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Unter den Dialogen Platons hat kein zweiter so große
Wirkungen entfaltet wie >Der Staat<. Platon, aufgewachsen
zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, der Athen in
schwere innenpolitische Krisen warf, hatte sich bereits in
seinen ersten Schriften mit Problemen des Staatswesens
befaßt. Um 370 V. Chr. schrieb er dann jenes große, alle
Aspekte seines Denkens umfassende Buch, dem er den
Namen <Politeia> gab. Ausgehend von der Frage, was
Gerechtigkeit sei und wie sie verwirklicht werden könne,
entwirft er darin ein Staatsgebäude, in dessen Mittelpunkt
ein Programm politisch-philosophischer Erziehung steht:
jene Hinführung zur Idee des Guten, die im »Höhlengleichnis« ihre berühmteste Darstellung gefunden hat.
>Der Staat< ist zugleich eine der streitbarsten Schriften
dieses Philosophen. Sie enthält heftige Angriffe auf Rhetorik
und Sophistik, außerdem die radikalste und folgenreichste
Kritik der Kunst, die es in Europa je gegeben hat.
Platon, griechischer Philosoph, wurde 427 v. Chr. in Athen
geboren und starb dort 347. Er stammte aus vornehmer
Familie und war der bedeutendste Schüler von Sokrates.
Platon verfaßte neben Dialogen über die Liebe und die
Unsterblichkeit der Seele vor allem Werke mit staatstheoretischer Thematik. Von Aristoteles bis zu Karl Popper gibt es
kaum einen politischen Denker, der sich durch die platonische Staatsidee nicht herausgefordert gefühlt hätte.
Platon
Der Staat
Deutsch von Rudolf Rufener
Mit einer Einleitung von
Thomas Alexander Szlezâk
und Erläuterungen von Olof Gigon
Deutscher Taschenbuch Verlag
Im Deutschen Taschenbuch Verlag ist zu Platon erschienen:
Platon für Anfänger
Der Staat (30707)
Philosophie jetzt! Platon (30680)
Vollständige Ausgabe
Oktober '99'
4. Auflage September 2.004
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
www.dtv.de
1991 Artemis Verlag, Zürich und München
O 1991 Deutscher Taschenbuch Verlag, München
(Einleitung)
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlagfoto: © AKG Berlin
Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen
Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany • ISBN 3-423-3013(1-8
EINLEITUNG
Der Dialog über den Staat, der die erste, für die ganze Gattung
maßgebliche Utopie einer besseren Gesellschaftsordnung enthält, prägte die westliche Philosophie nicht nur hinsichtlich der
politischen Theorie, sondern auch in der Metaphysik, Ethik
und Dichtungstheorie. Die Prägung war nachhaltig und hat
nichts von ihrer Kraft verloren: etwa gleichzeitig fanden es zwei
Wortführer der Philosophie unseres Jahrhunderts nötig, zur
Klärung ihrer eigenen Position und zur Abwehr von Grundentscheidungen, die sie ihrer Folgen wegen für verfehlt hielten, auf
dieses Werk direkt zurückzugreifen: Martin Heidegger inPlatons Lehre von der Wahrheit> (1 947) und Karl Popper in <Der
Zauber Platons> (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I,
1944, dt. 1 957)-
Der Dialog besteht aus zwei sehr ungleichen Teilen. In
Buch I diskutiert Sokrates mit drei sich ablösenden Partnern,
deren letzter und wichtigster Thrasymachos ist, in der Art der
frühen Dialoge über den Begriff der Gerechtigkeit. Thrasymachos' These, Gerechtigkeit sei nichts als der Vorteil des Stärkeren, wird zwar zurückgewiesen, das Wesen der Gerechtigkeit
jedoch nicht positiv bestimmt — das Gespräch endet aporetisch.
Es wird im zweiten Buch neu in Gang gebracht durch Glaukon und Adeimantos (die Brüder Platons), die von Sokrates erwarten, daß er der Gerechtigkeit gegen Angriffe, die sie nunmehr neu und besser formulieren, zu Hilfe komme (368 bc).
Diesem Wunsch kann Sokrates sich nicht entziehen.
Seine «Hilfe» steuert den Begriff der Gerechtigkeit nicht direkt an, sondern auf dem Umweg über den Staat. Es wird in
Gedanken eine einfache Urgesellschaft konstruiert, die jedoch
EINLEITUNG
bald zivilisatorische Verfeinerung zuläßt und so den heutigen
heillosen Staaten gleich zu werden droht. Die «Reinigung» dieser «entzündeten» Gesellschaft (ab 374 a ff., vgl. 399 e) führt
zum Entwurf eines künftigen besten Staates.
Die «Hilfe» des Sokrates umfaßt aber mehr als diese Utopie.
Die Struktur des Staates wird abgeleitet aus der Struktur der
Seele, deren «Teile» gegeneinander abgegrenzt und in ihrer
Funktion bestimmt werden; schließlich ist die Definition der
Gerechtigkeit erreicht. Sie ist die Übereinstimmung der Teile
darüber, welcher herrschen und welcher sich unterordnen soll:
die Vernunft muß führen, Begierden und Affekte sollen folgen
(443 de). Entsprechend bestünde die Gerechtigkeit des besten
Staates in der freiwilligen Unterordnung des untersten Standes
der Bauern und Handwerker und des mittleren Standes der militärischen Helfer unter den Stand der Philosophen.
Diese «Hilfe» für die Gerechtigkeit kann aber auch hierbei
nicht stehenbleiben. Denn die Vorstellung, Philosophen seien
zur Herrschaft befähigt, gerät unter Kritik. So muß Sokrates
erklären, was ein Philosoph ist. Hierfür wird der Unterschied
zwischen der Idee und ihren vergänglichen Erscheinungen eingeführt (474 b -48o a). Philosophen sind Menschen, die zur
Ideenerkenntnis befähigt sind; zür Herrschaft aber sind sie legitimiert, weil sie — als einzige im Staat — die Idee des Guten zu
erkennen vermögen, die Orientierung am Guten aber die Voraussetzung für eine gute Staatsführung ist. So wird denn auch
die Idee des Guten zwar nicht inhaltlich festgelegt — die Bestimmung ihres Wesens wird gerade ausgespart: 5o6 de —, wohl aber
in drei berühmten Gleichnissen, dem Sonnen-, Linien- und
Höhlengleichnis (S o7 a- S 17 c), erläutert.
Es folgt eine Skizze des Bildungswegs der Philosophen
(Buch VII), darauf ein Durchgang durch die wichtigsten Verfassungsformen vom «besten» Staat bis zum schlechtesten, der
Tyrannis (Buch VIII-IX), sowie die Begründung der Auswei-
EINLEITUNG
sung der Dichter aus dem besten Staat (Buch X bis 6o8 b).
Schließlich wird die Unsterblichkeit der Seele — die bisher nicht
thematisiert worden war — bewiesen (6o8 c-6 i i a). Jetzt erst ist
die «Hilfe» für die Gerechtigkeit ans Ziel gelangt. Die Gerechtigkeit verwirklichen heißt die naturgemäße Vorherrschaft der
Vernunft in der Seele fördern und damit zum eigenen Besten
handeln, nicht nur im Blick auf das diesseitige Leben, sondern
auch auf das Schicksal der Seele nach dem Tod, wovon der
Schlußmythos (614 a-621 d) handelt.
Der Unterschied zwischen dem kürzeren elenktisch-aporetischen Gespräch in Buch I und dem konstruktiven Gespräch in
Buch II-X ist in Stil, Argumentation und Atmosphäre so groß,
daß man auf den Gedanken kam, es handle sich eigentlich um
zwei getrennte Dialoge aus verschiedenen Perioden, die erst
nachträglich verbunden wurden. Die Nähe des ThrasymachosTeils zu den frühen Dialogen (wie <Laches> oder <Charmides>),
sowie — hinsichtlich Thema und Komposition — zum <Gorgias>
ist nicht zu bestreiten. Andererseits beweist die in beiden Teilen
durchgeführte einheitliche Handlung, daß die Verbindung
keine bloß äußerliche ist. Vielmehr scheint Platon, indem er
eine aporetische Diskussion unmittelbar in eine konstruktive
übergehen läßt, seine authentische Deutung der Aporetik der
Tugenddialoge anzubieten: das Hineinführen in die offene
Aporie war zu keiner Zeit Selbstzweck, sondern wesentlich
Vorbereitung für die positiven Antworten des Hauptwerks. Ob
«Sokrates» ein Gespräch aporetisch oder konstruktiv führt,
hängt von der Qualifikation seines Partners ab; ihm selbst stehen beide Argumentationsstile zur Verfügung.
Die durchgehende Handlung, die den Aufbau des ganzen
Dialogs bestimmt, beginnt bereits in der allerersten Szene: Sokrates wird auf der Straße von einer Gruppe von Freunden aufgehalten, die ihn auffordern, mit ihnen zum Gespräch zu kommen; als er zögert, drohen sie ihm scherzhaft an, man werde ihn
EINLEITUNG
zwingen. Gegen diese Vorstellung setzt Sokrates die Möglichkeit, daß er sie friedlich überreden könnte, ihn loszulassen
(327 a-328 b). Das geschieht vorerst zwar nicht; Sokrates geht
mit und läßt sich zum Gespräch bewegen. Im weiteren Verlauf
aber taucht das Motiv des «Zwanges» durch die Freunde immer
wieder auf. An allen wichtigen Einschnitten im Gespräch drängen sie ihn, seine Ansichten weiter und vollständiger darzulegen, und er gibt mehrfach nach, so beim Einstieg in die «Hilfe»
für die Gerechtigkeit im zweiten Buch und bei der Erläuterung
der Frauen- und Kindergemeinschaft und der Philosophenherrschaft im fünften Buch (449 b ff., 472 a ff.). Indes läßt Sokrates nicht über sich bestimmen: es gelingt ihm, die Freunde zu
überreden, sich mit einer sachlich nicht hinreichenden Darlegung der Seelenlehre zu begnügen (43 S d) und eine analoge
Einschränkung auch zu Beginn der Erörterung des Guten gutzuheißen (504 a-d, So6 d). Das Drängen der Freunde verstärkt
sich hier zwar — wir hören dieselbe Formulierung wie zu Beginn
im ersten Buch und später im fünften, nämlich daß man ihn
nicht «loslassen» wolle (5o4 e, vgl. 3 2 7 e, 449 b, 472 a) —, und
Sokrates selbst bemerkt, daß er zur Äußerung seiner Ansicht
über das Gute «gezwungen» worden sei (509 c) ; doch die wesentliche Einschränkung dieses «Zwanges» ist bereits wirksam,
nämlich die, daß er über das Wesen des Guten (das ti estin des
agathôn) nicht sprechen wird, da dies ein zu großes Thema für
den «gegenwärtigen Anlauf» sei (So6 e). Sokrates hat zwar eine
Ansicht vom Wesen des Guten, zieht es aber vor, nur in Gleichnissen davon zu sprechen. Er betont, daß er «sogar viel» wegläßt
und nur das bringt, was «gegenwärtig» zu sagen möglich ist
(5o9 c). Der Grund für diese Zurückhaltung ist im Lauf des Gesprächs sukzessive deutlich geworden und wird im siebten Buch
schließlich auch namhaft gemacht: als Glaukon von Sokrates
eine Skizze der «Dialektik» verlangt — das heißt jener philosophischen Bemühungen, zu denen im künftigen besten Staat nur
EINLEITUNG
die Begabtesten zugelassen werden (5o3 d, S 3 9 d - 5 4o a) und
die zur Erkenntnis der Idee des Guten führen —, wird ihm in
aller Freundschaft mitgeteilt, daß er nicht mehr in der Lage
wäre, ihm zu folgen (S 3 3 a).
Es ist also die unzureichende Vorbildung der Gesprächspartner, die es verhindert, daß Sokrates sein Denken über das Gute
und die Dialektik vollständig ausbreitet. Es ist leicht zu sehen,
daß diese Anlage des Hauptwerkes voll übereinstimmt mit den
Grundgedanken der Schriftkritik im <Phaidros> (s. Einführung
S. 14-26 in: Platon, <Die großen Dialoge>, dtv 2265). Platon
stellt auch hier, wo er am weitesten geht in der Explikation seiner Philosophie des Guten, eine strikt adressatenbezogene, das
heißt «esoterische» Form des Philosophierens dar. Der schriftliche Dialog <Staat> teilt uns unmißverständlich mit, daß der Autor weitere Argumente zur mündlichen Verteidigung seiner
Schrift bereithält: eben jene «Ansichten» über Seele, Dialektik
und das Gute, die für den vorliegenden Anlauf nicht erreichbar
sind, und dies trotz prinzipieller Bereitschaft des Sokrates, auch
über sie Rechenschaft abzulegen. Platonische Esoterik ist, wie
man sieht, nicht Geheimhaltung, sondern Verantwortung für
die angemessene Rezeption der «höchsten Lehrstücke» (der mégista mathémata, 503 e) .
Diese von Platon bewußt gewählte Einschränkung der philosophischen Reichweite der Erörterung bedeutet indes keine Abwertung des Dialogs. Auch so ist sein Hauptwerk unendlich
reich an originellen Gedanken, neuen Konzeptionen, diskussionswürdigen Thesen — und nicht zuletzt an Provokationen wie
der Auflösung der Familie (457 c - 47 1 d), der Absage an den
Privatbesitz (415 d-421 c, 461 e-466 d) und der radikalen Verneinung des Bildungswertes der großen Dichtung der Griechen
(595 a-6o8 b).
Die vielleicht radikalste dieser Provokationen, die Gleichstellungvon Mann und Frau (451 c-457 c) und die Leugnung einer
I0
EINLEITUNG
besonderen Physis der Frau (4S 3 a-455 e), hat zweieinhalb
Jahrtausende gebraucht, um zum beherrschenden Thema einer
ganzen Generation zu werden. Es steht zu erwarten, daß der
moderne Feminismus nicht die letzte Bewegung sein wird, die
die geistige Zeugungskraft dieses Dialogs unter Beweis stellt. —
(Zu den Grundgedanken des <Staates> vergleiche man auch die
allgemeine Einführung zu <Platon, Die großen Dialoge>,
S. 5 39).
-
Thomas Alexander Szlezâk
DER STAA
ERSTES BUCH
327 a-c
I
ch ging gestern mit Glaukon, dem Sohne des Ariston, zum
Pciraieus hinab, um zu der Göttin zu beten, und gleichzeitig wollte ich sehen, wie sie das Fest durchführen, das sie ja
jetzt zum erstenmal begehen. Den Festzug der Einheimischen
fand ich wirklich schön; aber der, den die Thraker aufführten,
machte einen ebenso prächtigen Eindruck. Als wir nun gebetet
und der Feier zugeschaut hatten, gingen wir wieder der Stadt
zu. Da sah uns auf dem Heimwege von weitem Polemarchos,
der Sohn des Kephalos, und sagte seinem Sklaven, er solle uns
nachlaufen und uns bitten, auf ihn zu warten. Der Sklave faßte
mich hinten am Kleide und sagte: «Polemarchos heißteuchwarten.» Ich wandte mich um und fragte ihn, wo denn sein Herr
sei. «Dort hinten kommt er», erwiderte er; «wartet nur!»
«Also gut, wir wollen warten», sagte Glaukon.
Bald darauf kamen Polemarchos und Adeimantos, der Bruder des Glaukon, und Nikeratos, des Nikias Sohn, und noch
ein paar andere, offenbar auch gerade vom Festzug her.
Nun sagte Polemarchos: «Mir scheint, Sokrates, ihr seid
auf dem Wege, zur Stadt zurückzukehren?»
Da vermutest du gar nicht schlecht, gab ich zurück.
«Du siehst aber auch, wie viele wir sind?» fuhr er fort.
Allerdings.
«Entweder müßt ihr uns also überwältigen », sagte er, «oder
hier bleiben.»
Es bleibt doch noch ein Drittes, sagte ich, wenn wir euch
nämlich gütlich überreden, daß ihr uns ziehen lassen sollt.
«Könnt ihr uns denn überreden», meinte er, «wenn wir
euch einfach nicht anhören?»
14
ERSTES BUCH
[327c-328c
«Das gewiß nicht », antwortete Glaukon.
So macht euch darauf gefaßt, daß wir euch nicht anhören
werden.
Da sagte Adeimantos: «Wißt ihr am Ende nicht einmal, daß
gegen Abend zu Ehren der Göttin noch ein Fackellauf zu Pferde stattfindet?»
Zu Pferde? rief ich. Das ist neu. Sie halten also Fackeln in
der Hand und geben sie einander weiter und reiten so um die
Wette? Oder wie meinst du das?
« Gerade so », antwortete Polemarchos, «und außerdem veranstalten sie eine nächtliche Feier, die man gesehen haben
muß; wir wollen also nach dem Abendessen aufbrechen und
diesem nächtlichen Fest zuschauen. Wir treffen dort auch mit
vielen jungen Leuten, zusammen und unterhalten uns mit ihnen. Drum bleibt jetzt da und folgt uns.»
Da sagte Glaukon: «Ich glaube nun doch, daß wir bleiben
sollten.»
Wenn du meinst, erwiderte ich, wird es wohl sein müssen.
2. Wir gingen nun also zu Polemarchos ins Haus und trafen
dort Lysias und Euthydemos, die beiden Brüder des Polemarchos, und dann auch Thrasymachos aus Chalkedon und Charmantides aus dem Demos Paiania und Kleitophon, den Sohn
desAristonymos. Auch Polemarchos' VaterKephalos warin dem
Gemach. Der kam mir recht alt vor, hatte ich ihn doch schon
lange nicht mehr gesehen. Er saß auf einem Sessel mit einem
Kopfpolster und trug einen Kranz auf dem Haupt, weil er eben
im Hofe geopfert hatte. Wir setzten uns also neben ihn; denn
es standen dort einige Stühle im Kreise herum.
Sobald mich nun Kephalos erblickte, begrüßte er mich und
sagte: «Sokrates, du kommst aber auch gar nicht oft zu uns in
den Peiraieus hinab. Und doch solltest du das tun. Wäre ich
noch bei Kräften und könnte ohne Mühe in die Stadt hinaufgehen, dann brauchtest du ja nicht hierher zu kommen, son-
328d-329b] ERSTES BUCH I5
dern wir kämen zu dir. So aber solltest du eben öfter zu uns
kommen; denn daß du's nur weißt: je mehr mir die leiblichen
Genüsse verblassen, desto größere Lust und Freude habe ich
an Gesprächen. Darum tu uns den Gefallen: verkehre nicht
nur mit diesen jungen Leuten, sondern komme doch auch zu
uns als deinen Freunden und guten Bekannten.»
Auch ich, Kephalos, erwiderte ich, unterhalte mich ja wirklich gern mit ganz alten Leuten. Sind sie uns doch gewissermaßen auf einem Weg vorangegangen, den vielleicht auch wir
gehen müssen, und darum, glaube ich, sollten wir sie danach
fragen, wie dieser Weg wohl ist, ob rauh oder schwierig oder
leicht und gangbar. Und da du ja nun schon in diesen Jahren
bist, möchte ich gerne von dir hören, was du von dem hältst,
was die Dichter «auf der Schwelle des Alters» nennen, ob das
der beschwerliche Teil des Lebens ist, oder wie du es sonst bezeichnest.
3. «Beim Zeus», gab er zurück, «ich will dir sagen, Sokrates, was ich davon halte. Hin und wieder kommen wir, unser
paar Männer fast des gleichen Alters, zusammen — und bestätigen damit das alte Sprichwort. Bei diesen Zusammenkünften jammern dann die meisten von uns; sie sehnen sich nach
den Freuden der Jugend zurück, in Erinnerung an ihre Liebeserlebnisse, an die Trinkgelage und Bankette, und was sonst
noch dazu gehört. Und sind verdrießlich, wie wenn sie etwas
Wichtiges eingebüßt hätten. ,Ja, damals haben wir noch so
richtig gelebt', sagen sie; ,aber das heute ist überhaupt kein
Leben mehr.' Einige beklagen sich, sie würden ihres hohen Alters wegen von ihren Angehörigen schlecht behandelt, und deshalb singen sie ihr Klagelied vom Alter als der Ursache dieser
Übel. Ich glaube aber, Sokrates, daß sie damit nicht die wirkliche Ursache treffen. Denn wäre wirklich das der Grund, dann
hätte ja auch ich, mit meinem Alter, das erleben müssen, und
auch alle anderen, die so alt geworden sind. Nun bin ich aber
Iô ERSTES BUCH [329b-33oa
schon Männern begegnet, denen es nicht so ging. Vor allem
kam ich einmal mit dem Dichter Sophokles zusammen, als ihm
jemand die Frage stellte: ,Wie steht es bei dir mit der Liebe,
Sophokles? Bist du noch imstande, einem Weibe beizuwohnen?` —,Still doch, Mensch', gab er zurAntwort. ,Mit dergrößten Freude bin ich dem entronnen, als wäre ich von einem wütenden und wilden Herrn losgekommen.' Das schien mir schon
damals eine sehr treffende Antwort, und heute nicht minder;
denn in dieser Beziehung hat man im Alter gänzlich Ruhe und
völlige Freiheit. Wenn die Begierden ihre Heftigkeit verlieren
und nachlassen, dann tritt in vollem Maße das ein, was Sophokles sagt: man ist von vielen rasenden Herren befreit. Nein, an
diesen Übeln und auch an den Schwierigkeiten mit den Angehörigen ist nur eine Ursache schuld: nicht das Alter, Sokrates,
sondern der Charakter der Menschen. Sind sie nämlich in guter Verfassung und zufrieden, dann ist auch das Alter nur eine
mäßige Last; im anderen Fall, Sokrates, ist einem solchen Menschen beides beschwerlich, das Alter und die Jugend.»
4. Ich freute mich über seine Worte und wünschte, er würde
fortfahren. Um ihn anzuregen, sagte ich deshalb: Kephalos,
ich glaube, die meisten stimmen dir nicht zu, wenn du so
sprichst; sie sind vielmehr der Ansicht, daß du das Alter nicht
wegen deines Charakters so leicht erträgst, sondern weil du
ein großes Vermögen besitzest. Man behauptet nämlich, die
Reichen fänden manchen Trost.
«Das ist wahr», entgegnete er; «sie stimmen in der Tat
nicht zu. Und sie haben auch ein bißchen recht dabei, freilich
nicht in dem Maß, wie sie glauben. Hingegen hat es seine Richtigkeit mit dem Ausspruch des Themistokles: als ihn jener Seriphier beleidigte und ihm sagte, er verdanke seine Berühmtheit nicht seinen Verdiensten, sondern der Stadt, da gab er
ihm zur Antwort: ,Freilich, wenn ich aus Seriphos käme, wäre
ich nicht berühmt; du aber wärest es auch nicht, wenn du ein
33oa-d] ERSTES BUCH 17
Athener wärest.' Dieses Wort paßt denn auch gut auf die Menschen, die nicht reich sind und das Alter schwer ertragen. Auch
der anständig Denkende wird das Alter nicht eben leicht ertragen, wenn noch Armut dazukommt; wer aber nicht so
denkt, wird auch nicht zufrieden sein, wenn er reich ist.»
Hast du denn dein Vermögen in der Hauptsache geerbt, Kephalos, fragte ich, oder hast du es selbst erworben?
«Was soll ich denn schon erworben haben, Sokrates? Mit
meinem Besitz stehe ich etwa in der Mitte zwischen meinem
Großvater und dem Vater. Der Großvater — er hieß gleich
wie ich — erbte ein Vermögen, etwa von der Größe, wie ich es
jetzt besitze, und vermehrte es um ein Vielfaches. Mein Vater
Lysanias dagegen ließ es noch kleiner werden, als es jetzt ist.
Ich aber bin zufrieden, wenn ich meinen Söhnen da nicht weniger hinterlasse, sondern eher etwas mehr, als ich erhalten habe. »
Ich stellte dir die Frage deshalb, fuhr ich fort, weil ich den
Eindruck hatte, daß du dir nicht eben viel aus dem Gelde machest. Das ist aber meistens bei denen der Fall, die es nicht
selbst erworben haben. Wer es selbst erwerben mußte, der
schätzt es doppelt so hoch wie die anderen. Wie die Dichter
ihre Werke und wie die Väter ihre Kinder lieben, so ereifern
sich die, die ein Vermögen gemacht haben, für ihr Geld, weil
es eben ihr Werk ist, außerdem aber auch, wie die anderen
Leute, seines Nutzens wegen. Es ist darum recht schwierig,
mit ihnen zu verkehren, weil sie von nichts anderem reden wollen als von ihrem Reichtum.
«Du hast recht », sagte er.
S. Ja, gewiß, anwortete ich; doch sage mir noch folgendes:
was ist das größte Gut, in dessen Genuß du nach deiner Meinung durch den Besitz deines großen Vermögens gekommen
bist?
«Das ist etwas», erwiderte er, «wovon ich vielleicht nicht
manchen überzeugen kann. Denn daß du's nur weißt, Sokra-
Iô
ERSTES BUCH
[33od-33ib
tes: wenn einer glaubt, daß er bald sterben müsse, dann befällt ihn Furcht und Sorge über Dinge, die ihn vorher nichtberührten. Die Mythen, die man über das Leben im Hades erzählt: daß der, der hier Unrecht getan hat, dort büßen müsse
— all diese Geschichten, über die wir bisher gelacht haben, beunruhigen jetzt seine Seele mit der Frage, ob sie nicht doch
etwa wahr seien. Man hat nun ein schärferes Auge für diese
Dinge, sei es aus Altersschwäche, oder auch weil man dem Jenseits nähergerückt ist. Da wird man erfüllt von Zweifel und
Furcht und beginnt zu überlegen und sich zu prüfen, ob man
jemandem ein Unrecht getan hat. Entdeckt man nun in seinem
Leben eine Menge Ungerechtigkeiten, so schreckt man wie
die Kinder manchmal aus seinem Schlaf auf und bekommt
Angst und lebt in schlimmen Vorahnungen; wer sich dagegen
keines Unrechtes bewußt ist, der ist immer voll süßer Hoff
nung, der guten ,Pflegerin des Alters', wie Pindar sie nennt;
denn gar feinsinnig, Sokrates, hat er gesagt: Wer ein gerechtes
und heiliges Leben geführt, den
begleitet süße Hoffnung,
die Pflegerin des Alters, und erfreut ihm
das Herz; sie leitet zuvörderst der Menschen
wankelmütigen Sinn.
Wahrhaft wunderbar sagt er das. Und ich füge bei, daß darin
der größte Wert des Reichtums liegt — nicht für jedermann,
aber für den anständig Denkenden. Denn daß er niemanden
betrügt und belügt, nicht einmal unabsichtlich, und daß er
weder einem Gott ein Opfer noch einem Menschen Geld schuldig bleibt und deshalb ohne Furcht ins Jenseits geht: dazu
trägt zu einem großen Teil der Reichtum bei. Er bietet freilich auch sonst viele Vorteile; doch eins gegen das andere abgewogen, möchte ich doch darin den größten Nutzen sehen,
Sokrates, den der Reichtum einem einsichtigen Manne bringt.»
331c-e]
ERSTES BUCH
19
Das sagst du sehr schön, Kephalos, erwiderte ich. Doch was
nun eben diesen Punkt, die Gerechtigkeit betrifft: sollen wirbehaupten, sie bestehe einfach nur darin, daß man die Wahrheit
sagt und daß man das wieder zurückgibt, was man von jemandem empfangen hat? Oder ist gerade auch das manchmal gerecht und manchmal wieder ungerecht? Wenn zum Beispiel je mand von einem Freunde, der bei gutem Verstande ist, Waffen in Verwahrung genommen hat und wenn dann dieserwahnsinnigwird und sie in solchem Zustande wieder zurückverlangt
— da wird doch jeder zugeben, daß er sie ihm nicht wieder
ausliefern darf und daß es von ihm nicht gerecht wäre, wenn
er sie zurückgäbe, und ebensowenig, wenn er einem Menschen,
der in diesem Zustande ist, die volle Wahrheit sagen wollte.
«Du hast recht», sagte er.
Dann ist also dies nicht die richtige Bestimmung des Begriffes Gerechtigkeit: daß man die Wahrheit sagen und das,
was man empfangen hat, wieder zurückgeben soll.
«Doch, Sokrates, das ist gewiß so», nahm Polemarchos das
Wort, «sofern man wenigstens dem Simonides recht geben
darf.»
«Nun gut», sagte Kephalos, «ich überlasse euch das Gespräch; ich muß jetzt nämlich nach dem Opfer sehen.»
So kann also Polemarchos deinen Anteil am Gespräch erben,
sagte ich.
«Ja», erwiderte er lachend, und damit ging er hinaus zum
Opfer.
6. So sage mir denn, du Erbe des Gesprächs, fuhr ich fort,
was meinst du damit, wenn du sagst, Simonides habe recht
mit seiner Ansicht über die Gerechtigkeit?
«Daß dies gerecht sei», erwiderte er: «jedem seine Schuld
zu bezahlen; damit hat er nach meiner Meinung recht.»
Es fällt gewiß nicht leicht, gab ich zurück, dem Simonides
keinen Glauben zu schenken; ist er doch ein weiser und gött-
20 ERSTES BUCH [331e-332c
licher Mann. Was indes sein Ausspruch bedeutet —ja, vielleicht
verstehst du ihn, Polemarchos; ich jedoch begreife ihn nicht.
Denn es ist doch klar, daß er nicht das meint, was wir vorhin
gesagt haben: daß man einen Gegenstand zurückgeben müsse,
den uns ein anderer anvertraut hat, auch wenn er nicht bei
Verstand ist, wenn er ihn zurückfordert. Und doch ist das,
was er uns anvertraut hat, etwas, das wir ihm schuldig sind.
Oder nicht?
«Ja.»
Man darf es doch aber keinesfalls zurückgeben, wenn einer
es fordert, der nicht bei Verstand ist?
«Richtig», sagte er.
Dann meint also offenbar Simonides etwas anderes damit,
wenn er sagt, gerecht sei, daß man zurückgibt, was man schuldig ist.
«Freilich meint er etwas anderes, beim Zeus>, entgegnete
er; «er will nämlich sagen, daß Freunde verpflichtet seien,
ihren Freunden Gutes anzutun, aber nichts Schlechtes.»
Ich verstehe, sagte ich: das also heißt nicht seine Schuld bezahlen, wenn jemand einem anderen, der ihm Geld anvertraut
hat, dieses zurückgibt, sofern dieses Zurückgeben und Zurücknehmen Schaden stiftet und sofern der Empfänger und der
Geber Freunde sind. Meinst du nicht, daß Simonides das sagen will?
«Gewiß.»
Seinen Feinden muß man aber doch zurückzahlen, was man
ihnen gerade schulden mag?
« Allerdings », sagte er, «gerade das, was man ihnen schuldig
ist. Ein Feind aber schuldet seinem Feinde, denke ich, das, was
ihm gebührt, nämlich Schlechtes.»
7. Simonides, erwiderte ich, hat also offenbar, wie das Dichter tun, in etwas rätselhafter Form angedeutet, was das Gerechte ist. Mir scheint, sein Gedanke war, es sei gerecht, je-
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