Christologie. - FK14

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Prof. Dr. Thomas Ruster
Universität Dortmund
Vorlesung im Wintersemester 2003/04
Christologie.
Kann Jesus uns erlösen?
Nicht zitierfähiges Vorlesungsmanuskript
nur für den studentischen Gebrauch
Inhaltsverzeichnis
I. Hinführung
2
1) Die Krise der traditionellen Christologie
2) Wenn Erlösung – wovon muss die Welt erlöst werden?
3) Wie heute von Jesus Christus dem Erlöser reden? – Der Plan der Vorlesung
4) Grundlegende Literatur
2
3
3
5
II. Jesu einfaches Leben. Eine Rekonstruktion nach M.Limbeck
5
1) Das Markusevangelium als Quelle für das Leben Jesu
2) Die Anfänge: Die Ausbildung der Botschaft vom Reich Gottes
3) Die Verkündigung des Reiches Gottes und die Frage nach dem „Gericht“
4) Der Weg zum Kreuz
5) Die Erfahrung der Auferstehung
5
6
9
12
15
III. Jesus in der Welt der Schriften
17
1) Die Ausgangslage
2) Jesus im biblischen Wirklichkeitsverständnis
17
19
IV. Jesus in der Welt der Völker. Jesus als Logos
29
1) Die Logoslehre der Apologeten
2) Die Christologie des Origenes
3) Der Weg zum Dogma von Chalcedon
29
32
32
V. Chalcedon – Ende oder Anfang der Christologie? Die Interpretation
der chalcedonischen Formel durch Karl Rahner
37
VI. ... ein Licht zur Erleuchtung der Heiden, und eine Herrlichkeit für dein
Volk Israel. Rückblick und Ausblick
44
1) Rückblick: aus der Welt der Schriften in die Welt der Völker
2) Ausblick
44
47
1
I.
Hinführung
1)
Die Krise der traditionellen Christologie
Ertrag aus dem Artikel von PETER ROSIEN in Publik Forum Sept. 2003: „GOTT UNSER EIN UND
ALLES?“
Das alte Modell, das dem christlichen Glauben bisher seine Identität gab, ist dem
Bewusstsein der Menschen entschwunden und auch nicht mehr zu vermitteln, nämlich:
Jesus Christus erlöst die Menschheit am Kreuz durch stellvertretende Sühne. Dies kann er
nur, weil er Gottes Sohn ist, also göttlicher Natur. Ist aber Jesus Gott, dann kann Gott nicht
mehr einfach als einer gedacht werden, er muss vielmehr als Einheit in der Vielheit gedacht
werden. Das tut die Trinitätslehre („Ein Gott in drei Personen“). Die Lehre von der Inkarnation
(Fleischwerdung/Menschwerdung) gibt Antwort auf die Frage, wie Gottes Sohn auf die Erde
kam und Mensch wurde.
Dies alles, was dem Christentum bisher seine Identität gab (Erlösung durch den Tod am
Kreuz – Gottessohnschaft Jesu – Dreieinigkeit Gottes – Inkarnation) wird heute nicht mehr
geglaubt, so Rosien. Die ganze Kreuzes- (Erlösungs-)theologie sei ohnehin nur eine
Erfindung des Paulus. Das alte Modell widerspreche auch dem, was Jesus selbst von sich
hielt (er habe sich nicht für Gottes Sohn gehalten), und es widerspreche dem Befund der
Exegese.
Wenn Kirche und Theologie an diesem Modell festhalten, begeben sie sich in einen
dreifachen Widerspruch:
• zwischen dem Glauben der Menschen heute und der kirchlichen Glaubenslehre (das
heißt: Trinitätslehre behindert den Glauben)
• zwischen dem, was Jesus verkündigte, und dem, was über ihn verkündigt wird
• zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik bzw. Glaubenslehre
An die Stelle dieses alten Modells des Erlösungsglaubens setzt Rosien ein anderes: Jesus
verkündigte die unbedingte Güte Gottes und war bereit, für seine Überzeugung zu sterben.
An Jesus glauben, das bedeutet für uns heute, an die Liebe Gottes zu uns zu glauben und
diese Liebe in uns selbst zu entdecken, um daraufhin auch unsere Mitmenschen lieben zu
können.
Es ist mithin deutlich, vor welchen Herausforderungen die Christologie heute steht. Der
gesamte bisherige Bestand des christlichen Glaubens, wie er über Jahrtausende gewachsen
ist, ist erschüttert und zerfallen. Die überkommene Glaubenslehre bestimmt nicht nur nicht
mehr das Bewusstsein selbst der gläubigen Christen und Christinnen (von den übrigen
Menschen, die der Kirche fern stehen, gar nicht zu reden), sie steht auch unter dem
Verdacht, die Wahrheit der Bibel seit jeher verkannt, verfälscht und verraten zu haben. Der
Christus der kirchlichen Glaubenslehre war immer jemand ganz anderes als der biblische
Jesus. Gottessohnschaft, Trinität und Sühnetod sind Konstrukte der Theologie, die niemals
einen Rückhalt in der Schrift und bei Jesus selbst hatten.
Eine ähnliche Kritik der Trinitätslehre aus fachtheologischer Sicht findet man bei KARL HEINZ
OHLIG, EIN GOTT IN DREI PERSONEN? VOM VATER JESU ZUM ‚MYSTERIUM‘ DER TRINITÄT, Luzern
1999.
Dazu kommt nun noch eine weitere Herausforderung. Wenn die alte Konzeption von
Erlösung nicht mehr gilt, welche gilt dann? Kann die Theologie noch erklären, dass und wie
Jesus die Welt erlöst hat? Und noch weiter gefragt: Ist das noch der christliche Glaube, dass
Jesus der Erlöser ist? Können wir das überhaupt noch glauben in unserer unerlösten Welt?
2
2)
Wenn Erlösung – wovon muss die Welt erlöst werden?
Es gehört zum Begriff der Erlösung, dass die Menschen von etwas gelöst werden, das sie
bindet. Sie sind an etwas gefesselt, von dem sie aus eigener Kraft nicht loskommen können.
Diese Fessel hindert sie zu leben. Sie bindet sie an lebensfeindliche Mächte, an die Macht
des Todes.
Die alte Theologie hat gesagt: Erlösung geschieht als Befreiung von Sünde, Tod und
Teufel. Diese drei Mächte wirken zusammen und können nur zusammen besiegt werden.
Und das hat die alte Theologie richtig gesehen, denn genau diese drei Mächte treffen wir
auch heute an, und sie verhindern gemeinsam, dass auf der Welt das Leben herrscht, das
dort herrschen könnte. Man muss nur verstehen, was sich hinter diesen Begriffen heute
verbirgt.
Mächte, die den Tod bringen, das sind heute autonomisierte Funktionssysteme wie die
Wirtschaft, das Finanzwesen, der Autoverkehr oder das Gesundheitswesen.
Sie sind das geworden, was sie sind, weil sie von der Sünde der Menschen gelernt haben
(nur Menschen können sündigen!). Sie haben sich darauf eingestellt, dass Menschen
Sünder sind. In dem sie ihre Erwartungen am sündigen Verhalten der Menschen ausrichten,
erzeugen sie zugleich die Erwartung, sich sündig zu verhalten. Im Zusammenspiel zwischen
Menschen und sozialen Systemen wird die Sünde zum Normalfall, zur Norm, der sich kaum
jemand noch entziehen kann.
Kurzer Exkurs zum Thema Sünde: Sünde ist, ganz formal gefasst, die Selbstbehauptung auf Kosten
anderer. Der Sünder lebt so, dass durch sein Leben andere und anderes Schaden nehmen. Dies
geschieht dadurch, dass er seine Umwelt für seine Selbstbehauptung und Selbsterhaltung ausnutzt.
Sünde ist immer Verstoß gegen das erste Gebot, weil der Sünder von den Menschen bzw. seiner
Umwelt das verlangt, was ihm nur Gott geben kann. Der Sünder/die Sünderin vertauscht also Gott und
Welt. Er/sie macht etwas in der Welt zu seinem Gott – genau das, was das erste Gebot verbietet.)
Indem also die Sünde der Menschen über die Vermittlung durch die sozialen Systeme
normativen Charakter annimmt, tritt sie den Menschen nunmehr als eigene, objektive Gewalt
gegenüber. Sie können jetzt nicht nur, sie müssen jetzt sündigen (zumindest können sie sich
aus eigener Kraft kaum dagegen wehren). Genau das meint die Theologie, wenn sie vom
Teufel spricht (der Teufel ist nicht einfach das Böse, sondern die Kraft der Verführung zum
Bösen!)
Dazu: RALF D ZIEWAS, DIE SÜNDE DER MENSCHEN UND DIE S ÜNDHAFTIGKEIT SOZIALER SYSTEME,
Münster 1999, bes. 182-192.
Aus diesem Überblick ist zu ersehen: Erlösung haben wir heute immer noch und vielleicht
mehr denn je nötig, wenn denn die Welt nicht völlig den Mächten des Todes und der
Vernichtung anheim fallen soll (größtenteils ist sie es ja schon!). Und diese Erlösung muss
zentral sein: Erlösung von unseren Sünden. Denn mit unseren Sünden geht alles los. Sie
erst instruieren die sozialen Systeme zu sündhaftem Verhalten, sie erst lassen die
teuflischen Mächte entstehen, durch die sich unsere Freiheit in den Zwang zum Tun des
Bösen verwandelt.
3)
Wie heute von Jesus Christus dem Erlöser reden? – Der Plan der Vorlesung
Die alte Theologie hat also das Richtige getroffen, wenn sie darauf bestand, dass sich alles
um die Erlösung von den Sünden dreht. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht diese
Aussage: Jesus Christus ist der Erlöser, er hat die Menschen – die, die an ihn glauben – von
ihren Sünden erlöst.
Der Titel oder Name Christus (Gesalbter) ist ja eine griechische Übersetzung des
hebräischen Worts Messias. Als Messias wurde der erwartet, der die Welt vom Bösen befreit
und das Reich Gottes herbeiführt (bei aller Unterschiedlichkeit der Messiasvorstellungen im
einzelnen). Das bedeutet, dass schon der Name Jesus Christus die Glaubensaussage
enthält, dass Jesus der Erlöser ist.
Um diese allerdings ungeheure Glaubensaussage (ein jüdischer Wanderprediger, der in
Konflikt mit den Obrigkeiten geriet und wie ein Verbrecher gekreuzigt wurde, hat alle, die an
ihn glauben, und das für alle Zeiten, von ihren Sünden und damit von der Versklavung an die
Mächte des Todes erlöst) verständlich zu machen, war und ist die Theologie zu
komplizierten Überlegungen genötigt. Sie musste und muss diese Aussage Menschen
3
verständlich machen, die in ganz verschiedenen gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen
Kontexten leben. Von daher hat sie eine Menge von teils recht aufwendigen
Gedankenfiguren entwickelt. Die bekanntesten davon sind die oben genannten:
Sühneopferlehre, Gottessohnschaft, Dreifaltigkeit, Inkarnation. Daneben gibt es noch
unzählige weitere, aber die genannten haben in der Kirche eine gewisse zeitüberdauernde
Gültigkeit gefunden, sie gelten als verbindliche Glaubenslehre.
Wenn nun diese Glaubenslehren, wie P. Rosien sicher zu Recht behauptet, heute von den
meisten Leuten/Christen nicht mehr angenommen werden, wenn sie nicht mehr Ausdruck
unseres Glaubens sind, dann kann das einfach daran liegen, dass sie nicht mehr verstanden
werden. Das bedeutet dann: Der Glaube der Kirche äußert sich heute in Formen, die nicht
mehr verstanden werden (aus welchen Gründen auch immer).
An dieser Stelle ist eine interessante Verlagerung der Arbeit der Theologie zu bemerken. Sie ist ja
dazu da, Probleme mit dem Glauben zu lösen. Dazu hat sie in ihrer Geschichte verschiedene Theorie
bzw. Problemlösungsformeln entwickelt. Z.B. die Inkarnation, die Trinität usw. Nun sind aber diese
Problemlösungsformeln selbst wieder zu einem Problem geworden, und die Theologie muss sich ihrer
eigenen Tradition als Problemstoff zuwenden.
Soweit es sich hier also um ein Verstehensproblem handelt, ist es die Aufgabe der Theologie
als kirchlicher Wissenschaft, Ausdrucksformen des Glaubens zu finden, die verstanden
werden können (und dies zunächst unabhängig von der Frage, ob Menschen bereit sind,
diesen Glauben, wenn sie ihn denn verstanden haben, auch zu teilen).
Innerhalb der theologischen Fächer und Disziplinen fällt diese Aufgabe der Dogmatik – als Fach der
systematischen Theologie – zu. Denn ihr Gegenstand ist das Dogma, die Lehre der Kirche. Die
biblische Theologie hat darauf zu achten, dass das, was die Dogmatik jeweils als den Glauben der
Kirche formuliert, auch in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift steht. Die historische Theologie
überprüft den Zusammenhang mit der Geschichte der Kirche und ihrer Glaubensaussagen, denn es
kann nicht sein, dass die Dogmatik plötzlich etwas völlig Neues formuliert. Die praktische Theologie
untersucht, wie dieser Glaube vermittelt werden kann und was aus ihm für die verschiedenen
Lebensbereiche folgt.
Es wird sich aber zeigen, dass es sich nicht nur um ein Problem des Verstehens handelt.
Das Unverständnis den alten Formeln gegenüber zeigt immer auch ein Unverständnis der
Sache gegenüber an. Hier also: Können wir wirklich noch glauben, dass Jesus die Welt
erlöst hat? Da muss ganz neu bedacht und theologisch verantwortet werden; es reicht nicht,
die alten Formeln nur neu in interpretieren. Und da kommen wir auch nicht an der Frage
vorbei, ob die alten Formeln die Sache (Jesus als Erlöser) wirklich richtig und zutreffend
bezeichnet haben (wir werden das kritisch an der Formel des Konzils von Chalcedon prüfen).
Die traditionelle Dogmatik ging üblicherweise so vor: Sie ging von den Aussagen der
kirchlichen Lehrverkündigung aus und legte sodann zuerst deren Basis in der Schrift und
dann ihre Entstehung und Bedeutung in der Theologie- und Dogmengeschichte dar. In
einem dritten Schritt wurden offene Fragen, vor allem solche, die sich aus der Bestreitung
der Lehren ergaben, mit Hilfe der theologischen Vernunft diskutiert.
Dies war also der dogmatische Dreischritt: Begründung der Glaubensaussage in der Schrift
– in der Tradition – mit der theologischen Vernunft.
In dieser Vorlesung werde ich einen etwas anderen Weg gehen. Ich werde nicht von der
kirchlichen Lehrverkündigung ausgehen, sondern von dem Leben und der ursprünglichen
Botschaft Jesu selbst, soweit das heute historisch fassbar ist. Dann werde ich zu zeigen
versuchen, wie die Worte und das Geschick von denen, die an ihn glaubten, aufgenommen
und in ihr Wirklichkeitsverständnis übersetzt wurden ("Jesus in der Welt der Schriften").
Doch bald war es nötig, von Jesus auch zu Menschen zu reden, die nicht in der Welt der
Schriften vertraut waren. Das Jesus-Zeugnis musste also in einen anderen Rahmen gestellt
werden; davon handelt der Abschnitt "Jesus in der Welt der Völker". Wir gehen den Weg
des Jesus-Zeugnisses unter den Völkern mit bis zum maßgeblichen christologischen Konzil
von Chalcedon (451). Die Formel von Chalcedon ist dann die ganze christliche Geschichte
über maßgeblich geblieben – erst heute hat sie ihre Bedeutung für den christlichen Glauben
eingebüßt (s. den Artikel von P. Rosien). Ich werde an einem Beitrag von Karl Rahner zu
zeigen versuchen, wie es dazu kommen konnte und was an die Stelle der alten Christologie
getreten ist. Zum Schluss wird dann zu fragen sein, wie wir Jesus wieder da antreffen, wo er
hingehört (in die Welt der Schriften), und wie wir selbst dorthin gelangen.
4
Indem wir nun also gleichsam von unten und von innen her durch die Theologiegeschichte
(oder jedenfalls ein kleines Stück von ihr) wandern, wird immer klarer werden, was wir von
ihren Wegen, Umwegen und Abwegen lernen können. Denn, so schwierig auch die
Auseinandersetzung mit den vergangenen Gestalten des theologischen Denkens ist, es geht
kein Weg daran vorbei, wenn es sich darum handelt, den christlichen Glauben für heute neu
zu formulieren. Es kann keinen unvermittelten Sprung von der Bibel in die Gegenwart geben.
Unsere theologischen Vorfahren haben uns Differenzierungsmöglichkeiten bereitgestellt,
hinter die wir nicht mehr zurückgehen können (so wie auch in jeder anderen Wissenschaft
auf den Stand der Forschung aufgebaut wird). Und dazu ist es auch die Aufgabe der
Theologie, die Glauben der Kirche auszulegen – also den Glauben, der in den alten Formen
seinen Ausdruck gefunden hat.
Grundlegende Literatur :
Limbeck, Meinrad: Christus Jesus. Der Weg seines Lebens. Ein Modell, Stuttgart: Kath. Bibelwerk
2003
Berger, Klaus: Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen/Basel: Francke ²1995
Theissen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen:
Vandenhoek&Ruprecht ²1997
Hauschild, Wolf-Dieter: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. I, Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus 1995
Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, 2
Bde., Gütersloh: Güterloher Verlagshaus 1990/München: Kaiser 1991
Texte zur Theologie, hg. von Wolfgang Beinert: Christologie I+II, bearbeitet von Karl-Heinz Ohlig,
Graz-Wien-Köln: Styria 1989
Ferner verweise ich zur Ergänzung und Vertiefung auf die Skripte meiner Verlesungen Christologie
(WS 1998/99) und Gotteslehre (WS 1999/2000), die beide im Server der Fakultät
Humanwissenschaften und Theologie (14) und im Server der Universität Dortmund zugänglich sind.
- Weitere Literatur ist an den betreffenden Stellen angegeben.
II.
Jesu einfaches Leben. Eine Rekonstruktion nach M. Limbeck
1)
Das Markusevangelium als Quelle für das Leben Jesu
Die Möglichkeiten, die Evangelien als Quelle für Informationen über den historischen Jesus
zu nutzen, werden von der heutigen Exegese wesentlich positiver eingeschätzt als früher.
Vor allem das Markusevangelium überliefert Nachrichten, die nicht alle erfunden oder
theologisch konstruiert sind. Limbeck führt folgende Gründe für die historische Verlässlichkeit
des MkEv an:
•
•
•
•
•
•
Eusebius von Caresarea (gest. 339 n.Chr.) teilt folgende Notiz des Papias von Hierapolis (um 130
n.Chr.) mit, der sich auf den Presbyter Johannes (zw. 70 u. 100 n.Chr.) beruft: [Limbeck S. 12]
Angesichts dieser Kritik an Markus ist es unwahrscheinlich, dass Markus als Verfasser erfunden
wurde, um dem ältesten Evangelium höheres Ansehen zu verschaffen.
Markus ist ohne Zweifel der Johannes Markus aus Apg 12,12. Daraus ist zu ersehen: Er stammt
aus Jerusalem (das erklärt Mk 14,51f); im Hause seiner Mutter traf sich die christliche Gemeinde,
und auch Petrus verkehrte da.
Nach Apg 12,15 war Markus der Begleiter wichtiger urchristlicher Persönlichkeiten auf deren Reisen. 1Petr 5,13 nennt ihn Petrus als seinen Begleiter und seinen „Sohn“.
[Markus reist nach Apg 12,15 mit nach Antiochia. Nach Berger aaO. war Antiochia der zentrale
Umschlagplatz für Informationen über Jesus im frühen Christentum. Man wird an Mahlzeiten
denken können, bei denen ausführlich erzählt wurde, vgl. ebd. 9f.]
Es spricht also nichts dagegen, dass Markus die Erzählungen der Apostel, vor allem des Petrus,
in seinem Evangelium verarbeitet hat. Darauf deutet auch die auffällig herausgehobene Position
des Petrus im MkEv, die theologisch gar nicht motiviert ist. Petrus hat wohl vor allem von den
Ereignissen gesprochen, an denen er beteiligt war.
Markus überliefert eine Menge Einzelheiten, die kaum erfunden sind und nicht erfunden zu
werden brauchen, vgl. Limbeck 10f.
Der Ablauf der Ereignisse im MkEv ist historisch stimmig, er scheint nicht einer theologischen
Konstruktion folgen:
5
– Erstes öffentliches Auftreten, 1,14-3,6
– Die Gleichnisse, in denen Jesus seine Botschaft erklärt, 4,1-34
– Ereignisse in Galiläa und im näheren Umfeld, 5,1-7,23 – Erfolge und Konflikte
– Wanderungen außerhalb von Galiläa, 7,24-10,31; hier geht es inhaltlich schwerpunktmäßig um
die Bedingungen der Nachfolge
– der Zug hinauf nach Jerusalem, 10,32-52 – Frage des rechten Umgangs in der Jüngerschar
– Das Wirken in Jerusalem, 11,1-13,36 – wachsende Konfrontation mit den führenden Kreisen
– Leiden und Auferstehung, 14,1-16,8
2)
Die Anfänge: Die Ausbildung der Botschaft vom Reich Gottes
Zu diesem Abschnitt vgl. Limbeck, 15-45.
Limbeck rekonstruiert Jesu Leben so, als wüsste er (Limbeck) nichts von dem Ausgang
dieses Lebens in Kreuz und Auferweckung, und als wüsste er nichts von dem christlichen
Glauben, der in Jesus Gottes geliebten Sohn, den Sohn des Höchsten, den Messias und
Retter der Welt sieht. Dieses Wissen von Ende her kann ja durchaus den Blick verstellen für
eine genaue Wahrnehmung des Lebens Jesu. Jesus selbst wusste ja noch gar nicht, wohin
ihn sein Weg führen würde. Er machte Erfahrungen, die auch für ihn neu waren. Er musste
seine Aufgabe erst herausfinden. In dieser Perspektive versucht ihn Limbeck in den Texten
neu zu entdecken.
Das Erste, was wir erfahren, ist: Jesus geht zu Johannes dem Täufer und lässt sich
von ihm taufen, Mk 1,9.
Das ist nicht erfunden, denn für die frühen Christen war dies immer ein Problem – warum
lässt sich Jesus, der Messias, von Johannes taufen, vgl. Mt 3,13-15. Jesus scheint aber von
der Botschaft des Täufers angezogen worden zu sein. Diese lautete: Die Zeit ist voll – die
Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird
umgehauen und ins Feuer geworfen, vgl. Mt 3,7-12. Johannes verkündete also, dass das
Gericht Gottes über die Welt unmittelbar bevor steht. Er war ein Apokalyptiker. Und dass
Israel davon nicht ausgenommen sein würde. Die Heilsgarantien, die einige in Israel
glaubten zu haben (Abrahamskindschaft; Tempelkult) gelten also nicht mehr.
Zur Bedeutung der Apokalyptik vgl. KARLHEINZ MÜLLER, ART. DIE JÜD. APOKALYPTIK , TRE Bd. 3,
S. 202-225 (ausführlicher in DERS ., STUDIEN ZUR FRÜHJÜDIS CHEN APOKALYPTIK , Stuttgart 1991,
35-174); zu Johannes und Jesus auch: Christologie-Skript S. 7]
Das übernimmt Jesus von Johannes: Die Zeit ist voll (Mk 1,15), und: Die Unterscheidung
zwischen Israel und den Völkern ist nicht mehr die zwischen Heil und Unheil, sie wird
vielmehr von der Unterscheidung zwischen Sündern und Gerechten überlagert (das ist die
Voraussetzung für die Zuwendung zu den Heiden), und: die Heilsgarantie des Tempelkults
gilt nicht mehr (das ist hier mehr implizit gesagt, wird aber bei Jesus später ausdrücklich).
Sodann erfahren wir: Jesus geht zum Täufer ohne seine Familie. Die Entscheidung, die er
getroffen hat, wird offenbar von seiner Familie nicht mitgetragen. Er ist isoliert von seiner
Familie. (Diese Isolation ist bezeichnend für sein Verhältnis gegenüber der Bevölkerung
überhaupt. Er findet Anhänger nur bei den Randständigen)
Vgl. Mk 3,20f; 3,31-35 und Christologie-Skript S. 6.
Nach der Taufe wird Jesus weder ein Jünger des Johannes, noch geht er ins normale Leben
zurück (das waren die beiden Möglichkeiten, die Johannes d.T. anbot, vgl. Lk 3,10-14),
sondern er ging in die Wüste. Anlass dafür war offenbar eine besondere Gotteserfahrung,
die sich nach der Taufe zutrug, vgl. Mk 1,10f (Mk schildert dies im Unterschied zu Mt als eine
subjektive Erfahrung, die nach der Taufe stattfand – also nach dem, was Joh. d.T. getan
hatte.)
Als Jesus aus der Wüste zurückkommt, bringt er seine Botschaft auf die Formel: „Die Zeit ist
voll, das Reich Gottes ist da. Kehrt um und vertraut auf das Evangelium“ (Mk 1,15).
Diese Formel ist schwerlich eine Erfindung des Markus, etwa, wie oft angenommen wurde,
eine Zusammenfassung seines theologischen Programms, denn er kommt weder dem
Begriff (Umkehr; Vertrauen auf das Evangelium) noch der Sache nach jemals wieder darauf
zurück. Markus wird das vermutlich von Petrus gehabt haben, der immer wieder davon
erzählt hat.
6
Was hat Jesus nun dazu gebracht, die Botschaft des Johannes in dieser Weise umzuformen,
d.h. aus der Gerichtsandrohung die Botschaft vom Evangelium zu machen?
Mk berichtet kurz von der Versuchung durch den Satan in der Wüste, und dass Engel kamen
und ihm dienten. Im LkEv spricht Jesus von einer Vision, und nur von dieser einen
persönlichen Vision spricht er überhaupt in der Bibel, nämlich
„Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18).
Diese Worte Jesu werden heute von sehr vielen Exegeten für authentisch gehalten. – Was
ist damit gesagt?
Der Satan ist im jüdisch-biblischen Verständnis nicht einfach eine gottwidrige Macht, er ist
nicht der Böse oder der Anführer der bösen Mächte oder der Oberste der Dämonen, sondern
er ist eine Figur, die im Himmel die Menschen vor Gott ihrer Vergehen anklagt. Der Satan ist
der Chefankläger vor Gottes Gericht (vgl Ijob 1,6-12; Sach 3,1-4). Er ist nicht böse – er hat
leider nur allzu oft Recht.
Vgl. hierzu KLAUS BERGER, W OZU IS T DER TEUFEL DA ?, Gütersloh 1998, 52-59!
Jesus hat also in einer Vision Gewissheit gewonnen, dass der Satan aus dem Himmel
geworfen worden ist, dass also Gott die Anklagen gegen die Menschen nicht mehr länger
beachtet. Er tritt ihnen nicht mehr als Richter gegenüber, sondern sieht über ihre Schuld
hinweg. Damit haben die Menschen die Möglichkeit, unbelastet von ihrer Schuld wieder neu
anzufangen; ihre schuldige Vergangenheit behindert nicht weiter ihre Gegenwart. Vgl. dazu
auch Offb 12,10: „hinausgeworfen wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie bei Gott
verklagte bei Tag und bei Nacht.“
Im gesamten einschlägigen biblischen und außerjüdischen Schrifttum zum Thema Gericht
und Ankläger ist, darauf weist Berger hin, das Motiv von der Ausschaltung des Anklägers
verbreitet. Der Satan kommt eigentlich nie zum Zuge. Aber zugleich ist auch in den
apokalyptisch geprägten, asidäischen Kreisen (vgl. den genannten Art. von Karlheinz
Müller!) das Bewusstsein von der nicht mehr zu tilgenden Schuld des Volkes gewachsen.
Keiner kann vor Gott gerecht sein; und daraus erklärt sich, dass es in der Welt so schlecht
aussieht. Nur ein Endgericht Gottes, bei dem dann vielleicht eine ganz kleine Schar von
Gerechten übrigbleibt, kann hier ein Wendung schaffen (eben das war die Botschaft des
Täufers gewesen). Jesus spricht nun gerade in diese apokalyptischen Kreise hinein: Der
Ankläger ist aus dem Himmel gestürzt, Gott hält die Schuld nicht mehr nach. Und weil Jesus
das mit der Ansage des Johannes verbindet, dass die Zeit voll ist, kommt er zu seiner
Botschaft: „Die Zeit ist voll, das Reich Gottes ist da. Kehrt um und vertraut auf das
Evangelium“ (Mk 1,15).
Jesus verkündigt das, so heißt es, „nachdem Johannes überliefert worden war“ (Mk 1,14).
Diese Formulierung „überliefert war“ begegnet auch 1Kor 11,23 („In der Nacht, in der der
Herr Jesus überliefert wurde“) und meint hier wie auch an anderen Stellen, dass Gott selbst
gehandelt hat (sog. Passivum divinum). Das bedeutet also: Jesus tritt erst dann mit seiner
neuen Botschaft auf, als Gott der Verkündigung des Johannes ein Ende gemacht hat.
Gegenüber Johannes verkündet Jesus eine völlig andere Einschätzung der Situation Israels.
Anschließend ist nun bei Mk von der Berufung der ersten Jünger die Rede. In welcher
Funktion werden sie berufen? Darauf gibt Mk 2,19 einen Hinweis. Entgegen dem üblichen
Verständnis ist als der Bräutigam Gott selbst zu verstehen, der – nach Hos 2,16ff – seine
Braut Israel (trotz ihrer Schuld!) in die Wüste führen wird, um sich ihr anzutrauen. Die
„Freunde des Bräutigams‘ sind die, die den Bräutigam begleiten, wenn er die Braut vom
Haus ihrer Eltern abholt, und die die Sänfte der Braut umringen und umtanzen. Als solche
Freunde verstehen sich Jesus und die Jünger! (Es ist also nicht zu verstehen, dass Jesus
der Bräutigam ist und die Jünger deswegen nicht fasten!). Jesus sucht nicht Jünger (in
irgendeiner strategischen Absicht), er sucht Freunde, die sich mit ihm zusammen über die
Hochzeit Gottes mit seinem Volk freuen. Sie wollen ihn auf seinem Weg begleiten. Jesus
wollte mit seinen Freunden einfach nur leben und erleben, was er verkündigte.
Mk 1,17 ist nicht, wie etwa in der Einheitsübersetzung, mit „Komm, folge mir nach!“, sondern
wörtlich mit „Auf, hinter mich!“ zu übersetzen. – Limbeck macht für die Geschichte vom
„reichen Jüngling“ (Mk 10,17-27) deutlich, dass es hier nicht um die gescheiterte Berufung
eines Reichen geht, sondern um den vergeblichen Versuch, einen Freund zu gewinnen, vgl.
10,21: „Er begann ihn zu lieben“.
7
Was ist nun genau unter dem Reich Gottes bzw. dem Gottesreich zu verstehen, dessen
Kommen Jesus verkündigte? In biblischer Überlieferung sind es mindestens folgende drei
Elemente, die damit verbunden sind:
•
•
•
Gottes rettendes Eingreifen in die Geschichte zugunsten der Lebensmöglichkeiten seines Volkes
Israel
Die eindrücklichste Erfahrung davon war immer noch die Rettung der Israeliten aus dem
Sklavenhaus Ägypten, aber auch die Erfahrung der geglückten Landnahme.
Gott gibt ein Gesetz, das gut ist für das Leben. Wenn alle sich an dieses Gesetz halten, dann
herrschen auf der Erde Friede, Gerechtigkeit und Wohlstand.
Es liegt aber nicht in der Macht der Menschen, Gottes gutes Gesetz zu halten und gegen die
Mächte der Sünde anzukommen, die davon abhalten. Gott selbst muss uns die Kraft geben, nach
seinem Willen zu leben – das Gottesreich kommt wie ein Geschenk.
Jesu Botschaft, wie sie sich in der Vision von dem Sturz des Satans in Verbindung mit der
Erwartung des bald kommenden Endes darstellte, war nun: Gott greift rettend ein, indem er
uns unsere Sünde nicht mehr zurechnet und uns befreit von den Folgen unserer Schuld.
Gott kommt jetzt, um mit seiner untreuen Braut Israel Hochzeit zu feiern. Wir können wieder
neu anfangen, so, als wenn wir im Stande der Unschuld angetroffen würden, wir können
nach Gottes Willen leben – und sein Reich wird kommen. Und diese Möglichkeit besteht
jetzt, jetzt können Menschen nach ihr leben.
Achtung, an dieser Stelle trennen sich meine theologischen Wege von denen Limbecks, so sehr
ich ihm auch für seine Rekonstruktion dankbar bin und ihr weiterhin folge. Limbeck versucht, die
Gottesreichidee zu verallgemeinern, zu existenzialisieren. Er löst sie vom Glauben an Gott ab und
macht eine allgemeine Lebensregel daraus: „Hallo, liebe Leute, wartet nicht länger darauf, dass
das Leben euch morgen oder übermorgen endlich die Chance zum großen Glück mitbringen wird!
Sie ist heute schon da! Euer Leben trägt im Kleinen wie im Großen jetzt schon seiner Anlage nach
die Möglichkeit in sich, zu gelingen und vollkommen zu werden. Mach also nicht so weiter wie
bisher. Vertraut doch bitte auf diese Botschaft.“ (S. 36 als Paraphrase von Mk 1,15). – Ich
hingegen glaube nicht, dass das Leben selbst diese Chance usw. in sich trägt. Von den Folgen
unserer Schuld kommen wir nur durch Gott los. Jesus verkündet keine Lebensweisheit sondern
das Gottesreich.
Jesus hat dann erlebt, was sich im Leben ändert, wenn man vom Vertrauen auf das
Evangelium ausgeht. Davon berichten die Abschnitte über seine ersten Wunder, die auf die
Berufung der Freunde folgen (Mk 1,21ff).
Er erfährt an sich, dass unreine Geister ihn erkennen, dass er ihnen aber gebieten kann
und sie ausfahren müssen (1,21-28).
Er erfährt, dass er nicht nur die Schwiegermutter des Petrus, sondern auch viele andere
Kranke heilen kann – und dass er damit mächtig Aufsehen erregt, was er aber nicht möchte
(1,29-33).
Mt 8,16 berichtet an dieser Stelle, dass Jesus alle Kranken heilen konnte. Offenbar ist Mk hier
authentischer.
Nachdem Jesus diese Erfahrungen mit seiner Heilungsmacht gemacht hat, zieht er sich erst
einmal in der Nacht an einen einsamen Ort zurück, um zu überlegen, wohin es mit ihm
gehen soll und wozu er berufen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass er sich nicht aufs
Krankenheilen beschränken will, sondern in den umliegenden Ortschaften predigen will,
„denn dazu bin ich ausgegangen“ (1,35-38).
Er stellt fest, dass er einen an einer schweren Hautkrankheit leidenden Menschen
(„Aussätzigen“) heilen kann. Es wird ihm nun immer klarer, dass das Reich Gottes wirklich
kommt (1,40-46). Übrigens hat Jesus hier gar keine Probleme mit den priesterlichen
Reinheitsvorschriften.
Bei der Heilung eines Gelähmten (2,1-12) trifft er auf einen Mann, der noch nicht einmal die
Kraft hat, an seine Heilung zu glauben; nur die, die ihn begleiten, haben diesen Glauben.
Dieser Mann ist gelähmt vor „Sünde“, und Jesus ist nun soweit erkannt zu haben, dass es
zuerst auf die Vergebung der Sünde ankommt; die Lähmung verschwindet dann auch. Jesus
merkt also, dass er den Menschen helfen kann, Gott neu und befreiend zu erleben. Er
verkündet nicht nur etwas; das, was er verkündet, fängt durch ihn auch selbst an!
Sünden vergeben zu können kommt aber einem einfachen Menschen nicht zu. Dies kann
eigentlich nur Gott selbst oder in seinem Auftrag der Hohepriester. Wer ist also Jesus? Die
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Stelle zeigt, dass er anfängt, sich mit der apokalyptischen Gestalt des Menschensohns zu
identifizieren. Vom Menschensohn erwartete man in apokalyptischen Kreisen, dass er der
endgültigen Gottesherrschaft vorangeht, indem er mit den Feinden abrechnet bzw. über sie
richtet (es gab verschiedene Vorstellungen). Im Zusammenhang seiner Botschaft vom Sturz
des Satans legt Jesus das Richten als ein Nachlassen der Sünden aus – das ist konsequent.
Das Reich Gottes kommt also durch ihn, Jesus, selbst. Wo er ist, da ist auch schon die
Wirklichkeit des Reiches, so merkt er. Und nun geht er auch zu den Zöllnern und Sündern
(2,13f – Berufung des Levi – ; 2,15-17 – Mahl mit den Sündern –), um sie in die Wirklichkeit
des Reiches hinein zu holen. Die Unterscheidung von Sünder und Gerechten, rein und
unrein usw. mit ihren sozialen Konsequenzen macht angesichts der Botschaft Jesu keinen
Sinn mehr. Das bedeutet: „Niemand näht einen Lappen ungewalkten Tuches auf ein altes
Kleid ... niemand gießt neuen Wein in alte Schläuche“ (2,21f). Man kann nicht mehr so leben
wie früher. Etwas Neues hat mit Jesus begonnen, das zeigt sich in seinen Heilungen und
Wundern. Und damit ist auch die Zeit für ein neues Verhalten gekommen.
Erinnern wir uns noch einmal daran, dass Jesus vom Täufer die Botschaft übernommen
hatte: Die Zeit ist voll, die Zeit ist erfüllt. Er erwartete, dass Gott bald kommen und mit der
Geschichte ein Ende machen würde. Und nun erlebte er, dass dieses Kommen Gottes sich
in seinem, Jesu, Auftreten bereits vollzog. Auch von daher hatte er Anlass, sich mit der
apokalyptischen Figur des Menschensohns zu identifizieren.
Ein eindrückliche Darstellung der fortschreitenden Identifikation Jesu mit dem Menschensohn gibt
FRIEDRICH-W ILHELM MARQUARDT, W AS DÜRFEN WIR HOFFEN, WENN WIR HOFFEN DÜRFTE N. EINE
ESCHATOLOGIE B D. 3, Gütersloh 1996, 85-109.
Gegen das Neue erhebt sich aber sogleich Widerstand (Pharisäer, Schriftgelehrte, seine
Familie...); davon erzählt Mk 3. Konnte Jesus es dabei belassen, in der reinen Freude des
Bräutigams (vgl. 2,18-20) weiter zu leben und zu lehren?
3)
Die Verkündigung des Reiches Gottes und die Frage nach dem „Gericht“
Zu diesem Abschnitt vgl. Limbeck, 46-76.
Limbeck räumt zunächst mit dem weitverbreiteten Vorurteil auf, Jesus habe sich in
besonderer Weise den Armen, den Kranken, den Kindern, den Frauen und den Sündern
zugewandt, um ihnen Gott nahezubringen. Dem sei nicht so gewesen. Zwar ist davon
auszugehen, dass unter den Leuten, die zu Jesus gingen, viele arme, elende und
verzweifelte Menschen waren, sicherlich mehr als reiche und zufriedene. Aber die Texte
geben nicht her, dass Jesus sich diesen in besonderer Weise zugewandt hätte. Vielmehr
reagiert er nur darauf, wenn man diese Menschen zu ihm bringt oder wenn sie ihn von sich
aus bedrängen.
„Sünder“, so stellt Limbeck gegen die gängige, sich vor allem auf Joachim Jeremias stützende
Ansicht dar, waren keine verachtete Randgruppe der Gesellschaft. Unter Sündern sind die Frevler, die
Übertreter des Gesetzes zu verstehen – und diesen geht es, so die bittere Erfahrung vieler frommer
Juden, meistens sehr gut. Sünder haben wir also eher unter den Reichen und Mächtigen zu suchen.
Dazu passt, dass Jesus mit „Zöllnern und Sündern“ zu Tisch lag (Mk 2,15-17). Es waren Leute, die ihn
zum Essen einladen konnten. Aber „sie bedürfen des Arztes“, sagt Jesus: ihnen ist auszurichten, dass
sie von Gott her nicht mehr unter Anklage stehen.
Wenn Jesus also nicht, wie man gemeinhin annimmt, sich der sozialen Aufgabe stellt, was
machte er dann? Antwort: Er verkündigte die Botschaft vom nahen Gottesreich, von dem er
jetzt, nach seinen ersten Erfahrungen mit den Wundern etc., schon sagen konnte, dass es
gegenwärtig ist, nämlich in seinen eigenen Handlungen. Alle sollten wissen, dass die
Hochzeit mit Gott bevorsteht und man jetzt schon aus ihrer leben kann.
„Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich
Gottes schon zu euch gekommen!“ (Lk 11,20)
Für die Aufgabe der Verkündigung, die ihm absolut vordringlich war, suchte er
Unterstützung, und deshalb „machte“ (berief) er die Zwölf.
„Und Jesus stieg auf den Berg, und er rief die, die er wollte, und sie gingen weg zu ihm. Und
er machte zwölf, damit sie mit ihm seien und damit er sie sende zu verkündigen und Macht
zu haben, um die Dämonen auszutreiben“ (Mk 3,13-15)
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Offenbar nahm Jesus an, dass bis erwarteten Ende noch Zeit blieb, und die wollte er nutzen,
damit alle im Volk eine Chance hätten.
Mk 4 folgen dann die Gleichnisse Jesu. Wir sehen also Jesus im Vollzug der Verkündigung,
und offenbar war es typisch für ihn, dass er die Form des Gleichnisses wählte. Viele
Gleichnisse handeln davon, dass aus etwas Kleinem wie von selbst etwas Großes wird; so
das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30-32a), vom, Sauerteig (Lk 13,20f) oder von der
selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-28). Jesus will klarmachen, dass das (gegenwärtige!)
Gottesreich, auch wenn es erst in kleinen Anfängen da ist, weiter wachsen wird, und dass
das, wie beim Wachsen in der Natur, von selbst geht. Die Menschen müssen gar nicht viel
dazu tun. Mit den 'kleinen Anfängen' ist das gemeint, was Jesus selbst tut und erlebt, wenn
er vom Gottesreich spricht.
Limbeck hebt sehr hervor: Die Gleichnisse knüpfen an Lebenserfahrungen an. Jesus
argumentiert gegenüber den Leuten nicht mit der Schrift. Die Schrift zieht er nur heran, wenn
er Streitfragen zu klären hat, z.B. wegen der Ehescheidung (Mk 10,2-9) oder wegen der
Totenauferweckung (Mk 12,18-27).
(Limbeck schreibt, dass Jesus seinen Zuhörern die Augen dafür öffnen wollte, „dass seine Botschaft
vom Leben bestätigt wurde“ (57) – hier ist wie durchgängig bei Limbeck nicht ganz klar, worauf man
eigentlich vertrauen soll, auf das Leben oder auf Gott.)
Auch die ermutigenden Aufforderungen Mt 7,7-11 (Bittet, so wird euch gegeben werden...)
stützen sich auf Lebenserfahrungen.
GERD THEIßEN, STUDIEN ZUR SOZIOLOGIE DES URCHRISTENTUMS, TÜBINGEN ³1989, 94, spricht
diesbezüglich von einer „ausgesprochenen Bettlerweisheit“.
Jesus hatte, wie Mt 7,9-11 zeigt, eine sehr positive und optimistische Einstellung in Bezug
auf die Bereitschaft der Menschen, einander zu helfen, und diese Einstellung übertrug er
auf Gott. Die spätere Überlieferung in den Evangelien ist da schon skeptischer. Lk 11,13b:
Gott gibt nicht einfach ‚Gutes‘ denen, die ihn bitten, sondern nur den heiligen Geist; Lk 11,8:
der Freund gibt dem Bittsteller nicht aus Güte, sondern um in Ruhe gelassen zu werden.
Limbeck spricht von „Übermalungen“ des ursprünglichen Jesus.
Die sehr positiven Erfahrungen, die Jesus im Weiteren macht (Mk 5,1-20: Heilung des
Besessenen von Gerasa; 5,21-34: Heilung der blutflüssigen Frau und Erweckung der
Tochter des Jairus), geben ihm Recht. Das Reich Gottes ist angebrochen. In dieser
Gewissheit sendet er Mk 6,7-13 die Zwölf aus. Sie sollen die Menschen zur Umkehr
aufrufen, Dämonen austreiben und Kranke heilen, ganz wie Jesus selbst; auf ihrem Weg
sollen sie ganz auf die Gastfreundlichkeit und Friedlichkeit der Menschen vertrauen. – Die
Aussendung der Zwölf zeigt zum einen, wie dringlich es Jesus mit seiner Botschaft ist –
das Ende ist ja nahe, es ist keine Zeit mehr zu verlieren – , zum anderen, dass er eben nicht
sich selbst verkündigt und in den Mittelpunkt stellt, sondern das Reich Gottes, und dass die
Zwölf das Gleiche tun können wie er.
Sehr ausführlich geht Limbeck auf das Thema Gericht ein. Die Frage ist: Glaubte Jesus
wirklich an die bedingungslose Einladung aller Menschen zum Hochzeitsmahl Gottes, oder
war die Zulassung doch an bestimmte Voraussetzungen, die im Gericht überprüft wurden,
gebunden? Jesu ursprüngliche Botschaft scheint nun gewesen zu sein: Alle sind eingeladen,
aber man kann sich selbst ausschließen, man kann zu spät kommen! In diesem Sinne sind
das Gleichnis vom Festmahl in seiner ursprünglichen Fassung (Lk 14,16-24) und auch das
Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mt 25,1-10) zu verstehen. Zu spät
zu kommen zu diesem Fest, das Gott für uns veranstaltet, das ist für Jesus schlicht dumm.
Es kommt darauf an, die Chance, die sich jetzt bietet (und nur jetzt, denn Jesus erwartete ja
das baldige Ende!), unbedingt zu nutzen. Davon handeln (nach Limbeck) das Gleichnis vom
anvertrauten Geld (Mt 25,14-29 – auch wenn der Herr hart und ungerecht ist, hätte der
Knecht seine Chance nützen müssen), das Gleichnis vom klugen Verwalter (Lk 16,1-8 – an
dem Verwalter wird gelobt, dass er seine Chance nutzt) und das Gleichnis vom Schatz im
Acker (Mt 13,44). Gerade indem es hier jedesmal um unmoralisches oder verbotenes
Handeln geht, das Jesus empfiehlt, wird die Dringlichkeit dieses Handelns deutlich [Ich bin
zu Mt 25,14ff und Lk 16,1ff nicht dieser Meinung Limbecks; doch das spielt hier keine Rolle].
Jesus war also der Meinung, dass alle Menschen zu dem nun bald bevorstehenden Mahl
des Gottesreiches eingeladen sind (bildlich gesprochen), und dass man allenfalls sich selbst
10
ausschließen kann, wenn man zu spät kommt (d.h. indem man das Umkehrangebot Gottes
nicht annimmt). Die Frage ist nun noch, ob er die Entscheidung für seine Person als
Kriterium der Zulassung zum Reich Gottes nimmt. Muss man an ihn glauben? Das scheint
nicht so zu sein, wenn man z.B. von Mk 9,38-45 ausgeht: „Denn wer nicht gegen uns ist, ist
für uns“ (bezogen auf einen Mann, der im Namen Jesu Dämonen austreibt). Und auch die
Jüngeraussendung Mk 6/Mt 10 bezeugt: Es kam Jesus darauf an, dass die Botschaft
ausgerichtet wird, egal von wem, und von an einem Glauben an ihn ist dabei nicht die Rede.
Also auch in dieser Hinsicht gibt es kein Gericht (keine „letzte Prüfung“) vor dem Gottesreich.
Nun ist aber, so bezeugen die nachösterlichen Texte der Evangelien und auch Paulus
durchgehend, das Gerichtsthema in der frühchristlichen Verkündigung sehr präsent.
Dafür gibt es verschiedene Gründe:
•
•
•
•
im Alten Testament ist das Thema Zorn Gottes und Gericht sehr stark. Paulus z.B. greift das auf.
Er kann sich das Kommen Gottes nur in Gnade und Zorn vorstellen, z.B. 1Thess 1,10; Röm 2,18.
Christen wurden schon bald wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus als dem Sohn Gottes verfolgt.
Sie erwarteten, dass sie vor aller Welt von Gott Recht bekommen würden. Vgl. Mt 5,11f: „Selig
seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt werdet ... Euer Lohn im Himmel wird
groß sein ...“
Die Zerstörung Jerusalems im jüdisch-römischen Krieg (70 n.Chr.) konnte als Gericht über die
Juden, die Jesus nicht angenommen hatte, verstanden werden; das Gerichtsmotiv hilft also, die
Geschichte zu verstehen. Und
es gab in den Gemeinden Probleme, die nur mit der Androhung des Gerichts gelöst werden
konnten.
Die letzten beiden Punkte werden an der matthäischen Umformung des Gleichnisses vom
Gastmahl, Mt 22,1-14, sehr deutlich. Zum einen liegt darin eine Geschichtsdeutung: Der „König“
lädt zweimal ein (vor Ostern und nach Ostern), aber die Gäste kommen nicht nur nicht, sie
misshandeln auch die Diener und bringen sie um (=Schicksal Christi und der Christen). Daraufhin
lässt der König die Stadt der Gäste in Schutt und Asche legen (die Zerstörung Jerusalems wird
also als Gerichtshandeln gedeutet)! Und nun ergeht die Einladung (für das immer noch
bereitstehende Gastmahl!) an alle, also an die Menschen aus den Völkern.
Zum anderen reagiert das Gleichnis auf innergemeindliche Probleme. In den Gemeinden gab es
offenbar Konflikte um unbelehrbare Sünder, und die Frage war, wie mit ihnen umzugehen sei.
Sollten sie aus der Gemeinde ausgeschlossen werden, vgl. Mt 18,15-18? Offenbar neigten viele in
der Gemeinde zu einem harten Kurs. Das Gleichnis sagt dazu: Es gibt in der Gemeinde „Böse
und Gute“, und das darf auch so sein. Aber einer wird von dem König zurechtgewiesen. Das ist
der, der nicht das richtige Festgewand trägt. Im Kontext der matthäischen Theologie ist zu
verstehen: Das ist einer, der auf die Vergebung, die er empfangen hat, nicht mit
Vergebungsbereitschaft reagiert. An diesem vollzieht sich das Gericht (vgl. dazu Mt 6,14f: Wenn
ihr Übertretungen erlasst, wird euch der himmlische Vater auch eure Übertretungen erlassen.
Ferner Mt 18,21f: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal vergeben; Mt 18,23-35:
Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner. Für Mt ist also das Thema Vergebung ganz wichtig,
und er droht denen das Gericht an, die keine Vergebungsbereitschaft zeigen).
So ergibt sich als Fazit zum Thema Gericht: Die vielen Gerichtsworte und
Gerichtsgleichnisse gehen nicht auf Jesus selbst zurück, sondern entstammen der
frühchristlichen Gemeindesituation (vor allem bei Mt). Ohne die Androhung des Gerichts
konnte man mit den Problemen der Gemeinde offenbar nicht fertig werden. Jesu Botschaft
vom nahe gekommenen Gottesreich aber kam ohne Gericht aus.
Obwohl Jesus kein Gericht erwartet, hat er doch Erwartungen an das Verhalten der
Menschen. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit seiner Botschaft vom
angebrochenen Gottesreich. Limbeck achtet darauf, zu welchen Themen Jesus von sich aus
Stellung nimmt und welche er nur auf Anfrage, zu seiner Verteidigung usw. aufnimmt, und
kommt zum Ergebnis: Jesus hat von sich aus nur über das kommende Gottesreich
gesprochen. Alle andere religiösen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen Themen
beschäftigen ihn offensichtlich nicht; er geht darauf nur ein, wenn er dazu herausgefordert
wird.
Was sind nun die ethischen Weisungen, die Jesus von sich aus geboten hat? Es zeigen
sich die folgenden:
•
•
•
nicht zu zürnen, Mt 5,21f
nicht zu richten, sondern einander zu vergeben, Lk 6,37-42
auch die Feinde zu lieben, Lk 6,27-36
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•
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•
•
nicht die Frau des Nächsten zu begehren, Mt 5,27f
absolut zuverlässig sein, Mt 5,37f („Eure Rede sei ja, ja; nein, nein“)
einander zu dienen, gerade wenn man etwas Besonderes sein möchte, Mk 9,33-35; 10,35-40
keinen Anstoß geben, Mk 9,42f
sich vor dem „Sauerteig der Pharisäer und Herodianer“ zu hüten, Mk 8,14f (das heißt hier: für den
Glauben ein Zeichen, also Sicherheiten haben zu wollen)
sich nicht unnötig zu sorgen, Mt 6,24-34.
Alle diese Weisungen sind an den Kreis der Jüngerinnen und Jünger gerichtet. Also an die,
für die die Gottesherrschaft bereits Gegenwart ist.
Vgl. speziell zu Mk 10 und dem Problem der Ehescheidung unter Jüngerinnen und Jüngern:
LUZIA SUTTER REHMANN, KONFLIKTE ZWISCHEN IHM UND IHR. SOZIALGESCHICHTLICHE UND
EXEGETISCHE UNTE RSUCHUNGEN ZUR NACHFOLGEPROBLEMATIK VON E HEPAAREN, Gütersloh 2002,
31-128
Und von daher verstehen sich auch diese Weisungen: Sie geben das Verhalten an, das
möglich, aber auch erforderlich ist, wenn man der Realität des Reiches Gottes gerecht
werden will. Oder noch einfacher: Jesus gibt hier die Regeln an, ohne die das
Zusammenleben in der Gruppe der Menschen, die mit ihm unterwegs sind, nicht möglich ist.
Es ist ein Verhalten, das entsteht, wenn man auf die positive Kraft der Nähe Gottes vertraut
und sich darauf einlässt, ganz daraus zu leben. Es ist nicht nötig, vorher das Böse und die
Sünde auszuscheiden und zu vernichten. Es genügt, sich auf die neue Lebensgrundlage und
das ihr entsprechende Verhalten einzustellen. Für Limbeck zeigt sich hier noch einmal, dass
für Jesus das Thema Gericht keine Rolle spielt.
Limbeck meint, dass auch heute jeder die Erfahrung mit diesen Weisungen Jesu machen kann,
nämlich die Erfahrung, dass das Leben „ungeahnt Positives in sich birgt“, dass „unser Leben im Grund
seiner Anlage nach die Möglichkeit in sich trägt, zusammenzufinden, sich aufzubauen und sich zu
vollenden“ (S. 76). Hier ist sie wieder, die Limbecksche Uneindeutigkeit: Vertrauen wir mit Jesus auf
Gott oder auf die Kraft des Lebens??
4)
Der Weg zum Kreuz
Zu diesem Abschnitt Limbeck, 77-95
Jesus verkündigte, dass Gott bald kommen würde, dass der Bräutigam bald zum großen
Hochzeitsmahl laden würde. Mit dieser Verkündigung erregte er in Galiläa großes Aufsehen,
und er fand viel Zustimmung. Die Jerusalemer Priesterschaft und die Offiziellen des
Judentums hatte hingegen noch keine Notiz von Jesus genommen. Zog er nun nach
Jerusalem, um seine Botschaft auch ihnen auszurichten und ihre Reaktion herauszufordern?
Und/oder wollte Jesus gezielt die Konfrontation mit den Autoritäten (auch den Römern!)
herbeiführen, um Gott endlich zum Eingreifen zu veranlassen? Ist Jesus ungeduldig
geworden? Wollte er Gottes Kommen, das auf sich warten ließ, veranlassen, indem er das
eigene Leben aufs Spiel setzt, ja sich selbst als Opfer darbringt, um Gott zum Eingreifen zu
zwingen?
Dieser Ansatz bei FRIEDRICH HEER, DAS WAGNIS DER SCHÖPFERIS CHEN VERNUNFT, W IEN-KÖLNW EIMAR 2003, 113-118.
Jedenfalls zieht er nicht als Festpilger nach Jerusalem. Das ist schon daraus zu ersehen,
dass er und seine Jünger nicht die vorgeschriebenen Reinigungsriten machen (Tauchbad
vor dem Eintritt in den Tempelbezirk). Es heißt nur lapidar, dass Jesus sich im Tempel alles
ansieht (Mk 11,11 – von 11,1-10 her lässt sich sagen: Jesus hat Eingeweihte und
Verbindungsleute vor der Stadt. Sein Eintritt in Jerusalem scheint eher eine konspirative
Aktion zu sein. Er wird von den Festpilgern, nicht von der Stadtbevölkerung mit Jubel
begrüsst).
Es ist ihm klar, dass es in Jerusalem zu einer dramatischen Auseinandersetzung kommen
wird, und er sucht sie bewusst. Mk 8,34 heißt es am Beginn des Weges nach Jerusalem:
„Wenn einer hinter mir her nachfolgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz
auf und folge mir.“ Damit ist nicht allgemeine Bereitschaft zum Leiden gemeint. Das Kreuz
war Hinrichtungsinstrument der Römer, nicht der Juden; also fürchtete oder erwartete
Jesus, von den Römern hingerichtet zu werden, Das aber konnte nur passieren, wenn
öffentlich den Tempel angriff (denn wegen abweichender Lehren drohte von jüdischer Seite
höchstens die Verbannung).
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Dass die Römer auf Konflikte um den Tempel äußerst empfindlich und gewaltbereit
reagierten, war bekannt. Vgl. dazu G. THEIßEN, STUDIEN ZUR SOZIOLOGIE DES URCHRISTENTUMS
aaO., 142-159.
Die Stimmung in der Gruppe während des Wegs nach Jerusalem war dementsprechend
beklommen, vgl. Mk 10,32-34.
Jesus versucht sich unterdessen über seine Rolle und Bedeutung klar zu werden: Mk 8,2730. Die Frage, für wen die Menschen ihn halten, kann durchaus ernstgemeint gewesen sein.
Jesus hatte erfahren, dass er zu besonderen Machttaten in der Lage war. Gott war ihm
nahe. Konnte er annehmen, dass er der Messias war? Deshalb fragte er, für wen ihn die
Menschen hielten.
(Das Markusevangelium bringt in 9,2-9 den Bericht von der Verklärung Jesu, um die Klarheit
anzuzeigen, die Jesus in diesen Tagen gewonnen hat.)
Vielleicht dachte Jesus darüber nach, ob er der von Johannes dem Täufer angekündigte
„Stärkere“ war. Die Rede von dem „Stärkeren“ gehörte offenbar zum Kernbestand der
Verkündigung des Täufers, und sie stand in Zusammenhang mit der apokalyptischen
Erwartung des Menschensohns. Hat sich Jesus jetzt mehr und mehr als Verkörperung des
Menschensohns gedacht? Und wollte er in Jerusalem die Entscheidung über diese Frage
erreichen?
Auch im Jüngerkreis erwartete man, dass in Jerusalem etwas Entscheidendes passieren
würde. Und Jesus weist diese Erwartung nicht zurück. Er sieht gewaltsame Konflikte voraus,
an deren Ende vielleicht ein großes Mahl steht, und wohl auch ein kommendes Reich, in
dem Gott herrschen wird, vgl. Mk 10,37-40.
Die Konfrontation in Jerusalem
Zu den Geschehnissen in Jerusalem nach Mk 11,7-13,2 vgl. auch die sehr instruktive
Darstellung durch KUNO FÜSSEL/EVA FÜSSEL, DER VERSCHWUNDENE KÖRPER. NEUZUGÄNGE ZUM
MARKUSEVANGELIUM , LUZERN 2001, 171-220.
Jesus kommt wie gesagt nicht als Pilger nach Jerusalem. Das erste, was er tut, nachdem er
sich alles gründlich angeschaut hatte (Mk 11,11 – Mt erspart seinen judenchristlichen Lesern
diese für jüdische Ohren empörende Nachricht), ist, dass er die Händler und Geldwechsler
aus dem Tempel heraustreibt, Mk 11,15-18.
Die Händler und Geldwechsler gehörten zum Opferbetrieb des Tempels, sie waren völlig zu
Recht da. Der Tempel war nicht nur ein Ort des Gebets. Es ist also falsch, von
Tempelreinigung zu sprechen. Dass Jesus die Händler hinaus treibt, war ein Angriff auf die
Tempelopfer selbst.
Mk 11,16 („und er ließ nicht zu, dass einer hindurchtrage ein Gefäß durch das Heiligtum“) ist
ebenfalls als Kritik an den Tempelsitten zu verstehen. Während der Wallfahrten war es Sitte,
die heiligen Geräte zur Schau zu stellen.
Limbeck weist auf ein 1905 aufgefundenes apokryphes Evangelium hin, in dem ein Konflikt zwischen
Jesus und einem Pharisäer wegen der Tempelgeräte ausführlich geschildert wird. Offenbar hat Mk
hier die Erinnerung an einen historischen Vorfall bewahrt.
Im Prozess gegen Jesus wird ihm vorgeworfen, er habe gesagt, er werde diesen von
Händen gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen, nicht von
Händen gemachten, aufbauen, vgl. Mk 14,58 u. 15,29f). Diese Äußerung passt in den
Kontext der Austreibung der Händler. Sie bedeutet, dass Jesus die Präsenz Gottes im
Tempel und seinem Kult (und die damit gegebene Heilsgarantie) überhaupt in Frage stellt.
Die Konfrontation mit dem Tempel war also grundsätzlicher Art. Jesus musste damit
rechnen, dass sowohl die jüdische wie die römische Obrigkeit darauf reagierten.
Die letzten Gespräche und Auseinandersetzungen
Da Gleichnis von den bösen Weinbergpächtern Mk 12,1-9 ist vom Ablauf her
unwahrscheinlich (warum nimmt der Besitzer die Misshandlung seiner Knechte hin und
schickt dann auch noch den Sohn?) und lenkt gerade damit die Aufmerksamkeit auf sich. Die
Hörer können verstehen: Gott hat noch immer nicht bekommen, was ihm zusteht. Was wird
er tun? Er wartet noch immer, aber nicht mehr lange. (Aus der Parabel ist wohl nicht zu
13
ersehen, dass Jesus sich mit dem Sohn Gottes identifiziert, auch wenn er selber in der Rolle
des Sohnes darin vorkommen mag).
Das Gespräch über die Steuer an die Kaiser mit den Pharisäern und Herodianern (Mk
12,13-17) schließt sich gut an: Wenn dies Gottes Weinberg ist, warum dann Steuern an den
Kaiser? Jesus beantwortet die Frage in seinem Sinne: Gebt dem Kaiser, worauf er nach der
Münze einen Anspruch hat, und gebt Gott, was Gottes ist (nämlich das Vertrauen auf das
Evangelium).
Die Sadduzäer fragen nach der Auferstehung (Mk 12,18-27). Ist es nicht sinnlos, an ein
über-das-Leben-hinaus zu glauben, wenn mit dem Tod doch alles zu Ende ist? Auch die
Tora (von der Leviratsehe) führt hier nur zu absurden Konsequenzen. Jesus wendet sich
resolut gegen diese Verleugnung der Lebenskraft Gottes. Gott ist ein Gott der Lebenden,
nicht der Toten; Jesus glaubt ja gerade an die todüberwindende Macht Gottes, das ist sein
Evangelium.
Zum Verständnis der Auferstehung in dieser Perikope vgl. LUZIA S UTTER REHMANN, W ENN DIE
TOTEN SICH AUSRUHEN VOM TOTSEIN. EINE WIDERSTÄNDIGE SPRITUALITÄT, in: dies., Sabine
Bieberstein, Ulrike Metternich, Sich dem Leben in die Arme werfen.
Auferstehungserfahrungen, Güterloh 2002, 74-88
Die Frage nach den höchstem Gebot Mk 12,28-34 ist Zusammenfassung und
Schlusspunkt dieser Streitreden. Es geht darum, Gott zu lieben und dann auch den
Nächsten wie sich selbst lieben zu können (das ist im Einklang mit der Hauptüberlieferung
der Tora: Jesus steht ganz auf jüdischem Boden!); das ist mehr als alle Brand- und
Schlachtopfer (Kritik des Tempelkults – Jesus streitet innerhalb des Judentums um den
rechten Weg Gott gegenüber). In der Liebe zu Gott erschließt sich das Leben, das er für uns
bereithält (vgl. den Zusammenhang mit der letzten Perikope von der Auferstehung).
Die Aussage über den Messias in Ps 110 (Mk 12,35-37) antwortet nicht auf eine Frage. Sei
es, dass Jesus hier auf Unausgesprochenes reagiert, sei es, dass er von sich aus Klarheit
schaffen möchte: Der Messias ist nicht der Sohn Davids (im Sinne einer Fortsetzung der
Dynastie und einer Wiedererrichtung des davidischen Königtums). Jesus setzt sich von der
gängigen Messiasvorstellung und –erwartung ab. Zu folgern wäre: auch ein Galiläer, auch
Jesus kann der Messias sein.
Jesu Haltung und Verhalten in seinen letzten Tagen
Er sucht nicht die Auseinandersetzung mit den entscheidenden Instanzen (dem
Hohepriester, dem Hohen Rat). Er hält sich an die, denen er zufällig im Tempel begegnet.
Hier setzt er prophetische Zeichenhandlungen und –worte (wie sie ihm aus der
prophetischen Tradition geläufig waren). Und dabei wird ihm klar, dass er sein Leben riskiert,
dass er sich um Kopf und Kragen redet.
Vgl. dazu Mk 14,3-8. Die zärtliche Salbung in Betanien deutet er als ein Salben zum
Begräbnis, d.h. zum Tode.
Seine letzten Tage sind vom Bewusstsein der entscheidenden Auseinandersetzung und der
Krise erfüllt. Die Frage der Schriftgelehrten und der Ältesten „In welcher Vollmacht tust du
dieses? Oder wer gab dir diese Vollmacht, damit du dieses tust?“ (Mk 11,28) steht über
allem, was Jesus in diesen Tagen sagt und tut. Es ist, als wenn er die Antwort vom Himmel
her erzwingen wollte.
Mit seiner Lehre setzt er sich klar ab von den Schriftgelehrten und ihrer Autorität: Mk
12,38-40. Sie sind es ja, die die Häuser der Witwen auffressen. Im Zusammenhang damit ist
wohl auch die folgende Perikope vom „Scherflein der Witwe“ zu verstehen. Jesus lobt nicht,
dass die Witwe „ihr ganzes Leben“ in den Schatzkasten wirft, er lobt nicht ihre
Selbstverleugnung nach dem Motto: Gott sieht nicht auf die Größe der Gabe sondern auf die
Gesinnung, sondern er kritisiert (im Zusammenhang!), dass sie im System des Tempels
überhaupt dazu angehalten ist, ihren ganzen Lebensunterhalt hinzugeben. Der Tempel
nimmt den Armen noch das Nötigste, den Reichen aber nur von ihrem Überfluss (diese
Auslegung nach Füssel/Füssel aaO. 213-215).
Die Situation ist so zugespitzt, dass Jesus nicht mehr sicher sein kann, ob er noch länger mit
der vollen Solidarität aller Jünger rechnen kann, vgl. Mk 14,10f. 17-21: Der Verrat des
Judas.
14
Jesus ist in die volle Opposition zum religiösen und gesellschaftlichen Establishment
gegangen. Eine Verständigung war nicht mehr möglich. Dazu war ein Eingreifen der Römer
wegen der Auseinandersetzungen um den Tempel jederzeit möglich; Jesus brachte das
ganze Volk in Gefahr.
Die Bemerkung des Hohepriesters im JohEv (11,50) ist durchaus realistisch: "Ihr bedenkt nicht, dass
es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk
zugrunde geht.".
In dieser Situation tut Jesus nur noch eines: Er feiert mit seinen Jüngern das Mahl, Mk
14,22-25. Vom großen Hochzeitsmahl als der Wirklichkeit des Reiches Gottes hatte er ja
immer wieder gesprochen. Nun verknüpft er beim Mahle ausdrücklich die eigene Hingabe
(das Blut, das ausgegossene) mit dem kommenden Tag des Königtums Gottes. Darin liegt
kein Opfergedanke, sondern Jesus gibt der Gewissheit Ausdruck, dass Gott auf seinen –
Jesu – Tod hin endgültig eingreifen und kommen wird. "Dies ist mein Blut des Bundes, das
ausgegossene für viele. Amen, ich sage euch: Nicht mehr trinke ich aus dem Ertrag des
Weinstocks bis zu jenem Tag, wann ich ihn trinke neu im Königtum Gottes." Jesus setzt
darauf, dass Gott ihn erwecken wird. Dann wird er vorangehen nach Galiläa (Mk 14,28 –
dann wird das wahr werden, was in Galiläa begonnen hatte).
Was aber geschieht? Die Jünger wachen nicht mit ihm in Gethsemane. Während er sich
entschließt, den Weg zu gehen bis zum Ende, ist er von ihnen allein gelassen. Jesus wird
von einem seiner Jünger verraten. Es wird ihm der Prozess vor dem Hohepriester gemacht
(mit falschen Zeugen!). Petrus verleugnet ihn. Pilatus gibt der aufgehetzten Volksmenge
nach, obwohl er weiß, dass Jesus unschuldig ist. Barabbas wird freigelassen, Jesus nicht.
Hätte das nicht die Wende sein können: Das Volk befreit Jesus aus den Fängen der Mächtigen?! Den
es aber befreit, ist der Aufrührer Barabbas – das heißt: Sohn des Vaters... Barabbas, die andere
Möglichkeit Jesu.
Er wird verspottet von den Soldaten. Er wird gekreuzigt. Die Vorübergehenden lästern ihn,
sowohl das einfache Jerusalemer Volk (Mk 15,29f: weil er sich gegen den Tempel gewandt
hatte) wie auch die Priester und Schriftgelehrten (15,31f: weil er sich für den Christus hielt).
Auch die Mitgekreuzigten schmähten ihn.
Finsternis wurde. Jesus schrie mit lauter Stimme nach dem Gott, der ihn verlassen hatte,
und hauchte mit einem lauten Schrei seinen Geist aus.
Gott hatte nicht eingegriffen. Das Gottesreich war nicht gekommen.
Das Mk-Ev endet mit dieser Enttäuschung Jesu.
5) Die Erfahrung der Auferstehung
zu diesem Abschnitt Limbeck 96-110
Folgen wir Limbeck noch einen letzten Schritt: in seiner Deutung der Auferstehung.
Er fragt, unbeschadet der Auffassung, dass die Auferstehung ein Geschehen von Gott her ist
und darum nicht weltlichen Maßstäben unterworfen sein kann, nach den subjektiven
Voraussetzungen der Ostererfahrung.
Im Neuen Testament sind folgende Beobachtungen zu machen:
Paulus berichtet dezidiert von eigenen Erfahrungen mit dem Auferstandenen. Er hat den
Herrn gesehen (1Kor 9,1), Christus ist ihm erschienen (1Kor 15,8). Woher aber wusste
Paulus, dass es der 'Herr', dass es 'Christus' war? Hier liegt ja offenbar eine innere
Erfahrung und Gewissheit vor, wie es Paulus auch bezeugt, wenn er sagt, dass es Gott
gefiel, seinen Sohn "in mir" zu offenbaren (Gal 1,15), dass die Erkenntnis des göttlichen
Glanzes aufstrahlt "in unseren Herzen" (2Kor 4,6). Ferner ist bei Paulus sehr
bemerkenswert: Er versteht sein Christsein als ein mit-Christus-gestorben-sein und ein mitihm-auferweckt-sein (Gal 2,19f; Gal 5,24; Gal 6,14; Röm 6,3-8). Die Ostererfahrung ist bei
unlöslich verbunden mit dem Erlebnis seines eigenen Todes. Das ist im Neuen Testament
singulär.
In den Evangelien zeigt sich: Die ersten Auferstehungszeugen sind Frauen, und ihnen
begegnet immer zunächst ein Engel, um die Auferweckung Jesu zu verkünden (Mk 16,5; Mt
28,1.5; Lk 14,4,23; Joh 20,12). Den Männern aber begegnet kein Engel, sondern gleich der
Auferstandene selbst.
15
Das MkEv überliefert an seinem ursprünglichen Schluss das Ostererlebnis der Frauen und
endet dann so: "Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte
sie gepackt. Und sei sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich sehr." Sie
fürchten sich also so, dass sie niemandem davon berichten. Hat Markus nicht empfunden,
wie "unbefriedigend" ein solches Ende seines Evangelium ist? Warum sollte er es also
erfunden haben?
Dazu ist auffällig: Ab einem bestimmten Zeitpunkt hören die Ostererscheinungen auf. Dieser
Zeitpunkt scheint schon vor Paulus erreicht worden zu sein, vgl. 1Kor 15,3-8 (Apg 1,3 spricht
von 40 Tagen, während derer Jesus den Seinen erschienen ist). Warum gingen die
Erscheinungen nicht weiter?
Deutung der Ostererfahrung als Überwindung von Nahtoderfahrungen
Limbeck kann die genannten Phänomene gut deuten, wenn er sie auf sog. Nahtoderlebnisse
bezieht.
Er beruft sich auf eine großangelegte Untersuchung im Rahmen eines Forschungsprojekts unter der
Leitung von Prof. Dr. Hubert Knoblauch. Darin zeigt sich: Etwa 4,5% der Bevölkerung haben sog.
Nahtoderlebnisse, d.h. den Eindruck jenseits der Grenzen des Lebens gestanden und Kontakt mit
einer transzendenten Wirklichkeit bekommen zu haben. Die Verteilung dieser Erlebnisse ist
unabhängig von Bildung, Religion und sozialer Gruppe. Und diese Erlebnisse stellen sich auch ein
unabhängig von körperlichen Todeserlebnissen, also von lebensgefährlichen Zuständen. Typisch für
alle diese Erlebnisse sind drei Elemente: 1. das Gefühl, schockartig dem eigenen Tod
gegenüberzustehen; 2. eine besonders angespannte Lage, physischer und/oder psychischer Stress,
3. die völlig unterschiedliche inhaltliche Verarbeitung dieser Erlebnisse, die offenbar von kulturellen
Mustern und Bildern bestimmt ist. Dazu ist noch zu bemerken: Menschen wagen oft nicht, von diesen
Erfahrungen zu sprechen, bevor dies im öffentlichen Bewusstsein akzeptiert ist.
Für die Deutung der Ostererfahrungen lässt sich nunmehr sagen:
– Der Tod Jesu brachte für die Jüngerinnen und Jünger eine Art Nahtoderlebnis. Ihre letzte
prägende Erinnerung an ihn war ja das Abendmahl gewesen. Dort hatte er ihnen noch
einmal seine ganz besondere Nähe zugesagt ("Nehmt, dies ist mein Leib"), und er hatte auf
die bevorstehende herrliche Zukunft, die Ankunft des Reiches Gottes, hingewiesen ("Ich
werde nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken..."). Die Gemeinschaft um Jesus
hatte dort ihre höchste Intensität erreicht, und sie war auf Zukunft hin angelegt. Der Tod Jesu
musste deshalb für die Jüngerinnen und Jünger einen Schock bedeuten – er hatte sie selbst
in die Nähe des Todes gebracht.
– Bei den Frauen am Grab stellte sich zuerst die innere Erkenntnis ein: Dieser Jesus lebt,
und er wird sich ihnen dort zeigen, wo sie früher glücklich miteinander waren, in Galiläa. Es
war der Engel, der himmlische Bote, der ihnen dieses Undenkbare denkbar gemacht hatte.
Auf ihn beriefen sie sich, als sie (dann doch – denn sonst hätte es ja nicht berichtet werden
können) davon erzählten.
– Nachdem aber die Frauen davon erzählt hatten, nachdem also in der Öffentlichkeit des
Jesus-Kreises davon gesprochen werden konnte, erfuhren auch die Männer die Gegenwart
des Auferstandenen.
Für die Verarbeitung ihres Nahtoderlebnisses standen den jüdischen Frauen und Männern biblische
Deutungsangebote zur Verfügung. Der Engel steht für die Gegenwart der todüberwindenden
Lebensmacht Gottes (vgl. nur Gen 22: Der Engel rettet Isaak auf dem Opferaltar; Ex 23,20: Der Engel
schützt Israel vor den Völkern; 1Kön 19: Ein Engel rettet den zu Tode erschöpften Elia). Der dritte
Tag ist biblisch der Tag, an dem Gott wieder neu zum Leben aufrichtet (vgl. Gen 22: Isaak wird am
dritten Tag gerettet; Gen 42,18: Josef entlässt seine Brüder am dritten Tag aus der Gefangenschaft;
Ex 19: Gott schließt mit Israel am dritten Tag einen Bund; Jona 2: der Fisch speit Jona am dritten Tag
an Land; Hos 6,2: "Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück, am dritten Tag richtet er uns
wieder auf, und wir leben vor seinem Angesicht.").
- Die Ostererscheinungen ereignen sich in einer begrenzten Zeit – in jener Zeit, in der die Jüngerinnen
und Jünger in einer besonders intensiven psychischen Anspannung standen.
Bei Paulus ist wie gesagt das Erlebnis des Auferstandenen mit der Erfahrung des eigenen
Sterbens und Neuwerdens verbunden. Er erfuhr, dass der Gekreuzigte der Auferstandene
ist, oder anders: dass das, was für ihn ganz negativ, ja von Gott her verflucht war – das
Gekreuzigtsein (vgl. Gal 3,13 mit dem Zitat Dtn 21,23) – nun das ganz Positive, der Inbegriff
des rechten Lebens vor Gott oder der letzte Ausdruck der göttlichen Liebe geworden war. Er,
16
Paulus, der die Christen verfolgt hatte, weil er um die Reinheit des Glaubens kämpfte, er
wechselte nun ganz auf die andere Seite, zu Jesus und den Christen, über. In der
Begegnung mit dem Auferstanden (mit dem Gekreuzigten als Auferstandenen!) war er selbst
als der, der er war, gestorben, und dann zu einem neuen Leben gelangt. Aus Saulus wurde
Paulus (Apg 9).
Man kann noch, über Limbeck hinaus, in diese Richtung weiter überlegen. Saulus/Paulus war ein
gebildeter Jude aus Tarsus, ein Bürger der römischen Reiches. Ein Intellektueller, der dennoch
"eiferte für die Überlieferungen der Väter über die Maßen" (Gal 1,14). Die Frage, ob man als Jude die
Tora einhalten muss, war offensichtlich sein Hauptproblem, und dies ist verständlich, lebte er doch
unter Nichtjuden, in der Diaspora, wo Gesetzesobservanz gerade unter Gebildeten etwas
Befremdliches und Peinliches an sich haben musste. Paulus aber steigert sich in den Eifer für das
Gesetz hinein, er zwingt sich, so zu leben, wie er es im Grunde eigentlich gar nicht will. Und kommt
schließlich so weit, für die Wahrheit seines Glaubens Blut fließen zu lassen ("Und als das Blut deines
Zeugen Stephanus vergossen wurde, stand ich mit Wohlgefallen dabei und verwahrte die Kleider
seiner Mörder", Apg 22,20). In welchen Spannungen und Widersprüchen lebte dieser Mensch! Und da
erlebt er nun, wie ihm der Gekreuzigte – und für ihn verband sich damit immer die Interpretation des
Stephanus, d.h. eine Form der Glaubens, die sich von der strengen Bindung an das Gesetz gelöst
hatte – erscheint und ihn fragt: Warum verfolgst du mich? Des Paulus Leben mit all seinen
Widersprüchen bricht hier zusammen, eine Umwertung aller seiner Werte vollzieht sich. Er war mit
Jesus dem Gekreuzigten gestorben und dann mit ihm zu neuen Leben erweckt.
Heißt das alles aber nun, so Limbeck, dass die Auferstehung nur eine Einbildung, ein
innerpsychischer Vorgang war? Dass also Jesus nicht wirklich auferstanden ist und nicht
wirklich sitzet zur Rechten des Vaters? Dazu ist aber mit Paulus selbst nur zu sagen: Über
die Gestalt des Auferstandenen, über sein Leben in der anderen Welt, können wir nichts
sagen, denn das ist etwas, was sich unserer Welt entzieht. Vgl. 1Kor 16,35-50: "...Gesät wird
in Verweslichkeit, erweckt wird in Unverweslichkeit". Über die Realität dieses anderen
Lebens können wir nichts sagen, wir können nur fragen nach der psychischen Realität derer,
die die Ostererfahrungen erleben und bezeugen.
(Allerdings kann man nicht verkennen, dass im Duktus von Limbecks Ausführungen eine rein
psychologische Deutung der Auferstehung das plausibelste ist.)
III.
Jesus in der Welt der Schriften
1) Die Ausgangslage
Jesus hatte die Botschaft von der kommenden Königsherrschaft Gottes verkündet. Er hatte
erlebt, wie sie durch ihn, durch das, was er tat, bereits hier und da Wirklichkeit wurde. Seine
Botschaft trieb ihn in eine Konfrontation mit den herrschenden Instanzen des Judentums, vor
allem mit der Institution des Tempels. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er in der
Auseinandersetzung mit den führenden Kreisen Jerusalems einen Erweis von Gottes Seite
zu seinen Gunsten, d.h. zu Gunsten seiner Botschaft, erwartete. Aber das hat er nicht mehr
erlebt. Sein Leben endete mit einem Scheitern.
Aus welchen Gründen auch immer: Einige seiner Jüngerinnen und Jünger waren von der
Gewissheit erfüllt, dass Jesus lebt. Dass das Kreuz nicht sein Ende war. Und damit auch
seine Botschaft nicht widerlegt war.
Indem sie an Jesus festhielten, standen sie vor der Aufgabe, sein Ende am Kreuz so zu
interpretieren, dass es keinen Widerspruch darstellte zu seiner Botschaft. Ja noch mehr:
dass sich in dem, was bei seinem Leiden und bei seinem Kreuzestod geschah, seine
Botschaft vom Gottesreich gerade bewahrheitete. Denn das waren sie ja von seinem Leben
her gewohnt: dass sich durch sein Tun das realisierte, was er sagte. Auf dieser Linie musste
auch das Geschehen des Kreuzes zu deuten sein.
An dieser Stelle ein letzter Blick auf den Ansatz von Meinrad Limbeck, dem wir bisher soviel
verdanken. Limbeck (vgl. dazu 111-116) sieht die Bedeutung Jesu darin, dass er mit seinem Leben
ein Modell darstellt für gutes und glückliches Leben. Dieses Modell besteht darin, den "verborgenen
Reichtum des gegenwärtigen Lebens" (115) zu entdecken. Jesus lebte ganz aus den "Möglichkeiten
und den Notwendigkeiten des jeweiligen Augenblicks" (112). Die "verinnerlichte Wahrnehmung jener
transzendenten Wirklichkeit" hatte ihn dazu befähigt "zu erkennen, dass sein gegenwärtiges Leben
schon heute seiner Anlage nach zu jener positiven Gestaltung fähig ist, zu der das menschliche Leben
17
insgesamt unterwegs ist" – oder eben in der Sprache Jesu ausgedrückt: "dass das Reich Gottes da ist
(Mk 1,16)" (112).
Auf dieses Modell Jesu kann sich jeder Mensch einlassen – aber niemand muss es! Es ist eine
Einladung, über die man nicht diskutieren kann, kein Zwang. Man kann es nur mit ihr ausprobieren,
indem man versucht, so zu leben, wie Jesus gelebt hat. Indem man wie Jesus auf das Evangelium
vertraut. Jesus hat eine Spur gelegt, der Menschen folgen können. Seine Bedeutung liegt darin, diese
Spur gelegt zu haben und diese Erfahrung eröffnet zu haben. Hätte es ihn nicht gegeben, dann
"kämen viele vielleicht gar nicht einmal auf die Idee, es zumindest einmal zu versuchen, ihre
Gegenwart und ihr Leben im Licht jener zukünftigen, geschenkten Vollendung zu sehen. Und wie
leicht geschieht es dann, nicht wahrzunehmen, dass eine positive, verbindende und aufbauende
Gestaltung aufgrund der jeweiligen Anlagen tatsächlich möglich wäre" (112).
Gegen eine Botschaft nach dem Motto "Positiv denken" sieht Limbeck seinen Modellgedanken durch
zwei Elemente abgesichert: Zum einen hat Jesus nicht allen, die ihm nachfolgen, Erfolg verheißen; es
ist vielmehr wie mit dem Sämann, der ausgeht um zu säen: Einiges fällt auf steinigen Boden... (Mk 4).
Von daher gibt es damals wie heute gute Gründe, sich nicht auf den Weg Jesu einzulassen. Zum
anderen stellt Jesus an die, die seinen Weg gehen wollen, hohe Anforderungen: Vater und Mutter
verlassen und hassen, auch sein eigenes Leben hassen, sein Kreuz nehmen, allen Gütern entsagen
(Lk 14,26-33) – kurz: allen jene Sicherheiten und Gewohnheiten ausschlagen, die normalerweise ein
Leben ausmachen. Man muss bereit sein, mit allem zu brechen, was davon abhalten will, den
eingeschlagenen Weg zu gehen.
Zusammenfassend ist zu sehen: Limbeck tut genau das nicht, was die urchristliche Theologie
(vor der gleich die Rede sein wird) tun wird: er hat das Leben Jesu nicht im Blick auf sein Ende, auf
das Kreuz, gedeutet. Er lässt noch einmal den "galiläischen Frühling" mit seinen verheißungsvollen
Möglichkeiten lebendig werden, allenfalls etwas überschattet von den späteren Erfahrungen im Leben
Jesu. Aber dass der Verkünder der Botschaft vom nahegekommenen Gottesreich nun gerade eben
nicht Umkehr und Vertrauen auf das Evangelium bewirkt hat, sondern Widerstand, der schließlich zu
seine Kreuzigung führte, das kann doch beim Blick vom Ende her nicht übersehen werden. Wem kann
ich denn die "Idee" vom verborgenen Reichtum des gegenwärtigen Lebens und seiner Anlage zur
zukünftigen Vollendung im Ernst verkünden, wenn doch der Urheber dieser Idee so erbärmlich und
einsam gescheitert ist?
Mit anderen Worten: Limbeck hat überhaupt kein Verständnis für die Realität des Bösen in der
Welt (wie immer man das ausdeuten mag), und damit auch kein Verständnis für die Macht der Sünde,
die Menschen dazu bringt, den "verborgenen Reichtum des Lebens" zu verspielen und an den Tod
auszuliefern, und damit hat es letzten Endes auch kein Verständnis für Gott, der für ihn, Limbeck, zu
einer gesichtslosen "transzendenten Wirklichkeit" wird. Und weil er kein Verständnis für Gott hat, gerät
ihm die Botschaft Jesu nun doch zu einem Programm nach der Art von "Think positiv", "Lebe jetzt!",
"Entdecke deinen inneren Reichtum" etc. Solche Programm gibt es aber schon genug, und sie haben
nichts beigetragen zur Erlösung der Welt von dem Bösen.
Die Menschen, die an Jesus auch nach seinem Tod festhielten und seine Auferstehung
bezeugten, hielten also daran fest, dass sein Evangelium weiterhin gültig war. Dieses lautete
ja:
Die Zeit ist erfüllt.
Nahegekommen ist das Königtum Gottes
Kehrt um
und glaubt an das Evangelium (Mk 1,15).
Wie nahm sich nun diese Botschaft im Lichte von Jesu Kreuz aus, wenn man im Lichte des
Glaubens an seine Auferstehung davon ausging, dass das Kreuz nicht sein Ende war,
sondern seine Botschaft gerade bewahrheitete? Dann musste es möglich sein, seine
Botschaft gerade auf ihn selbst zu beziehen. Wir wollen zunächst einmal ganz grob die
Perspektiven andeuten, die sich für die jungen Christen jetzt ergeben.
Die Zeit ist erfüllt Jesus hatte gemeint: die Zeit ist reif, Gott wird sehr bald eingreifen. Jetzt konnte man
verstehen: Gott hat schon eingegriffen, und zwar mit Jesus selbst. In ihm selbst ist die
Erfüllung der Zeiten eingetreten. Sein Tod am Kreuz ist (im Lichte der Auferstehung!) das
Eingreifen Gottes in die Geschichte.
Wie immer auch Jesus zum Gericht Gottes gestanden hatte (s. dazu oben II,3) – mit der
Tatsache des Kreuzes war die immer mit dem Kommen Gottes verbundene Erwartung des
Gerichts auf unabwendbare Weise aktualisiert. Gott hatte Jesus Recht gegeben. Das Kreuz
ist das Gericht – nicht einfach als Verurteilung derer, die Jesus gekreuzigt hatten, aber doch
18
so, dass damit Gottes Urteil über die Menschen gesprochen war. Wenn Gott sich zu diesem
Gekreuzigten bekennt, dann kann man daran erkennen, wie er überhaupt zur Welt, zu
Opfern und Tätern, zu Starken und Schwachen steht. Und nun konnte man auch denken,
dass mit Jesus das Gericht kommt und er selbst der Richter ist.
Nahegekommen ist das Reich Gottes Jesus erwartete, dass Gottes Reich sehr bald kommen würde. Jetzt konnte man sagen: Es
ist bereits gekommen, und zwar in Jesus selbst. Reich Gottes, das heißt ja (s.o. II,2):
Rettendes Eingreifen Gottes zugunsten seines Volkes – ein gerechtes und gutes Gesetz –
ein Geschenk, denn Gott gibt auch noch die Kraft, dieses gute Gesetz entgegen den Kräften
der Sünde zu halten. Jetzt musste gedacht werden können, wie all dies in Kreuz und
Auferstehung in Erfüllung gegangen ist. Gott hatte den Verlorenen, den den Mächten des
Bösen Preisgegebenen gerettet – er hatte das Gesetz, das Jesus in Wort und Tat gelehrt
und gelebt hatte, d.h. gerade auch seine Bereitschaft, sich selbst für die Wahrheit von Gottes
Reich hinzugeben, ins Recht gesetzt – Gott hat im Festhalten der Gemeinschaft mit Jesus
die Kraft gegeben, nach diesem Gesetz zu leben.
Kehrt um –
Von Johannes dem Täufer und der ganzen Tradition her war die Umkehr mit dem Nachlass
von Schuld und Sünden verbunden. Jesus hatte so gepredigt, dass Menschen trotz ihrer
Schuld neu anfangen können, das Richtige zu tun. Wenn er nun selbst ans Kreuz geraten
war, dann war die Macht von Schuld und Sünde ja offenbar doch immer noch stark genug
gewesen, um das zu bewirken – die Vergangenheit (etwa in Gestalt der machtbewussten
Jerusalemer Institutionen) hatte Jesus eingeholt. Wenn aber die Botschaft von der Umkehr,
das heißt von der Vergebung der Sünden, wahr sein sollte, dann musste nun gedacht
werden können, dass sich die Vergebung der Sünden am Kreuz selbst vollzieht, und von da
aus dann Umkehr möglich ist. Jesus ist also gestorben "für unsere Sünden" (1Kor 15,3); und
hier konnten sich alle die Motive vom Gottesknecht, vom geopferten Lamm, von der
stellvertretenden Sühne usw. anlagern.
glaubt an das Evangelium –
Der Glaube an das Evangelium (nämlich dass die Zeit erfüllt und das Gottesreich nah, die
Schuld vergeben ist) ist nun nichts anderes mehr als der Glaube an Jesus selbst, denn er
selbst stand ja nun in Person und Geschick für dieses Evangelium ein. An Jesus zu glauben,
das war nun eigentlich dasselbe wie an sein Evangelium zu glauben.
Das aber bedeutete wiederum, dass der Glaube an ihn die Zugangsbedingung zum Reich
Gottes war – und nichts sonst. Damit war das Thema "Heidenmission" gegeben: Wer wollte
den Völkern jetzt noch verwehren, zu jenem Reich Zugang zu haben, wenn die Bedingung
dafür nur der Glaube an Jesus war.
Schon dieser erste grobe Überblick zeigt: Der nachösterliche Glaube
unterscheidet sich erheblich von der vorösterlichen Verkündigung Jesu. Aber nach
dem Kreuz wäre ohne diese Veränderungen die Kontinuität mit Jesus nicht zu wahren
gewesen. Ein bloßes Festhalten an der vorösterlichen Verkündigung (in der Art, wie Limbeck
das versucht) hätte gerade bedeutet, sie aufzugeben, denn sie war durch den Tod Jesu
widerlegt.
2) Jesus im biblischen Wirklichkeitsverständnis
Wie konnte es zu einer solchen Deutung Jesu kommen? Woher kam die Möglichkeit, in
diesem Gescheiterten das zu sehen, was er für den Glauben bedeutet?
Die Antwort ist: Durch die Schriften! Indem Jesus im Horizont der Schriften Israels
verstanden wurde, wurde er zu dem, was er für die Glaubenden ist.
Was hieß damals "Schriften"? Darunter sind alle Schriften des Alten Testaments zu verstehen, obwohl
sie damals noch nicht kanonisiert waren. Auch eine Reihe von Schriften auf der Zeit zwischen den
Testamenten konnte dazu gezählt werden. Die Tora, die fünf Bücher Mose, hatte aber schon
kanonische Geltung, dazu auch, der Tora untergeordnet, die Prophetenschriften und einige von den
Weisheitsschriften. Die zwischentestamentlichen Schriften sind zum großen Teil Auslegungen dieser
älteren Schriften, oder sie setzen sie pseudoepigraphisch voraus.
19
Die Jüngerinnen und Jünger überwanden die Sprachlosigkeit nach Jesu Tod und
Auferstehung nur durch die Schriften. Die Schriften gaben ihnen die Sprache und die
Deutungsmöglichkeiten für das, was geschehen war. Einige Belege dazu:
• Apg 17,11: Paulus und Silas kommen von Thessalonich, das sie wegen Konflikten mit
den Juden verlassen mussten, nach Beröa. Von den Juden dort heißt es: "Diese waren
freundlicher als die in Thessalonich; sie nahmen das Wort bereitwillig auf und forschten
täglich in der Schrift, ob sich's so verhielte." Man forscht in der Schrift, um zu erkennen,
wie sich etwas wirklich verhält:"
Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten des jüdischen Denkens, dass sich die Realität
nicht an den Naturgesetzen, sondern an der Tora ablesen lässt.
Vgl. dazu J. TAUBES, VOM KULT ZUR K ULTUR, MÜNCHEN 1996, 44; A. STEINSALTZ, TALMUD FÜR
JEDERMANN, BASEL/ZÜRICH 1995, 18f. Dieses jüdische Realitätsverständnis können wir für die
Zeit Jesu ungebrochen voraussetzen. – Frage: Woran messen wir heute, was 'wirklich" ist?
•
•
•
•
•
Joh 7,52: Der Pharisäer Nikodemus erhebt im Rat der Pharisäer und Priester seine
Stimme zugunsten Jesu. "Sie antworteten und sagten ihm: Bist du auch ein Galiäer?
Forsche und sieh: Aus Galiäa steht kein Prophet auf." – Sie forschen nach, und sie
täuschen sich. Es ist also jeweils erst zu klären, was in der Schrift steht. Das gilt auch für
die Schriftzeugnisse, die auf Jesus bezogen werden.
Lk 24,25-27: Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus erzählen dem Fremden die
Ereignisse um Jesus in Jerusalem. Dieser (der sich später als Jesus herausstellt) sagt
ihnen: "Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die
Propheten gesagt haben. Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seiner
Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen
Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht." – Hier erfahren wir
zweierlei: 1. Jesu Schicksal, gerade auch sein Tod, wird von der Schrift her verständlich.
Aus der Schrift ist zu ersehen, dass das alles so geschehen musste. Die Schrift gibt die
innere Logik und Folgerichtigkeit des Geschehens an. 2. Jesus verhilft dazu, die Schrift
zu verstehen und ihr zu glauben. Jetzt kann man glauben, was die Propheten gesagt
haben. – Die Schrift und Jesus interpretieren sich gegenseitig.
Lk 22,44-46: Jesus erscheint den Jüngern in Jerusalem. Sie erschrecken. "Er sprach
aber zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich bei euch war:
'Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose, in den
Propheten und in den Psalmen'. Da öffnete er ihnen das Verständnis, so dass sie die
Schrift verstanden, und sprach zu ihnen: So steht's geschrieben, dass Christus leiden
wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage." Die Schrift ist die Klammer, die
Brücke über den Tod Jesu hinweg. Sie steht für die Kontinuität zwischen dem
Verkündiger und dem Verkündigten, sie macht seine vorösterlichen Worte nachösterlich
verständlich.
Apg 8,26-40: Philippus erklärt dem äthiopischen Kämmerer die Schrift. Und zwar die
Stelle Jes 53,7: "Wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Lamm,
das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. In seiner
Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen zählen? Denn
sein Leben wird von der Erde fortgenommen." Der Äthiopier fragt: "Ich bitte dich, von
wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem?" – Philippus aber
tat seinen Mund auf und find mit diesem Wort der Schrift an und predigte ihm das
Evangelium vom Jesus." – Wieder sehen wir: Die Schrift und Jesus interpretieren sich
gegenseitig. Das Wort aus Jesaja vom Gottesknecht deutet für Philippus zweifellos Jesu
Passion und Auferstehung bzw. Himmelfahrt (vielleicht waren es solche Zufälle wie die
Begegnung mit dem Äthiopier, die die Christen auf diese Stellen brachten). Umgekehrt
wird aber auch das dunkle Prophetenwort durch Jesus gedeutet: von ihm ist es also
gesagt!
1Kor 15,3-5. Paulus gibt weiter, was er empfangen hat:
"Christus ist für unsere Sünden gestorben
gemäß der Schrift
und ist begraben worden
Er ist am dritten Tage auferweckt worden
gemäß der Schrift
und erschien dem Kephas, danach den Zwölf"
20
Dies ist offenbar formelhaft in der frühen Gemeinde. Sowohl das Sterben wie auch die
Auferstehung sind nur wirklich und sind nur zu begreifen gemäß der Schrift. Es ist
"Tatsache" innerhalb des Wirklichkeitsverständnisses der Heiligen Schrift.
Anmerkung zum Begriff "biblisches Wirklichkeitsverständnis". Dieser Begriff stammt von F.-W.
Marquardt und setzt voraus, dass es verschiedene Wirklichkeitsverständnisse gibt. Oder anders: Was
wirklich ist, wird immer nur in bestimmten Verständnissen vo n Wirklichkeit erschlossen. Es gibt nicht
"die" Wirklichkeit, es gibt nur verschiedene Konstruktionen von Wirklichkeit (systemtheoretisch
gesprochen: Jedes beobachtende System beruht auf einer bestimmten System-UmweltUnterscheidung, und es beobachtet als Welt oder Wirklichkeit das, was von seiner Unterscheidung
aus als Umwelt übrigbleibt). – Das biblische Wirklichkeitsverständnis kann man nicht einfach
beschreiben (obwohl es Versuche gibt), man kann es nur über die Länge der Schriften kennenlernen.
Für unsere Zwecke genügt es zu sagen: das biblische Wirklichkeitsverständnis ergibt sich aus den
biblischen Geschichten, Gesetzes-, Gebets- und Weisheitstexten.
Die Auferstehung ist also ein Ereignis in der Welt der Schriften. Sie ist ein Ereignis
gemäß dem Wirklichkeitsverständnis der Schriften. In der Welt der Schriften findet
Auferstehung statt, und das bedeutet, dass dort der Tod nicht das letzte Wort hat. Der
Tod ist dort nicht die letzte Wirklichkeit, das Ende allen Dasein, wie es in sonst in
unserer bekannten Welt, in der Welt, die sich durch unsere Erfahrung erschließt, der
Fall ist. Darum ist die Welt, in die die Schriften führen, so unendlich attraktiv, weil dort der
Tod bereits überwunden ist.
Die Frage ist aber: Wie verhält sich die Welt der Schriften zu der Welt, in der wir
normalerweise leben? Zu der Welt also, in der nach Ausweis aller Erfahrung der Tod die
letzte bestimmende Wirklichkeit ist? Ist die Welt der Schriften nur so etwas wie die Welt
Harry Potters?
Das Neue Testament selbst besteht darauf, dass die Welt der Schriften mit der
geschichtliche Welt der Erfahrung zusammenstößt. Deswegen heißt es:
"Es geschah aber in jenen Tagen, da ausging eine Anordnung vom Kaiser Augustus..." (Lk 2,1)
"Im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius aber, als Pontius Pilatus die Judaia regierte
... geschah das Wort an Johannes, den Sohn des Zachäus..." (Lk 3,1-2)
Diese Ereignisse der Schrift sind also auch Ereignisse in der anderen Welt.
Sehr deutlich ist das auch in der zitierten Formel des Paulus 1Kor 15,3-5:
"Christus ist für unsere Sünden gestorben
das ist gemäß der Schrift
und ist begraben worden
das ist Tatsache in der geschichtlichen Welt
Er ist am dritten Tage auferweckt worden
das ist gemäß der Schrift
und erschien dem Kephas, danach den Zwölf das ist Tatsache
Die Hoffnung derer aus der Welt der Schriften, die Hoffnung der Gläubigen geht nun dahin,
dass die (todüberwindende!) Wirklichkeit der Welt der Schriften auch Wirklichkeit werde in
der Welt unserer Erfahrung!
Diese Hoffnung ist es, die die Adventszeit belebt: Gott kommt in unserer Welt an. Er tritt aus der Welt
der Schriften heraus und findet hinein in unsere Welt. Es ist klar, dass das immer wieder aufs Neue
geschehen muss. Deswegen begehen wir jedes Jahr den Advent, und feiern dann an Weihnachten,
dass Jesus wirklich in unserer Welt geboren wird.
Das Adventslied "Macht hoch die Tür" drückt es so aus, dass Jesus "ein König aller Königreich [des
Reichs der Schrift und aller anderen Reiche], ein Heiland aller Welt zugleich" werden soll: Der "Herr
der Herrlichkeit" kommt in unsere Welt und bringt "Heil und Leben mit sich". Das ist Grund zum
Jauchzen und zum Dank an Gott den Schöpfer. (Das Lied hält sich bis dahin an Ps 24.)
Die zweite Strophe bringt nun nach Sacharja 9,9 die Zeichen, an denen man den König der
Herrlichkeit in dieser Welt erkennt, wenn er kommt: Er ist gerecht – er hilft – Sanftmütigkeit ist sein
Gefährt – Barmherzigkeit sein Zepter – er bringt all unsere Not zu Ende. – Darauf richtet sich die
Hoffnung im Advent. (Und es ist bezeichnend, dass die Kultur der Weihnachtsmärkte uns gerade um
diese Erwartung betrügt, und suggeriert, die schöne Warenwelt sei schon die Herrlichkeit. Dürfen
Christen auf Weihnachtsmärkte gehen?)
Fragen wir nun genauer, was geschieht, wenn uns Jesus in der Welt der Schriften begegnet.
Zum Folgenden: F.-W. MARQUARDT, DAS CHRISTLICHE BEKENNTNIS ZU JESUS , DEM JUDEN. E INE
CHRISTOLOGIE B D. 1, 140-171
Das erste ist: Jesus wird verständlich im (wie Marquardt es nennt) "hebräischen Idiom".
Das heißt, in der spezifischen Art, wie im Hebräischen überhaupt Wirklichkeit zur Sprache
21
kommt. Und hier gilt das Prinzip: Verben statt Hilfsverben! Vor allem das Hilfsverb "sein"
fehlt im Hebräischen. Es bezeichnet einen Zustand. Das Hebräische kennt aber praktisch
keine "ontischen" Zustände, sondern statt dessen Handlungen, Tätigkeiten, Geschehen.
Marquardt gibt das Beispiel Gen 1,4b: "Und Gott sah das Licht, dass es gut 'war'. Das 'war' steht aber
nicht da, sondern nur: ki tov – dass gut. Und was könnte nun folgen: war – ist – tut? Das Hebräische
lässt das offen, und es ist, als hörte man den Vorgang, als Gott rief: Licht – gut! –Oder als ein anderes
Beispiel das berühmte Schm'a Israel von Dtn 6,4: Höre Israel, Jahwe, unser Gott, [ist] der einzige.
Auch hier wird im Hebräischen aus einer Tatsachenbeschreibung ('Es gibt nur einen Gott') ein Ausruf,
in den man einstimmen kann oder dem man widersprechen kann.
Im Hebräischen Satzbau steht immer das Verb voran! Und nicht, wie im Lateinischen oder
Deutschen, das Subjekt. Diese Sprachen denken subjektzentriert, das Hebräische
tätigkeitszentriert. Dort wird zuerst gesagt, was geschieht, und nicht, wer etwas gemacht hat.
Im Deutschen steht ja meistens das Verb an letzter Stelle. Will man hebräisches Idiom ins Deutsche
übersetzen, bleibt fast nur (wie im Münchener Neuen Testament) das "Es geschah:..", oder "Es sah
Gott...". Immerhin hat sich in der lateinischen Bezeichnung für Tätigkeitswörter als Verben doch die
Einsicht bewahrt, dass ein Wort (verbum) eigentlich und zuerst eine Tätigkeit beschreibt.
Diese Beobachtungen zum Hebräischen Idiom sind bereits sehr wichtig. Jesus wird in der
Welt der Schriften im Rahmen von Tätigkeiten, Geschehnissen, Handlungen überliefert. Die
Zeit, die er füllt, ist erfüllt von Bewegung – zuletzt der Bewegung Gottes zu den Menschen.
Er wird nicht de-finiert, nicht fest-gestellt. Christologisch soll man in diesem Sinne nicht
sagen: Jesus ist..., sondern: Und es geschah. Man soll nicht zuerst von seiner Person und
dann von seinem Werk reden.
Das Zweite ist: Wenn Jesus im Neuen Testament mit traditionellen Bezeichnungen wie Sohn
Gottes, Menschensohn, Herr (Kyrios), Sohn Davids, Messias/Christus bedacht wird, dann ist
das nicht so zu verstehen, als würden ihm diese Hoheitstitel (so hat sich die Exegese
meistens ausgedrückt) beigelegt, um damit seine Identität zu bezeichnen. Die Exegese ist
dann auch meistens bei dem Versuch, den genauen Aussagegehalt dieser Titel zu eruieren,
zu dem Ergebnis gekommen, dass das mit diesen Namen Überlieferte nicht genau auf Jesus
passt. Diese Namen oder Titel liegen nicht bereit, um auf Jesus übertragen zu werden.
Jesus wird durch diese Namen nicht definiert. Der Vorgang ist vielmehr folgender: Sein
Auftreten, sein Geschick weckt Erinnerungen an vergangene Gestalten und ihre
Namen, ihre Geschichten. Jesus ruft diese Erinnerungen wach in Verbindung mit den
Hoffnungen, die mit diesen Namen verbunden waren. Damit ist nicht gesagt, dass Jesus
diese Hoffnungen auch schon erfüllt (ein Schema Verheißung-Erfüllung greift hier einfach zu
kurz). Wohl aber, dass sie als Hoffnungen und Erwartungen wieder lebendig werden. Die
Grundhaltung Jesus gegenüber, die sich in diesen Benennungen ausdrückt, ist doch wohl
diese: "Bist du es, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?" (Mt
11,3; vgl. auch Mk 8,27-29, wo deutlich wird, welche Hoffnungsgestalten in den Augen der
Leute in Jesus wieder lebendig werden). An Jesus brechen alte hoffnungsvolle
Überlieferungen wieder auf, und er stellt vor die Frage, ob Gott sie an ihm und durch ihn
wohl jetzt bald erfüllen wird. Und der österliche Glaube an ihn, der verkündigt hatte, dass die
Zeit erfüllt ist und das Königreich Gottes ganz nahe, bekennt dann: "Die Zeit ist erfüllt!"
Ein gutes Beispiel für diese Art der Wiederentdeckung alter Erinnerungen und Hoffnungen an Jesus
gibt Paulus in Röm 1,3b-4. Wir lesen
"Geboren aus Davids Samen nach dem Fleisch
Eingesetzt zum Sohne Gottes in Macht nach dem Geist der Heiligkeit seit der Auferstehung von den
Toten:
Jesus Christus unser Herr."
Eine dogmatisch definierende Auslegung liest hier eine Zwei-Stufen-Christologie heraus: Erst nur
Davidide, dann, seit der Auferstehung, auch Sohn Gottes. Im Geschehenssinn aber ist der Vers wohl
von hinten nach vorne zu lesen: Die Erfahrung der Auferstehung hat die Erinnerung an den Geist der
Heiligkeit wieder wach werden lassen, vom dem Tritojesaja Jes 63,11 im Zusammenhang von Gottes
Rettungstat am Schilfmeer sprach; das erweckt wiederum die Erinnerung an die Einsetzung oder
Erwählung ganz Israels zum Sohn Gottes – Jesu Oster- und Israels Befreiungsgeschichte rücken
ganz eng zusammen. Und von daher wird Jesus jetzt auch als der messianische Davidssohn
erkennbar, als der, der das Hoffnungspotenzial der Israelgeschichte wieder freigelegt hat. Dies getan
22
zu haben ist eine messianische Tat! Deswegen wird er als Davidssohn, Messias/Christus und unser
Herr angerufen!
Daraus folgt dann als Drittes, dass die sog. Schriftbeweise oder Erfüllungszitate keinesfalls
die Funktion haben zu beweisen, dass Jesus der ist, der die Schrift erfüllt. Dieser Gedanke,
dass Jesus als Messias in den Schriften verheißen ist, und dass er dann diese
Verheißungen erfüllt, ist als nicht schriftgemäß aufzugeben. Die Schrift (das Alte Testament)
spricht nicht von Jesus, denn sie kennt ihn nicht. Und Jesus erfüllt auch nicht die
Erwartungen, die an einen Messias gerichtet wurden (wobei diese Erwartungen sehr
verschiedene waren, und es im übrigen auch falsch ist anzunehmen, dass die Leute zur Zeit
Jesu alle in der Erwartung des Messias lebten. Sie waren viel mehr mit der täglichen
Torapraxis beschäftigt). Es ist vielmehr umgekehrt: Jesus erfüllt die alten Schriften mit
neuem Leben! Er macht wieder lebendig, was vielleicht längst preisgegeben und verschüttet
war, er erweckt die Schriften wieder zum Leben. Er zieht alle, die mit ihm Gemeinschaft
haben, wieder in die Lebensgemeinschaft der Schriften hinein. Er bewirkt Teilnahme an der
Geschichte Israels, indem er sie wieder lebendig werden lässt.
Vgl. in diesem Sinne die "Erfüllungszitate" aus der Kindheitsgeschichte des MtEv. Z.B. Mt 1,22f: "Dies
alles aber ist geschehen, damit sich erfülle, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die
Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen
Immanuel geben (Jes 7,14), das heißt übersetzt: Gott mit uns." – Die Kindheitsgeschichte bei Mt lässt
die ganze Geschichte Israels vorbeiziehen und in Jesus lebendig werden. Man kann auch sagen: In
Jesus wiederholt sich die Geschichte Israels in neuer Form.
Marquardt sagt sehr richtig: "Dann will der Auferstandene Jesus von Nazareth ein
Teilnahmeereignis an der Geschichte Israels sein und bewirken." (aaO. 161)
Die trinitarische Struktur der Erkenntnis Jesu aus den Schriften
Jesus ist also nicht zu verstehen ohne die Schriften. Es sind die Schriften, die vom Handeln
Gottes an Israel erzählen. Das aber bedeutet: Jesus ist nicht zu verstehen ohne Gott. Was
mit ihm und durch ihn geschieht, ist "gemäß den Schriften" und damit gemäß der Wirklichkeit
Gottes, die sich in den Schriften bezeugt. Umgekehrt aber werden die Schriften durch ihn
neu lebendig. Der tote Buchstabe wird mit Geist erfüllt. Fassen wir einmal diesen ganzen
Vorgang ins Auge, dann erkennen wir die trinitarische Struktur des Ganzen: Jesus ist nicht
der, der er ist, ohne den Vater (oder genauer: er ist nicht zu verstehen ohne den Gott
Israels). Indem sich die beiden aufeinander beziehen, wird die Schrift wieder lebendig, und
damit Gott, der in den Schriften bezeugt wird. Gott macht Jesus lebendig, Jesus macht Gott
lebendig, und indem das geschieht, wirkt der heilige Geist, der lebendig macht (den die
JüngerInnen bei der Auferstehung Jesu erlebt hatten eben als den Geist, der lebendig
macht). Dies alles aber geschieht "gemäß den Schriften". Die Dreieinigkeit ist also in der
Schrift begründet!
Dies ist mindestens gegen die Kritik der Trinitätslehre bei Rosien und Ohlig zu sagen, vgl. oben I,1.
Das Vierte ist, dass das Leben Jesu aus den Schriften des Alten Bundes heraus neu
erzählt werden kann. Marquardt spricht von der 'Leben-Jesu-zeugenden Kraft der Schriften'
(aaO. S.162). Jesus wird so sehr als Erfüllung der Schriften erlebt, dass Ereignisse aus den
Schriften in sein Leben hinüberwandern. So können Ereignisse in seinem Leben "erfunden"
werden, die nichts anderes sind als Wiederholungen früherer Ereignisse.
Die ganze Kindheitsgeschichte des Mt 1-2 ist als Wiederholung zentraler Ereignisse des Geschichte
Israels gestaltet: Schöpfung und die Geschichte der Zeugungen – prophetisches Eingreifen in der Not
und damit verbundene Verheißung – Huldigung durch die Weisen aus den Völkern – Verfolgung des
Gottes-Kindes durch die Mächtigen – Flucht durch Rettung nach Ägypten – Rückkehr aus Ägypten.
Wir treffen hier auf die Struktur der Wiederholung, die bereits für die hebräische Bibel
charakteristisch ist: Das Exodus-Geschehen ist ganz als neue Schöpfungsgeschichte gestaltet
(Scheidung von Wasser und Land) – die Tora zielt auf die Wiederherstellung der Schöpfung und die
Beherrschung des Chaos – Das Deuteronomium wiederholt die Ereignisse des Buches Exodus usw.
Dazu sehr instruktiv: GEORG S TEINS , NICHTS HINZUFÜGEN, NICHTS WEGNEHMEN!
ELEMENTARISIERUNG ALS HERAUSFORDERUNG DES ALTEN TESTAMENTS , in: R. Lachner/E. Spiegel
(Hg.), Chancen und Grenzen einer Elementarisierung im Lehramtsstudium, Kevelaer 2003,
143-166.
23
Diese Struktur der Wiederholung meint nun nicht: ewige Wiederkehr des Gleichen – so, als wenn
nichts Neues unter der Sonne passieren würde (dies meint aber der biblische Skeptiker Kohelet, 1,9!).
Sondern: Es passiert Neues, aber verständlich wird dies als Wiederholung des Alten, und zwar so,
dass die in den alten Ereignissen aufgespeicherte Verheißung durch die Wiederholung wieder frei
gesetzt wird. Das aber heißt: die Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Sie trägt uneingelöste
Versprechen in sich und tritt als Frage an jede Gegenwart heran, ob sie diese Versprechen nicht wahr
machen kann. Und die Wiederholung des Ereignisses ist dann die Antwort der Gegenwart an die
Gewesenen: euer Warten auf die Einlösung des Versprechens ist nicht umsonst, wir sind dabei, eure
Versprechen einzulösen. Aber auch dann bleibt etwas Uneingelöstes, das als Verheißung und
Anspruch an die Zukunft geht. – In diesem Sinne kann man sagen: Die ganze Bibel erzählt davon,
dass die in der Schöpfungsgeschichte gegebene Verheißung – "Gott sah, dass es gut (war/ist/sein
wird/soll)..." – immer noch gilt und immer wieder wahr gemacht wird.
Niemand hat diesen Zusammenhang klarer erkannt als Walter Benjamin (der sich damit so
recht als jüdischer Denker zu erkennen gibt). In seinen Thesen "Über den Begriff der
Geschichte" heißt es: "Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf
Erlösung verwiesen ist. [...] Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen
den gewesenen Geschlechtern und unsere. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden.
Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft
mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat."*
Das ist exakt die biblische Geschichtsauffassung. Es ist ja eine andere Ausdrucksweise dafür, dass
der Tod nicht das letzte Wort hat, auch nicht über die Toten. Und Jesus wird verstanden als einer, der
die Ansprüche der Vergangenheit auf Erlösung wieder lebendig werden lässt, sie an seiner Person
einlöst und sie für die Zukunft wieder als Verheißung in Kraft setzt. Die Evangelien drücken dies aus,
indem sie ihn die Ereignisse der Vergangenheit wiederholen lassen. Er wird, um es noch einmal mit
Marquardt zu sagen, zu einem Teilnahmeereignis an der Geschichte Israels, und das wird dann als
seine Geschichte erzählt (dies ist also ein deutlich anderes Geschichtsverständnis als im üblichen,
historischen Sinn).
Das Verfahren, Geschichten neu in anderen Zusammenhängen zu erzählen, kann mit dem
Exegeten Klaus Scholtissek eine reécriture nennen. Dinge werden neu geschrieben, um
ihren unabgegoltenen Wahrheits- und Verehißungsgehalt zur Geltung zu bringen. Auch hier
kann man wieder einen Satz von Walter Benjamin zitieren, der diesen Vorgang exakt
ausdrückt: "Denn in seinem Fortleben, das nicht so heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung
und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt die Nachreife auch
der festgelegten Worte" (Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers).
Es werden aber nicht nur "neue" Ereignisse im Leben Jesu aus den Schriften gesponnen,
auch die realen Ereignisse seines Lebens werden nach der Vorgabe der Schrift dargestellt.
Bestimmte Schriften fungieren gleichsam als Drehbuch für die Wiedergabe des Lebens Jesu.
Sehr deutlich ist das bei den Passionsberichten der Evangelien. Ohne die Hilfe der Schrift können die
Evangelisten nicht verstehen, was da passiert ist, also können sie es ohne die Hilfe der Schrift auch
nicht darstellen. Nachdem sie aber in den Schriften den Referenzrahmen gefunden haben, der ihnen
das Verständnis erschließt, stellen sie die Ereignisse auch in diesem Rahmen dar.
Markus hat Ps 22 als Vorlage. Sein Thema ist: Der Gerechte, der im unschuldigen Leiden auf
Gott vertraut. Vgl. nur: Mk 15,24/Ps 22,19 Los über die Kleider – 15,29f/22,8 Spott – 15,34/22,2 Mein
Gott warum hast du mich verlassen – 15,36/22,16 Durst – 15,39/22,2032 Gott Zuflucht der Armen, vor
ihm werden die Heiden niederfallen. – Die Zuversicht des Psalmisten in Ps 22 wird also für Mk in
Jesus wahr, und damit wieder Verheißung für andere.
Matthäus gestaltet die Passion nach dem Propheten Sacharja. Thema ist: Der Friedenskönig
kommt und leitet die Umkehr zur Tora ein. Vgl. nur: Mt 21,2/Sach 9,9 Eselsfüllen – 26,15/11,12f
Silberlinge für Verrat – 26,28/9,11 Blut des Bundes – 26,31/13,7 zerstreute Schafe, und anderes. Das
messianische Buch Sacharja enthält das komplette Umkehr- und Toraprogramm des Mt, vgl. Sach
1,1-6 und das ganze Buch. – Die Verbindung von Prophetie und Tora, für die Sacharja steht, ist für Mt
die große Verheißung aus der Geschichte Israels, und die sieht er in Jesus bestätigt.
*
Dazu ein Gedicht von Luzia Sutter Rehmann:
"Wenn ich die Toten liebe – liebe ich den sich wölbenden Leib – der Erde, die uns und sie trägt, – alles zum
Blühen und Vergehen bringt.
Dann rauschen die Toten noch – in den Wipfeln und meinen Ohren – gelöst von Erdenschwere blicken sie öfters
zu uns: – Ob wir schaffen, was sie nicht – vollenden konnten?
Kalte Daumen werden gedrückt – und Berge gelegentlich verschoben. – Wir sind nicht allein. – Wir sind mehr
als wie ahnen. – Eine Liebe umspinnt unmerklich und tief."
(Sutter Rehmann u.a., Sich dem Leben in die Arme werfen aaO., 86).
24
Lukas gestaltet nach Jes 53: der leidende Gottesknecht, der den Kreislauf der Gewalt
unterbricht und Gewalttätern zur Einsicht und zur Umkehr verhilft. Sein Leitmoti v ist: "An mir muss sich
das Schriftwort erfüllen 'Zu den Übeltätern wurde er gezählt' . Denn alles, was über mich gesagt ist,
geht in Erfüllung", Lk 22,37/Jes 53,12. Das Leiden Jesu wird sehr ausgemalt, damit die Täter daran
die Gerechtigkeit lernen können, Lk 23,47 – und dies genau ist die Funktion des jesajanischen
Gottesknechtes. Den Übeltätern wird vergeben: Lk 23,34-43 (vgl. auch das lukanische Apg 7,60:
Stephanus vergibt seinen Mördern). – In Jesus wird also die ganze Leidensgeschichte Israels
aufgenommen und ins Recht gesetzt: an ihr können die Völker die Erkenntnis der Gerechtigkeit Gottes
gewinnen!
Alle Schriften des Neuen Testament entfalten die Rede von Jesus im Horizont und in der
Sprache der heiligen Schriften Israels! Dies gilt ohne Abstriche auch noch für Schriften der
zweiten und dritten Generation nach Jesus, die in einer Zeit entstanden sind, als das
heidenchristliche Element in der Kirche längst dominierte. Jesus ist biblisch nur der, der er
ist, indem er zu der Welt der hebräischen Bibel gehört. Er ist nur zu verstehen im
biblischen Wirklichkeitsverständnis. Die Geschichte und die Schriften Israels sind der
Deutungsrahmen, das Referenzsystem, von dem Jesus nicht abgelöst werden kann. Dort
kann von ihm gesagt werden: Er ist auferstanden, er ist der Herr, er ist der Messias, der
Menschensohn, der Sohn Gottes usw.
Dazu Marquardt, Das christliche Bekenntnis Bd. I. aaO., 178-180: "Auch heidenchristliche Gemeinden
werden in den Horizont der Geschichte Israels gerückt"
Die Bedeutung des biblischen Kanons
In diesem Zusammenhang gilt es zu verstehen, was der biblische Kanon
theologisch und christologisch bedeutet. Indem die Kirche nur die JesusSchriften in ihren Kanon aufgenommen hat, die Jesus in den Horizont der
hebräischen Bibel rücken, und indem sie zugleich auch (und gegen welche
Widerstände – Marcion!) die hebräische Bibel selbst in den Kanon aufgenommen
hat, macht sie das Verständnis Jesu im Horizont der Geschichte und der Schriften
Israels für sich kanonisch. Kanon, das heißt: Maßstab, Richtschnur, feste Regel. Die
Kirche macht es sich selbst also zu festen Regel, Jesus nur im Zusammenhang des
biblischen Wirklichkeitsverständnisses zu verstehen und zu verkünden.
Das bedeutet: Auch Heiden, die zum Glauben an Jesus gelangen wollen, müssen
den Umweg über das hebräische Wirklichkeitsverständnis machen. Sie müssen sich
mit der Geschichte Israels vertraut machen, sie müssen so weit kommen, dass sie
Abraham ihren Vater und Sara ihre Mutter nennen, um Jesus als ihren Herrn und
Gott annehmen zu können.
Damit sind Versuche wie beispielsweise Mao Tse-Tungs "Großen Marsch" als Äquivalent für den
Exodus für chinesische Christen auszuweisen (solche Überlegungen gibt es im Rahmen der
Theologie der Inkulturation), als nicht kanonisch anzulehnen. Ebenso, wenn man, wie etwas
heutzutage Willigis Jäger, Jesus im Rahmen des buddhistischen oder auch des
naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis auslegt.
Dass die Kirche Jesus kanonisch an die Welt Israels zurückbindet, heißt nicht, dass er in
diese Welt eingesperrt ist. Denn diese Welt ist kein Gefängnis, sie ist vielmehr selbst auf die
Welt der Völker bezogen. Israel ist Licht für die Völker, und genauso ist auch Jesus das Licht
für die Völker. Die Art, wie Jesus für alle Menschen da ist, ist wiederum von Israel her
vorgegeben. Jesus ist, nicht obwohl, sondern gerade indem er in der Welt Israels lebt, für die
Völker da. Er kann der Messias aller Menschen sein, weil er der Messias Israels ist. – Die
Entscheidung für den Kanon bedeutet also: Es gibt keine Gott-Unmittelbarkeit aller
Menschen und Völker, sondern Gott kommt nur über sein Volk Israel zu den Völkern. Dieses
zu-den-Völkern-Kommen Gottes vollzieht sich in Jesus, so glauben die Christen.
Vgl. dazu mein Buch DER VERWECHSELBARE GOTT. THEOLOGIE NACH DER ENTFLECHTUNG VON
CHRISTENTUM UND RELIGION, Freiburg 2000, 37-85, über die "umwegige Gotteserkenntnis"
25
Exkurs: Gott wird Mensch?! Das Wort wurde Fleisch. Zum biblischen Sinn des
Weihnachtsfests nach dem Johannesprolog
Das erst im Jahr 354 in der Kirche eingeführte Fest der Geburt Christi (Weihnachten)
verdrängte rasch das Fest der Epiphanie und entwickelte sich neben Ostern zum wichtigsten
Fest des Kirchenjahres, mit einem eigenen Festzyklus (Advent). Der damalige
Verständnishorizont (wir kommen noch darauf) war der der Inkarnation (Fleischwerdung):
Der allmächtige, eine und rein geistige Gott nimmt in Jesus Christus das Fleisch, d.h. die
Materie, die Welt des Körperlichen, die unreine Menschenwelt an, um sie aus ihrer Gottferne
zu erlösen und zu sich zu führen. Unter Aufnahme platonischer Motive (Dualismus von
Einheit und Vielheit, von Geist und Materie, von Ewigkeit und Vergänglichkeit) hat sich hier
vor allem das soteriologische Motiv der Vergöttlichung (Theosis) des Menschen ausgedrückt:
Indem Gott Mensch wird, wird der Mensch göttlich. Die Grenze zwischen den Göttlichen und
dem Menschlichen wird von Gott selbst aufgehoben.
In diesem Sinne wird auch noch heute sehr oft, in unzähligen Weihnachtspredigten z.B., der Sinn des
Weihnachtsfestes erhoben. "Gott wird Mensch", das soll dann heißen: Gott nimmt die Welt und die
Menschen so an, wie sie sind. "Mach's wie Gott, werde Mensch", so wird uns geraten: es genügt, voll
und ganz Mensch zu sein, denn das Menschsein an sich ist ja durch die Menschwerdung Gottes
geheiligt. Und weiter: Gott lässt sich in der Welt antreffen, in seiner Schöpfung und damit auch in
jedem Menschen. – Es wird dann allerdings sehr schwer, den christlichen Glauben noch von einer
anspruchsvollen (Mit-)Menschlichkeit zu unterscheiden.
Biblischer Referenztext für dieses Verständnis von Weihnachten ist, neben den
Geburtserzählungen bei Mt und Lk, in erster Linie der Johannesprolog Joh 1,1-18. Denn in
diesem Text scheint ja in großer Klarheit und in fast philosophischer Sprache ausgedrückt zu
sein, was unter Menschwerdung zu verstehen ist. Das Wort (????? – ein Begriff, der der
antiken Philosophie vertraut war, sie verstand darunter die Weltvernunft, das Prinzip der Welt
oder Schöpfung, oder auch das ethische Grundprinzip der Welt; dieses Wort sollte dann mit
Jesus identisch sein), das im Anfang bei Gott war, wurde Fleisch, verband sich also mit der
Materie und der Menschenwelt und hat uns so die Herrlichkeit Gottes nahegebracht. Diese
Lesart des Prologs stützte sich hauptsächlich auf die Verse 1,1 (Im Anfang war der Logos,
und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos), 1,14 (Und der Logos wurde Fleisch,
und er wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit), allenfalls noch auf 1,18 (Gott
hat niemand je gesehen. Der einzigerzeugte Gott, der ist an der Seite des Vaters, jener hat
Kunde gebracht). Die anderen Verse des Prologs spielen dabei kaum eine Rolle. In dieser
reduzierten Form konnte der Text aber Anlass bieten für unzählige Auslegungen im
gnostischen, platonischen, aristotelischen oder sonstwie philosophischen Verständnissen.
Joh 1,1-18 war immer das Einfallstor für die Philosophie in die Bibel.
Versuchen wir, den Johannesprolog im biblischen Wirklichkeitsverständnis zu verstehen.
Dazu KLAUS SCHOLTISSEK, RELECTURE UND REÉCRITURE . NEUE PARADIGMEN ZU METHODE UND
INHALT DER JOHANNESAUSLEGUNG [...], in: ThPh 75 (2000) 1-29; MARQUARDT, C HRISTOLOGIE BD. II., 103116
Da sehen wir zunächst: die Struktur der reécriture. Der Text entwickelt keinen fortlaufenden
Gedanken, sondern wiederholt das dasselbe Motiv in immer neuen Um-Schreibungen.
V. 1-3 geben die "handelnden Personen", die Elemente des Textes an: Gott, sein Wort und die Alles,
d.h. die Welt. Sei werden in ihrer Beziehung zueinander vorgestellt.
V. 4-5 fangen an, die Geschichte zwischen diesen zu beschreiben – zunächst in der Lichtmetaphorik.
V. 6-8 erzählen von dem Zeugnis des Johannes. Dass sich bei diesem das Geschehen der V. 4-5
zeigt, erklären die V. 8-10. Der Sinn des Geschehens ist nun klar: Das Licht leuchtet in der Welt/in der
Finsternis, aber die Welt nimmt es nicht an, kann es aber auch nicht überwältigen. (Fraglich ist, ob hier
schon von Jesus Christus der Rede ist.)
V. 11-13 wiederholen das Ganze in der Familienmetaphorik.
V. 14 umschreiben es in der Sprache der Inkarnation und des Zeltens Gottes bei Israel.
V. 15-17 kommen nun auf Jesus zu sprechen. Was durch ihn geschieht, ist eine Wiederholung
dessen, was immer schon zwischen Gott und Israel gewesen ist. Ausdrücklich wird das, was mit
Jesus geschieht, an die Geschichte Israels zurück gebunden.
V. 18 wiederholt V. 1, jetzt in der Deutung des Wortes auf Jesus.
Dass der Johannesprolog die aus der hebräischen Bibel so bekannte literarische Form der
reécriture benutzt, ist selbst bereits christologische Aussage: Was mit Jesus Christus
geschieht, ist Wiederaufnahme und Wiederholung, damit Aktualisierung dessen, was sonst
26
schon in Israel geschehen ist. Das Jesus-Geschehen wird biblisch-israelisch identifiziert (und
gerade nicht einer beliebigen philosophischen Deutung freigegeben).
Jetzt sehen wir uns die Verse 1,1 und 1,14 genauer an, da sich ja auf diese die traditionelle
"weihnachtliche" Auslegung vor allem stützt.
V. 1,1 beschreibt in schwer fasslicher Weise die Beziehung zwischen Gott und seinem Wort.
Sie sind zu unterscheiden, und doch dasselbe. Wie ist das zu verstehen? Was steht hier
biblisch im Hintergrund?
"Im Anfang war das Wort" erinnert natürlich an die Schöpfung. Gott ist bei seiner Welt durch
sein Wort. Er ist nicht fern von ihr, nur durch sein Wort ist sie. Von Gott ist biblisch nicht zu
sprechen ohne sein bei-der-Welt, bei-den-Menschen-sein-wollen.
Gott, wohnend inmitten Israel, das ist eine Zentralaussage der Bibel Israels. Vgl. Jes 12,6: "Jauchze
und juble, Bewohnerin Zions. Denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels"; oder Lev 26,12: "Ich
werde mitten unter euch wandeln und will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein." Lt. Ex 29,45 ist
das Wohnen Gottes in Israel das Ziel der Befreiung aus Ägypten und zugleich die Bedingung der
Gotteserkenntnis: "Ich will inmitten der Israeliten wohnen und ihr Gott sein, damit sie erkennen, dass
ich, der Herr, ihr Gott bin, der sie aus dem Lande Ägypten herausgeführt hat, um mitten unter ihnen zu
wohnen, ich, der Herr, ihr Gott."
Aber ist er etwa nur mit seinem Wort bei der Welt, bei seinem Volk? Nicht selbst? Doch, "das
Wort war bei Gott/auf Gott hin": Das Wort ist nicht ohne Gott, Gott nicht ohne sein Wort,
"Gott war das Wort", und das war schon immer so (seit dem Anfang). Gott ist nicht hinter
seinem Wort verborgen, er ist sein Wort, sein Wort ist er; er, der nicht ohne die Welt sein will.
Gott ist Immanuel: Gott mit uns.
Aber dennoch wird in dem Vers zwischen Gott und seinem Wort unterschieden. Das heißt:
Gott ist noch einmal von der Weise seines Bei-uns-seins zu unterscheiden. Was ihm hier,
auf Erden, zustößt, die Ablehnung, die ihm zuteil wird, das Nicht-Aufgenommen-werden, das
Nicht-erkannt-werden, sein Aufenthalt in der Sphäre der Sünde, das ist nicht seine letzte
Bestimmung und nicht sein Ende. Er ist noch anders, noch darüberhinaus Gott. Hier steht
mit hoher Wahrscheinlichkeit die Auseinandersetzung über das Wohnen Gottes im Tempel
im Hintergrund. Salomo will ihm einen Tempel bauen, will seinem Wohnen bei seinem Volk
Israel eine feste Adresse geben. Da aber wird grundsätzlich gefragt: "Ja, aber wohnt Gott
wirklich mit den Menschen auf der Erde? Siehe, der Himmel und die Himmel aller Himmel
vermögen dich nicht zu fassen, geschweige denn dieser Tempel, den ich gebaut habe." Gott
einigt sich mit Salomo auf einen Kompromiss: "Mein Name soll dort sein" (1Kön 8,27-29).
Damit wird also zwischen der Gegenwart Gottes in seinem Namen und seiner Gegenwart
über allen Himmels unterschieden. Statt 'Namen' ist auch öfters von Gottes Weisheit, Gottes
Herrlichkeit (Joh 1,14!), Gottes Wort die Rede.
Daran knüpft Joh 1,1 an. Das Sein Gottes bei seinem Volk geschieht in seinem Namen oder
in seinem Wort oder in seiner Herrlichkeit. Die Frage ist dann aber: Wo ist Gottes Name,
Wort oder Herrlichkeit denn heute anzutreffen?
Darauf gibt V. 14 eine doppelte Antwort. Einmal heißt es: "Das Wort wurde Fleisch". Fleisch,
das ist nicht einfach der Bereich des Menschlichen oder Weltlichen. Fleisch meint bei Joh
immer: der Bereich der Sünde, der Selbstbehauptung (vgl. ja schon 1,13 und dann 3,6f!).
Das Wort ist also mitten im Bereich der Sünde anzutreffen. Es will dort wohnen, wo man ihm
den Mund verbietet. Die Konfrontation zwischen Licht und Finsternis, zwischen denen, die
ihn aufnehmen, und denen, die ihn nicht aufnehmen, ist in eine aktute Phase getreten.
Zugleich liegt darin eine große Verheißung, wie der Parallelvers 14b mit dem Begriff "zelten"
verdeutlicht: "und er zeltete unter uns", so wie Gott einst, in der Wüste, im Zelt der
Begegnung anzutreffen war (Ex 33,7-11!), wo er mit Mose wie mit einem Freund gesprochen
hatte und wo dieser mit ihm "von Mund zu Mund, offenbar und nicht in Rätseln" gesprochen
hatte und Gottes "Gestalt" [!] schauen konnte, Num 12,8. Der Vers enthält möglicherweise
bereits Tempelkritik: nicht im Tempel, sondern in dem Wort, das Fleisch geworden ist,
schauen wir die Herrlichkeit Gottes.
Vers 14 beschreibt die mit Jesus eintretende akute Phase des Konflikts zwischen dem Licht
und der Finsternis, zwischen denen, die ihn aufnehmen und denen, die ihn nicht aufnehmen,
zwischen denen, die aus dem Blut (Familie!), dem Willen des Fleisches (Selbsterhaltung!)
und dem Willen des Mannes (Begierde!) gezeugt sind, und denen, die glauben und aus Gott
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gezeugt sind (V. 13). "Das Wort wurde Fleisch" meint gerade nicht die vergebende Annahme
allen Fleisches/alles Irdischen und Menschlichen durch Gott, sondern eine Weise seines
Wohnens bei seinem Volk, die in einem letzten Konflikt steht (dies zeigt sich nur, wenn man
den Text als reécriture liest!). Indem aber Gottes Wort sich der Ablehnung des Fleisches
aussetzt, nimmt es die Verheißung vom Zelten Gottes bei seinem Volk wieder auf. Das ist
seine Herrlichkeit, die in diesem Zelt zu schauen ist, dass er der Ablehnung, dem letzten
Konflikt mit denen, die ihn nicht erkennen und nicht aufnehmen, nicht ausweicht, sondern
gerade in diesem Konflikt seine heilvolle Gegenwart (voll Gnade und Wahrheit, V. 14)
bezeugt. Die bekannte Tatsache seines Scheiterns und seines Kreuzes war also nicht das
Ende des Gottes, dessen Wort Jesus ist.
V. 18, der Abschluss des Prologs, sagt darum mehr als die Zusammenfassung: Jesus ist die
Offenbarung des unbekannten Gottes. Der Vers nimmt vielmehr die Unterscheidung von V. 1
wieder auf, die zwischen Gott und seinem Wort. Sie ist nun wichtig, wenn und da man ja
weiß, wie der Konflikt, in den sich das Wort begeben hat, ausgegangen ist. Der
"einziggezeugte Gott, der an der Seite des Vaters ist", der, der Gottes Mit-sein mit seinem
Volke darstellt, steht für das Leben und die Herrlichkeit Gottes, auch wenn er am Kreuz
unterlegen ist. Es muss eine Unterscheidung zwischen Gott und seinem Wort bleiben, wenn
man Kreuz und Auferstehung als göttliches Geschehen interpretieren will. V. 18 handelt also
von der Offenbarung Gottes bei der Auferstehung.
Diese Auslegung von Joh 1,14 – Das Wort wird Fleisch – als Zuspitzung des Konflikts wird gestützt
durch biblische Hinweise auf die Zusammengehörigkeit von Gottes Wort und Leib bei den Propheten.
Das Zeugnis der Propheten hat oft ihren Körper eingesetzt, um die äußerste Konflikthaftigkeit des
Wortes Gottes anzuzeigen: Micha läuft barfuß und nackt durch die Straßen, er bringt sich Einschnitt
um Einschnitt bei, um das Gericht Gottes anschaulich zu machen, Mi 1,8.13. Jesaja weist "nackt,
barfuß und mit entblößtem Gesäß" auf den assyrischen Überfall hin, Jes 20,3-4. Jeremia lässt sich mit
Stricken binden und ein Joch auflegen, denn auch Israel muss sich von dem König von Babel
unterjochen lassen, Jer 27,2.11-12. Ezechiel soll in aller Öffentlichkeit mit Zittern und Zagen essen,
denn so wird es Israel ergehen. Er liegt 190 Tage gefesselt und bewegungslos auf der linken Seite
des Bettes, also büßend für die 190 Jahre Schuld des Nordreichs Israel, und noch einmal 40 Tage auf
der rechten Seite für die Schuld Judas, Ez 4,4ff. – Dies sind biblische Beispiele für die Fleischwerdung
des Wortes Gottes [und nicht, wie es die philosophische Auslegung von Joh1,14 will, das Verstehen
der göttlichen Geheimnisse durch die Gebildeten und Weisen].
Liest man nun die "Weihnachtsgeschichte" bei Mt im Lichte dieser konfliktiven Deutung, dann
sieht man, dass sie den Konflikt auf ihre Weise dramatisch in Szene setzt. Keine Spur von
Idylle! Maria droht in Schande zu fallen – die Sterndeuter kommen aufgrund ihrer Weisheit
gerade beim falschen König, nämlich Herodes, an – Herodes will Jesus töten, die Familie
muss nach Ägypten fliehen – derweil werden die Kinder in Betlehem ermordet – Joseph zieht
nicht nach Judäa zurück aus Furcht, auch der neue König Archeloas trachte Jesus nach dem
Leben. Und immer ist es nur das Eingreifen eines Engels, der das Schlimmste verhindert. –
Für Lk ließen sich ähnliche Beobachtungen machen.
Zusammenfassung:
- Der Johannesprolog (auf ihre Weise auch Mt und Lk) stellt das Jesus-Geschehen bewusst
und nachdrücklich in den Zusammenhang der Geschichte Israels.
- Mit der Fleischwerdung des Wortes (Joh 1,14) ist eine äußerste Krise, ein letzter,
entscheidender Konflikt angezeigt: Das Wort Gottes, d.h. Gottes Gegenwart bei seinem Volk,
geht 'in die Höhle des Löwen', geht direkt zum Fleisch, wo es abgelehnt wird und man es
nicht hören will.
- Nach dem Glauben der Christen (bzw. hier: des Evangelisten Johannes) ist die Niederlage
Jesu in diesem Kampf nicht zugleich auch die Niederlage Gottes. Gut biblischalttestamentlich kann er zwischen Gott 'über den Himmeln' und Gott in seinem Namen oder
Wort unterscheiden, ohne sie doch auseinander zu reißen. Diese biblische Unterscheidung
wird fruchtbar im Glauben an die Auferstehung.
28
IV. Jesus in der Welt der Völker. Jesus als Logos
Der weitere Fortgang der Christologie ist durch die Tatsache bestimmt, dass Christinnen und
Christen von ihrem Herrn und Heiland Jesus nun auch vor nichtjüdischen Menschen, also
vor Menschen, denen das biblische Wirklichkeitsverständnis fremd ist, zu reden anfangen.
Damit wurde es nötig, Jesus in anderen Begriffen und im Zusammenhang eines anderen
Weltbilds zu verkünden. Und zwar so, dass er als der Mittelpunkt und der Herr, als das Ziel
und der Retter der Welt erkennbar werden konnte! Denn mit weniger konnten sich Christen,
wenn sie von Jesus reden, ja nicht zufriedengeben. Sie mussten also Jesus in ein anderes
Weltbild transponieren – aber dadurch wurde auch dieses Weltbild grundlegend verändert.
Diesen doppelseitigen Prozess kann man über die ganze Christentums- und
Theologiegeschichte hin beobachten!
Auch das Neue Testament wendet sich schon an nichtjüdische Menschen. Aber es mutet ihnen, das
haben wir gesehen, immer noch das biblische Wirklichkeitsverständnis als Voraussetzung für das
Verstehen Jesu zu. Die Kirche hat sich dies zur Regel und Richtschnur gemacht, indem sie den
biblischen Kanon definierte. Auf die Dauer aber war es unvermeidlich, auch vor Menschen, denen das
biblische Wirklichkeitsverständnis nicht mehr so einfach vermittelbar und nicht mehr zumutbar war,
von Jesus zu reden. Denn sonst wäre die Kirche auf eine jüdische Sonderbewegung – mit offenen
Rändern zu interessierten Heiden – beschränkt geblieben.
Nötig war also jetzt eine Übersetzung der Rede von Christus in ein anderes Weltbild. Jede
Übersetzung bedeutet eine Sinnveränderung! Und die große theologische Frage an das
Ergebnis dieser Übersetzungen ist und muss sein: Wird darin das Wesentliche des
biblischen Christuszeugnisses bewahrt? Diese Frage klingt einfach, ist aber enorm schwer
zu beantworten... Denn es ist ja gar nicht klar, was denn das Wesentliche jeweils ist (bei der
Vielfalt der Bibel, der Vielfalt der Verstehensmöglichkeiten). Es steht ja niemand über den
beiden Wirklichkeitsverständnissen und kann sie neutral vergleichen. Die theologische Frage
nach dem rechten Christusbekenntnis im Wandel der kulturellen Muster ist niemals eindeutig
und endgültig zu klären, und doch muss sie zu aller Zeit mit aller Energie gestellt werden,
damit die Kirche Christus und der Bibel treu bleiben kann.
Ich erinnere an die Text von Ignatius von Antiochien aus dem Proseminar "Einführung in die
Systematische Theologie". Ignatius überprüfte die gnostische Christuslehre auf ihre Bibelgemäßheit.
Dabei benutzte er zwei Kriterien: 1. Ist das Heilsinteresse an Christus noch gewahrt, ist er noch als
Retter und Erlöser erkennbar? – Da aber auch Heilsinteressen, für die Jesus gar nicht zuständig ist,
auf ihn projiziert werden können, entwickelte Ignatius 2. eine kurze (adressaten- und anlassbezogene)
Zusammenfassung der biblischen Christusbotschaft (Ritschl: "kurzgefasste Story", "Summierung") und
leitete aus diesen Begriffe ab (Ritschl: "abgeleitete Begriffe"), die dann dogmatisch gehandhabt
werden konnten: Wer diese Begriffe nicht erfüllt, steht nicht im kirchlichen Glauben. – So oder so
ähnlich gehen die Dogmatiker und Dogmatikerinnen bis heute vor.
1) Die Logoslehre der Apologeten
Dazu HAUSCHILD AAO. 9-11
Zwischenbemerkung: Ich erinnere an den Text von Irenäus von Lyon über den Gnostiker
Kerinth aus Proseminar. Hier wurde deutlich: Christliche Theologen haben sehr klar erkannt, dass die
gnostische Transformation des Christusglaubens nicht mehr biblisch verifizierbar ist. Deshalb wurde
das gnostische Christentum, diese erste Gestalt eines Christusglaubens in außerbiblischem Gewand,
von der Großkirche mehr oder weniger deutlich abgelehnt. Dieser erste Versuch ist also gescheitert –
aber nicht der nächste, von dem jetzt zu reden sein wird.
Bei einer Gruppe von Theologen des 2./3. Jhs, die man Apologeten ("Verteidiger") nennt,
kann man die Transformation des Christuszeugnisses in ein außerbiblisches
Vorstellungsmodell besonders klar beobachten. Die Apologeten (vor allem: Justin von Rom;
Tatian der Syrer; Aristides aus Athen, Athenagoras aus Athen, Theophilus aus Antiochien)
waren gebildete Leute, die den christlichen Glauben gegen Kritik aus der heidnischen
Religion, dem Judentum und der Philosophie verteidigen wollten. Ihre Adressaten waren
philosophisch gebildete Menschen aus der griechischen und römischen Oberschicht, die in
der Regel von der Bibel kaum etwas wussten. Wie sollte man ihnen also Christus
29
verständlich machen? Woran konnte man bei ihnen anknüpfen? Die Apologeten fanden nun
in der Philosophie ihrer Zeit einen Begriff vor, der ihnen sehr geeignet erschien, die
Bedeutung Jesu aufzuschlüsseln – den Begriff Logos. Dieser Begriff spielte praktisch bei
allen Philosophien eine Rolle und war auch in der Popularphilosophie zugegen. Bei den
Stoikern bedeutete Logos eine feinstoffliche Substanz, die die Weltvernunft oder die Gottheit
darstellt. Durch ihre Vernunft können Menschen am Logos Anteil bekommen, der Logos
verteilt sich wie ein Same auf die (aufnahmebereite) Menschheit (Logos spermatikos – hier
liegt die Vorstellung des lebensspendenden Samens aus den archaischen heiligen
Hochzeiten sicher zugrunde). Bei den Platonikern ist dieses Konzept übernommen und
vergeistigt worden. Der Logos galt bei ihnen als ein geistig-ethisches Prinzip, aber auch als
die Vernunft der Schöpfung, als der Geist, mit der die Gottheit oder das Göttliche die Welt
hatte entstehen lassen.
Logos können wir am besten mit Sinn, Begriff, Weltvernunft oder (Ur-)wort übersetzen, wobei
die Beziehung zum Göttlichen schon mitgesetzt ist. Logos, als Wort verstanden, ist Mitteilung
des Göttlichen an die Menschen. Logos ist ungefähr das, was die Welt im Innersten
zusammenhält.
Dieser Begriff schien sich nun wirklich sehr zu eignen, um die Bedeutung Christi
auszusagen. Und dazu kam ja auch, dass er bereits in der Bibel, und zwar an zentraler
christologischer Stelle, vorkam: Joh 1,1 und 1,14 (s.o. Exkurs zum Johannesprolog)! Und der
bedeutende jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (+ca. 45/50) hatte bereits dargelegt,
dass das Wort, mit dem Gott gemäß der biblischen Schöpfungsgeschichte die Welt
erschaffen hatte, nichts anderes meinte als den logos, von dem auch die Philosophie sprach.
Nichts war also naheliegender als Logos-Christologie!
Wir lesen einen Text von J USTIN aus dessen 2. APOLOGIE (BKV 12, 1913, 96f (150f),
nach Texte zur Theologie/Christologie I, 82f.
Es ist zu sehen:
• Christus ist die Vollform, die Steigerung dessen, was die heidnischen Denker Logos
nennen
• Es gibt eine Heilsgeschichte, die vom Unvollkommenen zum Vollkommenen fortschreitet
• Sokrates war Christus ähnlich, aber Christus hat mehr Anerkennung gefunden, weil er
eben der vollkommenere Logos war
• Christus wurde von Sokrates schon teilweise erkannt; es gibt eine außerbiblische
Erkenntnis Jesu
• Das Neue ist: Der Logos erscheint als Person, als Mensch. Das hatte so noch kein Heide
gedacht
Aus dem letzten Punkt wird ersichtlich, dass die Logos-Christologie die Philosophie, aus der
der Begriff entnommen war, kräftig veränderte. Der Logos war in christlicher Sicht nicht mehr
nur ein hoher, geistiger Gedanke oder ein geistig-göttliches Prinzip, sondern ein Mensch aus
Fleisch und Blut, und dazu noch einer, der am Kreuz gestorben war (diesen Punkt konnten
die Apologeten aber auch nie richtig erklären).
Überlegen wir, was die Aufnahme des Logos-Begriffs in die Christologie bedeutet.
• Christus, der Logos, liegt in der Zielrichtung der menschlichen, philosophischen Vernunft.
Er ist die letzte Vollendung dessen, was kluge Menschen von sich aus für wahr und
sinnvoll halten. Es tritt praktisch an die Stelle Israels als Vorgeschichte Jesu die
Denkgeschichte der Philosophen.
• Christus als Logos ist das, was die Welt im Innersten zusammenhält, die Weltvernunft
usw. Er steht also ganz auf der Seite des Bestehenden. Wo dieses defizient ist, dann
wegen der Abweichung von der grundlegenden Ordnung. Christus als Logos ist das
Prinzip der Ordnung der Welt. Entsprechend ist der eschatologische Horizont der LogosChristologie reduziert.
• Erlösung bedeutet: Die ganze göttliche Wahrheit wird in der Welt bekannt. Das geistige
Wort, der Logos, ist Fleisch geworden, das konnte nun so verstanden werden: Was
bisher im geistigen, im göttlichen, im jenseitigen Bereich verborgen war, ist nun durch
30
•
•
Christus in der Welt offenbar.
(Wer kann sich darüber am meisten freuen? Die Philosophen?!)
Damit ist aber auch gegeben: Die Fleischwerdung des Wortes erscheint als etwas
Erstmaliges, Neuartiges, alles Frühere Überbietendes. Es wird dabei Verbundenheit Jesu
mit der Geschichte Israels übersehen, jene reécriture oder relecture, die er biblisch
gesehen für Israel ist (bei allen Apologeten, Ausnahme Tatian, ist eine gewisse
Abwertung Israels unübersehbar).
Die Logos-Christologie der Apologeten ist latent subordianatianisch: Der Logos/der Sohn
ist Gott untergeordnet, weil aus ihm hervorgegangen. Aus ihr entsprangen deshalb auch
Motive für die weitere Entwicklung der Trinitätslehre, die schließlich – auf dem Konzil von
Nizäa 325 – zum Dogma von der Wesenseinheit von Gott und Logos/Sohn gelangte.
Das Motiv der Vergöttlichung
Aus der Logoslehre der Apologeten entwickelt sich allmählich das christologischsoteriologische Schema der frühen Kirche, das dann bis Chalcedon durchtragen sollte:
Gott wird Mensch, damit die Menschen göttlich werden. Oder etwas genauer: Der Sohn
Gottes wird Mensch, damit die Menschen Söhne Gottes werden. Das Unsterbliche nimmt
das Sterbliche an, das Unvergängliche das Vergängliche, das Vollkommene das
Unvollkommene usw. So steht es bereits bei Irenäus von Lyon (+202):
IRENÄUS VON LYON, ADVERSUS HAERESES (Gegen die Häresien, um 180-190), III, 18,6:
"Dazu nämlich ist das Wort Gottes Mensch geworden und der Sohn Gottes zum Menschensohne,
damit der Mensch das Wort in sich aufnehmen und, an Kindes statt angenommen, zum Sohne Gottes
werde. Denn anders konnten wir nicht die Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit empfangen, als
indem wir mit der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vereint würden. Wie hätten wir aber mit der
Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit vereint werden können, wenn nicht die Unvergänglichkeit und
Unsterblichkeit vorher das geworden wäre, was wir sind, damit das Vergängliche vom
Unvergänglichen und das Sterbliche vom Unsterblichen verschlungen werde und wir die Annahme an
Kindes Statt empfingen?"
Wie anders als das biblische ist doch dieses Konzept! Wie weit ist es bereits vom biblischen
Wirklichkeitsverständnis entfernt! Wo wäre in der Bibel davon die Rede, dass wir unsere
Vergänglichkeit und Sterblichkeit überwinden können, indem wir uns mit der
Unvergänglichkeit vereinen? Wo ist hier, bei den Apologeten, noch von dem Reich Gottes
die Rede, das wir mit Hilfe der Gebote Gottes verwirklichen sollen und können?
Nach dieser Christologie ist mit der Fleischwerdung, der Geburt Jesu bereits alles Wichtige
geschehen. Erlösung wird ontologisch gedacht: Das Unvergängliche hat sich mit dem
Vergänglichen vereint. Der Seinsstatus der Vergänglichkeit hat sich verändert. Leben und
Lehre Jesu spielen christologisch kaum mehr eine Rolle. Kreuz und Auferstehung
erscheinen nur als Bekräftigung seiner wirklichen Mensch- und Fleischwerdung.
Ist diese Christologie noch biblisch? Darüber streiten sich die Theologen seit dem 2.
Jahrhundert bis heute...
Andererseits ist nicht zu übersehen: Die Logos-Christologie stellt einen Angriff auf das antike
Weltverständnis dar. Der Logos ist eben jetzt Fleisch geworden, das Fleisch ist
angenommen. Das von den Platonikern, den Philosophen verachtete Fleisch wird zum Ort
des Heils! Gespiegelt auf die Verhältnisse einer Sklavenhaltergesellschaft mit ihrer
Verteilung von Geist und Fleisch war damit auch eine Umwertung der Werte gegeben. Das
Neue, was mit dem christlichen Glauben kam, war: Nicht mehr nur Erlösung von der Welt,
sondern Erlösung der Welt selbst.
31
2) Die Christologie des Origenes
Dazu HAUSCHILD aaO. 18-22; 82-84
Die überragende Gestalt der Theologie der Alten Kirche war Origenes aus Alexandrien (185254). Er entwickelte eine große, für alle Bereiche durchgeführte systematische Synthese
zwischen der führenden Philosophie seiner Zeit, dem Neuplatonismus, und dem christlichen
Glauben. Alle späteren Christologien setzen sich ausdrücklich oder unausdrücklich mit
Origenes auseinander!
Aus Zeitgründen fasse ich mich hier jedoch kurz mit Origenes, denn das Prinzip und die Methode
seines Denkens sind dieselben wie bei den Apologeten.
O. bezog sich auf den Neuplatonismus. Das ist, grob gesagt, eine Verbindung von Platonismus und
gnostischer Mythologie, also eine Philosophie, die zugleich Religion ist. Gott oder das Göttliche ist ihr
ein unendlich fernes Wesen, das der menschlichen Erkenntnis entzogen ist. Ausgehend von dem
göttlichen Einen stellt sich die Welt in verschiedenen himmlischen und irdischen Stufen bzw.
Hierarchien dar. Auf den einzelnen Stufen hatten die neuplatonischen Philosophen praktisch die
Götter und Himmelswesen der Mythologie untergebracht, so dass aufgeklärte heidnische religiöse
Menschen sich im Neuplatonismus eine geistige Heimat finden konnten.
O. teilte mit dem Neuplatonismus die grundlegende Auffassung, dass das Göttliche und Vollkommene
zugleich das Eine und Unteilbare ist. Zu erklären ist für die neuplatonische Philosophie die
Mannigfaltigkeit in der Welt: Warum gibt es überhaupt Vieles, warum einen Abfall von der
ursprünglichen und vollkommenen Einheit? O. entwickelte folgende Vorstellung: Die ursprüngliche
Einheit bzw. Gott hat von Anfang an einen Logos und einen Geist aus sich herausgesetzt (durch
Emanation, Herausfließen aus der Fülle). Der Logos/Christus schafft die Menschenseelen, die in der
Einheit mit Gott verbleiben und ihn umkreisen. Durch einen Sündenfall fallen die Seelen von Gott ab,
erkalten gleichsam, indem sie aus dem Glutkern herausfallen, nehmen feste Materie an und werden
zur Welt. Der Logos will sie retten. Zu diesem Zweck verbindet er sich mit der Seele des Menschen
Jesus und kommt in die Welt. Er will keinen Zwang anwenden und achtet die Freiheit der Menschen,
die er zu Gott zurückführen will. Deshalb gebraucht er die Mittel der Belehrung und der Überzeugung;
Jesus Christus ist der Pädagoge (paidagogos). Früher oder später (nach einem oder mehreren Leben
– O. hat auch eine Art Reinkarnationslehre) finden alle Seelen, angeleitet durch Jesus, zu Gott zurück.
O. glaubt an die All-Versöhnung (Apokatastasis); es gibt für ihn keine Hölle. Die Frage für O. ist nur,
ob sich dieser ganze Vorgang von Abfall von Gott und Wiederversöhnung nicht immer wiederholen
kann.
Der Grundgedanke, dass der Logos Mensch wird, um die Menschen aus der Welt zu erlösen
und wieder in den göttlichen Urzustand zu versetzen, ist also gleich geblieben. Er ist bei O.
sehr ausgestaltet und perfekt mit dem antiken Weltbild verzahnt.
Auch bei O. ist ein latenter Subordinatianismus vorhanden.
O: konstruiert eine eigene Vorgeschichte für Jesus. Ist diese mit der biblischen übereinander
zu bringen?
O. ist auch der Begründer der geistlichen, der allegorischen Schriftauslegung. Er kann die
Schrift nicht mehr wörtlich verstehen, er muss ihr einen anderen Sinn (Allegorie) unterlegen.
3) Der Weg zum Dogma von Chalcedon
Christologie als politische Theologie: Im christlich gewordenen römischen Reich (313
Toleranz'edikt' Konstantins) hatte der Glaube an den einen Gott eminente politische Bedeutung: Ein
Gott - ein Reich - ein Kaiser. Dieser politische Monotheismus war durch den Glauben an die Gottheit
Christi bedroht. Die Heilsbedeutung des Glaubens war ohne volle Bejahung der Gottheit Christi aber
damals nicht denkbar (Erlösungsmotiv der Vergöttlichung).
Arius und der Subordinatianismus: Der alexandrinische Presbyter Arius (+334) wurde
durch den biblischen Glauben an einen Gott, mehr aber noch durch den Platonismus (→
Origenes) zu folgendem trinitarischen Modell gedrängt: Gott ist einzig, ungeworden, ewig,
unveränderlich. Der Sohn ist sein erstes Geschöpf, in allem ihm gleich außer dem
Ungewordensein (an-arche), er erschafft die Welt und geht in den Leib Jesu ein. So brachte
Arius Ordnung in die Theologie. Eusebius, der Hoftheologe Konstantins, hielt es mit ihm,
32
aber Arius' Bischof Alexander von Alexandrien bekämpfte ihn. Der Kaiser verfolgte ihn als
Unruhestifter. Schließlich berief dieser das Erste
Ökumenische Konzil von Nizäa (325) ein. Die Konzilsväter verurteilten die arianische
Lehre und formulierten folgendes Symbolon:
WIR GLAUBEN AN DEN EINEN HERRN JESUS CHRISTUS,
DEN SOHN GOTTES,
ALS EINZIGGEBORENER AUS DEM VATER GEZEUGT,
DAS HEIßT AUS DEM WESEN (ousia) DES VATERS,
GOTT AUS GOTT, LICHT AUS LICHT, WAHRER GOTT AUS WAHREM GOTT,
GEZEUGT , NICHT GESCHAFFEN ,
WESENSGLEICH (homo-ousios) DEM VATER,
DURCH DEN ALLES GEWORDEN IST,
WAS IM HIMMEL UND WAS AUF DER ERDE IST,
DER WEGEN UNS MENSCHEN...DH 125
Obwohl sich das Konzil bemühte, im Ganzen den biblischen Duktus beizubehalten, brachte
es mit dem Begriff Ousia (Wesen) einen philosophischen Terminus in das
Glaubensbekenntnis ein und veränderte damit den theologischen Diskurs tiefgreifend. Alle
folgende Christologie hatte zu erklären, in welcher Weise es sein kann, dass der Mensch
Jesus göttlichen Wesens ist.
In dieser Zeit konnte die Heilsbedeutung Christi gar nicht anders ausgesagt werden als mit der
Behauptung seiner ontologischen Göttlichkeit. Die biblische Aussage, dass Jesus, der Auferstandene,
auf der Seite des göttlichen Lebens und nicht auf der Seite des Todes steht, konnte man im Rahmen
der antiken Ontologie nur so ausdrücken, dass man sagte: Jesus ist ein göttliches Wesen.
Nach Nizäa entbrannte der trinitarische Kampf erst richtig. Verschiedenste Richtungen
bildeten sich (Homoier, Homoiousianer, Anhomoier), Synoden verurteilten einander, die
(Ost- und West-) Kaiser griffen mehrmals ein usw. Erst das Zweite
Ökumenische Konzil von Konstantinopel (381) setzte das Symbol von Nizäa in der Kirche
durch und erweiterte es um die Passagen über den Hl. Geist und die Kirche
(Glaubensbekenntnis 'Nicäo-Constantinopolitanum')
Die christologischen Schulen des 4. und 5. Jahrhunderts: Unter der Voraussetzung des
Dogmas von Nizäa rangen über zwei Jahrhunderte lang (und letztlich bis heute!) zwei
christologische Richtungen um die Erklärung der Vereinbarkeit von göttlicher und
menschlicher Natur in Christus. Die Schule von Alexandrien war platonisch (und unter
Voraussetzung des altägyptischen Götterkults) auf ein Denken von oben nach unten
ausgerichtet, die antiochenische Schule dachte (eher biblisch) von unten nach oben. Als
grobe Vereinfachung die folgende Gegenüberstellung:
33
Alexandrien
Antiochien
Logos
↓
Sarx
Das Wort wird Fleisch (Joh 1,14): der
präexistente göttliche Logos steigt in den Leib
des Menschen Jesus schon bei der
Empfängnis hinein und vereinigt sich mit ihm.
(Dabei wurde 'Leib' allzu leicht nur im Sinne
von 'Fleisch' verstanden). Das ist:
- Vereinigungschristologie
- Inkarnationschristologie
- dezidiert antiarianisch
- platonisch-origenistisch
- entsprach dem Heilsinteresse und dem
Glauben des Volkes
Logos
↑
Anthropos
Der Mensch Jesus, ein Mensch mit Leib und
Seele, nähert sich in seinem Leben der
Einheit mit dem Logos immer mehr an, bis
dahin, dass er sich das 'prosopon' der
göttlichen Natur zu eigen macht. Die beiden
Naturen bleiben aber immer unterscheidbar.
Das ist:
- Unterscheidungschristologie
- bibelnah, am Leben Jesu abgelesen
- Tendenz zur Rede von "zwei Söhnen"
- Einheit der Naturen nur moralisch oder
im Akt der Verehrung durch die
Gläubigen
Aus diesem Ansatz wurde später die sog. die
Idiomenkommunikation gefolgert: Was von
der einen Natur ausgesagt werden kann,
kann auch von der anderen ausgesagt
werden (der göttliche Logos leidet; die
menschliche Natur wirkt unsere Erlösung.
Dass aber wirklich die göttliche Natur leidet,
wollte man lange nicht zugeben).
Die alexandrinische Christologie triumphierte
auf dem Konzil von Ephesus und
Konstantinopel II. Sie ist
im Osten bis heute das leitende Modell. Sie
findet die Heilsbedeutung Jesu allein in
seiner Inkarnation.
Die Idiomenkommunikation ließ sich damit
schwer vereinbaren. Die beiden Naturen
gehen ja keine wesentliche Verbindung
miteinander ein, die Unterscheidung bleibt
gewahrt.
Die antiochenische Christologie hatte die
Unterstützung der "großen Kappadozier"
(Basilius, Gr. v. Nyssa, Gr. v. Nazianz) und
die Sympathien der westlichen Theologie. Auf
dem Konzil von Chalcedon setzte sich sich
mit Hilfe Papst Leos des Großen (440-460)
durch, vgl. dessen "Tomus ad Flavianum",
das bedeutendste Dokument zu diesem Streit
aus dem Westen.
Wichtigste Vertreter: Athanasius (+ 373),
entschiedenster Kämpfer für Nizäa; Cyrill
(+444), großer Vereinfacher, brachte die
problematische Formel von der "Vereinigung
gemäß der Natur" auf.
Wichtige Vertreter: Diodor von Tarsus
(+394), dem die Theorie von den Zwei
Söhnen angelastet wird; Theodor von
Mopsuestia (+428), der tief biblisch auf die
Annahme der ganzen Menschheit inkl. der
sündigen Seele reflektierte; Theodoret von
Kyros (+466)
Häretische Formen: Apollinaris von
Häretische Form: Nestorius (+451): zwei
Laodicäa (+ 395): Jesus als Mensch steuert vollkommene Naturen (Menschheit und
nur den Leib und die Seele (als
Gottheit) können keine Einheit bilden, denn
Lebensprinzip) zur Vereinigung bei, die
jede hat ihr eigenes 'prosopon'
vernunftbegabte Seele (= Geist) wird durch
(Erscheinungsform). N. nahm darum ein
den göttlichen Logos ersetzt: Die volle
drittes Prosopon an, das ständig die
Menschheit Jesu ist nicht gewahrt. Gegen ihn Vereinigung zwischen den Naturen
vor allem Gregor von Nyssa: "Was nicht
vermittelte. Damit war die Einheit sehr
angenommen ist, ist auch nicht gerettet".
schwach gedacht: der Mensch Jesus ist nicht
Eutyches (+ 454): Die göttliche Natur saugt
das göttliche Wort, sondern steht nur in
bei der Vereinigung die menschliche in sich
intensiver Verbindung; keine Rede von
34
auf ("wie ein Tropfen Wasser im Meer"); es
bleibt nur noch eine Natur zurück (→
Monophysitismus: die allergewöhnlichste
Häresie). Er wurde in Chalcedon verurteilt.
Idiomenkommunikation. Gegen Cyrill: Maria
nicht Gottesgebärerin, sondern
"Christusgebärerin". Das Konzil von Ephesus
hat ihn verurteilt.
Das Dritte Ökumenische Konzil von Ephesus (431) verurteilte Nestorius. Ein eigener Text
wurde nicht verfasst, nur ein Brief Cyrills gegen Nestorius bestätigt. Darin heißt es:
DENN ES IST NICHT SO, DASS ZUERST EIN GEWÖHNLICHER MENSCH AUS DER
HEILIGEN JUNGFRAU GEBOREN WURDE UND ERST DANN DAS WORT AUF IHN
HERABSTIEG; VIELMEHR WIRD VON IHM GESAGT , DAß ES SCHON VOM MUTTERSCHOß
HER DIE FLEISCHLICHE GEBURT AUF SICH GENOMMEN HAT, DA ES SICH DIE GEBURT
SEINES EIGENEN FLEISCHES ZU EIGEN MACHTE. ... UND SO HABEN SIE [die Heiligen
Väter] ES GETROST UNTERNOMMEN, DIE HEILGE JUNGFRAU GOTTESGEBÄRERIN ZU
NENNEN, NICHT ETWA WEIL DIE NATUR DES WORTES BZW . SEINE GOTTHEIT DEN
ANFANG DES SEINS AUS DER HEILIGEN JUNGFRAU GENOMMEN HÄTTE, SONDERN
WEIL DER VERNÜNFTIG BESEELTE HEILIGE LEIB AUS IHR GEBOREN WURDE ; MIT IHM
HAT SICH DAS WORT DER HYPOSTASE [Person] NACH GEEINT, UND DESHALB WIRD
VON IHM GESAGT , ES SEI DEM FLEISCHE NACH GEBOREN WORDEN. DH 250
Nestorius hatte u.a. gesagt: "Da er [Paulus, Phil 2,5f] nämlich an den Tod erinnern wollte,
setzt er, damit keiner aufgrund dessen vermute, Gott, das Wort, sei leidensfähig, das Wort
'Christus' als die das leidensunfähige und das leidensfähige Wesen in einer einzige Person
kennzeichnende Bestimmung, damit Christus gefahrlos sowohl leidensfähig als auch
leidensunfähig genannt werden könne, leidensunfähig in der Gottheit, leidensfähig aber in
der Natur des Leibes." DH 251b
[Frage: Ist nicht die alexandrinische Position zuletzt bibelgemäßer, da sie nicht, wie Nestorius als
Antiochener, das Leiden von Gott fernhalten will? Kommt nicht der so biblisch argumentierende
Nestorius auf die Lehre der Gnostiker zurück? - Die Alexandriner wollen eigentlich sagen: Dieser
Mensch Jesus ist der Sohn Gottes. Um das in der Terminologie von den zwei Naturen auszusagen,
nehmen sie sehr viel Ungereimtheit, ja scheinbare Bibelferne in Kauf. Die Antiochener aber verfehlen
das biblisch Gemeinte, wenn sie Jesus und den Sohn Gottes, der er für uns ist, auseinanderziehen.
Merke: Auch die scheinbar bibelgemäßere Position ist nicht immer die theologisch richtigere!]
Das Vierte Ökumenische Konzil von Chalcedon (451)
Im Gegensatz zum Konzil von Ephesus erarbeitete das Konzil von Chalcedon eine eigene
theologische Formel, die einerseits präzise sein und andererseits genug Platz für die
verschiedenen Positionen lassen wollte. Man beteuerte, nichts anderes lehren zu wollen als
die Väter (Nizäa), sah sich aber wegen der neuen Kontroversen gezwungen, diese zu
vervollständigen. Die Streitfrage war so zugespitzt: Soll man von "einer Natur" (Jesu Christi)
oder von "zwei Naturen" sprechen? Oder noch genauer: Ist Jesus eine Person aus (ek) zwei
Naturen – das war alexandrinisch – oder in (en) zwei Naturen – das war antiochenisch. Man
verurteilte zunächst einhellig die beiden häretischen Extrempositionen: Nestorius, der die
Naturen trennt, und Eutyches, der sie zusammenfallen lässt.
Die antiochenische Linie konnte sich durchsetzen mit der Aussage: Es gibt zwei Naturen in
Jesus Christus; es wurde also gegen den Monophysitismus der Dyophysitismus definiert.
Die alexandrinische Linie setzte sich durch mit: Diese beiden Naturen begegnen sich in einer
und derselben Person.
35
Die Formel von Chalcedon
IN DER NACHFOLGE DER HEILIGEN VÄTER LEHREN WIR ALLE ÜBEREINSTIMMEND ZU
BEKENNEN
I.
EINEN UND DENSELBEN SOHN
UNSEREN HERRN JESUS CHRISTUS
DERSELBE IST
1)VOLLKOMMEN IN DER GOTTHEIT
VOLLKOMMEN IN DER MENSCHHEIT
2) WAHRER GOTT
UND WAHRER MENSCH
AUS VERNUNFTBEGABTER SEELE [!] UND LEIB
3) DER GOTTHEIT NACH DEM VATER WESENSGLEICH
DER MENSCHHEIT NACH UNS WESENSGLEICH,
[ES WIRD ALSO EINE ZWEIFACHE KONSUBSTANTIALITÄT ERKLÄRT!]
IN ALLEM UNS GLEICH AUßER D ER SÜNDE (HEBR 4,15)
4) DERSELBE WURDE EINERSEITS DER GOTTHEIT NACH
VOR DEN ZEITEN AUS DEM VATER GEZEUGT
ANDERERSEITS DER MENSCHHEIT NACH
IN DEN LETZTEN T AGEN UNSRETWEGEN UND UM UNSERES HEILS WILLEN
AUS MARIA, DER JUNGFRAU UND GOTTESGEBÄRERIN [Ephesus!], GEBOREN
[ES GIBT ALSO EINEN ZWEIFACHEN HERVORGANG JESU!]
DER IN ZWEI N ATUREN (en duo f usesin
UNVERMISCHT (asugx´´´´´´´´utö? ?), UNVERÄNDERLICH (atrept? ?), [gegen
UNGETRENNT (adiairet? ?), UND UNTEILBAR (ax? rist? ?),), [gegen Nestorius]
ERKANNT WIRD
Eutyches]
II.
WOBEI NIRGENDS WEGEN DER EINUNG DER UNTERSCHIED DER NATUREN
AUFGEHOBEN IST
VIELMEHR DIE EIGENTÜMLICHKEITEN JEDER DER BEIDEN NATUREN GEWAHRT BLEIBT
[antiochenisch]
UND SICH IN EINER PERSON UND EINER HYPOSTASE VEREINIGT
NICHT IN ZWEI PERSONEN GETEILT UND GETRENNT, SONDERN IST EIN UND DERSELBE
[alexandrinisch]
DER EINZIGGEBORENE SOHN, GOTT, DAS WORT, DER HERR JESUS CHRISTUS,
WIE ES FRÜHER DIE PROPHETEN ÜBER IHN
UND JESUS CHRISTUS SELBST ES UNS GELEHRT
UND DAS BEKENNTNIS DER VÄTER ÜBERLIEFERT HAT .
DA DIES ALSO VON UNS IN JEGLICHER HINSICHT MIT ALLER SORGFALT UND
GEWISSENHAFTIGKEIT FESTGESETZT WURDE, BESCHLOSS DAS HEILIGE UND
ÖKUMENISCHE KONZIL , DASS KEINER EINEN ANDEREN GLAUBEN VORTRAGEN ,
NIEDERSCHREIBEN , VERFASSEN ODER ANDERS DENKEN UND LEHREN DARF.
DH 301, 302
36
Das Konzil suchte einen Kompromiss. Es hat aber letztendlich die Zwei-Naturen-Lehre
dogmatisiert (Dyophysitismus) und damit den Monophysitismus zurückgewiesen.
Dafür war auch der Einfluss des Papstes Leo d.Gr. verantwortlich, der in seinem "Tomus ad
Flavianum" die westliche Theologie mit ihrer Betonung der ungeschmälerten Menschheit Christi (und
der Demut Gottes, der Mensch wird, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen – dieses Motiv
war dem Osten fremd) vorgetragen hatte. Das Konzil bestätigte diese Position des Papstes.
Die Monophysiten konnten sich mit der Formel des Chalcedonense nicht abfinden. Große
Teile der Christenheit trennten sich von der Kirche des Konzils: die Kopten in Ägypten (d.h.
die ganze ägyptische Kirche – hier spielte u.a. der kirchenpolitische Gegensatz von
Alexandrien und Konstantinopel hinein), die Jakobiten in Ostsyrien und die ganze
armenische Kirche.
Das fünfte Ökumenische Konzil von Konstantinopel (553, 2. Konzil von Konstantinopel)
wiederholte die Formel von Chalcedon in einer extrem alexandrinischen Lesart. Die Einheit
der Natur in Jesus Christus wurde so betont, dass der Monophysitismus nur so eben
vermieden wurde. Mit dieser monophysitischen Schlagseite ist dann die altkirchliche
Christologie vor allem in der orthodoxen Kirche rezipiert worden.
Vgl. HAUSCHILD aaO. 25-46; 160-194. Das sollte man lesen, um Konkretheit und Anschaulichkeit zu
gewinnen. Es ist bei mir ja gar nicht davon die Rede gewesen, in welchen Parteien- und
Personenstreit diese theologischen Auseinandersetzungen verwickelt waren.
V. Chalcedon – Ende oder Anfang der Christologie? Die
Interpretation der chalcedonischen Formel durch Karl Rahner
Die christologische Formel von Chalcedon hat die kirchliche Christologie maßgeblich
bestimmt. In ihrem Rahmen hatte sich jedes rechtgläubige theologische Nachdenken über
Christus zu halten. Auch die Volksfrömmmigkeit war wesentlich von der Zwei-Naturen-Lehre,
d.h. von Chalcedon her bestimmt: Jesus, wahrer Gott und wahrer Mensch – wobei, wie
erwähnt, die Widersprüchlichkeit dieser Formel zumeist nach der göttlichen Seite hin
monophysitisch aufgelöst wurde.
(Ich bemerke dazu: dieser latente Monophysitismus steht für die religiöse Seite des Christentums; so
wie ich Religion in der "Der verwechselbare Gott" bestimmt habe. Die Religion will, dass das Göttliche.
d.h. die Macht der Götter, in die Welt kommt; diesem Interesse kam die monophysitische Lesart des
christlichen Glaubens entgegen.)
Das ist eben das Bemerkenswerte, dass die geschichtlich wirksam gewordene
Gestalt des Glaubens an Christus die ist, die er im Zusammenhang seiner
Einpassung in die antike Logos-Spekulation erhalten hat (und nicht die biblisch-jüdische
Gestalt!). Justin, Origenes, Athananius, Cyrill & Co. haben sich durchgesetzt. Ihre Theologie
ist, dogmatisch gefasst, verbindlich geworden. Sie war ja auch die Gestalt der Christologie
"für die Völker". Aber doch nur für die Völker jener Zeit?! Ist uns denn das
Wirklichkeitsverständnis der Logos-zentrierten Antike näher als das biblische? Ich halte das
für keineswegs ausgemacht.
Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das geändert (vgl. oben I,1 - den Artikel von Peter
Rosien, von dem wir ausgegangen sind)! Die Göttlichkeit, die Gottessohnschaft Christi ist
nicht mehr zentral im Glaubensbewusstsein der Kirche und der Gläubigen verankert. Vor
allem wird die Erlöserschaft Christi wenn überhaupt, dann nicht mehr mit seiner
Gottessohnschaft zusammengedacht (wie es für die alte Erlösungstheorie, die
Satisfaktionslehre, der Fall war! Denn hier hing, wie gesagt (I,1), alles daran, dass es ein
Wesen von göttlicher Natur war, das litt und damit für uns Genugtuung leistete. Alles andere
an Jesus war für diese Erlösungsvorstellung irrelevant.)
Anlässlich des 1500-Jahr-Jubiläums des Konzils von Chalcedon im Jahre 1951 hat sich der
Theologe Karl Rahner (1904-1984), dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen,
mit der Konzilsformel gründlich auseinandergesetzt. hatte. Sein Aufsatz Chalcedon –Ende
37
oder Anfang der Christologie? bedeutete eine Revolutionierung der Christologie. Rahner
deutete die Formel von Chalcedon so, dass sie außer Kraft gesetzt wurde (das ist meine
These, die ich im Folgenden zu erweisen suche!). Dass heute der Christusglaube nicht mehr
in den Bahnen von Chalcedon verläuft (dass die Göttlichkeit Jesu nicht mehr die Bedeutung
hat, die sie 1500 Jahre lang hatte), ist ganz wesentlich die Folge dieses Aufsatzes (er wurde
allerdings von Erwartungen getragen, die auch anderswo zu greifen sind – Stichwort:
Anthropologische Wende in der Theologie; sie sollte das Christentum neuzeitfähig machen).
Mit Rahner machen wir den Sprung von der Alten Kirche in die Gegenwart. Ich stelle
Rahners Aufsatz am Leitfaden seiner wichtigsten Stellen vor. Am Ende werden wir uns
fragen müssen, ob wir auf den von Rahner gewiesenen Wegen weiter gehen können.
Vgl. zum Folgenden: KARL RAHNER, PROBLEME DER C HRISTOLOGIE VON HEUTE, in: ders.,
Schriften zur Theologie Bd. I, Einsiedeln 1964, 169-222 (zuerst als CHALCEDON – ENDE ODER
ANFANG, in: Das Konzil von Chalcedon, hg. von H. Grillmeier und H. Bacht, III. Bd., Würzburg
1954)
Vorab ein abstract des Aufsatzes von Rahner: Indem die Formel von Chalcedon von der einen Person
in zwei Naturen spricht, stellt sie Christus in einen Widerspruch hinein – sie zeichnet ihn als eine
widersprüchliche, eine unmögliche Figur, als ein unmögliches Wesen. In dem Versuch, Christus als
einen realen Menschen zu denken, reflektiert R. auf die Einheit der Unterscheidung von göttlich und
menschlich und gelangt schließlich dazu, diese Unterscheidung aufzuheben.
Folgen wir der Argumentation im einzelnen.
R. skizziert eingangs sein Verständnis vom theologischen Umgang mit Dogmen. Sie müssen
bewahrt werden, indem man mit ihnen weiter und über sie hinaus denkt
("Selbsttranszendenz der Formel"):
Aber dieses Bewahren, das ein echtes Ein-für-allemal kennt, ist geschichtliches Bewahren
nur, wenn – die Geschichte weitergeht und die Bewegung des Denkens von der erreichten
Formel weggeht, um sie (sie, die alte, selbst) wiederzufinden.
Das gilt auch von der chalkedonischen Formulierung des Geheimnisses Jesu. Denn diese
Formel ist – eine Formel.
Wir haben somit nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, sie als Ende und als Anfang zu
betrachten. (S. 170)
Die erste Anfrage ist an die Formel von Chalcedon ist, ob die Rede von der menschlichen
Natur Jesu Christi geeignet ist, die wahre und echte Menschlichkeit Jesu auszusagen:
Aber kann man heute, wenn man nur von <<Natur>>, und zwar gerade im Unterschied zur
göttlichen Person, spricht, jene Ursprünglichkeit der menschlichen Geschichte Jesu auf Gott
hin und vor Gott und somit ihres unmittelbaren empirischen Subjekts (im Unterschied zur
metaphysischen Person) für uns deutlich erhalten? Oder wird die Erlösung dann nicht
praktisch unweigerlich bloß die Tat Gottes an uns, aber nicht mehr die Tat des messianischen
Mittlers zwischen uns und Gott? (S. 178)
Da Christus gemäß dieser Formel nur eine menschliche Natur hatte, aber nicht eine im
Vollsinn menschliche Person war, fällt es schwer zu verstehen, dass er der Mittler zwischen
Gott und den Menschen ist. Denn zum Mittlersein müsste es gehören, dass er die ganze
menschliche, und das heißt: personale Wirklichkeit vor Gott bringt.
Kann man aber aus der Formel <<eine Person – zwei Naturen im Besitz der einen Person>>
jenes eigentümliche, in der Schrift greifbare und für das Verständnis der mittlerischen Funktion
Christi unerläßliche Verhältnis zu Gott im Bereich der menschlichen Wirklichkeit Jesu (das ihm
ein freies Handeln auf Gott und vor ihm ermöglicht) ableiten, das heißt in dieser Formel schon
implicite enthalten erkennen? (S. 179)
Die wahre Menschheit Jesu muss, gerade wenn sie für sein Mittlertum, d.h. für seine
Erlösungsfunktion relevant ist, als Freiheit und Selbststand gegenüber Gott (bzw. der
göttlichen Natur Jesu) und nicht nur als passives Instrument Gottes gedacht werden.
Wie kann das christologische Gesamtdogma so formuliert werden, daß möglichst schon im
Ansatz oder doch mit genügender Deutlichkeit der Herr als der messianische Mittler und so
als der wahrhafte Mensch erscheint, der, in freiem menschlichem Gehorsam vor Gott auf
unserer Seite stehend, Mittler ist, und zwar nicht nur in der ontologischen Vereinigung zweier
Naturen, sondern Mittler durch sein Handeln, das sich auf Gott (als Gehorsam gegenüber dem
Willen des Vaters) richtet und nicht bloß als Handeln Gottes in und durch eine rein
38
instrumental gefaßte menschliche Natur gedacht werden kann, die dem Logos gegenüber
ontologisch und moralisch rein passiv wäre? (S. 181 f)
R. hebt nun an, seinen grundlegenden Gedanken zu entwickeln: Die Einheit und die
Eigenständigkeit der Naturen stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sie bedingen
einander und wachsen miteinander. Je mehr Gemeinschaft und Nähe, um so mehr
Eigenständigkeit! Und dieses ganz besondere Verhältnis kann nur Gott herstellen.
Denn nur bei Gott ist es überhaupt denkbar, daß er selber die Unterschiedlichkeit zu sich
selbst konstituieren kann. (S. 182)
Dieses Verhältnis liegt ja schon bei der Schöpfung vor: Gott schafft etwas, was, weil es
geschaffen ist, radikal abhängig ist von ihm, aber er erschafft es als etwas Eigenes und
Selbständiges. Genau nach diesem Modell ist auch das Zueinander der beiden Naturen in
Christus zu denken. Das aber bedeutet, die hypostatische Union nicht als singulären
Sonderfall, sondern als Höhepunkt des auch sonst in der Schöpfung gegebenen
Verhältnisses der Geschöpfe zu Gott zu verstehen:
Das Verhältnis der Logos-Person zu ihrer menschlichen Natur ist gerade so zu denken, daß
hier Eigenstand und radikale Nähe in gleicher Weise auf ihren einmaligen, qualitativ mit
anderen Fällen inkommensurablen Höhepunkt kommen, der aber doch eben der einmalige
Höhepunkt eines Schöpfer-Geschöpf-Verhältnisses ist. (S. 183)
Für die Menschen als Geschöpfe Gottes gilt somit im Prinzip das Gleiche, was auch für
Christus gelten muss: Die menschliche Geschichte in ihrer Freiheit und Eigenständigkeit
kann zum Ort der Offenbarung Gottes werden. Die beiden Seiten der Unterscheidung
menschlich/göttlich bilden keine Gegensätze, sondern sie sind eine paradoxe Einheit:
Diese menschliche Geschichte ist gerade dadurch, daß sie reine und radikalste Offenbarung
Gottes selbst ist, die lebendigste, freieste vor Gott, von der Welt auf Gott hin und so
mittlerisch, weil sie Gottes selbst und weil sie kreatürlichste und freieste ist. (S.184)
Die Lehre von der hypostatischen Union, der Einheit und Verschiedenheit der beiden
Naturen in der Person Christi, sagt somit etwas aus, was für die ganze Schöpfung gilt. Alles
Geschaffene in seiner Eigenständigkeit ist zugleich Offenbarung Gottes. Christus ist nichts
anderes, aber er ist der Höhepunkt dieses Geheimnisses der Schöpfung.
Die wesentliche Einmaligkeit, Unableitbarkeit und der Geheimnis-Charakter der Wirklichkeit
Christi schließen nicht aus, diese zu betrachten in einer Perspektive, in der sie als Gipfel und
Abschluß, als geheimes, von vornherein von Gott geplantes Ziel des göttlichen Wirkens in der
Schöpfung erscheint. (S. 185)
Wenn das aber so ist, dann ist Christus kein Sonder- und Einzelfall mehr, sondern der
Höhepunkt der Schöpfungswirklichkeit. Er kann von der Schöpfung her erfasst und
beschrieben werden. Und alle Schöpfung, und genauer: jeder Mensch, ist ein defizienter
Christus.
Ist er [der Versuch, Christus als Höhepunkt und Zusammenfassung der Schöpfung zu
begreifen] aber möglich, so können wir die allgemeinen Kategorien des Gott-GeschöpfVerhältnisses (Nähe-Ferne; Bild-Verhüllung; Zeit Ewigkeit; Abhängigkeit-Selbstand) in ihrer
radikalen, entgrenzten Form zu grundlegenden Aussagen über Christus verwenden und alle
anderen Wirklichkeiten im Bereich des von Gott Verschiedenen als defiziente Modi dieses
christologischen Urverhältnisses ansehen. (S.186)
Fazit bis hierhin: R. hat es geschafft, die Person Jesu ihres exzeptionellen, mysterienhaften,
vielleicht auch: mythologischen Charakters zu entkleiden. Hier ist nicht mehr der
geheimnisvolle, unbegreifliche Gott-Mensch, nicht mehr die Einheit des Unvereinbaren,
sondern Jesus ist etwas ganz "Natürliches", etwas, was seiner Eigenart nach zur
Schöpfungswirklichkeit ganz normal gehört, wenn es auch deren einmaliger Höhepunkt ist.
Worauf es hier nur ankam, war dieses: fragend anzudeuten, ob nicht zur ursprünglichen
Aussage der Wirklichkeit Christi auch andere Kategorien verwendet werden könnten als die
der klassischen Christologie, und zwar solche, die aus einer wirklichen theologischen
Schöpfungslehre entnommen wären. (S. 187)
Wenn Jesus auf diese Weise in die Schöpfung zurückgenommen wird, dann ist er auch als
ein Teil der Geschichte zu verstehen. Als Höhepunkt der Schöpfung muss er dann auch
Höhepunkt der Geschichte sein. R. kommt zur Vorstellung einer geschichtlichen Entwicklung
und eines Fortschritts, der auf Christus zuläuft:
Könnte es nicht eine Formel der Heilsgeschichte als der fortschreitenden geschichtlichen
Inbesitznahme der Welt durch Gott, als der immer gleichzeitig deutlicher und verhüllter
werdenden Erscheinung Gottes in der Welt als seinem quasi-sakramentalen Mysterium
39
geben, in der der Christus als der Höhepunkt dieser Geschichte und die Christologie als die
schärfste Zuspitzung der Formulierung dieser Geschichte erschienen, wie natürlich auch
umgekehrt die Heilsgeschichte als Präludium und Ausführung der Geschichte Christi? (S. 187)
In diesem Zusammenhang verweist R. auf die Logos-Spekulation der Kirchenväter, die auch
die Geschichte vor Christus als Vorgeschichte Christi, als Entwicklung auf ihn hin, begriffen
haben (s. oben IV, 1, zu Justin). Christus ist der Geschichte nicht fremd, er ist in der
Geschichte bereits irgendwie enthalten und erwartet.
Wird aber die Einheit der Geschichte und ihre Zentriertheit auf Christus ernst genommen,
dann bedeutet dies eben, daß Christus immer schon als prospektive Entelechie in der ganzen
Geschichte steckte. (S. 188)
An dieser Stelle hat R. sein Hauptergebnis erreicht: Christus ist Teil der
Schöpfungswirklichkeit und kein Wesen, das die Grenzen des Geschöpflichen sprengt. – Im
Weiteren zieht R. Folgerungen aus diesem Ergebnis.
Zuerst geht es um das Selbstbewusstsein Jesu. Die alte, chalcedonensische Theologie hatte
es sich verboten, Aussagen über das Selbstbewusstsein Jesu zu machen. Denn das
Mysterium der gott-menschlichen Einheit und (zugleich) Verschiedenheit konnte nicht auf der
Ebene eines Bewusstseins abgebildet werden. R. fragt nun, ob nicht auf der Grundlage
seines Ansatzes eine Bewusstseins-Christologie entwickelt werden könnte, die in der Lage
wäre, wesentlich mehr von den biblischen Informationen über Jesus aufzunehmen als die
Zwei-Naturen-Christologie, die de facto mit einem minimalen biblischen Fundament auskam.
Die Frage ist nun die: ließe sich von hier aus eine Bewußtseins-Christologie aufbauen? (S.
189)
Das würde aber bedeuten, Jesus (Jesu Bewusstsein) wie das eines ganz normalen
Menschen zu verstehen. R. spricht von einer 'existentiellen Christologie':
Wenn es eine ontische Christologie gibt, kann es auch eine existentielle geben (oder wie
immer man die Aussage über die Weise des Bei-sich-seins eines Seienden von geistiger Art
nennen mag). (S. 192)
Dann erhebt sich die Frage, was Jesus als Mensch war und dachte und worin er sich von
den anderen Menschen unterschied. R. beschreibt das Besondere am Menschen Jesus
(noch sehr tastend, versuchsweise) als seine absolute Selbsthingabe an Gott:
Wer zum Beispiel sagen würde: <<Jesus ist der Mensch, der die einmalige absolute
Selbsthingabe an Gott lebt>>, könnte damit das Wesen Christi durchaus richtig in seiner Tiefe
ausgesagt haben..., (S. 193)
aber wenn man das so formuliert, könnte der Eindruck entstehen, das Besondere an Jesus
sei etwas, was er selbst geleistet habe, oder genauer: das Göttliche an ihm sei sein
Gottesbewusstsein. R. fügt deshalb der eben zitierten Stelle das Folgende an, das deutlich
machen soll, dass diese absolute Selbsthingabe Jesu an Gott eine Aktivität Gottes an
Jesus zur Voraussetzung hat. Gott selbst teilt sich Jesus mit, Jesus antwortet darauf
mit der absoluten Selbsthingabe.
...vorausgesetzt, daß er [der so etwas sagen würde, s.o.]begriffen hätte, daß a) diese
Selbsthingabe eine Mitteilung Gottes an den Menschen voraussetzt, daß b) eine absolute
Selbsthingabe eine absolute Mitteilung Gottes an den Menschen impliziert, die das durch sie
Bewirkte zur Wirklichkeit des Bewirkenden selbst macht; und daß c) eine solche existentielle
Aussage nicht ein <<Gedachtes>>, eine Fiktion bedeutet, sondern in radikalster Weise eine
Seinsaussage ist. (S. 193)
Also: Gott teilt sich dem Menschen Jesus absolut und uneingeschränkt mit (und das
bedeutet auch für ihn etwas, macht 'das Bewirkte zur Wirklichkeit des Bewirkenden'), Jesus
antwortet darauf absoluter Selbsthingabe an Gott – hätten wir dann nicht das, was die
Formel von Chalcedon mit den zwei Naturen (ungetrennt und unvermischt) sagen wollte?!
Wie wäre es also, wenn wir dieses was eines Menschen ist, so dächten und sagten, daß es
nur als solches menschliches Geschehen denkbar ist, wenn dieses Geschehen schlechthin, in
aller Wahrheit und in radikalster Weise Gottes selbst ist? (S. 194)
Das Geschehen ist menschlich, weil es ein Geschehen Gottes ist – das ist die Einheit, die
doch die Unterschiedlichkeit, die Eigenständigkeit des Menschen und Gottes voraussetzt.
Kann man Chalcedon so verstehen? Dieser Frage geht R. im Folgenden nach. Was heißt
nach seinen Voraussetzungen: eine Person in zwei Naturen? Dabei lässt er sich zunächst
noch einmal auf eine Analyse der chalkedonischen Formel ein:
40
Wir versuchen die chalkedonische Formel selbst in sich zu verstehen und die Aporetik, die sie
läßt, uns noch etwas deutlicher zu machen. Diese Formel spricht von zwei Naturen; sie rückt
diese deutlich in ihrer jeweiligen Eigenart vor unseren Blick. (S. 194)
Zunächst zeigt er ausführlich, dass die Formel von Chalcedon in sich selbst widersprüchlich
ist. Göttliche und menschliche Natur können definitionsgemäß nicht in einer Person
zusammenkommen. Die Formel behauptet etwas Unmögliches, sie macht Christus zu einem
unmöglichen Wesen.
Der Christus ist zerspalten in zwei Möglichkeiten, die bloß durch die formal und leer bleibende
Aussage ihrer hypostatischen Einheit zusammengehalten werden. (S. 200)
Um aus diesem Dilemma herauszufinden, kommt R. noch einmal auf den Ansatz zurück, den
er oben schöpfungstheologisch skizziert hatte. Die Einheit und die Verschiedenheit der
Naturen dürfen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sie müssen vielmehr so gedacht
werden können, dass sie miteinander wachsen.
Der Grund der Konstitution des Verschiedenen und der Grund der Konstitution der Einheit mit
dem Verschiedenen müssen als solche streng derselbe sein. (S. 202)
Das bedeutet dann: Dadurch, dass Jesus Mensch ist, ist er geeint mit dem Logos. Gott wird
Mensch, das kann nicht heißen, dass er die Menschlichkeit des Menschen auslöscht,
sondern dass er sich zeigt in der Menschheit des Menschen Jesus.
Wird so die Setzung der Menschheit Christi in ihrer freien Unterschiedenheit von Gott selbst
zum Akt der Einigung mit dem Logos, so wird auch verständlich, warum diese Menschheit, sie
selbst in ihrer konkreten Existenz als solcher, eo ipso die mysterienhafte Erscheinung, die
quasi-sakramentale Anwesenheit Gottes bei uns ist. (S. 204)
(Achtung, jetzt wird es ganz dicht und ganz wichtig! R. steuert jetzt auf die Spitzenaussage
zu, dass Christologie in Wahrheit nichts als Anthropologie ist, oder anders: dass Christus
dadurch Gottes Sohn war, dass er in höchstem Maße und unüberbietbar Mensch war.)
Zunächst ist ja zu fragen, was hier unter Menschsein zu verstehen ist:
Mensch-sein ist vielmehr gerade jene Wirklichkeit, die, von absoluter Offenheit nach oben,
dann zu ihrem höchsten, wenn auch „ungeschuldeten“ Vollzug, zur Wirklichkeit der höchsten
Möglichkeit des Menschseins kommt, wenn in ihr der Logos selbst in die Welt hinein existent
wird. (S. 204)
Dies ist nun die Rahnersche Transzendentaltheologie in Kurzfassung: Der Mensch ist ein
Wesen, das offen für Gott ist und seine eigene Vollendung darin findet, dass Gott sich ihm
offenbart. R. ruft die alte theologische Figur der potentia oboedientialis, der Fähigkeit zu
gehorchen oder zu hören, auf, um diesen Gedanken zu unterstreichen. – [Später wird er vom
übernatürlichen Existenzial des Menschen sprechen: es gehört zur natürlichen Existenz des
Menschen, auf die Übernatur – Gott – bezogen zu sein, und zwar eben als die Erfüllung der
der Natur eigenen Potenz.] – Dann ist also unter den zwei Naturen zu verstehen: Jesus als
Mensch verwirklicht in höchstem Maße jene grundmenschliche Bezogenheit auf Gott hin, so
sehr, dass er zur Offenbarung Gottes wird. – Ist dann aber seine 'Göttlichkeit' nur seine
eigene Leistung? Nein, denn die Erfüllung der Sehnsucht nach Gott kann kein Mensch
erzwingen. Gott selbst muss kommen, um sich dem Menschen zu schenken. Aber wenn er
kommt, erkennt ihn der Mensch als die Erfüllung seiner natürlichen Sehnsucht.
Dass eine („obödientiale“) Potenz nur durch einen freien Akt von oben her erfüllt wird, ist kein
Argument dagegen, dass dieser Akt die reine Erfüllung eben dieser Potenz als ihrer selbst ist.
(S. 204)
Damit ist dieser Gedankengang abgeschlossen. R. hat zu einem völlig neuen Verständnis
der Zwei-Naturen-Lehre gefunden! Jesus ist darin ganz göttlich, dass er ganz menschlich ist.
Christologie ist Anthropologie – so aber, dass erst von Christus her klar, was der Mensch
eigentlich und letztlich ist.
Eine ganz kleine Aporetik dieser Formel zeigt nun, dass, wenn wir besser zu begreifen
suchten, was die Einheit (unvermischt und ungetrennt) sei, die die menschliche Natur zu der
des Logos selbst macht, wir auch besser verstehen würden, wer der Mensch ist; daß
Christologie Ende und Anfang der Anthropologie zugleich ist und daß in alle Ewigkeit solche
Anthropologie wirklich Theologie ist. (S. 205)
Es ist also nicht so, dass man aus der Kenntnis des Menschen heraus Christus erwarten und
konstruieren kann. Erst nachdem Christus gekommen ist (a-posteriori, im Nachhinein), kann
man wissen, was der Mensch eigentlich und immer (apriori) schon ist: das Wesen, das seine
eigene Erfüllung in der Gemeinschaft mit Gott findet.
41
...dass das apriorische Schema dem realen Gegenstand a posteriori sein Dasein verdanken
kann, also gar nicht dessen Meisterung bedeutet. (S. 207)
Wenn das auch wahr ist und nicht behauptet werden kann, dass die Idee eines Christus aus
dem Menschsein und der Geschichte abgeleitet werden kann, so ist doch das Menschsein
und die Geschichte nunmehr so zu verstehen, dass sie für Christus als ihre Vollendung offen
sind.
Er [der Mensch] schaut darum aus – und zwar in seiner Geschichte -, ob ihm nicht die höchste
Erfüllung (so frei sie bleibt) seines Wesens und seiner Erwartung begegne, in der sein (sonst
so leerer) Begriff vom Absoluten schlechthin erfüllt ist und seine (sonst so blinde) Anschauung
durchsichtig wird auf den absoluten Gott selbst. Der Mensch ist also der, der die freie
Epiphanie Gottes in seiner Geschichte zu erwarten hat. Jesus Christus ist sie. (S. 208)
Christus als die Erfüllung des wahren Menschseins, wahres Menschsein als Epiphanie
Gottes –das macht es nun möglich, den latenten Monophysitismus des christlichen
Glaubens, der stets die Göttlichkeit auf Kosten der Menschlichkeit betonte, zu überwinden.
Mit R. kann nun gesagt werden: Jeder wahrhaft menschliche Akt ist zugleich ein wahrhaft
religiöser Akt, denn er hat Teil an der Inkarnation, am Kommen Gottes in die Welt.
Aber man hat kaum etwas zu sagen darüber, dass unsere religiösen Grundakte, die doch
dauernd durch Christus vermittelt sind, eine „inkarnatorische“ Struktur haben. (S. 209)
Daraus ergibt sich nun eine neue Offenheit der Christen für die anderen Religionen und für
die Religionsgeschichte. Denn das darin eigentlich Gesuchte und Gemeinte ist doch nichts
anderes als der Christus bzw. die Anwesenheit Gottes in der Welt. Wer Christus kennt, kennt
die Religionen besser, als sie sich selbst kennen. Er weiß, was das letzte Ziel aller
Religionen ist.
Es käme im letzten darauf an, von unserem Wissen um die faktische Inkarnation her und nur
von diesem Standpunkt aus, der allein eine erhellende Interpretation der sich sonst selbst
nicht verstehenden Religionsgeschichte ist, diese Geschichte daraufhin zu mustern, ob und
inwieweit sich der Mensch tatsächlich als der in seiner Geschichte zeigt, der er unweigerlich
im Grunde seines konkreten Wesens ist: der Mensch, der nach der Anwesenheit Gottes selbst
in seiner Geschichte ausschaut. (S. 210)
Das folgende Zitat unterstreicht noch einmal das Ergebnis, hier mit Blick auf das
Menschliche im Leben Jesu, für das die bisherige Christologie gar kein rechtes
Verständnis aufbringen konnte:
...dass das gewöhnliche Menschliche dieses Lebens die Ek-sistenz Gottes im obigen
vorsichtig eben erreichten Sinn, menschliche Wirklichkeit und so Gottes ist und umgekehrt. (S.
212)
Aber an dieser Stelle ist noch einmal unbedingt darauf zu achten, dass in Christus erst a
posteriori deutlich wird, was tatsächlich apriori die Wahrheit der menschlichen Existenz ist.
Erst in Christus verstehen wir, was wir wirklich sind.
...was bedeutet unser Leben, das wir von uns her im Grunde doch nicht verstehen, so gut wir
es kennen mögen, wenn es zuerst und zuletzt das Leben Gottes ist? (S. 212)
R. verdeutlicht die Koinzidenz von zutiefst menschlichen und christlichen Akten im Blick auf
den Tod Jesu. Die alte Theologie hat ihn so gedeutet, dass hier der Gottmensch für uns und
an unserer Stelle vor Gott Sühne leistet. Für R. hingegen ist der Tod Christi letzter Ausdruck
seiner absoluten Hingabe [hier Gehorsam genannt] an Gott und gerade damit zutiefst
menschlich, denn unser aller Tod kann in diesem christlichen Sinne als Übereignung an das
unbegreifliche und furchtbare Geheimnis unseres Lebens [in diesem Sinne, weil er das
Fallenlassen in das dunkle Geheimnis des Gottesferne bedeutet, ist er auch Strafe], das Gott
ist, bestanden werden.
Es müsste der Tod herausgearbeitet werden als die konnaturale Erscheinung der sündigen
Gottesferne (und nicht nur als äußerlich verhängte `Strafe´, die Gott ebenso gut durch eine
andere hätte ersetzen können) und in einem damit als Erscheinung und konstitutives Zeichen
des absoluten Gehorsams gegen Gott (wenigstens dort, wo er von Christus oder mit ihm
gestorben wird). (S. 216)
R. weitet die Perspektive auf das Weltverständnis im Ganzen. Wenn Christus als Höhepunkt
und Vollendung der Welt zu verstehen ist, dann haben die Christen der Welt etwas ganz
Wichtiges zu sagen. R.s Lehre ist also auch für die Verkündigung (kerygmatisch) wichtig
Die Welt muss so entworfen werden, daß der eine Christus, und zwar als Mensch, von ihr her
sinnvoll erscheint. Diese Frage ist heute kerygmatisch wichtig. (S. 219)
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Das Christusereignis kann in den Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken der Neuzeit
eingeordnet werden. Christus ist der bereits vollzogene Höhepunkt der Geschichte; der
Fortschritt der Geschichte besteht darin, dass dies mehr und mehr offenbar wird.
...die Menschwerdung Gottes, in die kosmisch, moralisch, religiös, gnadenhaft und
eschatologisch die übrige Menschheit bei all ihrer denkbaren `Entwicklung´ nur asymptotisch
hineinwachsen kann, die sie aber nie überbieten kann, weil die Höhe aller `Entwicklung´, der
Durchbruch Gottes in die Welt und die radikale Öffnung der Welt in die freie Unendlichkeit
Gottes in Christus, für die ganze Welt schon geschehen ist, so sehr noch innerweltlich im
Spiegel und Gleichnis aller noch ausständigen Geschichte und eschatologisch sich offenbaren
muss, was da schon endgültig geschehen ist. (S. 220)
Die Einheit von Christologie und Anthropologie lässt sich abschließend für das Verständnis
der Gnade auswerten. Von Christus ("von daher") lässt sich sagen, dass alle die die Gnade
haben, die wahrhaft Mensch sind (also auf die Einheit des Menschlichen mit dem Logos
bezogen sind).
... warum sagt man nur in der Christologie, dass Christus in seiner menschlichen Seele die
heiligmachende Gnade hatte? Warum sagt man nicht umgekehrt, dass Gnade das ist, als was
sich im Bereich der menschlichen Natur die Einheit des Menschlichen mit dem Logos
auswirkte und was dann auch, und zwar von daher, gehabt werden kann in denen, die nicht
die Ek-sistenz des Logos in Zeit und Geschichte sind, wohl aber zu dessen notwendiger
Umwelt gehören? (S. 221)
Rahners geniale Interpretation des Dogmas von Chalcedon scheint nicht nur die Probleme
dieser Formel allesamt gelöst zu haben, sondern sie kann auch noch die Heilsbedeutung
Jesu ganz neu für unsere Zeit erschließen. Rahner sagt: Jesus war darin göttlich, dass er die
im Wesen des Menschen liegende Bezogenheit auf Gott in radikaler und unüberbietbarer
Weise gelebt hat. Damit sind Eigenständigkeit und Gemeinschaft der 'Naturen'
gleichermaßen gegeben (wie es Chalcedon mit dem unvermischt und ungetrennt sagen
wollte), so aber, dass das Personale, das Handeln (die absolute Selbsthingabe) der
menschlichen Person Jesus Christus das zentrale Moment ist (und nicht wie in der Rede von
der hypostatischen Union in Chalcedon eine letztlich unverständlich bleibende Behauptung).
Die soteriologische Bedeutung dieses christologischen Ansatzes liegt aber darin, nun von
Christus her den Menschen unserer Zeit sagen zu können: Werdet menschlich, lebt euer
Wesen, eure Natur, und ihr werdet die Vollendung finden, die ihr sucht. Und diese Aussage
ist dann noch einmal von einem bloßen Humanismus dadurch geschieden, dass die
Erfüllung der menschlichen potentia oboedientialis, der Bezogenheit auf Gott hin, nun eben
nicht erzwingbar ist, sondern freies, unerzwingbares, gnädiges Tun Gottes bleibt.
Doch es bleiben Fragen. Die erste, naheliegendste ist vielleicht: Ist es nicht ein Widerspruch,
von dem historischen Menschen Jesus zu sagen, er sei der unüberbietbare Höhepunkt der
Geschichte gewesen? Wie kann es in der Geschichte etwas Unüberbietbares geben? Wird
man nicht nach Menschen Ausschau halten, die die Selbsthingabe an Gott radikaler gelebt
haben als Jesus (das Problem hatte schon Justin mit Sokrates). Die Paradoxie der
chalcedonischen Formal kehrt bei Rahner an dieser Stelle wieder, wo er eine Endgültigkeit in
der Geschichte behauptet.
Das Zweite, gravierendere ist aber:
Was hat das Christliche nun noch dem Menschlichen voraus? Nichts mehr außer dem, dass
in Christus in sonst verborgene oder undeutliche Wahrheit des Menschen zu ihrer letzten
Klarheit kommt. Dass die Leerstelle in der menschlichen und religiösen Existenz nun einen
Namen bekommen hat. Die (Heils-)Bedeutung Jesu Christi scheint allein darin zu liegen,
dass in ihm etwas offenbar wird, was ohnehin der Fall ist. Es wird nun möglich, alle
menschlichen Akte der Selbsthingabe an das unbegreifliche Geheimnis des Lebens (das
Woraufhin der Existenz ... die Zukunft ... den Tod ... die Liebe usw.) als christliche zu
verstehen. Der anonyme Christ ist geboren: der Mensch, der wahrhaft menschlich lebt und
dabei schon wahrhaft christlich ist, ohne darum zu wissen.
Die Unterscheidung, die die Formel von Chalcedon in all ihrer Sperrigkeit und
Widersprüchlichkeit (genauer: Paradoxalität) bewahren wollte, ist dahin – die zwischen
göttlicher und menschlicher Natur. Mit Rahner kann es nun heißen: Die wahrhaft
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menschliche Natur ist die Epiphanie Gottes, sie ist die göttliche Natur. Es kann nicht mehr
zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit unterschieden werden. Und so kommt es, dass
Rahner in allen Religionen, in allem Humanen, dieselbe Grundbewegung am Werk sehen
kann wie in Christus. Warum nicht einfach ein guter Mensch, ein guter Buddhist, ein guter
Moslem usw. sein, wenn doch die Theologie weiß, dass das in allen wahrhaft menschlichen
und religiösen Suchbewegungen Gesuchte nichts anderes ist als das Geheimnis unseres
Lebens, Gott genannt? So fällt denn auch die Unterscheidung Gott/Götter für Rahner dahin...
VI. ... ein Licht zur Erleuchtung der Heiden, und eine Herrlichkeit für
dein Volk Israel. Rückblick und Ausblick
Ich nehme die Worte des greisen Simeon Lk 2,29-32 zum Ausgangspunkt für einen
Rückblick und einen Ausblick. Sie stehen im Kontext der Darbringung (Auslösung) des
Knaben Jesus im Tempel, von der Lukas gleich mehrfach hervorhebt, dass Jesu Eltern sie
gemäß dem Gesetz des Herrn vornehmen (Lk 2,23f. 39). Die Geschichte Jesu wird hier ganz
in den jüdischen Ritus eingezeichnet. Zugleich wird er durch die Erwartung Simeons auf "die
Rettung Israels" mit den prophetischen Traditionen verbunden. Der Heilige Geist, der auf
Simeon ruht, ist es offenbar, der kultische Tora-Tradition und Prophetie zusammenhält, denn
er ist es, der den auf den Messias wartenden Simeon in den Tempel führt.
Hier hätten wir vielleicht noch einmal eine innerbiblische, ganz jüdisch-alttestamentlich gedachte
Trinität: Der Vater gibt das Gesetz, der Sohn wird als Messias erwartet, der Geist verbindet beides
miteinander (auf dass sich Gesetz und Propheten nicht voneinander abkoppeln, wie es ja de facto in
unserer europäischen Neuzeit geschehen ist, die die prophetische Erwartung des Kommenden in
ihrem Fortschrittsglauben übernommen hat, vom Gesetz aber nichts wissen wollten und deshalb ohne
den Heiligen Geist, also geistlos, blieb.)
Diese dezidiert jüdische Darstellung Jesu in Lk 2,22-52 (denn sachlich muss man die Worte
der greisen Hanna und die Paschawallfahrt zum Tempel noch mit dazunehmen) öffnet sich
nun in Simeons Worten auf die Völker hin. Damit geschieht hier genau das, was ich in dieser
Vorlesung nachzuzeichnen versucht habe: Jesus, der in der Welt der Schriften lebt, tritt in
die Welt der Völker! Während aber der Weg zu den Völkern, dem wir nachgegangen sind,
mit dem Begriff der zwei Naturen verbunden, ist hier bei Simeon von Licht für die Heiden und
Herrlichkeit für Israel die Rede. Wir wollen einmal sehen, wohin es uns führt, wenn das
Kommen Jesu in die Welt der Völker unter diesen biblischen Begriffen denken.
Zunächst aber ein Rückblick, der hauptsächlich zeigen soll, dass wir über den Stand der
bisherigen Christologie hinauskommen müssen.
1) Rückblick: aus der Welt der Schriften in die Welt der Völker
Wir haben gehört (in III.): Jesus ist in der Welt der Schriften zuhause. Was er ist, was er
bedeutet, was er uns bedeutet, ergibt sich im Zusammenhang der biblischen Traditionen, in
die ihn die neutestamentlichen Schriften hineinstellen. Die Kirche hat die Bindung Jesu an
die Welt der Schriften kanonisch, also zur Regel und Richtschnur gemacht, indem sie den
Kanon definierte.
Aus dem, was über Jesus in der Welt der Schriften gesagt wurde, möchte ich nur noch
einmal in Erinnerung rufen:
• Die Tora/die Schriften sind der Maßstab der Realität: was wirklich ist, ist gemäß den
Schriften
• Der Zusammenhang von Tod und Auferstehung ist nur aus den Schriften zu erschließen.
Nur die Schriften geben die Sprache und die Kategorien der Wirklichkeit, um zu
verstehen, dass der, der am Kreuz geendet hat, als dieser Gekreuzigte lebt und der
Anführer eines neuen Lebens ist.
• Jesus wird von den Schriften ausgelegt und lebendig gemacht, und er legt die Schriften
neu aus und macht sie lebendig. Dies ist ein wechselseitiger Prozess des Auslegung und
Kommentierens (Jesus ist ein lebendiger Schriftkommentar!)
44
•
•
•
•
Die Schriften sind die Brücke vom vorösterlichen zum nachösterlichen Jesus. Nur mit
ihnen ist zu verstehen, dass der verkündigte Jesus mehr und anderes ist als der
verkündigende.
Der Vorgang der wechselseitigen Auslegung zwischen Jesus und den Schriften ist ein
trinitarischer Vorgang.
Jesus ist messianisch, weil er die in den Schriften steckenden messianischen
Hoffnungen wieder erweckt.
Der Vorgang der Wiedererweckung der Hoffnungen der Früheren, der Verlebendigung
der uneingelösten Verheißungen der Vergangenheit gründet in der Struktur der
Wiederholung, die der sich das Leben der Schriften bewegt. Die Bewegung der Schriften
kommt immer da zu ihrem Ziel, wo sie ihre Leser und Leserinnen bewegt: dort, wo wir
selbst uns als Adressaten der Hoffnungen der Früheren verstehen – wo wir, mit Benjamin
gesprochen, unsere messianische Kraft entdecken. Dazu verhilft uns Jesus. Denn ohne
ihn könnten wir uns nicht als die in den Verheißungen der hebräischen Bibel
Angesprochenen verstehen.
Als wir uns Jesus in der Welt der Völker zugewandt haben, sind wir vor allem der LogosSpur gefolgt. Die in der Antike verbreitete Rede vom Logos schien ein ideales Medium zu
sein, um die biblische Botschaft von Jesus zu transportieren. Aber schon bald zeigte sich,
dass die Transposition Jesu in die Logosspekulation, so sehr sie auch zu Umstellungen im
antiken Denken zwang, zu einem völlig neuen Jesusbild führte. Seine lebensschaffende
Funktion, die er von der Auferstehung her hat, musste nun als die Einheit einer göttlichen
und menschlichen Natur ausgelegt werden. Jesus ist nun der Erlöser oder Mittler, indem er
zwischen der vollkommenen und der unvollkommenen, der unsterblichen und der sterblichen
Natur usw. vermittelt. Und darin liegt auch: Er hat schon, kraft seiner Menschwerdung, diese
Vermittlung vollzogen (Man könnten sagen: das horizontal-geschichtliche Modell der Bibel
wird durch ein vertikal-ontologisches ersetzt). Dass unter diesen Umständen das
Messianische an ihm zurücktrat zugunsten seiner Mittlerfunktion (die er bereits erfüllt hat!) ,
versteht sich.
Das Denken in den Begriffen der antiken Philosophie und namentlich der Logoslehre führte
mit Notwendigkeit zur dogmatischen Formel von Chalcedon. Wir haben gesehen: eine
bessere Formel ist nicht denkbar, wenn man die Einseitigkeiten sowohl der alexandrinischen
wie der antiochenischen Christologie vermeiden wollte. Chalcedon verhindert, Jesus in das
Bild irgendeiner Philosophie zu bannen. Das Konzil lässt die Frage nach Jesus letztlich offen
und ist damit, wie Rahner zu Recht sagte, weniger Ende als Anfang der Christologie. Die
Formel von Chalcedon hat jedoch Jesus als einen unmöglichen Menschen, als eine
unmögliche Figur hingestellt: Er soll die personale Einheit zweier sich gegenseitig
ausschließender Naturen sein. Diesen Jesus kann man sich nicht vorstellen und nicht
denken. De facto wurde deswegen die Formel-Christologie von Chalcedon immer nach einer
ihrer beiden Seiten aufgelöst: Jesus entweder
• ein Gott in menschlichem Fleisch, also ein göttliches Wesen ohne wirkliche
Menschlichkeit (so der Hauptstrom des christlichen Denkens), oder
• als ein Mensch mit besonderem Gottesbewusstsein (so die aufgeklärten Kritiker der
kirchlichen Christuslehre zu allen Zeiten bin hin zu Meinrad Limbeck)
Die beiden Schulen (Alexandrien, Antiochien) kehren hier also wieder.
Rahner hat versucht, dieser schiefen Alternative zu entkommen. Ich meine aber, dass er trotz allem
nur bei einem Menschen mit Gottesbewusstsein angekommen ist. Nur definiert der Menschlichkeit
und Göttlichkeit und ihren Bezug aufeinander so um, dass dieses Gottesbewusstsein schon als der
Höchstfall der gott-menschlichen Einheit erscheint. Der Preis für diese Operation ist der Wegfall der
chalcedonensischen Unterscheidung.
Die folgende Skizze fasst den Rückblick in ein Bild:
45
46
2) Ausblick:
Aus der Tatsache, dass Jesus in der dogmatischen Formel von Chalcedon als ein
unmögliches Wesen erscheint, ist zu schließen, dass Jesus nur in der Welt der Schriften
möglich ist, also nur dort der ist, der er ist.
Ich verallgemeinere also den Befund von Chalcedon auf andere Deutungen Jesu gemäß dem
Wirklichkeitsverständnis der verschiedenen Völker und Kulturen. Das Seminar über "Jesus im Film"
vom 31.01.04 unter der Leitung von Dr. Thomas Kroll hat gezeigt, dass keine Übertragung Jesu in
einer andere kulturelle Welt wirklich befriedigt: Entweder fehlt eine unverzichtbare Dimension, oder er
wird wieder zu einer mirakulösen, unmöglichen Figur. – Aber hier müsste man im einzelnen noch
genauer hinschauen.
Und hier liegt nun auch die dogmatische Wahrheit und damit zugleich Verbindlichkeit der
Konzilslehre von Chalcedon. Sie sagt uns, dass Jesus in den Begriffen der Völker (hier: der
antiken Philosophie) nicht gedacht werden kann, sondern vielmehr undenkbar ist und
deshalb so auch nicht gedacht werden darf. Indem das Konzil das unvermischt und
unveränderlich, ungeschieden und unteilbar definierte, hat es die Undenkbarkeit Jesu in den
Begriffen der Völker festgeschrieben und einem häretischen Abgleiten in eine Auflösung der
Formel zu einer der beiden Seiten hin wehren wollen. Das Konzil definierte letztlich ein
Paradox, eine Widersprüchlichkeit, und verbot zugleich, so damit umzugehen, dass einfach
an einer Seite des Widerspruchs weitergearbeitet wird.
In dieser Beziehung ist Chalcedon also das Ende der altkirchlichen Christologie. Anfang ist
es darin, dass es auf Jesus in der Welt der Schriften zurückverweist. Das Fragezeichen, mit
dem das Konzil endet, ist gleichzeitig ein Hinweisschild in die Welt der Bibel: Wie denn Jesus
denkbar sei? Wer er denn ist, wie es zu erklären ist, dass er vom kommenden Gottesreich
gesprochen hat und dann das Kreuz gekommen ist, was es zu bedeuten hat, dass einige
behaupteten, er sei auferstanden usw. Das heißt: Das Ende von Chalcedon ist immer wieder
der Anfang der Entdeckung Jesu in der Welt der Schriften. Mit Chalcedon, mit der
verbindlichen dogmatischen Formel der Kirche, steht jede Generation von Christen und jede
Christin und jeder Christ immer wieder neu vor der Aufforderung, in den Schriften nach
Jesus zu forschen.
Welche Hilfe gibt die Kirche bei dieser Suche nach Jesus, die unvertretbar der/die einzelne
Christ und Christin zu unternehmen hat. Sie gibt ihnen dreierlei:
1.
Den Kanon. Damit ist klar, wo Jesus zu suchen ist (z. B. nicht in den
Weisheitsschriften der Völker, in der Atomphysik [Willigis Jäger] usw.)
2
Das Dogma. Dieses zeigt sich jedenfalls in der Christologie in erster Linie als
Grenzziehung. Es sagt, über welche Grenze man nicht hinaus denken darf, wenn man mit
dem Glauben der Kirche einig bleiben will, es sagt aber nicht, was man innerhalb dieser
Grenzen denken soll. Im Falle des Dogmas von Chalcedon liegt, so interpretiere ich es, eine
Grenzziehung nicht nur im Hinblick auf das ungetrennt und unvermischt der Naturen vor,
sondern viel grundsätzlicher noch im Hinblick auf die Denkmöglichkeit Jesu im
nichtbiblischen Wirklichkeitsverständnis überhaupt.
3.
Den Gottesdienst. Er führt mit seinen Lesungen und den vielfältig in die liturgischen
Texte eingefügten biblischen Verweisen in die Welt der Schriften ein und ermöglicht somit
jedem und jeder, Christus in der Welt der Schriften zu finden. Bekanntlich stellt der
Gottesdienst die biblischen Texte nicht nur einfach vor, sondern arrangiert auch eine
Situation, in der sie in rechter Weise verstanden werden können. Hier im Gottesdienst kann
erfahren werden, dass Gott nicht nur damals gesprochen und gehandelt hat, sondern zu
jeder Zeit und auch heute noch spricht und handelt, und zwar in den gleichen Worten wie
damals; diese können aber im Gottesdienst als lebendige Worte verstanden werden.
Damit bin ich abschließend beim Lesungstext des letzten Sonntags (1.2.04: Fest Maria
Lichtmeß, oder: Fest der Darbringung des Herrn), von dem eben schon die Rede war. Hier
ist wie gesagt ebenfalls von der Beziehung Israel-Jesus-Völker die Rede, also von dem
gleichen Komplex, mit dem wir uns die ganze Zeit beschäftigen.
Im Lk 2,29-32 wird Jesus wird to soterion genannt, das heißt: er ist etwas Heilbringendes
bzw. das Heil. Das ist er zunächst für Israel. Simeon wartete ja auf den Trost (den
47
Parakleten) Israels (2,25) und hatte diesen in Jesus erblickt. Israel hat also in Jesus seinen
Trost und seine Rettung. Das Warten auf den Retter hat ein Ende. Sodann heißt es: Gott hat
Jesus vor dem Angesicht aller Völker als Heiland bereitet. Die Völker können nun erfahren:
Gott hat sich in Jesus seinem Volk zugewandt, hat ihm Trost und Rettung gesandt. Für die
Völker ist das ein Licht zur Erleuchtung. Sie wissen jetzt, dass der Gott Israels ein Gott ist,
der zu seinem Wort steht und der ein Gott des Heils und nicht des Unheils ist. Jesus kommt,
um den Völkern ein Licht über Gott aufzustecken. Er vermittelt wahre Gotteserkenntnis. Das
aber bedeutet eine Verherrlichung, einen Glanz, eine Bereicherung (doxa) für Israel selbst.
Israels Gott wird ins rechte Licht gerückt, damit auch Israel selbst, das erwählte Volk Gottes,
das ihn in der Welt bezeugt.
Man kann aber auch anders lesen: Gott wendet sich in Jesus den Völkern zu, er offenbart
sich als der Gott aller Völker, als der einzige Gott, und dadurch fällt Glanz auf Israel, Gottes
erstes- und Eigentumsvolk.
Man kann den Text also in zwei Richtungen lesen: 1. Gott hat Israel einen Retter bereitet, die
Völker erfahren davon und werden dadurch erleuchtet (sie werden über die Natur dieses
Gottes belehrt: dass er einer ist, der seinem Volk Heil bereitet), 2. Gott erleuchtet durch
Jesus die Völker, verschafft ihnen Zugang zu sich, und das bedeutet dann eine Rettung, und
Glanz und Herrlichkeit für Israel.
Ich breche hier schon ab, denn die Entscheidung über die Frage, in welcher Richtung der
Text zu lesen ist, würde eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte Israels und seinem
Verhältnis zu den Völkern voraussetzen. Schon mit diesem kleinen Text käme man, wollte
man ihn christologisch weiter denken, in den Zirkel des wechselseitigen Verstehens
zwischen Jesus und den Schriften herein, in dem sich das Verstehen Jesu und der Schriften
immer neu und immer wieder anders erschließt. Indem die Kirche in ihrem Gottesdienst
solche Texte zu Gehör bringt, lädt sie immer wieder dazu ein, in diesen Zirkel einzutreten
und sich seiner Dynamik zu überlassen.
Soviel ist aber hier schon klar: Das Licht, das den Völkern durch Jesus leuchtet, es lässt
zugleich Israel erglänzen. Jesus kann nicht christologisch bedacht werden, ohne gleichzeitig
die Herrlichkeit Israels zu bedenken, die er ist. In jedem Fall sagt der lukanische Text etwas
aus über die unlösliche Verknüpfung zwischen der Bedeutung, die Jesus in Bezug auf Israel
hat, und die er in Bezug auf die Völker hat. In irgendeiner Weise haben die Völker Anteil an
der Rettung, die Jesus für Israel ist. Sie werden in die Geschichte Israels mit hinein
genommen, in der Jesus der Retter ist.
Dass die klassische Christologie dies viel zu wenig bedacht hat, dass sie die lebendige
Geschichte Israels, in der Jesus steht und innerhalb derer er etwas für die Völker bedeutet,
weitgehend ausgeblendet hat und sich auf abstrakte Begriffe beschränkt hat, das ist ihr
großes Manko. Indem aber diese Christologie, wie gezeigt, paradox ausgeht und Jesus nicht
mehr möglich sein lässt, weist sie auf die Geschichte zurück, in der er allein möglich und
wirklich ist.
Was ich nun aus Zeitgründen in dieser Vorlesung nicht mehr ausführen kann, obwohl ich es
vorhatte, ist das Folgende: Diese Geschichte Israels, in der Jesus steht und die er für die
Völker eröffnet, ist die Geschichte vom Sieg Gottes über die Götter. Die Götter sind aber
nichts anderes als die Mächte und Gewalten, die Sünde und Tod mit sich bringen (s. oben
I,2). Von diesen müssen wir heute erlöst werden, und Jesus kann das, weil er uns, die
Menschen aus den Völkern, in die Geschichte und in das Wirklichkeitsverständnis mit hinein
nimmt, in der an den Sieg Gottes über die Götter geglaubt werden kann und in der auch die
Mittel bereit liegen, um diesen Sieg immer neu zu vollziehen. Das ist seine Erlöserschaft: Er
führt uns in eine Welt, in der die Götter, die Mächte und Gewalten nicht herrschen, sondern
Gott. Und damit nicht der Tod, sondern das Leben. Es ist mit allen Kräften zu hoffen, dass
das Licht, das er für die Völker ist, uns recht bald hell leuchtet, ehe noch die Mächte der
Finsternis ihr Werk vollendet haben.
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