignis in der Welt der Schriften. Sie ist ein Ereignis gemäß dem Wirklichkeitsverständnis der Schriften. In der Welt der Schriften findet Auferstehung statt, und das bedeutet, dass dort der Tod nicht das letzte Wort hat. Der Tod ist dort nicht die letzte Wirklichkeit, das Ende allen Dasein, wie es in sonst in unserer bekannten Welt, in der Welt, die sich durch unsere Erfahrung erschließt, der Fall ist. Darum ist die Welt, in die die Schriften führen, so unendlich attraktiv, weil dort der Tod bereits überwunden ist. Die Frage ist aber: Wie verhält sich die Welt der Schriften zu der Welt, in der wir normalerweise leben? Zu der Welt also, in der nach Ausweis aller Erfahrung der Tod die letzte bestimmende Wirklichkeit ist? Ist die Welt der Schriften nur so etwas wie die Welt Harry Potters? Das Neue Testament selbst besteht darauf, dass die Welt der Schriften mit der geschichtliche Welt der Erfahrung zusammenstößt. Deswegen heißt es: "Es geschah aber in jenen Tagen, da ausging eine Anordnung vom Kaiser Augustus..." (Lk 2,1) "Im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius aber, als Pontius Pilatus die Judaia regierte ... geschah das Wort an Johannes, den Sohn des Zachäus..." (Lk 3,1-2) Diese Ereignisse der Schrift sind also auch Ereignisse in der anderen Welt. Sehr deutlich ist das auch in der zitierten Formel des Paulus 1Kor 15,3-5: "Christus ist für unsere Sünden gestorben das ist gemäß der Schrift und ist begraben worden das ist Tatsache in der geschichtlichen Welt Er ist am dritten Tage auferweckt worden das ist gemäß der Schrift und erschien dem Kephas, danach den Zwölf das ist Tatsache Die Hoffnung derer aus der Welt der Schriften, die Hoffnung der Gläubigen geht nun dahin, dass die (todüberwindende!) Wirklichkeit der Welt der Schriften auch Wirklichkeit werde in der Welt unserer Erfahrung! Diese Hoffnung ist es, die die Adventszeit belebt: Gott kommt in unserer Welt an. Er tritt aus der Welt der Schriften heraus und findet hinein in unsere Welt. Es ist klar, dass das immer wieder aufs Neue geschehen muss. Deswegen begehen wir jedes Jahr den Advent, und feiern dann an Weihnachten, dass Jesus wirklich in unserer Welt geboren wird. Das Adventslied "Macht hoch die Tür" drückt es so aus, dass Jesus "ein König aller Königreich [des Reichs der Schrift und aller anderen Reiche], ein Heiland aller Welt zugleich" werden soll: Der "Herr der Herrlichkeit" kommt in unsere Welt und bringt "Heil und Leben mit sich". Das ist Grund zum Jauchzen und zum Dank an Gott den Schöpfer. (Das Lied hält sich bis dahin an Ps 24.) Die zweite Strophe bringt nun nach Sacharja 9,9 die Zeichen, an denen man den König der Herrlichkeit in dieser Welt erkennt, wenn er kommt: Er ist gerecht – er hilft – Sanftmütigkeit ist sein Gefährt – Barmherzigkeit sein Zepter – er bringt all unsere Not zu Ende. – Darauf richtet sich die Hoffnung im Advent. (Und es ist bezeichnend, dass die Kultur der Weihnachtsmärkte uns gerade um diese Erwartung betrügt, und suggeriert, die schöne Warenwelt sei schon die Herrlichkeit. Dürfen Christen auf Weihnachtsmärkte gehen?) Fragen wir nun genauer, was geschieht, wenn uns Jesus in der Welt der Schriften begegnet. Zum Folgenden: F.-W. MARQUARDT, DAS CHRISTLICHE BEKENNTNIS ZU JESUS , DEM JUDEN. E INE CHRISTOLOGIE B D. 1, 140-171 Das erste ist: Jesus wird verständlich im (wie Marquardt es nennt) "hebräischen Idiom". Das heißt, in der spezifischen Art, wie im Hebräischen überhaupt Wirklichkeit zur Sprache 21 kommt. Und hier gilt das Prinzip: Verben statt Hilfsverben! Vor allem das Hilfsverb "sein" fehlt im Hebräischen. Es bezeichnet einen Zustand. Das Hebräische kennt aber praktisch keine "ontischen" Zustände, sondern statt dessen Handlungen, Tätigkeiten, Geschehen. Marquardt gibt das Beispiel Gen 1,4b: "Und Gott sah das Licht, dass es gut 'war'. Das 'war' steht aber nicht da, sondern nur: ki tov – dass gut. Und was könnte nun folgen: war – ist – tut? Das Hebräische lässt das offen, und es ist, als hörte man den Vorgang, als Gott rief: Licht – gut! –Oder als ein anderes Beispiel das berühmte Schm'a Israel von Dtn 6,4: Höre Israel, Jahwe, unser Gott, [ist] der einzige. Auch hier wird im Hebräischen aus einer Tatsachenbeschreibung ('Es gibt nur einen Gott') ein Ausruf, in den man einstimmen kann oder dem man widersprechen kann. Im Hebräischen Satzbau steht immer das Verb voran! Und nicht, wie im Lateinischen oder Deutschen, das Subjekt. Diese Sprachen denken subjektzentriert, das Hebräische tätigkeitszentriert. Dort wird zuerst gesagt, was geschieht, und nicht, wer etwas gemacht hat. Im Deutschen steht ja meistens das Verb an letzter Stelle. Will man hebräisches Idiom ins Deutsche übersetzen, bleibt fast nur (wie im Münchener Neuen Testament) das "Es geschah:..", oder "Es sah Gott...". Immerhin hat sich in der lateinischen Bezeichnung für Tätigkeitswörter als Verben doch die Einsicht bewahrt, dass ein Wort (verbum) eigentlich und zuerst eine Tätigkeit beschreibt. Diese Beobachtungen zum Hebräischen Idiom sind bereits sehr wichtig. Jesus wird in der Welt der Schriften im Rahmen von Tätigkeiten, Geschehnissen, Handlungen überliefert. Die Zeit, die er füllt, ist erfüllt von Bewegung – zuletzt der Bewegung Gottes zu den Menschen. Er wird nicht de-finiert, nicht fest-gestellt. Christologisch soll man in diesem Sinne nicht sagen: Jesus ist..., sondern: Und es geschah. Man soll nicht zuerst von seiner Person und dann von seinem Werk reden. Das Zweite ist: Wenn Jesus im Neuen Testament mit traditionellen Bezeichnungen wie Sohn Gottes, Menschensohn, Herr (Kyrios), Sohn Davids, Messias/Christus bedacht wird, dann ist das nicht so zu verstehen, als würden ihm diese Hoheitstitel (so hat sich die Exegese meistens ausgedrückt) beigelegt, um damit seine Identität zu bezeichnen. Die Exegese ist dann auch meistens bei dem Versuch, den genauen Aussagegehalt dieser Titel zu eruieren, zu dem Ergebnis gekommen, dass das mit diesen Namen Überlieferte nicht genau auf Jesus passt. Diese Namen oder Titel liegen nicht bereit, um auf Jesus übertragen zu werden. Jesus wird durch diese Namen nicht definiert. Der Vorgang ist vielmehr folgender: Sein Auftreten, sein Geschick weckt Erinnerungen an vergangene Gestalten und ihre Namen, ihre Geschichten. Jesus ruft diese Erinnerungen wach in Verbindung mit den Hoffnungen, die mit diesen Namen verbunden waren. Damit ist nicht gesagt, dass Jesus diese Hoffnungen auch schon erfüllt (ein Schema Verheißung-Erfüllung greift hier einfach zu kurz). Wohl aber, dass sie als Hoffnungen und Erwartungen wieder lebendig werden. Die Grundhaltung Jesus gegenüber, die sich in diesen Benennungen ausdrückt, ist doch wohl diese: "Bist du es, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?" (Mt 11,3; vgl. auch Mk 8,27-29, wo deutlich wird, welche Hoffnungsgestalten in den Augen der Leute in Jesus wieder lebendig werden). An Jesus brechen alte hoffnungsvolle Überlieferungen wieder auf, und er stellt vor die Frage, ob Gott sie an ihm und durch ihn wohl jetzt bald erfüllen wird. Und der österliche Glaube an ihn, der verkündigt hatte, dass die Zeit erfüllt ist und das Königreich Gottes ganz nahe, bekennt dann: "Die Zeit ist erfüllt!" Ein gutes Beispiel für diese Art der Wiederentdeckung alter Erinnerungen und Hoffnungen an Jesus gibt Paulus in Röm 1,3b-4. Wir lesen "Geboren aus Davids Samen nach dem Fleisch Eingesetzt zum Sohne Gottes in Macht nach dem Geist der Heiligkeit seit der Auferstehung von den Toten: Jesus Christus unser Herr." Eine dogmatisch definierende Auslegung liest hier eine Zwei-Stufen-Christologie heraus: Erst nur Davidide, dann, seit der Auferstehung, auch Sohn Gottes. Im Geschehenssinn aber ist der Vers wohl von hinten nach vorne zu lesen: Die Erfahrung der Auferstehung hat die Erinnerung an den Geist der Heiligkeit wieder wach werden lassen, vom dem Tritojesaja Jes 63,11 im Zusammenhang von Gottes Rettungstat am Schilfmeer sprach; das erweckt wiederum die Erinnerung an die Einsetzung oder Erwählung ganz Israels zum Sohn Gottes – Jesu Oster- und Israels Befreiungsgeschichte rücken ganz eng zusammen. Und von daher wird Jesus jetzt auch als der messianische Davidssohn erkennbar, als der, der das Hoffnungspotenzial der Israelgeschichte wieder freigelegt hat. Dies getan 22 zu haben ist eine messianische Tat! Deswegen wird er als Davidssohn, Messias/Christus und unser Herr angerufen! Daraus folgt dann als Drittes, dass die sog. Schriftbeweise oder Erfüllungszitate keinesfalls die Funktion haben zu beweisen, dass Jesus der ist, der die Schrift erfüllt. Dieser Gedanke, dass Jesus als Messias in den Schriften verheißen ist, und dass er dann diese Verheißungen erfüllt, ist als nicht schriftgemäß aufzugeben. Die Schrift (das Alte Testament) spricht nicht von Jesus, denn sie kennt ihn nicht. Und Jesus erfüllt auch nicht die Erwartungen, die an einen Messias gerichtet wurden (wobei diese Erwartungen sehr verschiedene waren, und es im übrigen auch falsch ist anzunehmen, dass die Leute zur Zeit Jesu alle in der Erwartung des Messias lebten. Sie waren viel mehr mit der täglichen Torapraxis beschäftigt). Es ist vielmehr umgekehrt: Jesus erfüllt die alten Schriften mit neuem Leben! Er macht wieder lebendig, was vielleicht längst preisgegeben und verschüttet war, er erweckt die Schriften wieder zum Leben. Er zieht alle, die mit ihm Gemeinschaft haben, wieder in die Lebensgemeinschaft der Schriften hinein. Er bewirkt Teilnahme an der Geschichte Israels, indem er sie wieder lebendig werden lässt. Vgl. in diesem Sinne die "Erfüllungszitate" aus der Kindheitsgeschichte des MtEv. Z.B. Mt 1,22f: "Dies alles aber ist geschehen, damit sich erfülle, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben (Jes 7,14), das heißt übersetzt: Gott mit uns." – Die Kindheitsgeschichte bei Mt lässt die ganze Geschichte Israels vorbeiziehen und in Jesus lebendig werden. Man kann auch sagen: In Jesus wiederholt sich die Geschichte Israels in neuer Form. Marquardt sagt sehr richtig: "Dann will der Auferstandene Jesus von Nazareth ein Teilnahmeereignis an der Geschichte Israels sein und bewirken." (aaO. 161) Die trinitarische Struktur der Erkenntnis Jesu aus den Schriften Jesus ist also nicht zu verstehen ohne die Schriften. Es sind die Schriften, die vom Handeln Gottes an Israel erzählen. Das aber bedeutet: Jesus ist nicht zu verstehen ohne Gott. Was mit ihm und durch ihn geschieht, ist "gemäß den Schriften" und damit gemäß der Wirklichkeit Gottes, die sich in den Schriften bezeugt. Umgekehrt aber werden die Schriften durch ihn neu lebendig. Der tote Buchstabe wird mit Geist erfüllt. Fassen wir einmal diesen ganzen Vorgang ins Auge, dann erkennen wir die trinitarische Struktur des Ganzen: Jesus ist nicht der, der er ist, ohne den Vater (oder genauer: er ist nicht zu verstehen ohne den Gott Israels). Indem sich die beiden aufeinander beziehen, wird die Schrift wieder lebendig, und damit Gott, der in den Schriften bezeugt wird. Gott macht Jesus lebendig, Jesus macht Gott lebendig, und indem das geschieht, wirkt der heilige Geist, der lebendig macht (den die JüngerInnen bei der Auferstehung Jesu erlebt hatten eben als den Geist, der lebendig macht). Dies alles aber geschieht "gemäß den Schriften". Die Dreieinigkeit ist also in der Schrift begründet! Dies ist mindestens gegen die Kritik der Trinitätslehre bei Rosien und Ohlig zu sagen, vgl. oben I,1. Das Vierte ist, dass das Leben Jesu aus den Schriften des Alten Bundes heraus neu erzählt werden kann. Marquardt spricht von der 'Leben-Jesu-zeugenden Kraft der Schriften' (aaO. S.162). Jesus wird so sehr als Erfüllung der Schriften erlebt, dass Ereignisse aus den Schriften in sein Leben hinüberwandern. So können Ereignisse in seinem Leben "erfunden" werden, die nichts anderes sind als Wiederholungen früherer Ereignisse. Die ganze Kindheitsgeschichte des Mt 1-2 ist als Wiederholung zentraler Ereignisse des Geschichte Israels gestaltet: Schöpfung und die Geschichte der Zeugungen – prophetisches Eingreifen in der Not und damit verbundene Verheißung – Huldigung durch die Weisen aus den Völkern – Verfolgung des Gottes-Kindes durch die Mächtigen – Flucht durch Rettung nach Ägypten – Rückkehr aus Ägypten. Wir treffen hier auf die Struktur der Wiederholung, die bereits für die hebräische Bibel charakteristisch ist: Das Exodus-Geschehen ist ganz als neue Schöpfungsgeschichte gestaltet (Scheidung von Wasser und Land) – die Tora zielt auf die Wiederherstellung der Schöpfung und die Beherrschung des Chaos – Das Deuteronomium wiederholt die Ereignisse des Buches Exodus usw. Dazu sehr instruktiv: GEORG S TEINS , NICHTS HINZUFÜGEN, NICHTS WEGNEHMEN! ELEMENTARISIERUNG ALS HERAUSFORDERUNG DES ALTEN TESTAMENTS , in: R. Lachner/E. Spiegel (Hg.), Chancen und Grenzen einer Elementarisierung im Lehramtsstudium, Kevelaer 2003, 143-166. 23 Diese Struktur der Wiederholung meint nun nicht: ewige Wiederkehr des Gleichen – so, als wenn nichts Neues unter der Sonne passieren würde (dies meint aber der biblische Skeptiker Kohelet, 1,9!). Sondern: Es passiert Neues, aber verständlich wird dies als Wiederholung des Alten, und zwar so, dass die in den alten Ereignissen aufgespeicherte Verheißung durch die Wiederholung wieder frei gesetzt wird. Das aber heißt: die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Sie trägt uneingelöste Versprechen in sich und tritt als Frage an jede Gegenwart heran, ob sie diese Versprechen nicht wahr machen kann. Und die Wiederholung des Ereignisses ist dann die Antwort der Gegenwart an die Gewesenen: euer Warten auf die Einlösung des Versprechens ist nicht umsonst, wir sind dabei, eure Versprechen einzulösen. Aber auch dann bleibt etwas Uneingelöstes, das als Verheißung und Anspruch an die Zukunft geht. – In diesem Sinne kann man sagen: Die ganze Bibel erzählt davon, dass die in der Schöpfungsgeschichte gegebene Verheißung – "Gott sah, dass es gut (war/ist/sein wird/soll)..." – immer noch gilt und immer wieder wahr gemacht wird. Niemand hat diesen Zusammenhang klarer erkannt als Walter Benjamin (der sich damit so recht als jüdischer Denker zu erkennen gibt). In seinen Thesen "Über den Begriff der Geschichte" heißt es: "Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf Erlösung verwiesen ist. [...] Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unsere. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat."* Das ist exakt die biblische Geschichtsauffassung. Es ist ja eine andere Ausdrucksweise dafür, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, auch nicht über die Toten. Und Jesus wird verstanden als einer, der die Ansprüche der Vergangenheit auf Erlösung wieder lebendig werden lässt, sie an seiner Person einlöst und sie für die Zukunft wieder als Verheißung in Kraft setzt. Die Evangelien drücken dies aus, indem sie ihn die Ereignisse der Vergangenheit wiederholen lassen. Er wird, um es noch einmal mit Marquardt zu sagen, zu einem Teilnahmeereignis an der Geschichte Israels, und das wird dann als seine Geschichte erzählt (dies ist also ein deutlich anderes Geschichtsverständnis als im üblichen, historischen Sinn). Das Verfahren, Geschichten neu in anderen Zusammenhängen zu erzählen, kann mit dem Exegeten Klaus Scholtissek eine reécriture nennen. Dinge werden neu geschrieben, um ihren unabgegoltenen Wahrheits- und Verehißungsgehalt zur Geltung zu bringen. Auch hier kann man wieder einen Satz von Walter Benjamin zitieren, der diesen Vorgang exakt ausdrückt: "Denn in seinem Fortleben, das nicht so heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt die Nachreife auch der festgelegten Worte" (Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers). Es werden aber nicht nur "neue" Ereignisse im Leben Jesu aus den Schriften gesponnen, auch die realen Ereignisse seines Lebens werden nach der Vorgabe der Schrift dargestellt. Bestimmte Schriften fungieren gleichsam als Drehbuch für die Wiedergabe des Lebens Jesu. Sehr deutlich ist das bei den Passionsberichten der Evangelien. Ohne die Hilfe der Schrift können die Evangelisten nicht verstehen, was da passiert ist, also können sie es ohne die Hilfe der Schrift auch nicht darstellen. Nachdem sie aber in den Schriften den Referenzrahmen gefunden haben, der ihnen das Verständnis erschließt, stellen sie die Ereignisse auch in diesem Rahmen dar. Markus hat Ps 22 als Vorlage. Sein Thema ist: Der Gerechte, der im unschuldigen Leiden auf Gott vertraut. Vgl. nur: Mk 15,24/Ps 22,19 Los über die Kleider – 15,29f/22,8 Spott – 15,34/22,2 Mein Gott warum hast du mich verlassen – 15,36/22,16 Durst – 15,39/22,2032 Gott Zuflucht der Armen, vor ihm werden die Heiden niederfallen. – Die Zuversicht des Psalmisten in Ps 22 wird also für Mk in Jesus wahr, und damit wieder Verheißung für andere. Matthäus gestaltet die Passion nach dem Propheten Sacharja. Thema ist: Der Friedenskönig kommt und leitet die Umkehr zur Tora ein. Vgl. nur: Mt 21,2/Sach 9,9 Eselsfüllen – 26,15/11,12f Silberlinge für Verrat – 26,28/9,11 Blut des Bundes – 26,31/13,7 zerstreute Schafe, und anderes. Das messianische Buch Sacharja enthält das komplette Umkehr- und Toraprogramm des Mt, vgl. Sach 1,1-6 und das ganze Buch. – Die Verbindung von Prophetie und Tora, für die Sacharja steht, ist für Mt die große Verheißung aus der Geschichte Israels, und die sieht er in Jesus bestätigt. * Dazu ein Gedicht von Luzia Sutter Rehmann: "Wenn ich die Toten liebe – liebe ich den sich wölbenden Leib – der Erde, die uns und sie trägt, – alles zum Blühen und Vergehen bringt. Dann rauschen die Toten noch – in den Wipfeln und meinen Ohren – gelöst von Erdenschwere blicken sie öfters zu uns: – Ob wir schaffen, was sie nicht – vollenden konnten? Kalte Daumen werden gedrückt – und Berge gelegentlich verschoben. – Wir sind nicht allein. – Wir sind mehr als wie ahnen. – Eine Liebe umspinnt unmerklich und tief." (Sutter Rehmann u.a., Sich dem Leben in die Arme werfen aaO., 86). 24 Lukas gestaltet nach Jes 53: der leidende Gottesknecht, der den Kreislauf der Gewalt unterbricht und Gewalttätern zur Einsicht und zur Umkehr verhilft. Sein Leitmoti v ist: "An mir muss sich das Schriftwort erfüllen 'Zu den Übeltätern wurde er gezählt' . Denn alles, was über mich gesagt ist, geht in Erfüllung", Lk 22,37/Jes 53,12. Das Leiden Jesu wird sehr ausgemalt, damit die Täter daran die Gerechtigkeit lernen können, Lk 23,47 – und dies genau ist die Funktion des jesajanischen Gottesknechtes. Den Übeltätern wird vergeben: Lk 23,34-43 (vgl. auch das lukanische Apg 7,60: Stephanus vergibt seinen Mördern). – In Jesus wird also die ganze Leidensgeschichte Israels aufgenommen und ins Recht gesetzt: an ihr können die Völker die Erkenntnis der Gerechtigkeit Gottes gewinnen! Alle Schriften des Neuen Testament entfalten die Rede von Jesus im Horizont und in der Sprache der heiligen Schriften Israels! Dies gilt ohne Abstriche auch noch für Schriften der zweiten und dritten Generation nach Jesus, die in einer Zeit entstanden sind, als das heidenchristliche Element in der Kirche längst dominierte. Jesus ist biblisch nur der, der er ist, indem er zu der Welt der hebräischen Bibel gehört. Er ist nur zu verstehen im biblischen Wirklichkeitsverständnis. Die Geschichte und die Schriften Israels sind der Deutungsrahmen, das Referenzsystem, von dem Jesus nicht abgelöst werden kann. Dort kann von ihm gesagt werden: Er ist auferstanden, er ist der Herr, er ist der Messias, der Menschensohn, der Sohn Gottes usw. Dazu Marquardt, Das christliche Bekenntnis Bd. I. aaO., 178-180: "Auch heidenchristliche Gemeinden werden in den Horizont der Geschichte Israels gerückt" Die Bedeutung des biblischen Kanons In diesem Zusammenhang gilt es zu verstehen, was der biblische Kanon theologisch und christologisch bedeutet. Indem die Kirche nur die JesusSchriften in ihren Kanon aufgenommen hat, die Jesus in den Horizont der hebräischen Bibel rücken, und indem sie zugleich auch (und gegen welche Widerstände – Marcion!) die hebräische Bibel selbst in den Kanon aufgenommen hat, macht sie das Verständnis Jesu im Horizont der Geschichte und der Schriften Israels für sich kanonisch. Kanon, das heißt: Maßstab, Richtschnur, feste Regel. Die Kirche macht es sich selbst also zu festen Regel, Jesus nur im Zusammenhang des biblischen Wirklichkeitsverständnisses zu verstehen und zu verkünden. Das bedeutet: Auch Heiden, die zum Glauben an Jesus gelangen wollen, müssen den Umweg über das hebräische Wirklichkeitsverständnis machen. Sie müssen sich mit der Geschichte Israels vertraut machen, sie müssen so weit kommen, dass sie Abraham ihren Vater und Sara ihre Mutter nennen, um Jesus als ihren Herrn und Gott annehmen zu können. Damit sind Versuche wie beispielsweise Mao Tse-Tungs "Großen Marsch" als Äquivalent für den Exodus für chinesische Christen auszuweisen (solche Überlegungen gibt es im Rahmen der Theologie der Inkulturation), als nicht kanonisch anzulehnen. Ebenso, wenn man, wie etwas heutzutage Willigis Jäger, Jesus im Rahmen des buddhistischen oder auch des naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis auslegt. Dass die Kirche Jesus kanonisch an die Welt Israels zurückbindet, heißt nicht, dass er in diese Welt eingesperrt ist. Denn diese Welt ist kein Gefängnis, sie ist vielmehr selbst auf die Welt der Völker bezogen. Israel ist Licht für die Völker, und genauso ist auch Jesus das Licht für die Völker. Die Art, wie Jesus für alle Menschen da ist, ist wiederum von Israel her vorgegeben. Jesus ist, nicht obwohl, sondern gerade indem er in der Welt Israels lebt, für die Völker da. Er kann der Messias aller Menschen sein, weil er der Messias Israels ist. – Die Entscheidung für den Kanon bedeutet also: Es gibt keine Gott-Unmittelbarkeit aller Menschen und Völker, sondern Gott kommt nur über sein Volk Israel zu den Völkern. Dieses zu-den-Völkern-Kommen Gottes vollzieht sich in Jesus, so glauben die Christen. Vgl. dazu mein Buch DER VERWECHSELBARE GOTT. THEOLOGIE NACH DER ENTFLECHTUNG VON CHRISTENTUM UND RELIGION, Freiburg 2000, 37-85, über die "umwegige Gotteserkenntnis" 25 Exkurs: Gott wird Mensch?! Das Wort wurde Fleisch. Zum biblischen Sinn des Weihnachtsfests nach dem Johannesprolog Das erst im Jahr 354 in der Kirche eingeführte Fest der Geburt Christi (Weihnachten) verdrängte rasch das Fest der Epiphanie und entwickelte sich neben Ostern zum wichtigsten Fest des Kirchenjahres, mit einem eigenen Festzyklus (Advent). Der damalige Verständnishorizont (wir kommen noch darauf) war der der Inkarnation (Fleischwerdung): Der allmächtige, eine und rein geistige Gott nimmt in Jesus Christus das Fleisch, d.h. die Materie, die Welt des Körperlichen, die unreine Menschenwelt an, um sie aus ihrer Gottferne zu erlösen und zu sich zu führen. Unter Aufnahme platonischer Motive (Dualismus von Einheit und Vielheit, von Geist und Materie, von Ewigkeit und Vergänglichkeit) hat sich hier vor allem das soteriologische Motiv der Vergöttlichung (Theosis) des Menschen ausgedrückt: Indem Gott Mensch wird, wird der Mensch göttlich. Die Grenze zwischen den Göttlichen und dem Menschlichen wird von Gott selbst aufgehoben. In diesem Sinne wird auch noch heute sehr oft, in unzähligen Weihnachtspredigten z.B., der Sinn des Weihnachtsfestes erhoben. "Gott wird Mensch", das soll dann heißen: Gott nimmt die Welt und die Menschen so an, wie sie sind. "Mach's wie Gott, werde Mensch", so wird uns geraten: es genügt, voll und ganz Mensch zu sein, denn das Menschsein an sich ist ja durch die Menschwerdung Gottes geheiligt. Und weiter: Gott lässt sich in der Welt antreffen, in seiner Schöpfung und damit auch in jedem Menschen. – Es wird dann allerdings sehr schwer, den christlichen Glauben noch von einer anspruchsvollen (Mit-)Menschlichkeit zu unterscheiden. Biblischer Referenztext für dieses Verständnis von Weihnachten ist, neben den Geburtserzählungen bei Mt und Lk, in erster Linie der Johannesprolog Joh 1,1-18. Denn in diesem Text scheint ja in großer Klarheit und in fast philosophischer Sprache ausgedrückt zu sein, was unter Menschwerdung zu verstehen ist. Das Wort (????? – ein Begriff, der der antiken Philosophie vertraut war, sie verstand darunter die Weltvernunft, das Prinzip der Welt oder Schöpfung, oder auch das ethische Grundprinzip der Welt; dieses Wort sollte dann mit Jesus identisch sein), das im Anfang bei Gott war, wurde Fleisch, verband sich also mit der Materie und der Menschenwelt und hat uns so die Herrlichkeit Gottes nahegebracht. Diese Lesart des Prologs stützte sich hauptsächlich auf die Verse 1,1 (Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos), 1,14 (Und der Logos wurde Fleisch, und er wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit), allenfalls noch auf 1,18 (Gott hat niemand je gesehen. Der einzigerzeugte Gott, der ist an der Seite des Vaters, jener hat Kunde gebracht). Die anderen Verse des Prologs spielen dabei kaum eine Rolle. In dieser reduzierten Form konnte der Text aber Anlass bieten für unzählige Auslegungen im gnostischen, platonischen, aristotelischen oder sonstwie philosophischen Verständnissen. Joh 1,1-18 war immer das Einfallstor für die Philosophie in die Bibel. Versuchen wir, den Johannesprolog im biblischen Wirklichkeitsverständnis zu verstehen. Dazu KLAUS SCHOLTISSEK, RELECTURE UND REÉCRITURE . NEUE PARADIGMEN ZU METHODE UND INHALT DER JOHANNESAUSLEGUNG [...], in: ThPh 75 (2000) 1-29; MARQUARDT, C HRISTOLOGIE BD. II., 103116 Da sehen wir zunächst: die Struktur der reécriture. Der Text entwickelt keinen fortlaufenden Gedanken, sondern wiederholt das dasselbe Motiv in immer neuen Um-Schreibungen. V. 1-3 geben die "handelnden Personen", die Elemente des Textes an: Gott, sein Wort und die Alles, d.h. die Welt. Sei werden in ihrer Beziehung zueinander vorgestellt. V. 4-5 fangen an, die Geschichte zwischen diesen zu beschreiben – zunächst in der Lichtmetaphorik. V. 6-8 erzählen von dem Zeugnis des Johannes. Dass sich bei diesem das Geschehen der V. 4-5 zeigt, erklären die V. 8-10. Der Sinn des Geschehens ist nun klar: Das Licht leuchtet in der Welt/in der Finsternis, aber die Welt nimmt es nicht an, kann es aber auch nicht überwältigen. (Fraglich ist, ob hier schon von Jesus Christus der Rede ist.) V. 11-13 wiederholen das Ganze in der Familienmetaphorik. V. 14 umschreiben es in der Sprache der Inkarnation und des Zeltens Gottes bei Israel. V. 15-17 kommen nun auf Jesus zu sprechen. Was durch ihn geschieht, ist eine Wiederholung dessen, was immer schon zwischen Gott und Israel gewesen ist. Ausdrücklich wird das, was mit Jesus geschieht, an die Geschichte Israels zurück gebunden. V. 18 wiederholt V. 1, jetzt in der Deutung des Wortes auf Jesus. Dass der Johannesprolog die aus der hebräischen Bibel so bekannte literarische Form der reécriture benutzt, ist selbst bereits christologische Aussage: Was mit Jesus Christus geschieht, ist Wiederaufnahme und Wiederholung, damit Aktualisierung dessen, was sonst 26 schon in Israel geschehen ist. Das Jesus-Geschehen wird biblisch-israelisch identifiziert (und gerade nicht einer beliebigen philosophischen Deutung freigegeben). Jetzt sehen wir uns die Verse 1,1 und 1,14 genauer an, da sich ja auf diese die traditionelle "weihnachtliche" Auslegung vor allem stützt. V. 1,1 beschreibt in schwer fasslicher Weise die Beziehung zwischen Gott und seinem Wort. Sie sind zu unterscheiden, und doch dasselbe. Wie ist das zu verstehen? Was steht hier biblisch im Hintergrund? "Im Anfang war das Wort" erinnert natürlich an die Schöpfung. Gott ist bei seiner Welt durch sein Wort. Er ist nicht fern von ihr, nur durch sein Wort ist sie. Von Gott ist biblisch nicht zu sprechen ohne sein bei-der-Welt, bei-den-Menschen-sein-wollen. Gott, wohnend inmitten Israel, das ist eine Zentralaussage der Bibel Israels. Vgl. Jes 12,6: "Jauchze und juble, Bewohnerin Zions. Denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels"; oder Lev 26,12: "Ich werde mitten unter euch wandeln und will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein." Lt. Ex 29,45 ist das Wohnen Gottes in Israel das Ziel der Befreiung aus Ägypten und zugleich die Bedingung der Gotteserkenntnis: "Ich will inmitten der Israeliten wohnen und ihr Gott sein, damit sie erkennen, dass ich, der Herr, ihr Gott bin, der sie aus dem Lande Ägypten herausgeführt hat, um mitten unter ihnen zu wohnen, ich, der Herr, ihr Gott." Aber ist er etwa nur mit seinem Wort bei der Welt, bei seinem Volk? Nicht selbst? Doch, "das Wort war bei Gott/auf Gott hin": Das Wort ist nicht ohne Gott, Gott nicht ohne sein Wort, "Gott war das Wort", und das war schon immer so (seit dem Anfang). Gott ist nicht hinter seinem Wort verborgen, er ist sein Wort, sein Wort ist er; er, der nicht ohne die Welt sein will. Gott ist Immanuel: Gott mit uns. Aber dennoch wird in dem Vers zwischen Gott und seinem Wort unterschieden. Das heißt: Gott ist noch einmal von der Weise seines Bei-uns-seins zu unterscheiden. Was ihm hier, auf Erden, zustößt, die Ablehnung, die ihm zuteil wird, das Nicht-Aufgenommen-werden, das Nicht-erkannt-werden, sein Aufenthalt in der Sphäre der Sünde, das ist nicht seine letzte Bestimmung und nicht sein Ende. Er ist noch anders, noch darüberhinaus Gott. Hier steht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Auseinandersetzung über das Wohnen Gottes im Tempel im Hintergrund. Salomo will ihm einen Tempel bauen, will seinem Wohnen bei seinem Volk Israel eine feste Adresse geben. Da aber wird grundsätzlich gefragt: "Ja, aber wohnt Gott wirklich mit den Menschen auf der Erde? Siehe, der Himmel und die Himmel aller Himmel vermögen dich nicht zu fassen, geschweige denn dieser Tempel, den ich gebaut habe." Gott einigt sich mit Salomo auf einen Kompromiss: "Mein Name soll dort sein" (1Kön 8,27-29). Damit wird also zwischen der Gegenwart Gottes in seinem Namen und seiner Gegenwart über allen Himmels unterschieden. Statt 'Namen' ist auch öfters von Gottes Weisheit, Gottes Herrlichkeit (Joh 1,14!), Gottes Wort die Rede. Daran knüpft Joh 1,1 an. Das Sein Gottes bei seinem Volk geschieht in seinem Namen oder in seinem Wort oder in seiner Herrlichkeit. Die Frage ist dann aber: Wo ist Gottes Name, Wort oder Herrlichkeit denn heute anzutreffen? Darauf gibt V. 14 eine doppelte Antwort. Einmal heißt es: "Das Wort wurde Fleisch". Fleisch, das ist nicht einfach der Bereich des Menschlichen oder Weltlichen. Fleisch meint bei Joh immer: der Bereich der Sünde, der Selbstbehauptung (vgl. ja schon 1,13 und dann 3,6f!). Das Wort ist also mitten im Bereich der Sünde anzutreffen. Es will dort wohnen, wo man ihm den Mund verbietet. Die Konfrontation zwischen Licht und Finsternis, zwischen denen, die ihn aufnehmen, und denen, die ihn nicht aufnehmen, ist in eine aktute Phase getreten. Zugleich liegt darin eine große Verheißung, wie der Parallelvers 14b mit dem Begriff "zelten" verdeutlicht: "und er zeltete unter uns", so wie Gott einst, in der Wüste, im Zelt der Begegnung anzutreffen war (Ex 33,7-11!), wo er mit Mose wie mit einem Freund gesprochen hatte und wo dieser mit ihm "von Mund zu Mund, offenbar und nicht in Rätseln" gesprochen hatte und Gottes "Gestalt" [!] schauen konnte, Num 12,8. Der Vers enthält möglicherweise bereits Tempelkritik: nicht im Tempel, sondern in dem Wort, das Fleisch geworden ist, schauen wir die Herrlichkeit Gottes. Vers 14 beschreibt die mit Jesus eintretende akute Phase des Konflikts zwischen dem Licht und der Finsternis, zwischen denen, die ihn aufnehmen und denen, die ihn nicht aufnehmen, zwischen denen, die aus dem Blut (Familie!), dem Willen des Fleisches (Selbsterhaltung!) und dem Willen des Mannes (Begierde!) gezeugt sind, und denen, die glauben und aus Gott 27 gezeugt sind (V. 13). "Das Wort wurde Fleisch" meint gerade nicht die vergebende Annahme allen Fleisches/alles Irdischen und Menschlichen durch Gott, sondern eine Weise seines Wohnens bei seinem Volk, die in einem letzten Konflikt steht (dies zeigt sich nur, wenn man den Text als reécriture liest!). Indem aber Gottes Wort sich der Ablehnung des Fleisches aussetzt, nimmt es die Verheißung vom Zelten Gottes bei seinem Volk wieder auf. Das ist seine Herrlichkeit, die in diesem Zelt zu schauen ist, dass er der Ablehnung, dem letzten Konflikt mit denen, die ihn nicht erkennen und nicht aufnehmen, nicht ausweicht, sondern gerade in diesem Konflikt seine heilvolle Gegenwart (voll Gnade und Wahrheit, V. 14) bezeugt. Die bekannte Tatsache seines Scheiterns und seines Kreuzes war also nicht das Ende des Gottes, dessen Wort Jesus ist. V. 18, der Abschluss des Prologs, sagt darum mehr als die Zusammenfassung: Jesus ist die Offenbarung des unbekannten Gottes. Der Vers nimmt vielmehr die Unterscheidung von V. 1 wieder auf, die zwischen Gott und seinem Wort. Sie ist nun wichtig, wenn und da man ja weiß, wie der Konflikt, in den sich das Wort begeben hat, ausgegangen ist. Der "einziggezeugte Gott, der an der Seite des Vaters ist", der, der Gottes Mit-sein mit seinem Volke darstellt, steht für das Leben und die Herrlichkeit Gottes, auch wenn er am Kreuz unterlegen ist. Es muss eine Unterscheidung zwischen Gott und seinem Wort bleiben, wenn man Kreuz und Auferstehung als göttliches Geschehen interpretieren will. V. 18 handelt also von der Offenbarung Gottes bei der Auferstehung. Diese Auslegung von Joh 1,14 – Das Wort wird Fleisch – als Zuspitzung des Konflikts wird gestützt durch biblische Hinweise auf die Zusammengehörigkeit von Gottes Wort und Leib bei den Propheten. Das Zeugnis der Propheten hat oft ihren Körper eingesetzt, um die äußerste Konflikthaftigkeit des Wortes Gottes anzuzeigen: Micha läuft barfuß und nackt durch die Straßen, er bringt sich Einschnitt um Einschnitt bei, um das Gericht Gottes anschaulich zu machen, Mi 1,8.13. Jesaja weist "nackt, barfuß und mit entblößtem Gesäß" auf den assyrischen Überfall hin, Jes 20,3-4. Jeremia lässt sich mit Stricken binden und ein Joch auflegen, denn auch Israel muss sich von dem König von Babel unterjochen lassen, Jer 27,2.11-12. Ezechiel soll in aller Öffentlichkeit mit Zittern und Zagen essen, denn so wird es Israel ergehen. Er liegt 190 Tage gefesselt und bewegungslos auf der linken Seite des Bettes, also büßend für die 190 Jahre Schuld des Nordreichs Israel, und noch einmal 40 Tage auf der rechten Seite für die Schuld Judas, Ez 4,4ff. – Dies sind biblische Beispiele für die Fleischwerdung des Wortes Gottes [und nicht, wie es die philosophische Auslegung von Joh1,14 will, das Verstehen der göttlichen Geheimnisse durch die Gebildeten und Weisen]. Liest man nun die "Weihnachtsgeschichte" bei Mt im Lichte dieser konfliktiven Deutung, dann sieht man, dass sie den Konflikt auf ihre Weise dramatisch in Szene setzt. Keine Spur von Idylle! Maria droht in Schande zu fallen – die Sterndeuter kommen aufgrund ihrer Weisheit gerade beim falschen König, nämlich Herodes, an – Herodes will Jesus töten, die Familie muss nach Ägypten fliehen – derweil werden die Kinder in Betlehem ermordet – Joseph zieht nicht nach Judäa zurück aus Furcht, auch der neue König Archeloas trachte Jesus nach dem Leben. Und immer ist es nur das Eingreifen eines Engels, der das Schlimmste verhindert. – Für Lk ließen sich ähnliche Beobachtungen machen. Zusammenfassung: - Der Johannesprolog (auf ihre Weise auch Mt und Lk) stellt das Jesus-Geschehen bewusst und nachdrücklich in den Zusammenhang der Geschichte Israels. - Mit der Fleischwerdung des Wortes (Joh 1,14) ist eine äußerste Krise, ein letzter, entscheidender Konflikt angezeigt: Das Wort Gottes, d.h. Gottes Gegenwart bei seinem Volk, geht 'in die Höhle des Löwen', geht direkt zum Fleisch, wo es abgelehnt wird und man es nicht hören will. - Nach dem Glauben der Christen (bzw. hier: des Evangelisten Johannes) ist die Niederlage Jesu in diesem Kampf nicht zugleich auch die Niederlage Gottes. Gut biblischalttestamentlich kann er zwischen Gott 'über den Himmeln' und Gott in seinem Namen oder Wort unterscheiden, ohne sie doch auseinander zu reißen. Diese biblische Unterscheidung wird fruchtbar im Glauben an die Auferstehung. 28 IV. Jesus in der Welt der Völker. Jesus als Logos Der weitere Fortgang der Christologie ist durch die Tatsache bestimmt, dass Christinnen und Christen von ihrem Herrn und Heiland Jesus nun auch vor nichtjüdischen Menschen, also vor Menschen, denen das biblische Wirklichkeitsverständnis fremd ist, zu reden anfangen. Damit wurde es nötig, Jesus in anderen Begriffen und im Zusammenhang eines anderen Weltbilds zu verkünden. Und zwar so, dass er als der Mittelpunkt und der Herr, als das Ziel und der Retter der Welt erkennbar werden konnte! Denn mit weniger konnten sich Christen, wenn sie von Jesus reden, ja nicht zufriedengeben. Sie mussten also Jesus in ein anderes Weltbild transponieren – aber dadurch wurde auch dieses Weltbild grundlegend verändert. Diesen doppelseitigen Prozess kann man über die ganze Christentums- und Theologiegeschichte hin beobachten! Auch das Neue Testament wendet sich schon an nichtjüdische Menschen. Aber es mutet ihnen, das haben wir gesehen, immer noch das biblische Wirklichkeitsverständnis als Voraussetzung für das Verstehen Jesu zu. Die Kirche hat sich dies zur Regel und Richtschnur gemacht, indem sie den biblischen Kanon definierte. Auf die Dauer aber war es unvermeidlich, auch vor Menschen, denen das biblische Wirklichkeitsverständnis nicht mehr so einfach vermittelbar und nicht mehr zumutbar war, von Jesus zu reden. Denn sonst wäre die Kirche auf eine jüdische Sonderbewegung – mit offenen Rändern zu interessierten Heiden – beschränkt geblieben. Nötig war also jetzt eine Übersetzung der Rede von Christus in ein anderes Weltbild. Jede Übersetzung bedeutet eine Sinnveränderung! Und die große theologische Frage an das Ergebnis dieser Übersetzungen ist und muss sein: Wird darin das Wesentliche des biblischen Christuszeugnisses bewahrt? Diese Frage klingt einfach, ist aber enorm schwer zu beantworten... Denn es ist ja gar nicht klar, was denn das Wesentliche jeweils ist (bei der Vielfalt der Bibel, der Vielfalt der Verstehensmöglichkeiten). Es steht ja niemand über den beiden Wirklichkeitsverständnissen und kann sie neutral vergleichen. Die theologische Frage nach dem rechten Christusbekenntnis im Wandel der kulturellen Muster ist niemals eindeutig und endgültig zu klären, und doch muss sie zu aller Zeit mit aller Energie gestellt werden, damit die Kirche Christus und der Bibel treu bleiben kann. Ich erinnere an die Text von Ignatius von Antiochien aus dem Proseminar "Einführung in die Systematische Theologie". Ignatius überprüfte die gnostische Christuslehre auf ihre Bibelgemäßheit. Dabei benutzte er zwei Kriterien: 1. Ist das Heilsinteresse an Christus noch gewahrt, ist er noch als Retter und Erlöser erkennbar? – Da aber auch Heilsinteressen, für die Jesus gar nicht zuständig ist, auf ihn projiziert werden können, entwickelte Ignatius 2. eine kurze (adressaten- und anlassbezogene) Zusammenfassung der biblischen Christusbotschaft (Ritschl: "kurzgefasste Story", "Summierung") und leitete aus diesen Begriffe ab (Ritschl: "abgeleitete Begriffe"), die dann dogmatisch gehandhabt werden konnten: Wer diese Begriffe nicht erfüllt, steht nicht im kirchlichen Glauben. – So oder so ähnlich gehen die Dogmatiker und Dogmatikerinnen bis heute vor. 1) Die Logoslehre der Apologeten Dazu HAUSCHILD AAO. 9-11 Zwischenbemerkung: Ich erinnere an den Text von Irenäus von Lyon über den Gnostiker Kerinth aus Proseminar. Hier wurde deutlich: Christliche Theologen haben sehr klar erkannt, dass die gnostische Transformation des Christusglaubens nicht mehr biblisch verifizierbar ist. Deshalb wurde das gnostische Christentum, diese erste Gestalt eines Christusglaubens in außerbiblischem Gewand, von der Großkirche mehr oder weniger deutlich abgelehnt. Dieser erste Versuch ist also gescheitert – aber nicht der nächste, von dem jetzt zu reden sein wird. Bei einer Gruppe von Theologen des 2./3. Jhs, die man Apologeten ("Verteidiger") nennt, kann man die Transformation des Christuszeugnisses in ein außerbiblisches Vorstellungsmodell besonders klar beobachten. Die Apologeten (vor allem: Justin von Rom; Tatian der Syrer; Aristides aus Athen, Athenagoras aus Athen, Theophilus aus Antiochien) waren gebildete Leute, die den christlichen Glauben gegen Kritik aus der heidnischen Religion, dem Judentum und der Philosophie verteidigen wollten. Ihre Adressaten waren philosophisch gebildete Menschen aus der griechischen und römischen Oberschicht, die in der Regel von der Bibel kaum etwas wussten. Wie sollte man ihnen also Christus 29 verständlich machen? Woran konnte man bei ihnen anknüpfen? Die Apologeten fanden nun in der Philosophie ihrer Zeit einen Begriff vor, der ihnen sehr geeignet erschien, die Bedeutung Jesu aufzuschlüsseln – den Begriff Logos. Dieser Begriff spielte praktisch bei allen Philosophien eine Rolle und war auch in der Popularphilosophie zugegen. Bei den Stoikern bedeutete Logos eine feinstoffliche Substanz, die die Weltvernunft oder die Gottheit darstellt. Durch ihre Vernunft können Menschen am Logos Anteil bekommen, der Logos verteilt sich wie ein Same auf die (aufnahmebereite) Menschheit (Logos spermatikos – hier liegt die Vorstellung des lebensspendenden Samens aus den archaischen heiligen Hochzeiten sicher zugrunde). Bei den Platonikern ist dieses Konzept übernommen und vergeistigt worden. Der Logos galt bei ihnen als ein geistig-ethisches Prinzip, aber auch als die Vernunft der Schöpfung, als der Geist, mit der die Gottheit oder das Göttliche die Welt hatte entstehen lassen. Logos können wir am besten mit Sinn, Begriff, Weltvernunft oder (Ur-)wort übersetzen, wobei die Beziehung zum Göttlichen schon mitgesetzt ist. Logos, als Wort verstanden, ist Mitteilung des Göttlichen an die Menschen. Logos ist ungefähr das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dieser Begriff schien sich nun wirklich sehr zu eignen, um die Bedeutung Christi auszusagen. Und dazu kam ja auch, dass er bereits in der Bibel, und zwar an zentraler christologischer Stelle, vorkam: Joh 1,1 und 1,14 (s.o. Exkurs zum Johannesprolog)! Und der bedeutende jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (+ca. 45/50) hatte bereits dargelegt, dass das Wort, mit dem Gott gemäß der biblischen Schöpfungsgeschichte die Welt erschaffen hatte, nichts anderes meinte als den logos, von dem auch die Philosophie sprach. Nichts war also naheliegender als Logos-Christologie! Wir lesen einen Text von J USTIN aus dessen 2. APOLOGIE (BKV 12, 1913, 96f (150f), nach Texte zur Theologie/Christologie I, 82f. Es ist zu sehen: • Christus ist die Vollform, die Steigerung dessen, was die heidnischen Denker Logos nennen • Es gibt eine Heilsgeschichte, die vom Unvollkommenen zum Vollkommenen fortschreitet • Sokrates war Christus ähnlich, aber Christus hat mehr Anerkennung gefunden, weil er eben der vollkommenere Logos war • Christus wurde von Sokrates schon teilweise erkannt; es gibt eine außerbiblische Erkenntnis Jesu • Das Neue ist: Der Logos erscheint als Person, als Mensch. Das hatte so noch kein Heide gedacht Aus dem letzten Punkt wird ersichtlich, dass die Logos-Christologie die Philosophie, aus der der Begriff entnommen war, kräftig veränderte. Der Logos war in christlicher Sicht nicht mehr nur ein hoher, geistiger Gedanke oder ein geistig-göttliches Prinzip, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, und dazu noch einer, der am Kreuz gestorben war (diesen Punkt konnten die Apologeten aber auch nie richtig erklären). Überlegen wir, was die Aufnahme des Logos-Begriffs in die Christologie bedeutet. • Christus, der Logos, liegt in der Zielrichtung der menschlichen, philosophischen Vernunft. Er ist die letzte Vollendung dessen, was kluge Menschen von sich aus für wahr und sinnvoll halten. Es tritt praktisch an die Stelle Israels als Vorgeschichte Jesu die Denkgeschichte der Philosophen. • Christus als Logos ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält, die Weltvernunft usw. Er steht also ganz auf der Seite des Bestehenden. Wo dieses defizient ist, dann wegen der Abweichung von der grundlegenden Ordnung. Christus als Logos ist das Prinzip der Ordnung der Welt. Entsprechend ist der eschatologische Horizont der LogosChristologie reduziert. • Erlösung bedeutet: Die ganze göttliche Wahrheit wird in der Welt bekannt. Das geistige Wort, der Logos, ist Fleisch geworden, das konnte nun so verstanden werden: Was bisher im geistigen, im göttlichen, im jenseitigen Bereich verborgen war, ist nun durch 30 • • Christus in der Welt offenbar. (Wer kann sich darüber am meisten freuen? Die Philosophen?!) Damit ist aber auch gegeben: Die Fleischwerdung des Wortes erscheint als etwas Erstmaliges, Neuartiges, alles Frühere Überbietendes. Es wird dabei Verbundenheit Jesu mit der Geschichte Israels übersehen, jene reécriture oder relecture, die er biblisch gesehen für Israel ist (bei allen Apologeten, Ausnahme Tatian, ist eine gewisse Abwertung Israels unübersehbar). Die Logos-Christologie der Apologeten ist latent subordianatianisch: Der Logos/der Sohn ist Gott untergeordnet, weil aus ihm hervorgegangen. Aus ihr entsprangen deshalb auch Motive für die weitere Entwicklung der Trinitätslehre, die schließlich – auf dem Konzil von Nizäa 325 – zum Dogma von der Wesenseinheit von Gott und Logos/Sohn gelangte. Das Motiv der Vergöttlichung Aus der Logoslehre der Apologeten entwickelt sich allmählich das christologischsoteriologische Schema der frühen Kirche, das dann bis Chalcedon durchtragen sollte: Gott wird Mensch, damit die Menschen göttlich werden. Oder etwas genauer: Der Sohn Gottes wird Mensch, damit die Menschen Söhne Gottes werden. Das Unsterbliche nimmt das Sterbliche an, das Unvergängliche das Vergängliche, das Vollkommene das Unvollkommene usw. So steht es bereits bei Irenäus von Lyon (+202): IRENÄUS VON LYON, ADVERSUS HAERESES (Gegen die Häresien, um 180-190), III, 18,6: "Dazu nämlich ist das Wort Gottes Mensch geworden und der Sohn Gottes zum Menschensohne, damit der Mensch das Wort in sich aufnehmen und, an Kindes statt angenommen, zum Sohne Gottes werde. Denn anders konnten wir nicht die Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit empfangen, als indem wir mit der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vereint würden. Wie hätten wir aber mit der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vereint werden können, wenn nicht die Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vorher das geworden wäre, was wir sind, damit das Vergängliche vom Unvergänglichen und das Sterbliche vom Unsterblichen verschlungen werde und wir die Annahme an Kindes Statt empfingen?" Wie anders als das biblische ist doch dieses Konzept! Wie weit ist es bereits vom biblischen Wirklichkeitsverständnis entfernt! Wo wäre in der Bibel davon die Rede, dass wir unsere Vergänglichkeit und Sterblichkeit überwinden können, indem wir uns mit der Unvergänglichkeit vereinen? Wo ist hier, bei den Apologeten, noch von dem Reich Gottes die Rede, das wir mit Hilfe der Gebote Gottes verwirklichen sollen und können? Nach dieser Christologie ist mit der Fleischwerdung, der Geburt Jesu bereits alles Wichtige geschehen. Erlösung wird ontologisch gedacht: Das Unvergängliche hat sich mit dem Vergänglichen vereint. Der Seinsstatus der Vergänglichkeit hat sich verändert. Leben und Lehre Jesu spielen christologisch kaum mehr eine Rolle. Kreuz und Auferstehung erscheinen nur als Bekräftigung seiner wirklichen Mensch- und Fleischwerdung. Ist diese Christologie noch biblisch? Darüber streiten sich die Theologen seit dem 2. Jahrhundert bis heute... Andererseits ist nicht zu übersehen: Die Logos-Christologie stellt einen Angriff auf das antike Weltverständnis dar. Der Logos ist eben jetzt Fleisch geworden, das Fleisch ist angenommen. Das von den Platonikern, den Philosophen verachtete Fleisch wird zum Ort des Heils! Gespiegelt auf die Verhältnisse einer Sklavenhaltergesellschaft mit ihrer Verteilung von Geist und Fleisch war damit auch eine Umwertung der Werte gegeben. Das Neue, was mit dem christlichen Glauben kam, war: Nicht mehr nur Erlösung von der Welt, sondern Erlösung der Welt selbst. 31 2) Die Christologie des Origenes Dazu HAUSCHILD aaO. 18-22; 82-84 Die überragende Gestalt der Theologie der Alten Kirche war Origenes aus Alexandrien (185254). Er entwickelte eine große, für alle Bereiche durchgeführte systematische Synthese zwischen der führenden Philosophie seiner Zeit, dem Neuplatonismus, und dem christlichen Glauben. Alle späteren Christologien setzen sich ausdrücklich oder unausdrücklich mit Origenes auseinander! Aus Zeitgründen fasse ich mich hier jedoch kurz mit Origenes, denn das Prinzip und die Methode seines Denkens sind dieselben wie bei den Apologeten. O. bezog sich auf den Neuplatonismus. Das ist, grob gesagt, eine Verbindung von Platonismus und gnostischer Mythologie, also eine Philosophie, die zugleich Religion ist. Gott oder das Göttliche ist ihr ein unendlich fernes Wesen, das der menschlichen Erkenntnis entzogen ist. Ausgehend von dem göttlichen Einen stellt sich die Welt in verschiedenen himmlischen und irdischen Stufen bzw. Hierarchien dar. Auf den einzelnen Stufen hatten die neuplatonischen Philosophen praktisch die Götter und Himmelswesen der Mythologie untergebracht, so dass aufgeklärte heidnische religiöse Menschen sich im Neuplatonismus eine geistige Heimat finden konnten. O. teilte mit dem Neuplatonismus die grundlegende Auffassung, dass das Göttliche und Vollkommene zugleich das Eine und Unteilbare ist. Zu erklären ist für die neuplatonische Philosophie die Mannigfaltigkeit in der Welt: Warum gibt es überhaupt Vieles, warum einen Abfall von der ursprünglichen und vollkommenen Einheit? O. entwickelte folgende Vorstellung: Die ursprüngliche Einheit bzw. Gott hat von Anfang an einen Logos und einen Geist aus sich herausgesetzt (durch Emanation, Herausfließen aus der Fülle). Der Logos/Christus schafft die Menschenseelen, die in der Einheit mit Gott verbleiben und ihn umkreisen. Durch einen Sündenfall fallen die Seelen von Gott ab, erkalten gleichsam, indem sie aus dem Glutkern herausfallen, nehmen feste Materie an und werden zur Welt. Der Logos will sie retten. Zu diesem Zweck verbindet er sich mit der Seele des Menschen Jesus und kommt in die Welt. Er will keinen Zwang anwenden und achtet die Freiheit der Menschen, die er zu Gott zurückführen will. Deshalb gebraucht er die Mittel der Belehrung und der Überzeugung; Jesus Christus ist der Pädagoge (paidagogos). Früher oder später (nach einem oder mehreren Leben – O. hat auch eine Art Reinkarnationslehre) finden alle Seelen, angeleitet durch Jesus, zu Gott zurück. O. glaubt an die All-Versöhnung (Apokatastasis); es gibt für ihn keine Hölle. Die Frage für O. ist nur, ob sich dieser ganze Vorgang von Abfall von Gott und Wiederversöhnung nicht immer wiederholen kann. Der Grundgedanke, dass der Logos Mensch wird, um die Menschen aus der Welt zu erlösen und wieder in den göttlichen Urzustand zu versetzen, ist also gleich geblieben. Er ist bei O. sehr ausgestaltet und perfekt mit dem antiken Weltbild verzahnt. Auch bei O. ist ein latenter Subordinatianismus vorhanden. O: konstruiert eine eigene Vorgeschichte für Jesus. Ist diese mit der biblischen übereinander zu bringen? O. ist auch der Begründer der geistlichen, der allegorischen Schriftauslegung. Er kann die Schrift nicht mehr wörtlich verstehen, er muss ihr einen anderen Sinn (Allegorie) unterlegen. 3) Der Weg zum Dogma von Chalcedon Christologie als politische Theologie: Im christlich gewordenen römischen Reich (313 Toleranz'edikt' Konstantins) hatte der Glaube an den einen Gott eminente politische Bedeutung: Ein Gott - ein Reich - ein Kaiser. Dieser politische Monotheismus war durch den Glauben an die Gottheit Christi bedroht. Die Heilsbedeutung des Glaubens war ohne volle Bejahung der Gottheit Christi aber damals nicht denkbar (Erlösungsmotiv der Vergöttlichung). Arius und der Subordinatianismus: Der alexandrinische Presbyter Arius (+334) wurde durch den biblischen Glauben an einen Gott, mehr aber noch durch den Platonismus (→ Origenes) zu folgendem trinitarischen Modell gedrängt: Gott ist einzig, ungeworden, ewig, unveränderlich. Der Sohn ist sein erstes Geschöpf, in allem ihm gleich außer dem Ungewordensein (an-arche), er erschafft die Welt und geht in den Leib Jesu ein. So brachte Arius Ordnung in die Theologie. Eusebius, der Hoftheologe Konstantins, hielt es mit ihm, 32 aber Arius' Bischof Alexander von Alexandrien bekämpfte ihn. Der Kaiser verfolgte ihn als Unruhestifter. Schließlich berief dieser das Erste Ökumenische Konzil von Nizäa (325) ein. Die Konzilsväter verurteilten die arianische Lehre und formulierten folgendes Symbolon: WIR GLAUBEN AN DEN EINEN HERRN JESUS CHRISTUS, DEN SOHN GOTTES, ALS EINZIGGEBORENER AUS DEM VATER GEZEUGT, DAS HEIßT AUS DEM WESEN (ousia) DES VATERS, GOTT AUS GOTT, LICHT AUS LICHT, WAHRER GOTT AUS WAHREM GOTT, GEZEUGT , NICHT GESCHAFFEN , WESENSGLEICH (homo-ousios) DEM VATER, DURCH DEN ALLES GEWORDEN IST, WAS IM HIMMEL UND WAS AUF DER ERDE IST, DER WEGEN UNS MENSCHEN...DH 125 Obwohl sich das Konzil bemühte, im Ganzen den biblischen Duktus beizubehalten, brachte es mit dem Begriff Ousia (Wesen) einen philosophischen Terminus in das Glaubensbekenntnis ein und veränderte damit den theologischen Diskurs tiefgreifend. Alle folgende Christologie hatte zu erklären, in welcher Weise es sein kann, dass der Mensch Jesus göttlichen Wesens ist. In dieser Zeit konnte die Heilsbedeutung Christi gar nicht anders ausgesagt werden als mit der Behauptung seiner ontologischen Göttlichkeit. Die biblische Aussage, dass Jesus, der Auferstandene, auf der Seite des göttlichen Lebens und nicht auf der Seite des Todes steht, konnte man im Rahmen der antiken Ontologie nur so ausdrücken, dass man sagte: Jesus ist ein göttliches Wesen. Nach Nizäa entbrannte der trinitarische Kampf erst richtig. Verschiedenste Richtungen bildeten sich (Homoier, Homoiousianer, Anhomoier), Synoden verurteilten einander, die (Ost- und West-) Kaiser griffen mehrmals ein usw. Erst das Zweite Ökumenische Konzil von Konstantinopel (381) setzte das Symbol von Nizäa in der Kirche durch und erweiterte es um die Passagen über den Hl. Geist und die Kirche (Glaubensbekenntnis 'Nicäo-Constantinopolitanum') Die christologischen Schulen des 4. und 5. Jahrhunderts: Unter der Voraussetzung des Dogmas von Nizäa rangen über zwei Jahrhunderte lang (und letztlich bis heute!) zwei christologische Richtungen um die Erklärung der Vereinbarkeit von göttlicher und menschlicher Natur in Christus. Die Schule von Alexandrien war platonisch (und unter Voraussetzung des altägyptischen Götterkults) auf ein Denken von oben nach unten ausgerichtet, die antiochenische Schule dachte (eher biblisch) von unten nach oben. Als grobe Vereinfachung die folgende Gegenüberstellung: 33 Alexandrien Antiochien Logos ↓ Sarx Das Wort wird Fleisch (Joh 1,14): der präexistente göttliche Logos steigt in den Leib des Menschen Jesus schon bei der Empfängnis hinein und vereinigt sich mit ihm. (Dabei wurde 'Leib' allzu leicht nur im Sinne von 'Fleisch' verstanden). Das ist: - Vereinigungschristologie - Inkarnationschristologie - dezidiert antiarianisch - platonisch-origenistisch - entsprach dem Heilsinteresse und dem Glauben des Volkes Logos ↑ Anthropos Der Mensch Jesus, ein Mensch mit Leib und Seele, nähert sich in seinem Leben der Einheit mit dem Logos immer mehr an, bis dahin, dass er sich das 'prosopon' der göttlichen Natur zu eigen macht. Die beiden Naturen bleiben aber immer unterscheidbar. Das ist: - Unterscheidungschristologie - bibelnah, am Leben Jesu abgelesen - Tendenz zur Rede von "zwei Söhnen" - Einheit der Naturen nur moralisch oder im Akt der Verehrung durch die Gläubigen Aus diesem Ansatz wurde später die sog. die Idiomenkommunikation gefolgert: Was von der einen Natur ausgesagt werden kann, kann auch von der anderen ausgesagt werden (der göttliche Logos leidet; die menschliche Natur wirkt unsere Erlösung. Dass aber wirklich die göttliche Natur leidet, wollte man lange nicht zugeben). Die alexandrinische Christologie triumphierte auf dem Konzil von Ephesus und Konstantinopel II. Sie ist im Osten bis heute das leitende Modell. Sie findet die Heilsbedeutung Jesu allein in seiner Inkarnation. Die Idiomenkommunikation ließ sich damit schwer vereinbaren. Die beiden Naturen gehen ja keine wesentliche Verbindung miteinander ein, die Unterscheidung bleibt gewahrt. Die antiochenische Christologie hatte die Unterstützung der "großen Kappadozier" (Basilius, Gr. v. Nyssa, Gr. v. Nazianz) und die Sympathien der westlichen Theologie. Auf dem Konzil von Chalcedon setzte sich sich mit Hilfe Papst Leos des Großen (440-460) durch, vgl. dessen "Tomus ad Flavianum", das bedeutendste Dokument zu diesem Streit aus dem Westen. Wichtigste Vertreter: Athanasius (+ 373), entschiedenster Kämpfer für Nizäa; Cyrill (+444), großer Vereinfacher, brachte die problematische Formel von der "Vereinigung gemäß der Natur" auf. Wichtige Vertreter: Diodor von Tarsus (+394), dem die Theorie von den Zwei Söhnen angelastet wird; Theodor von Mopsuestia (+428), der tief biblisch auf die Annahme der ganzen Menschheit inkl. der sündigen Seele reflektierte; Theodoret von Kyros (+466) Häretische Formen: Apollinaris von Häretische Form: Nestorius (+451): zwei Laodicäa (+ 395): Jesus als Mensch steuert vollkommene Naturen (Menschheit und nur den Leib und die Seele (als Gottheit) können keine Einheit bilden, denn Lebensprinzip) zur Vereinigung bei, die jede hat ihr eigenes 'prosopon' vernunftbegabte Seele (= Geist) wird durch (Erscheinungsform). N. nahm darum ein den göttlichen Logos ersetzt: Die volle drittes Prosopon an, das ständig die Menschheit Jesu ist nicht gewahrt. Gegen ihn Vereinigung zwischen den Naturen vor allem Gregor von Nyssa: "Was nicht vermittelte. Damit war die Einheit sehr angenommen ist, ist auch nicht gerettet". schwach gedacht: der Mensch Jesus ist nicht Eutyches (+ 454): Die göttliche Natur saugt das göttliche Wort, sondern steht nur in bei der Vereinigung die menschliche in sich intensiver Verbindung; keine Rede von 34 auf ("wie ein Tropfen Wasser im Meer"); es bleibt nur noch eine Natur zurück (→ Monophysitismus: die allergewöhnlichste Häresie). Er wurde in Chalcedon verurteilt. Idiomenkommunikation. Gegen Cyrill: Maria nicht Gottesgebärerin, sondern "Christusgebärerin". Das Konzil von Ephesus hat ihn verurteilt. Das Dritte Ökumenische Konzil von Ephesus (431) verurteilte Nestorius. Ein eigener Text wurde nicht verfasst, nur ein Brief Cyrills gegen Nestorius bestätigt. Darin heißt es: DENN ES IST NICHT SO, DASS ZUERST EIN GEWÖHNLICHER MENSCH AUS DER HEILIGEN JUNGFRAU GEBOREN WURDE UND ERST DANN DAS WORT AUF IHN HERABSTIEG; VIELMEHR WIRD VON IHM GESAGT , DAß ES SCHON VOM MUTTERSCHOß HER DIE FLEISCHLICHE GEBURT AUF SICH GENOMMEN HAT, DA ES SICH DIE GEBURT SEINES EIGENEN FLEISCHES ZU EIGEN MACHTE. ... UND SO HABEN SIE [die Heiligen Väter] ES GETROST UNTERNOMMEN, DIE HEILGE JUNGFRAU GOTTESGEBÄRERIN ZU NENNEN, NICHT ETWA WEIL DIE NATUR DES WORTES BZW . SEINE GOTTHEIT DEN ANFANG DES SEINS AUS DER HEILIGEN JUNGFRAU GENOMMEN HÄTTE, SONDERN WEIL DER VERNÜNFTIG BESEELTE HEILIGE LEIB AUS IHR GEBOREN WURDE ; MIT IHM HAT SICH DAS WORT DER HYPOSTASE [Person] NACH GEEINT, UND DESHALB WIRD VON IHM GESAGT , ES SEI DEM FLEISCHE NACH GEBOREN WORDEN. DH 250 Nestorius hatte u.a. gesagt: "Da er [Paulus, Phil 2,5f] nämlich an den Tod erinnern wollte, setzt er, damit keiner aufgrund dessen vermute, Gott, das Wort, sei leidensfähig, das Wort 'Christus' als die das leidensunfähige und das leidensfähige Wesen in einer einzige Person kennzeichnende Bestimmung, damit Christus gefahrlos sowohl leidensfähig als auch leidensunfähig genannt werden könne, leidensunfähig in der Gottheit, leidensfähig aber in der Natur des Leibes." DH 251b [Frage: Ist nicht die alexandrinische Position zuletzt bibelgemäßer, da sie nicht, wie Nestorius als Antiochener, das Leiden von Gott fernhalten will? Kommt nicht der so biblisch argumentierende Nestorius auf die Lehre der Gnostiker zurück? - Die Alexandriner wollen eigentlich sagen: Dieser Mensch Jesus ist der Sohn Gottes. Um das in der Terminologie von den zwei Naturen auszusagen, nehmen sie sehr viel Ungereimtheit, ja scheinbare Bibelferne in Kauf. Die Antiochener aber verfehlen das biblisch Gemeinte, wenn sie Jesus und den Sohn Gottes, der er für uns ist, auseinanderziehen. Merke: Auch die scheinbar bibelgemäßere Position ist nicht immer die theologisch richtigere!] Das Vierte Ökumenische Konzil von Chalcedon (451) Im Gegensatz zum Konzil von Ephesus erarbeitete das Konzil von Chalcedon eine eigene theologische Formel, die einerseits präzise sein und andererseits genug Platz für die verschiedenen Positionen lassen wollte. Man beteuerte, nichts anderes lehren zu wollen als die Väter (Nizäa), sah sich aber wegen der neuen Kontroversen gezwungen, diese zu vervollständigen. Die Streitfrage war so zugespitzt: Soll man von "einer Natur" (Jesu Christi) oder von "zwei Naturen" sprechen? Oder noch genauer: Ist Jesus eine Person aus (ek) zwei Naturen – das war alexandrinisch – oder in (en) zwei Naturen – das war antiochenisch. Man verurteilte zunächst einhellig die beiden häretischen Extrempositionen: Nestorius, der die Naturen trennt, und Eutyches, der sie zusammenfallen lässt. Die antiochenische Linie konnte sich durchsetzen mit der Aussage: Es gibt zwei Naturen in Jesus Christus; es wurde also gegen den Monophysitismus der Dyophysitismus definiert. Die alexandrinische Linie setzte sich durch mit: Diese beiden Naturen begegnen sich in einer und derselben Person. 35 Die Formel von Chalcedon IN DER NACHFOLGE DER HEILIGEN VÄTER LEHREN WIR ALLE ÜBEREINSTIMMEND ZU BEKENNEN I. EINEN UND DENSELBEN SOHN UNSEREN HERRN JESUS CHRISTUS DERSELBE IST 1)VOLLKOMMEN IN DER GOTTHEIT VOLLKOMMEN IN DER MENSCHHEIT 2) WAHRER GOTT UND WAHRER MENSCH AUS VERNUNFTBEGABTER SEELE [!] UND LEIB 3) DER GOTTHEIT NACH DEM VATER WESENSGLEICH DER MENSCHHEIT NACH UNS WESENSGLEICH, [ES WIRD ALSO EINE ZWEIFACHE KONSUBSTANTIALITÄT ERKLÄRT!] IN ALLEM UNS GLEICH AUßER D ER SÜNDE (HEBR 4,15) 4) DERSELBE WURDE EINERSEITS DER GOTTHEIT NACH VOR DEN ZEITEN AUS DEM VATER GEZEUGT ANDERERSEITS DER MENSCHHEIT NACH IN DEN LETZTEN T AGEN UNSRETWEGEN UND UM UNSERES HEILS WILLEN AUS MARIA, DER JUNGFRAU UND GOTTESGEBÄRERIN [Ephesus!], GEBOREN [ES GIBT ALSO EINEN ZWEIFACHEN HERVORGANG JESU!] DER IN ZWEI N ATUREN (en duo f usesin UNVERMISCHT (asugx´´´´´´´´utö? ?), UNVERÄNDERLICH (atrept? ?), [gegen UNGETRENNT (adiairet? ?), UND UNTEILBAR (ax? rist? ?),), [gegen Nestorius] ERKANNT WIRD Eutyches] II. WOBEI NIRGENDS WEGEN DER EINUNG DER UNTERSCHIED DER NATUREN AUFGEHOBEN IST VIELMEHR DIE EIGENTÜMLICHKEITEN JEDER DER BEIDEN NATUREN GEWAHRT BLEIBT [antiochenisch] UND SICH IN EINER PERSON UND EINER HYPOSTASE VEREINIGT NICHT IN ZWEI PERSONEN GETEILT UND GETRENNT, SONDERN IST EIN UND DERSELBE [alexandrinisch] DER EINZIGGEBORENE SOHN, GOTT, DAS WORT, DER HERR JESUS CHRISTUS, WIE ES FRÜHER DIE PROPHETEN ÜBER IHN UND JESUS CHRISTUS SELBST ES UNS GELEHRT UND DAS BEKENNTNIS DER VÄTER ÜBERLIEFERT HAT . DA DIES ALSO VON UNS IN JEGLICHER HINSICHT MIT ALLER SORGFALT UND GEWISSENHAFTIGKEIT FESTGESETZT WURDE, BESCHLOSS DAS HEILIGE UND ÖKUMENISCHE KONZIL , DASS KEINER EINEN ANDEREN GLAUBEN VORTRAGEN , NIEDERSCHREIBEN , VERFASSEN ODER ANDERS DENKEN UND LEHREN DARF. DH 301, 302 36 Das Konzil suchte einen Kompromiss. Es hat aber letztendlich die Zwei-Naturen-Lehre dogmatisiert (Dyophysitismus) und damit den Monophysitismus zurückgewiesen. Dafür war auch der Einfluss des Papstes Leo d.Gr. verantwortlich, der in seinem "Tomus ad Flavianum" die westliche Theologie mit ihrer Betonung der ungeschmälerten Menschheit Christi (und der Demut Gottes, der Mensch wird, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen – dieses Motiv war dem Osten fremd) vorgetragen hatte. Das Konzil bestätigte diese Position des Papstes. Die Monophysiten konnten sich mit der Formel des Chalcedonense nicht abfinden. Große Teile der Christenheit trennten sich von der Kirche des Konzils: die Kopten in Ägypten (d.h. die ganze ägyptische Kirche – hier spielte u.a. der kirchenpolitische Gegensatz von Alexandrien und Konstantinopel hinein), die Jakobiten in Ostsyrien und die ganze armenische Kirche. Das fünfte Ökumenische Konzil von Konstantinopel (553, 2. Konzil von Konstantinopel) wiederholte die Formel von Chalcedon in einer extrem alexandrinischen Lesart. Die Einheit der Natur in Jesus Christus wurde so betont, dass der Monophysitismus nur so eben vermieden wurde. Mit dieser monophysitischen Schlagseite ist dann die altkirchliche Christologie vor allem in der orthodoxen Kirche rezipiert worden. Vgl. HAUSCHILD aaO. 25-46; 160-194. Das sollte man lesen, um Konkretheit und Anschaulichkeit zu gewinnen. Es ist bei mir ja gar nicht davon die Rede gewesen, in welchen Parteien- und Personenstreit diese theologischen Auseinandersetzungen verwickelt waren. V. Chalcedon – Ende oder Anfang der Christologie? Die Interpretation der chalcedonischen Formel durch Karl Rahner Die christologische Formel von Chalcedon hat die kirchliche Christologie maßgeblich bestimmt. In ihrem Rahmen hatte sich jedes rechtgläubige theologische Nachdenken über Christus zu halten. Auch die Volksfrömmmigkeit war wesentlich von der Zwei-Naturen-Lehre, d.h. von Chalcedon her bestimmt: Jesus, wahrer Gott und wahrer Mensch – wobei, wie erwähnt, die Widersprüchlichkeit dieser Formel zumeist nach der göttlichen Seite hin monophysitisch aufgelöst wurde. (Ich bemerke dazu: dieser latente Monophysitismus steht für die religiöse Seite des Christentums; so wie ich Religion in der "Der verwechselbare Gott" bestimmt habe. Die Religion will, dass das Göttliche. d.h. die Macht der Götter, in die Welt kommt; diesem Interesse kam die monophysitische Lesart des christlichen Glaubens entgegen.) Das ist eben das Bemerkenswerte, dass die geschichtlich wirksam gewordene Gestalt des Glaubens an Christus die ist, die er im Zusammenhang seiner Einpassung in die antike Logos-Spekulation erhalten hat (und nicht die biblisch-jüdische Gestalt!). Justin, Origenes, Athananius, Cyrill & Co. haben sich durchgesetzt. Ihre Theologie ist, dogmatisch gefasst, verbindlich geworden. Sie war ja auch die Gestalt der Christologie "für die Völker". Aber doch nur für die Völker jener Zeit?! Ist uns denn das Wirklichkeitsverständnis der Logos-zentrierten Antike näher als das biblische? Ich halte das für keineswegs ausgemacht. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das geändert (vgl. oben I,1 - den Artikel von Peter Rosien, von dem wir ausgegangen sind)! Die Göttlichkeit, die Gottessohnschaft Christi ist nicht mehr zentral im Glaubensbewusstsein der Kirche und der Gläubigen verankert. Vor allem wird die Erlöserschaft Christi wenn überhaupt, dann nicht mehr mit seiner Gottessohnschaft zusammengedacht (wie es für die alte Erlösungstheorie, die Satisfaktionslehre, der Fall war! Denn hier hing, wie gesagt (I,1), alles daran, dass es ein Wesen von göttlicher Natur war, das litt und damit für uns Genugtuung leistete. Alles andere an Jesus war für diese Erlösungsvorstellung irrelevant.) Anlässlich des 1500-Jahr-Jubiläums des Konzils von Chalcedon im Jahre 1951 hat sich der Theologe Karl Rahner (1904-1984), dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen, mit der Konzilsformel gründlich auseinandergesetzt. hatte. Sein Aufsatz Chalcedon –Ende 37 oder Anfang der Christologie? bedeutete eine Revolutionierung der Christologie. Rahner deutete die Formel von Chalcedon so, dass sie außer Kraft gesetzt wurde (das ist meine These, die ich im Folgenden zu erweisen suche!). Dass heute der Christusglaube nicht mehr in den Bahnen von Chalcedon verläuft (dass die Göttlichkeit Jesu nicht mehr die Bedeutung hat, die sie 1500 Jahre lang hatte), ist ganz wesentlich die Folge dieses Aufsatzes (er wurde allerdings von Erwartungen getragen, die auch anderswo zu greifen sind – Stichwort: Anthropologische Wende in der Theologie; sie sollte das Christentum neuzeitfähig machen). Mit Rahner machen wir den Sprung von der Alten Kirche in die Gegenwart. Ich stelle Rahners Aufsatz am Leitfaden seiner wichtigsten Stellen vor. Am Ende werden wir uns fragen müssen, ob wir auf den von Rahner gewiesenen Wegen weiter gehen können. Vgl. zum Folgenden: KARL RAHNER, PROBLEME DER C HRISTOLOGIE VON HEUTE, in: ders., Schriften zur Theologie Bd. I, Einsiedeln 1964, 169-222 (zuerst als CHALCEDON – ENDE ODER ANFANG, in: Das Konzil von Chalcedon, hg. von H. Grillmeier und H. Bacht, III. Bd., Würzburg 1954) Vorab ein abstract des Aufsatzes von Rahner: Indem die Formel von Chalcedon von der einen Person in zwei Naturen spricht, stellt sie Christus in einen Widerspruch hinein – sie zeichnet ihn als eine widersprüchliche, eine unmögliche Figur, als ein unmögliches Wesen. In dem Versuch, Christus als einen realen Menschen zu denken, reflektiert R. auf die Einheit der Unterscheidung von göttlich und menschlich und gelangt schließlich dazu, diese Unterscheidung aufzuheben. Folgen wir der Argumentation im einzelnen. R. skizziert eingangs sein Verständnis vom theologischen Umgang mit Dogmen. Sie müssen bewahrt werden, indem man mit ihnen weiter und über sie hinaus denkt ("Selbsttranszendenz der Formel"): Aber dieses Bewahren, das ein echtes Ein-für-allemal kennt, ist geschichtliches Bewahren nur, wenn – die Geschichte weitergeht und die Bewegung des Denkens von der erreichten Formel weggeht, um sie (sie, die alte, selbst) wiederzufinden. Das gilt auch von der chalkedonischen Formulierung des Geheimnisses Jesu. Denn diese Formel ist – eine Formel. Wir haben somit nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sie als Ende und als Anfang zu betrachten. (S. 170) Die erste Anfrage ist an die Formel von Chalcedon ist, ob die Rede von der menschlichen Natur Jesu Christi geeignet ist, die wahre und echte Menschlichkeit Jesu auszusagen: Aber kann man heute, wenn man nur von <<Natur>>, und zwar gerade im Unterschied zur göttlichen Person, spricht, jene Ursprünglichkeit der menschlichen Geschichte Jesu auf Gott hin und vor Gott und somit ihres unmittelbaren empirischen Subjekts (im Unterschied zur metaphysischen Person) für uns deutlich erhalten? Oder wird die Erlösung dann nicht praktisch unweigerlich bloß die Tat Gottes an uns, aber nicht mehr die Tat des messianischen Mittlers zwischen uns und Gott? (S. 178) Da Christus gemäß dieser Formel nur eine menschliche Natur hatte, aber nicht eine im Vollsinn menschliche Person war, fällt es schwer zu verstehen, dass er der Mittler zwischen Gott und den Menschen ist. Denn zum Mittlersein müsste es gehören, dass er die ganze menschliche, und das heißt: personale Wirklichkeit vor Gott bringt. Kann man aber aus der Formel <<eine Person – zwei Naturen im Besitz der einen Person>> jenes eigentümliche, in der Schrift greifbare und für das Verständnis der mittlerischen Funktion Christi unerläßliche Verhältnis zu Gott im Bereich der menschlichen Wirklichkeit Jesu (das ihm ein freies Handeln auf Gott und vor ihm ermöglicht) ableiten, das heißt in dieser Formel schon implicite enthalten erkennen? (S. 179) Die wahre Menschheit Jesu muss, gerade wenn sie für sein Mittlertum, d.h. für seine Erlösungsfunktion relevant ist, als Freiheit und Selbststand gegenüber Gott (bzw. der göttlichen Natur Jesu) und nicht nur als passives Instrument Gottes gedacht werden. Wie kann das christologische Gesamtdogma so formuliert werden, daß möglichst schon im Ansatz oder doch mit genügender Deutlichkeit der Herr als der messianische Mittler und so als der wahrhafte Mensch erscheint, der, in freiem menschlichem Gehorsam vor Gott auf unserer Seite stehend, Mittler ist, und zwar nicht nur in der ontologischen Vereinigung zweier Naturen, sondern Mittler durch sein Handeln, das sich auf Gott (als Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters) richtet und nicht bloß als Handeln Gottes in und durch eine rein 38 instrumental gefaßte menschliche Natur gedacht werden kann, die dem Logos gegenüber ontologisch und moralisch rein passiv wäre? (S. 181 f) R. hebt nun an, seinen grundlegenden Gedanken zu entwickeln: Die Einheit und die Eigenständigkeit der Naturen stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sie bedingen einander und wachsen miteinander. Je mehr Gemeinschaft und Nähe, um so mehr Eigenständigkeit! Und dieses ganz besondere Verhältnis kann nur Gott herstellen. Denn nur bei Gott ist es überhaupt denkbar, daß er selber die Unterschiedlichkeit zu sich selbst konstituieren kann. (S. 182) Dieses Verhältnis liegt ja schon bei der Schöpfung vor: Gott schafft etwas, was, weil es geschaffen ist, radikal abhängig ist von ihm, aber er erschafft es als etwas Eigenes und Selbständiges. Genau nach diesem Modell ist auch das Zueinander der beiden Naturen in Christus zu denken. Das aber bedeutet, die hypostatische Union nicht als singulären Sonderfall, sondern als Höhepunkt des auch sonst in der Schöpfung gegebenen Verhältnisses der Geschöpfe zu Gott zu verstehen: Das Verhältnis der Logos-Person zu ihrer menschlichen Natur ist gerade so zu denken, daß hier Eigenstand und radikale Nähe in gleicher Weise auf ihren einmaligen, qualitativ mit anderen Fällen inkommensurablen Höhepunkt kommen, der aber doch eben der einmalige Höhepunkt eines Schöpfer-Geschöpf-Verhältnisses ist. (S. 183) Für die Menschen als Geschöpfe Gottes gilt somit im Prinzip das Gleiche, was auch für Christus gelten muss: Die menschliche Geschichte in ihrer Freiheit und Eigenständigkeit kann zum Ort der Offenbarung Gottes werden. Die beiden Seiten der Unterscheidung menschlich/göttlich bilden keine Gegensätze, sondern sie sind eine paradoxe Einheit: Diese menschliche Geschichte ist gerade dadurch, daß sie reine und radikalste Offenbarung Gottes selbst ist, die lebendigste, freieste vor Gott, von der Welt auf Gott hin und so mittlerisch, weil sie Gottes selbst und weil sie kreatürlichste und freieste ist. (S.184) Die Lehre von der hypostatischen Union, der Einheit und Verschiedenheit der beiden Naturen in der Person Christi, sagt somit etwas aus, was für die ganze Schöpfung gilt. Alles Geschaffene in seiner Eigenständigkeit ist zugleich Offenbarung Gottes. Christus ist nichts anderes, aber er ist der Höhepunkt dieses Geheimnisses der Schöpfung. Die wesentliche Einmaligkeit, Unableitbarkeit und der Geheimnis-Charakter der Wirklichkeit Christi schließen nicht aus, diese zu betrachten in einer Perspektive, in der sie als Gipfel und Abschluß, als geheimes, von vornherein von Gott geplantes Ziel des göttlichen Wirkens in der Schöpfung erscheint. (S. 185) Wenn das aber so ist, dann ist Christus kein Sonder- und Einzelfall mehr, sondern der Höhepunkt der Schöpfungswirklichkeit. Er kann von der Schöpfung her erfasst und beschrieben werden. Und alle Schöpfung, und genauer: jeder Mensch, ist ein defizienter Christus. Ist er [der Versuch, Christus als Höhepunkt und Zusammenfassung der Schöpfung zu begreifen] aber möglich, so können wir die allgemeinen Kategorien des Gott-GeschöpfVerhältnisses (Nähe-Ferne; Bild-Verhüllung; Zeit Ewigkeit; Abhängigkeit-Selbstand) in ihrer radikalen, entgrenzten Form zu grundlegenden Aussagen über Christus verwenden und alle anderen Wirklichkeiten im Bereich des von Gott Verschiedenen als defiziente Modi dieses christologischen Urverhältnisses ansehen. (S.186) Fazit bis hierhin: R. hat es geschafft, die Person Jesu ihres exzeptionellen, mysterienhaften, vielleicht auch: mythologischen Charakters zu entkleiden. Hier ist nicht mehr der geheimnisvolle, unbegreifliche Gott-Mensch, nicht mehr die Einheit des Unvereinbaren, sondern Jesus ist etwas ganz "Natürliches", etwas, was seiner Eigenart nach zur Schöpfungswirklichkeit ganz normal gehört, wenn es auch deren einmaliger Höhepunkt ist. Worauf es hier nur ankam, war dieses: fragend anzudeuten, ob nicht zur ursprünglichen Aussage der Wirklichkeit Christi auch andere Kategorien verwendet werden könnten als die der klassischen Christologie, und zwar solche, die aus einer wirklichen theologischen Schöpfungslehre entnommen wären. (S. 187) Wenn Jesus auf diese Weise in die Schöpfung zurückgenommen wird, dann ist er auch als ein Teil der Geschichte zu verstehen. Als Höhepunkt der Schöpfung muss er dann auch Höhepunkt der Geschichte sein. R. kommt zur Vorstellung einer geschichtlichen Entwicklung und eines Fortschritts, der auf Christus zuläuft: Könnte es nicht eine Formel der Heilsgeschichte als der fortschreitenden geschichtlichen Inbesitznahme der Welt durch Gott, als der immer gleichzeitig deutlicher und verhüllter werdenden Erscheinung Gottes in der Welt als seinem quasi-sakramentalen Mysterium 39 geben, in der der Christus als der Höhepunkt dieser Geschichte und die Christologie als die schärfste Zuspitzung der Formulierung dieser Geschichte erschienen, wie natürlich auch umgekehrt die Heilsgeschichte als Präludium und Ausführung der Geschichte Christi? (S. 187) In diesem Zusammenhang verweist R. auf die Logos-Spekulation der Kirchenväter, die auch die Geschichte vor Christus als Vorgeschichte Christi, als Entwicklung auf ihn hin, begriffen haben (s. oben IV, 1, zu Justin). Christus ist der Geschichte nicht fremd, er ist in der Geschichte bereits irgendwie enthalten und erwartet. Wird aber die Einheit der Geschichte und ihre Zentriertheit auf Christus ernst genommen, dann bedeutet dies eben, daß Christus immer schon als prospektive Entelechie in der ganzen Geschichte steckte. (S. 188) An dieser Stelle hat R. sein Hauptergebnis erreicht: Christus ist Teil der Schöpfungswirklichkeit und kein Wesen, das die Grenzen des Geschöpflichen sprengt. – Im Weiteren zieht R. Folgerungen aus diesem Ergebnis. Zuerst geht es um das Selbstbewusstsein Jesu. Die alte, chalcedonensische Theologie hatte es sich verboten, Aussagen über das Selbstbewusstsein Jesu zu machen. Denn das Mysterium der gott-menschlichen Einheit und (zugleich) Verschiedenheit konnte nicht auf der Ebene eines Bewusstseins abgebildet werden. R. fragt nun, ob nicht auf der Grundlage seines Ansatzes eine Bewusstseins-Christologie entwickelt werden könnte, die in der Lage wäre, wesentlich mehr von den biblischen Informationen über Jesus aufzunehmen als die Zwei-Naturen-Christologie, die de facto mit einem minimalen biblischen Fundament auskam. Die Frage ist nun die: ließe sich von hier aus eine Bewußtseins-Christologie aufbauen? (S. 189) Das würde aber bedeuten, Jesus (Jesu Bewusstsein) wie das eines ganz normalen Menschen zu verstehen. R. spricht von einer 'existentiellen Christologie': Wenn es eine ontische Christologie gibt, kann es auch eine existentielle geben (oder wie immer man die Aussage über die Weise des Bei-sich-seins eines Seienden von geistiger Art nennen mag). (S. 192) Dann erhebt sich die Frage, was Jesus als Mensch war und dachte und worin er sich von den anderen Menschen unterschied. R. beschreibt das Besondere am Menschen Jesus (noch sehr tastend, versuchsweise) als seine absolute Selbsthingabe an Gott: Wer zum Beispiel sagen würde: <<Jesus ist der Mensch, der die einmalige absolute Selbsthingabe an Gott lebt>>, könnte damit das Wesen Christi durchaus richtig in seiner Tiefe ausgesagt haben..., (S. 193) aber wenn man das so formuliert, könnte der Eindruck entstehen, das Besondere an Jesus sei etwas, was er selbst geleistet habe, oder genauer: das Göttliche an ihm sei sein Gottesbewusstsein. R. fügt deshalb der eben zitierten Stelle das Folgende an, das deutlich machen soll, dass diese absolute Selbsthingabe Jesu an Gott eine Aktivität Gottes an Jesus zur Voraussetzung hat. Gott selbst teilt sich Jesus mit, Jesus antwortet darauf mit der absoluten Selbsthingabe. ...vorausgesetzt, daß er [der so etwas sagen würde, s.o.]begriffen hätte, daß a) diese Selbsthingabe eine Mitteilung Gottes an den Menschen voraussetzt, daß b) eine absolute Selbsthingabe eine absolute Mitteilung Gottes an den Menschen impliziert, die das durch sie Bewirkte zur Wirklichkeit des Bewirkenden selbst macht; und daß c) eine solche existentielle Aussage nicht ein <<Gedachtes>>, eine Fiktion bedeutet, sondern in radikalster Weise eine Seinsaussage ist. (S. 193) Also: Gott teilt sich dem Menschen Jesus absolut und uneingeschränkt mit (und das bedeutet auch für ihn etwas, macht 'das Bewirkte zur Wirklichkeit des Bewirkenden'), Jesus antwortet darauf absoluter Selbsthingabe an Gott – hätten wir dann nicht das, was die Formel von Chalcedon mit den zwei Naturen (ungetrennt und unvermischt) sagen wollte?! Wie wäre es also, wenn wir dieses was eines Menschen ist, so dächten und sagten, daß es nur als solches menschliches Geschehen denkbar ist, wenn dieses Geschehen schlechthin, in aller Wahrheit und in radikalster Weise Gottes selbst ist? (S. 194) Das Geschehen ist menschlich, weil es ein Geschehen Gottes ist – das ist die Einheit, die doch die Unterschiedlichkeit, die Eigenständigkeit des Menschen und Gottes voraussetzt. Kann man Chalcedon so verstehen? Dieser Frage geht R. im Folgenden nach. Was heißt nach seinen Voraussetzungen: eine Person in zwei Naturen? Dabei lässt er sich zunächst noch einmal auf eine Analyse der chalkedonischen Formel ein: 40 Wir versuchen die chalkedonische Formel selbst in sich zu verstehen und die Aporetik, die sie läßt, uns noch etwas deutlicher zu machen. Diese Formel spricht von zwei Naturen; sie rückt diese deutlich in ihrer jeweiligen Eigenart vor unseren Blick. (S. 194) Zunächst zeigt er ausführlich, dass die Formel von Chalcedon in sich selbst widersprüchlich ist. Göttliche und menschliche Natur können definitionsgemäß nicht in einer Person zusammenkommen. Die Formel behauptet etwas Unmögliches, sie macht Christus zu einem unmöglichen Wesen. Der Christus ist zerspalten in zwei Möglichkeiten, die bloß durch die formal und leer bleibende Aussage ihrer hypostatischen Einheit zusammengehalten werden. (S. 200) Um aus diesem Dilemma herauszufinden, kommt R. noch einmal auf den Ansatz zurück, den er oben schöpfungstheologisch skizziert hatte. Die Einheit und die Verschiedenheit der Naturen dürfen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sie müssen vielmehr so gedacht werden können, dass sie miteinander wachsen. Der Grund der Konstitution des Verschiedenen und der Grund der Konstitution der Einheit mit dem Verschiedenen müssen als solche streng derselbe sein. (S. 202) Das bedeutet dann: Dadurch, dass Jesus Mensch ist, ist er geeint mit dem Logos. Gott wird Mensch, das kann nicht heißen, dass er die Menschlichkeit des Menschen auslöscht, sondern dass er sich zeigt in der Menschheit des Menschen Jesus. Wird so die Setzung der Menschheit Christi in ihrer freien Unterschiedenheit von Gott selbst zum Akt der Einigung mit dem Logos, so wird auch verständlich, warum diese Menschheit, sie selbst in ihrer konkreten Existenz als solcher, eo ipso die mysterienhafte Erscheinung, die quasi-sakramentale Anwesenheit Gottes bei uns ist. (S. 204) (Achtung, jetzt wird es ganz dicht und ganz wichtig! R. steuert jetzt auf die Spitzenaussage zu, dass Christologie in Wahrheit nichts als Anthropologie ist, oder anders: dass Christus dadurch Gottes Sohn war, dass er in höchstem Maße und unüberbietbar Mensch war.) Zunächst ist ja zu fragen, was hier unter Menschsein zu verstehen ist: Mensch-sein ist vielmehr gerade jene Wirklichkeit, die, von absoluter Offenheit nach oben, dann zu ihrem höchsten, wenn auch „ungeschuldeten“ Vollzug, zur Wirklichkeit der höchsten Möglichkeit des Menschseins kommt, wenn in ihr der Logos selbst in die Welt hinein existent wird. (S. 204) Dies ist nun die Rahnersche Transzendentaltheologie in Kurzfassung: Der Mensch ist ein Wesen, das offen für Gott ist und seine eigene Vollendung darin findet, dass Gott sich ihm offenbart. R. ruft die alte theologische Figur der potentia oboedientialis, der Fähigkeit zu gehorchen oder zu hören, auf, um diesen Gedanken zu unterstreichen. – [Später wird er vom übernatürlichen Existenzial des Menschen sprechen: es gehört zur natürlichen Existenz des Menschen, auf die Übernatur – Gott – bezogen zu sein, und zwar eben als die Erfüllung der der Natur eigenen Potenz.] – Dann ist also unter den zwei Naturen zu verstehen: Jesus als Mensch verwirklicht in höchstem Maße jene grundmenschliche Bezogenheit auf Gott hin, so sehr, dass er zur Offenbarung Gottes wird. – Ist dann aber seine 'Göttlichkeit' nur seine eigene Leistung? Nein, denn die Erfüllung der Sehnsucht nach Gott kann kein Mensch erzwingen. Gott selbst muss kommen, um sich dem Menschen zu schenken. Aber wenn er kommt, erkennt ihn der Mensch als die Erfüllung seiner natürlichen Sehnsucht. Dass eine („obödientiale“) Potenz nur durch einen freien Akt von oben her erfüllt wird, ist kein Argument dagegen, dass dieser Akt die reine Erfüllung eben dieser Potenz als ihrer selbst ist. (S. 204) Damit ist dieser Gedankengang abgeschlossen. R. hat zu einem völlig neuen Verständnis der Zwei-Naturen-Lehre gefunden! Jesus ist darin ganz göttlich, dass er ganz menschlich ist. Christologie ist Anthropologie – so aber, dass erst von Christus her klar, was der Mensch eigentlich und letztlich ist. Eine ganz kleine Aporetik dieser Formel zeigt nun, dass, wenn wir besser zu begreifen suchten, was die Einheit (unvermischt und ungetrennt) sei, die die menschliche Natur zu der des Logos selbst macht, wir auch besser verstehen würden, wer der Mensch ist; daß Christologie Ende und Anfang der Anthropologie zugleich ist und daß in alle Ewigkeit solche Anthropologie wirklich Theologie ist. (S. 205) Es ist also nicht so, dass man aus der Kenntnis des Menschen heraus Christus erwarten und konstruieren kann. Erst nachdem Christus gekommen ist (a-posteriori, im Nachhinein), kann man wissen, was der Mensch eigentlich und immer (apriori) schon ist: das Wesen, das seine eigene Erfüllung in der Gemeinschaft mit Gott findet. 41 ...dass das apriorische Schema dem realen Gegenstand a posteriori sein Dasein verdanken kann, also gar nicht dessen Meisterung bedeutet. (S. 207) Wenn das auch wahr ist und nicht behauptet werden kann, dass die Idee eines Christus aus dem Menschsein und der Geschichte abgeleitet werden kann, so ist doch das Menschsein und die Geschichte nunmehr so zu verstehen, dass sie für Christus als ihre Vollendung offen sind. Er [der Mensch] schaut darum aus – und zwar in seiner Geschichte -, ob ihm nicht die höchste Erfüllung (so frei sie bleibt) seines Wesens und seiner Erwartung begegne, in der sein (sonst so leerer) Begriff vom Absoluten schlechthin erfüllt ist und seine (sonst so blinde) Anschauung durchsichtig wird auf den absoluten Gott selbst. Der Mensch ist also der, der die freie Epiphanie Gottes in seiner Geschichte zu erwarten hat. Jesus Christus ist sie. (S. 208) Christus als die Erfüllung des wahren Menschseins, wahres Menschsein als Epiphanie Gottes –das macht es nun möglich, den latenten Monophysitismus des christlichen Glaubens, der stets die Göttlichkeit auf Kosten der Menschlichkeit betonte, zu überwinden. Mit R. kann nun gesagt werden: Jeder wahrhaft menschliche Akt ist zugleich ein wahrhaft religiöser Akt, denn er hat Teil an der Inkarnation, am Kommen Gottes in die Welt. Aber man hat kaum etwas zu sagen darüber, dass unsere religiösen Grundakte, die doch dauernd durch Christus vermittelt sind, eine „inkarnatorische“ Struktur haben. (S. 209) Daraus ergibt sich nun eine neue Offenheit der Christen für die anderen Religionen und für die Religionsgeschichte. Denn das darin eigentlich Gesuchte und Gemeinte ist doch nichts anderes als der Christus bzw. die Anwesenheit Gottes in der Welt. Wer Christus kennt, kennt die Religionen besser, als sie sich selbst kennen. Er weiß, was das letzte Ziel aller Religionen ist. Es käme im letzten darauf an, von unserem Wissen um die faktische Inkarnation her und nur von diesem Standpunkt aus, der allein eine erhellende Interpretation der sich sonst selbst nicht verstehenden Religionsgeschichte ist, diese Geschichte daraufhin zu mustern, ob und inwieweit sich der Mensch tatsächlich als der in seiner Geschichte zeigt, der er unweigerlich im Grunde seines konkreten Wesens ist: der Mensch, der nach der Anwesenheit Gottes selbst in seiner Geschichte ausschaut. (S. 210) Das folgende Zitat unterstreicht noch einmal das Ergebnis, hier mit Blick auf das Menschliche im Leben Jesu, für das die bisherige Christologie gar kein rechtes Verständnis aufbringen konnte: ...dass das gewöhnliche Menschliche dieses Lebens die Ek-sistenz Gottes im obigen vorsichtig eben erreichten Sinn, menschliche Wirklichkeit und so Gottes ist und umgekehrt. (S. 212) Aber an dieser Stelle ist noch einmal unbedingt darauf zu achten, dass in Christus erst a posteriori deutlich wird, was tatsächlich apriori die Wahrheit der menschlichen Existenz ist. Erst in Christus verstehen wir, was wir wirklich sind. ...was bedeutet unser Leben, das wir von uns her im Grunde doch nicht verstehen, so gut wir es kennen mögen, wenn es zuerst und zuletzt das Leben Gottes ist? (S. 212) R. verdeutlicht die Koinzidenz von zutiefst menschlichen und christlichen Akten im Blick auf den Tod Jesu. Die alte Theologie hat ihn so gedeutet, dass hier der Gottmensch für uns und an unserer Stelle vor Gott Sühne leistet. Für R. hingegen ist der Tod Christi letzter Ausdruck seiner absoluten Hingabe [hier Gehorsam genannt] an Gott und gerade damit zutiefst menschlich, denn unser aller Tod kann in diesem christlichen Sinne als Übereignung an das unbegreifliche und furchtbare Geheimnis unseres Lebens [in diesem Sinne, weil er das Fallenlassen in das dunkle Geheimnis des Gottesferne bedeutet, ist er auch Strafe], das Gott ist, bestanden werden. Es müsste der Tod herausgearbeitet werden als die konnaturale Erscheinung der sündigen Gottesferne (und nicht nur als äußerlich verhängte `Strafe´, die Gott ebenso gut durch eine andere hätte ersetzen können) und in einem damit als Erscheinung und konstitutives Zeichen des absoluten Gehorsams gegen Gott (wenigstens dort, wo er von Christus oder mit ihm gestorben wird). (S. 216) R. weitet die Perspektive auf das Weltverständnis im Ganzen. Wenn Christus als Höhepunkt und Vollendung der Welt zu verstehen ist, dann haben die Christen der Welt etwas ganz Wichtiges zu sagen. R.s Lehre ist also auch für die Verkündigung (kerygmatisch) wichtig Die Welt muss so entworfen werden, daß der eine Christus, und zwar als Mensch, von ihr her sinnvoll erscheint. Diese Frage ist heute kerygmatisch wichtig. (S. 219) 42 Das Christusereignis kann in den Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken der Neuzeit eingeordnet werden. Christus ist der bereits vollzogene Höhepunkt der Geschichte; der Fortschritt der Geschichte besteht darin, dass dies mehr und mehr offenbar wird. ...die Menschwerdung Gottes, in die kosmisch, moralisch, religiös, gnadenhaft und eschatologisch die übrige Menschheit bei all ihrer denkbaren `Entwicklung´ nur asymptotisch hineinwachsen kann, die sie aber nie überbieten kann, weil die Höhe aller `Entwicklung´, der Durchbruch Gottes in die Welt und die radikale Öffnung der Welt in die freie Unendlichkeit Gottes in Christus, für die ganze Welt schon geschehen ist, so sehr noch innerweltlich im Spiegel und Gleichnis aller noch ausständigen Geschichte und eschatologisch sich offenbaren muss, was da schon endgültig geschehen ist. (S. 220) Die Einheit von Christologie und Anthropologie lässt sich abschließend für das Verständnis der Gnade auswerten. Von Christus ("von daher") lässt sich sagen, dass alle die die Gnade haben, die wahrhaft Mensch sind (also auf die Einheit des Menschlichen mit dem Logos bezogen sind). ... warum sagt man nur in der Christologie, dass Christus in seiner menschlichen Seele die heiligmachende Gnade hatte? Warum sagt man nicht umgekehrt, dass Gnade das ist, als was sich im Bereich der menschlichen Natur die Einheit des Menschlichen mit dem Logos auswirkte und was dann auch, und zwar von daher, gehabt werden kann in denen, die nicht die Ek-sistenz des Logos in Zeit und Geschichte sind, wohl aber zu dessen notwendiger Umwelt gehören? (S. 221) Rahners geniale Interpretation des Dogmas von Chalcedon scheint nicht nur die Probleme dieser Formel allesamt gelöst zu haben, sondern sie kann auch noch die Heilsbedeutung Jesu ganz neu für unsere Zeit erschließen. Rahner sagt: Jesus war darin göttlich, dass er die im Wesen des Menschen liegende Bezogenheit auf Gott in radikaler und unüberbietbarer Weise gelebt hat. Damit sind Eigenständigkeit und Gemeinschaft der 'Naturen' gleichermaßen gegeben (wie es Chalcedon mit dem unvermischt und ungetrennt sagen wollte), so aber, dass das Personale, das Handeln (die absolute Selbsthingabe) der menschlichen Person Jesus Christus das zentrale Moment ist (und nicht wie in der Rede von der hypostatischen Union in Chalcedon eine letztlich unverständlich bleibende Behauptung). Die soteriologische Bedeutung dieses christologischen Ansatzes liegt aber darin, nun von Christus her den Menschen unserer Zeit sagen zu können: Werdet menschlich, lebt euer Wesen, eure Natur, und ihr werdet die Vollendung finden, die ihr sucht. Und diese Aussage ist dann noch einmal von einem bloßen Humanismus dadurch geschieden, dass die Erfüllung der menschlichen potentia oboedientialis, der Bezogenheit auf Gott hin, nun eben nicht erzwingbar ist, sondern freies, unerzwingbares, gnädiges Tun Gottes bleibt. Doch es bleiben Fragen. Die erste, naheliegendste ist vielleicht: Ist es nicht ein Widerspruch, von dem historischen Menschen Jesus zu sagen, er sei der unüberbietbare Höhepunkt der Geschichte gewesen? Wie kann es in der Geschichte etwas Unüberbietbares geben? Wird man nicht nach Menschen Ausschau halten, die die Selbsthingabe an Gott radikaler gelebt haben als Jesus (das Problem hatte schon Justin mit Sokrates). Die Paradoxie der chalcedonischen Formal kehrt bei Rahner an dieser Stelle wieder, wo er eine Endgültigkeit in der Geschichte behauptet. Das Zweite, gravierendere ist aber: Was hat das Christliche nun noch dem Menschlichen voraus? Nichts mehr außer dem, dass in Christus in sonst verborgene oder undeutliche Wahrheit des Menschen zu ihrer letzten Klarheit kommt. Dass die Leerstelle in der menschlichen und religiösen Existenz nun einen Namen bekommen hat. Die (Heils-)Bedeutung Jesu Christi scheint allein darin zu liegen, dass in ihm etwas offenbar wird, was ohnehin der Fall ist. Es wird nun möglich, alle menschlichen Akte der Selbsthingabe an das unbegreifliche Geheimnis des Lebens (das Woraufhin der Existenz ... die Zukunft ... den Tod ... die Liebe usw.) als christliche zu verstehen. Der anonyme Christ ist geboren: der Mensch, der wahrhaft menschlich lebt und dabei schon wahrhaft christlich ist, ohne darum zu wissen. Die Unterscheidung, die die Formel von Chalcedon in all ihrer Sperrigkeit und Widersprüchlichkeit (genauer: Paradoxalität) bewahren wollte, ist dahin – die zwischen göttlicher und menschlicher Natur. Mit Rahner kann es nun heißen: Die wahrhaft 43 menschliche Natur ist die Epiphanie Gottes, sie ist die göttliche Natur. Es kann nicht mehr zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit unterschieden werden. Und so kommt es, dass Rahner in allen Religionen, in allem Humanen, dieselbe Grundbewegung am Werk sehen kann wie in Christus. Warum nicht einfach ein guter Mensch, ein guter Buddhist, ein guter Moslem usw. sein, wenn doch die Theologie weiß, dass das in allen wahrhaft menschlichen und religiösen Suchbewegungen Gesuchte nichts anderes ist als das Geheimnis unseres Lebens, Gott genannt? So fällt denn auch die Unterscheidung Gott/Götter für Rahner dahin... VI. ... ein Licht zur Erleuchtung der Heiden, und eine Herrlichkeit für dein Volk Israel. Rückblick und Ausblick Ich nehme die Worte des greisen Simeon Lk 2,29-32 zum Ausgangspunkt für einen Rückblick und einen Ausblick. Sie stehen im Kontext der Darbringung (Auslösung) des Knaben Jesus im Tempel, von der Lukas gleich mehrfach hervorhebt, dass Jesu Eltern sie gemäß dem Gesetz des Herrn vornehmen (Lk 2,23f. 39). Die Geschichte Jesu wird hier ganz in den jüdischen Ritus eingezeichnet. Zugleich wird er durch die Erwartung Simeons auf "die Rettung Israels" mit den prophetischen Traditionen verbunden. Der Heilige Geist, der auf Simeon ruht, ist es offenbar, der kultische Tora-Tradition und Prophetie zusammenhält, denn er ist es, der den auf den Messias wartenden Simeon in den Tempel führt. Hier hätten wir vielleicht noch einmal eine innerbiblische, ganz jüdisch-alttestamentlich gedachte Trinität: Der Vater gibt das Gesetz, der Sohn wird als Messias erwartet, der Geist verbindet beides miteinander (auf dass sich Gesetz und Propheten nicht voneinander abkoppeln, wie es ja de facto in unserer europäischen Neuzeit geschehen ist, die die prophetische Erwartung des Kommenden in ihrem Fortschrittsglauben übernommen hat, vom Gesetz aber nichts wissen wollten und deshalb ohne den Heiligen Geist, also geistlos, blieb.) Diese dezidiert jüdische Darstellung Jesu in Lk 2,22-52 (denn sachlich muss man die Worte der greisen Hanna und die Paschawallfahrt zum Tempel noch mit dazunehmen) öffnet sich nun in Simeons Worten auf die Völker hin. Damit geschieht hier genau das, was ich in dieser Vorlesung nachzuzeichnen versucht habe: Jesus, der in der Welt der Schriften lebt, tritt in die Welt der Völker! Während aber der Weg zu den Völkern, dem wir nachgegangen sind, mit dem Begriff der zwei Naturen verbunden, ist hier bei Simeon von Licht für die Heiden und Herrlichkeit für Israel die Rede. Wir wollen einmal sehen, wohin es uns führt, wenn das Kommen Jesu in die Welt der Völker unter diesen biblischen Begriffen denken. Zunächst aber ein Rückblick, der hauptsächlich zeigen soll, dass wir über den Stand der bisherigen Christologie hinauskommen müssen. 1) Rückblick: aus der Welt der Schriften in die Welt der Völker Wir haben gehört (in III.): Jesus ist in der Welt der Schriften zuhause. Was er ist, was er bedeutet, was er uns bedeutet, ergibt sich im Zusammenhang der biblischen Traditionen, in die ihn die neutestamentlichen Schriften hineinstellen. Die Kirche hat die Bindung Jesu an die Welt der Schriften kanonisch, also zur Regel und Richtschnur gemacht, indem sie den Kanon definierte. Aus dem, was über Jesus in der Welt der Schriften gesagt wurde, möchte ich nur noch einmal in Erinnerung rufen: • Die Tora/die Schriften sind der Maßstab der Realität: was wirklich ist, ist gemäß den Schriften • Der Zusammenhang von Tod und Auferstehung ist nur aus den Schriften zu erschließen. Nur die Schriften geben die Sprache und die Kategorien der Wirklichkeit, um zu verstehen, dass der, der am Kreuz geendet hat, als dieser Gekreuzigte lebt und der Anführer eines neuen Lebens ist. • Jesus wird von den Schriften ausgelegt und lebendig gemacht, und er legt die Schriften neu aus und macht sie lebendig. Dies ist ein wechselseitiger Prozess des Auslegung und Kommentierens (Jesus ist ein lebendiger Schriftkommentar!) 44 • • • • Die Schriften sind die Brücke vom vorösterlichen zum nachösterlichen Jesus. Nur mit ihnen ist zu verstehen, dass der verkündigte Jesus mehr und anderes ist als der verkündigende. Der Vorgang der wechselseitigen Auslegung zwischen Jesus und den Schriften ist ein trinitarischer Vorgang. Jesus ist messianisch, weil er die in den Schriften steckenden messianischen Hoffnungen wieder erweckt. Der Vorgang der Wiedererweckung der Hoffnungen der Früheren, der Verlebendigung der uneingelösten Verheißungen der Vergangenheit gründet in der Struktur der Wiederholung, die der sich das Leben der Schriften bewegt. Die Bewegung der Schriften kommt immer da zu ihrem Ziel, wo sie ihre Leser und Leserinnen bewegt: dort, wo wir selbst uns als Adressaten der Hoffnungen der Früheren verstehen – wo wir, mit Benjamin gesprochen, unsere messianische Kraft entdecken. Dazu verhilft uns Jesus. Denn ohne ihn könnten wir uns nicht als die in den Verheißungen der hebräischen Bibel Angesprochenen verstehen. Als wir uns Jesus in der Welt der Völker zugewandt haben, sind wir vor allem der LogosSpur gefolgt. Die in der Antike verbreitete Rede vom Logos schien ein ideales Medium zu sein, um die biblische Botschaft von Jesus zu transportieren. Aber schon bald zeigte sich, dass die Transposition Jesu in die Logosspekulation, so sehr sie auch zu Umstellungen im antiken Denken zwang, zu einem völlig neuen Jesusbild führte. Seine lebensschaffende Funktion, die er von der Auferstehung her hat, musste nun als die Einheit einer göttlichen und menschlichen Natur ausgelegt werden. Jesus ist nun der Erlöser oder Mittler, indem er zwischen der vollkommenen und der unvollkommenen, der unsterblichen und der sterblichen Natur usw. vermittelt. Und darin liegt auch: Er hat schon, kraft seiner Menschwerdung, diese Vermittlung vollzogen (Man könnten sagen: das horizontal-geschichtliche Modell der Bibel wird durch ein vertikal-ontologisches ersetzt). Dass unter diesen Umständen das Messianische an ihm zurücktrat zugunsten seiner Mittlerfunktion (die er bereits erfüllt hat!) , versteht sich. Das Denken in den Begriffen der antiken Philosophie und namentlich der Logoslehre führte mit Notwendigkeit zur dogmatischen Formel von Chalcedon. Wir haben gesehen: eine bessere Formel ist nicht denkbar, wenn man die Einseitigkeiten sowohl der alexandrinischen wie der antiochenischen Christologie vermeiden wollte. Chalcedon verhindert, Jesus in das Bild irgendeiner Philosophie zu bannen. Das Konzil lässt die Frage nach Jesus letztlich offen und ist damit, wie Rahner zu Recht sagte, weniger Ende als Anfang der Christologie. Die Formel von Chalcedon hat jedoch Jesus als einen unmöglichen Menschen, als eine unmögliche Figur hingestellt: Er soll die personale Einheit zweier sich gegenseitig ausschließender Naturen sein. Diesen Jesus kann man sich nicht vorstellen und nicht denken. De facto wurde deswegen die Formel-Christologie von Chalcedon immer nach einer ihrer beiden Seiten aufgelöst: Jesus entweder • ein Gott in menschlichem Fleisch, also ein göttliches Wesen ohne wirkliche Menschlichkeit (so der Hauptstrom des christlichen Denkens), oder • als ein Mensch mit besonderem Gottesbewusstsein (so die aufgeklärten Kritiker der kirchlichen Christuslehre zu allen Zeiten bin hin zu Meinrad Limbeck) Die beiden Schulen (Alexandrien, Antiochien) kehren hier also wieder. Rahner hat versucht, dieser schiefen Alternative zu entkommen. Ich meine aber, dass er trotz allem nur bei einem Menschen mit Gottesbewusstsein angekommen ist. Nur definiert der Menschlichkeit und Göttlichkeit und ihren Bezug aufeinander so um, dass dieses Gottesbewusstsein schon als der Höchstfall der gott-menschlichen Einheit erscheint. Der Preis für diese Operation ist der Wegfall der chalcedonensischen Unterscheidung. Die folgende Skizze fasst den Rückblick in ein Bild: 45 46 2) Ausblick: Aus der Tatsache, dass Jesus in der dogmatischen Formel von Chalcedon als ein unmögliches Wesen erscheint, ist zu schließen, dass Jesus nur in der Welt der Schriften möglich ist, also nur dort der ist, der er ist. Ich verallgemeinere also den Befund von Chalcedon auf andere Deutungen Jesu gemäß dem Wirklichkeitsverständnis der verschiedenen Völker und Kulturen. Das Seminar über "Jesus im Film" vom 31.01.04 unter der Leitung von Dr. Thomas Kroll hat gezeigt, dass keine Übertragung Jesu in einer andere kulturelle Welt wirklich befriedigt: Entweder fehlt eine unverzichtbare Dimension, oder er wird wieder zu einer mirakulösen, unmöglichen Figur. – Aber hier müsste man im einzelnen noch genauer hinschauen. Und hier liegt nun auch die dogmatische Wahrheit und damit zugleich Verbindlichkeit der Konzilslehre von Chalcedon. Sie sagt uns, dass Jesus in den Begriffen der Völker (hier: der antiken Philosophie) nicht gedacht werden kann, sondern vielmehr undenkbar ist und deshalb so auch nicht gedacht werden darf. Indem das Konzil das unvermischt und unveränderlich, ungeschieden und unteilbar definierte, hat es die Undenkbarkeit Jesu in den Begriffen der Völker festgeschrieben und einem häretischen Abgleiten in eine Auflösung der Formel zu einer der beiden Seiten hin wehren wollen. Das Konzil definierte letztlich ein Paradox, eine Widersprüchlichkeit, und verbot zugleich, so damit umzugehen, dass einfach an einer Seite des Widerspruchs weitergearbeitet wird. In dieser Beziehung ist Chalcedon also das Ende der altkirchlichen Christologie. Anfang ist es darin, dass es auf Jesus in der Welt der Schriften zurückverweist. Das Fragezeichen, mit dem das Konzil endet, ist gleichzeitig ein Hinweisschild in die Welt der Bibel: Wie denn Jesus denkbar sei? Wer er denn ist, wie es zu erklären ist, dass er vom kommenden Gottesreich gesprochen hat und dann das Kreuz gekommen ist, was es zu bedeuten hat, dass einige behaupteten, er sei auferstanden usw. Das heißt: Das Ende von Chalcedon ist immer wieder der Anfang der Entdeckung Jesu in der Welt der Schriften. Mit Chalcedon, mit der verbindlichen dogmatischen Formel der Kirche, steht jede Generation von Christen und jede Christin und jeder Christ immer wieder neu vor der Aufforderung, in den Schriften nach Jesus zu forschen. Welche Hilfe gibt die Kirche bei dieser Suche nach Jesus, die unvertretbar der/die einzelne Christ und Christin zu unternehmen hat. Sie gibt ihnen dreierlei: 1. Den Kanon. Damit ist klar, wo Jesus zu suchen ist (z. B. nicht in den Weisheitsschriften der Völker, in der Atomphysik [Willigis Jäger] usw.) 2 Das Dogma. Dieses zeigt sich jedenfalls in der Christologie in erster Linie als Grenzziehung. Es sagt, über welche Grenze man nicht hinaus denken darf, wenn man mit dem Glauben der Kirche einig bleiben will, es sagt aber nicht, was man innerhalb dieser Grenzen denken soll. Im Falle des Dogmas von Chalcedon liegt, so interpretiere ich es, eine Grenzziehung nicht nur im Hinblick auf das ungetrennt und unvermischt der Naturen vor, sondern viel grundsätzlicher noch im Hinblick auf die Denkmöglichkeit Jesu im nichtbiblischen Wirklichkeitsverständnis überhaupt. 3. Den Gottesdienst. Er führt mit seinen Lesungen und den vielfältig in die liturgischen Texte eingefügten biblischen Verweisen in die Welt der Schriften ein und ermöglicht somit jedem und jeder, Christus in der Welt der Schriften zu finden. Bekanntlich stellt der Gottesdienst die biblischen Texte nicht nur einfach vor, sondern arrangiert auch eine Situation, in der sie in rechter Weise verstanden werden können. Hier im Gottesdienst kann erfahren werden, dass Gott nicht nur damals gesprochen und gehandelt hat, sondern zu jeder Zeit und auch heute noch spricht und handelt, und zwar in den gleichen Worten wie damals; diese können aber im Gottesdienst als lebendige Worte verstanden werden. Damit bin ich abschließend beim Lesungstext des letzten Sonntags (1.2.04: Fest Maria Lichtmeß, oder: Fest der Darbringung des Herrn), von dem eben schon die Rede war. Hier ist wie gesagt ebenfalls von der Beziehung Israel-Jesus-Völker die Rede, also von dem gleichen Komplex, mit dem wir uns die ganze Zeit beschäftigen. Im Lk 2,29-32 wird Jesus wird to soterion genannt, das heißt: er ist etwas Heilbringendes bzw. das Heil. Das ist er zunächst für Israel. Simeon wartete ja auf den Trost (den 47 Parakleten) Israels (2,25) und hatte diesen in Jesus erblickt. Israel hat also in Jesus seinen Trost und seine Rettung. Das Warten auf den Retter hat ein Ende. Sodann heißt es: Gott hat Jesus vor dem Angesicht aller Völker als Heiland bereitet. Die Völker können nun erfahren: Gott hat sich in Jesus seinem Volk zugewandt, hat ihm Trost und Rettung gesandt. Für die Völker ist das ein Licht zur Erleuchtung. Sie wissen jetzt, dass der Gott Israels ein Gott ist, der zu seinem Wort steht und der ein Gott des Heils und nicht des Unheils ist. Jesus kommt, um den Völkern ein Licht über Gott aufzustecken. Er vermittelt wahre Gotteserkenntnis. Das aber bedeutet eine Verherrlichung, einen Glanz, eine Bereicherung (doxa) für Israel selbst. Israels Gott wird ins rechte Licht gerückt, damit auch Israel selbst, das erwählte Volk Gottes, das ihn in der Welt bezeugt. Man kann aber auch anders lesen: Gott wendet sich in Jesus den Völkern zu, er offenbart sich als der Gott aller Völker, als der einzige Gott, und dadurch fällt Glanz auf Israel, Gottes erstes- und Eigentumsvolk. Man kann den Text also in zwei Richtungen lesen: 1. Gott hat Israel einen Retter bereitet, die Völker erfahren davon und werden dadurch erleuchtet (sie werden über die Natur dieses Gottes belehrt: dass er einer ist, der seinem Volk Heil bereitet), 2. Gott erleuchtet durch Jesus die Völker, verschafft ihnen Zugang zu sich, und das bedeutet dann eine Rettung, und Glanz und Herrlichkeit für Israel. Ich breche hier schon ab, denn die Entscheidung über die Frage, in welcher Richtung der Text zu lesen ist, würde eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte Israels und seinem Verhältnis zu den Völkern voraussetzen. Schon mit diesem kleinen Text käme man, wollte man ihn christologisch weiter denken, in den Zirkel des wechselseitigen Verstehens zwischen Jesus und den Schriften herein, in dem sich das Verstehen Jesu und der Schriften immer neu und immer wieder anders erschließt. Indem die Kirche in ihrem Gottesdienst solche Texte zu Gehör bringt, lädt sie immer wieder dazu ein, in diesen Zirkel einzutreten und sich seiner Dynamik zu überlassen. Soviel ist aber hier schon klar: Das Licht, das den Völkern durch Jesus leuchtet, es lässt zugleich Israel erglänzen. Jesus kann nicht christologisch bedacht werden, ohne gleichzeitig die Herrlichkeit Israels zu bedenken, die er ist. In jedem Fall sagt der lukanische Text etwas aus über die unlösliche Verknüpfung zwischen der Bedeutung, die Jesus in Bezug auf Israel hat, und die er in Bezug auf die Völker hat. In irgendeiner Weise haben die Völker Anteil an der Rettung, die Jesus für Israel ist. Sie werden in die Geschichte Israels mit hinein genommen, in der Jesus der Retter ist. Dass die klassische Christologie dies viel zu wenig bedacht hat, dass sie die lebendige Geschichte Israels, in der Jesus steht und innerhalb derer er etwas für die Völker bedeutet, weitgehend ausgeblendet hat und sich auf abstrakte Begriffe beschränkt hat, das ist ihr großes Manko. Indem aber diese Christologie, wie gezeigt, paradox ausgeht und Jesus nicht mehr möglich sein lässt, weist sie auf die Geschichte zurück, in der er allein möglich und wirklich ist. Was ich nun aus Zeitgründen in dieser Vorlesung nicht mehr ausführen kann, obwohl ich es vorhatte, ist das Folgende: Diese Geschichte Israels, in der Jesus steht und die er für die Völker eröffnet, ist die Geschichte vom Sieg Gottes über die Götter. Die Götter sind aber nichts anderes als die Mächte und Gewalten, die Sünde und Tod mit sich bringen (s. oben I,2). Von diesen müssen wir heute erlöst werden, und Jesus kann das, weil er uns, die Menschen aus den Völkern, in die Geschichte und in das Wirklichkeitsverständnis mit hinein nimmt, in der an den Sieg Gottes über die Götter geglaubt werden kann und in der auch die Mittel bereit liegen, um diesen Sieg immer neu zu vollziehen. Das ist seine Erlöserschaft: Er führt uns in eine Welt, in der die Götter, die Mächte und Gewalten nicht herrschen, sondern Gott. Und damit nicht der Tod, sondern das Leben. Es ist mit allen Kräften zu hoffen, dass das Licht, das er für die Völker ist, uns recht bald hell leuchtet, ehe noch die Mächte der Finsternis ihr Werk vollendet haben. 48