In: Widerspruch Nr. 39 Kritik der Globalisierung - außereuropäische Perspektiven (2003), S. 78-81 Autor: Kersten Schüßler Rezension Thomas Hasel Machtkonflikt in Algerien Nahost-Studien Bd. 3, Berlin 2002 (Schiler-Verlag), 370 S., 29,90. Wir denken weltweit. Und manchmal auch total global. Joe Stiglitz analysiert das globale Versagen des IWF, Naomi Klein brandmarkt die globale Ausbeutung des Marken-Kapitalismus und Samuel P. Huntington entdeckt hinter dem unerfreulichen globalen Kampf der Kulturen die erfreuliche globale Adaption von Technik und Moderne. Die Moderne kann sich demnach – ob gut oder böse - auch ohne westliche Kultur durchsetzen. Bücher mit solch globalen Thesen machen weltweit ziemlich hohe Auflage. Doch westlicher Humanismus und Modernisierung lassen sich, anders als Huntington und Klein glauben, nicht so einfach trennen. Die Technik als solche ist getragen vom humanistischen Ethos, der Befreiung des Menschen von Hunger, Kohlegruben und Frühkapitalismus. Auch eine Frau im islamischen Kulturkreis etwa wird durch Kühlschrank und Waschmaschine entlastet. Sie wird sich irgendwann fragen, was sie mit der gewonnenen Zeit anfangen könnte – ihre traditionelle Rollenzuschreibung bröckelt. Jede sich modernisierende Kultur öffnet sich so zu individueller Selbstbestimmung, dem Ethos des Westens. Damit erscheint der bekanntere Teil von Huntingtons These, das Gegeneinander der Kulturen nach dem Zusammenbruch der großen Ideologien, gleichfalls problematisch. Das zeigt auch Thomas Hasel in seiner Arbeit über den ‚Machtkonflikt in Algerien’. In dem Maghreb-Staat, nur wenige Flugstunden von uns entfernt und eingerahmt von touristischen Erholungsgebieten, herrscht vier Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit seit nunmehr zehn Jahren Terror. Der drittgrößte Erdgas- und Erdöllieferant der EU ist zerrüttet von einem Machtkampf zwischen Armee und radikalen Islamisten, der bis heute weit über 100.000 Opfer gefordert hat. Vordergründig ist Ha- sels Buch eine sehr politologische Analyse des Machtkonflikts. Im Hintergrund entfaltet sich jedoch ein Drama gesellschaftlicher Modernisierung. Hasel zeigt in chronologischem Vorgehen, dass der blutige Konflikt in Algerien weniger religiös-ideologische als vielmehr politische und soziale Ursachen hat. Aus dem Ablösungskrieg gegen Frankreich 1954-62 geht eine autoritäre Staatspartei, die Front de Libération Nationale (FLN) hervor. Der während des Krieges als Motivations- und Kampfmittel genutzte Islam wird von ihr als Religion ebenso gefördert wie die arabische Sprache – eine Abnabelung von der frankophonen Elite, aber auch von Frankreich und Europa ist die Folge. Der junge Staat leidet jedoch schnell unter quasi-sozialistischer Ineffizienz und Korruption. Die FLN setzt statt auf Demokratie auf die von ihr erlangte Unabhängigkeit als Legitimationsquelle ihrer Macht. Wirtschaft und Staat werden korporatistisch organisiert, die Umverteilung der Rohstoffgewinne – nahezu einzige Einnahmequelle des Landes – und ein starker Geheimdienst halten das Volk in Schach. Mit der Nationalisierung der Erdgas- und Erdölindustrie und dem Ölpreisboom 1973 werden riesige Geldmengen in die Staatskassen gespült. Sie dienen zunächst auch zum Aufbau einer Schwerindustrie. Doch dabei fehlt es an Nachhaltigkeit. Der Verfall der Rohstoffpreise in den 80er Jahren führt Algerien in eine tiefe Wirtschaftskrise. Arbeitslosigkeit, Konsumgütermangel, fehlende Grundnahrungsmittel, Wohnungsnot, Verslumung und Krankheit sowie stark eingeschränkte Reisemöglichkeiten signalisieren das Scheitern des algerischen Weges in die Moderne. Zudem werden die berberische und französische Minderheit unterdrückt. Von der Rohstoffwirtschaft profitieren letztlich allein die Generäle und die um sie gescharte Machtelite. Faktisch ist Algerien eine Diktatur. Vor allem für die von allen Aufstiegsmöglichkeiten ausgeschlossenen Unterschichten wird schließlich eine Mischung aus islamischen Mythen und sozialistischem Gerechtigkeitsanspruch zur Quelle von Ressentiment und oppositioneller Integration. Die islamische Heilsfront ‚Front Islamique du Salut’ (FIS) formt sich zur überraschend erfolgreichen Protestfront gegen staatliche Bevormundung, Korruption und Gängelung. Das Regime erkennt hinter der Forderung nach der Islamisierung das berechtigte Anliegen einer sozialen Integrationspolitik und wendet sich radikal dagegen. Die Wahlen 1992 führen zwar zum Sieg der Heilsfront, werden aber abgebrochen. Ob die gemäßigten Heilsfront-Politiker also einen Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit gefunden hätten, konnten sie nie unter Beweis stellen. War es bereits 1989 zu einzelnen Übergriffen von Islamisten gegen Frauen und „westliche“ Lebenskultur wie Bars und Diskotheken gekommen, so eskaliert nach dem Wahlabbruch die Gewalt: Staatsterror gegen die Islamisten und islamistischer Gegenterror läuten 1992/93 ein schwarzes Jahrzehnt ein; die Morde immer neuer islamistischer Splittergruppen gegen Zivilisten, Intellektuelle und Ausländer lassen sich mangels objektiver Strafverfolgungsbehörden nie aufklären. Während des Ramadan Anfang 1997 schlachten obskure Terrorgruppen mit Namen wie „die Gruppe derer, die gegen Gott revoltieren“ in bestialischer Weise Frauen und Kinder ab. Oft handelt es sich bei den Anführern um völlig ungebildete, enttäuschte Fanatiker, deren Hass sich nun gegen ihren eigenen Gott und die Grundsätze ihrer einstigen islamischen Religion richtet. Viele der etwa 300 autonomen, aber teils vom Geheimdienst unterwanderten islamistischen Gruppen bestehen aus Kindersoldaten. Die vom Regime inhaftierten oder unter Hausarrest gestellt Heilsfront-Führer rufen zwar zur Besonnenheit auf, verlieren aber ebenso wie der bewaffnete Arm der Heilsfront immer mehr an Einfluss. Entscheidend ist: Das Vertrauen der Bevölkerung in eine islamische politische Alternative erodiert. Die Beteiligung an den ohnehin manipulierten Wahlen wird immer geringer. Der algerische Islamismus in seinen vielgestaltigen Strömungen, ursprünglich eine Antwort auf die gescheiterte Modernisierung von oben, hat für die Mehrzahl keine Antwort auf die Krise. Doch der Westen sieht weiterhin eine kulturelle und politische Bedrohung durch den Islamismus und unterstützt den algerische Militärstaat. Der sichert nicht nur problemlose Rohstofflieferungen, sondern ist ein beachtlicher Waffenkunde. Für 564 Mio $ gehen im Jahr 2000 Militärgüter nach Algerien; im gleichen Jahr führt der Terror von Armee und Radikalislamisten zu 9.000 großteils zivilen Opfern. Dieser Zusammenhang von Waffenverkauf und Gewalteskalation wird vom Westen fortschreitend ausgeblendet. Nach dem 11. September wird das Regime sogar ausdrücklich für die „Terrorbekämpfung“ honoriert und George W. Bush verspricht ausdrücklich keine äußere Einmischung in die inneren Angelegenheiten Algeriens. 2001 darf Algerien ein Assoziierungsabkommen mit der EU paraphieren. Das algerische Beispiel zeigt bei genauerem Hinsehen: Weder ist der Islam dabei, eine globale Kulturfront zum Westen aufzubauen, noch kann von einem globalen Siegeszug der Technik gesprochen werden. Im Gegenteil: Ohne mehr Demokratie wird es in Algerien keine soziale Gerechtigkeit und keine Modernisierung geben. Im Gegenteil, das Land wird wirtschaftlich, kulturell und religiös in eine aussichtlose Regression und Zersetzung abdrif- ten. Damit jedoch passt es schlicht nicht in die Denkmuster jener eleganten Globalisierungsthesen, die einen Clash of Civilizations oder eine immer gleiche Ausbeutungslogik durch westliche Marken oder Institutionen wie dem IWF sehen. Nicht einmal die alte Interdependenz-Theorie scheint wirklich zu verfangen, denn Algerien ist weniger Satellit des Westens als Opfer seiner eigenen unfähigen und brutalen Machtelite. Thomas Hasel ist ein differenzierterer Blick gelungen – auch wenn man gern mehr über die vielgestaltige Kultur der Berber in der Kabylei oder die Heroen der kulturellen Opposition, über die Kräfte am Rande des Machtkonflikts also, erfahren hätte. Doch das hätte wohl noch mehr Differenzierung erfordert. Kersten Schüßler