LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 64 Eiszeit. Vor rund 2,6 Millionen Jahren begann das jüngste Eiszeitalter, welches das Berchtesgadener Land und den Chiemgau entscheidend formte (Foto: H. Funk). LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 5 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 65 Eiszeit … Endlich erliegend das Eis des Nordens! Ureises Spätrest, älter als Alpen sind! Ureis von damals, als die Gewalt des Frosts Berghoch verschüttet selbst den Süden, Ebnen verhüllt so Gebirg als Meere! Wie stürzte Schneesturm, welche geraume Zeit, Endlos herab! wie, reiche Natur, begrubst Du lebenscheu dich, öd und trostlos! Aber es ging ja zuletzt vorüber! Tief aus dem Grund brach Alpengebirg hervor, Brach durch die Eiswucht, deren erstarrter Zug Unendlich trümmervoll mit Blöcken … Karl Friedrich Schimper (1803–1867), Die Eiszeit, 1837 Vor rund 2,6 Millionen Jahren begann mit dem Pleistozän (von griechisch pleistos = am meisten und keinos = neu) eine erdgeschichtliche Epoche, die sich klimatisch durch einen mehrfachen Wechsel zwischen Eis- und Warmzeiten auszeichnete, wobei in den kältesten Phasen Gletscher weit in das Alpenvorland vorstießen und sich anschließend wieder in den Alpenraum zurückzogen. Vor dem Hintergrund geologischer Zeitrechnung kann man diese Epoche durchaus als Zeitalter der Naturkatastrophen im Sinne dramatischer Wendungen bezeichnen. Denn vergleicht man die Geschichte der Erde mit einem Tag, so währte das Pleistozän kaum eine Minute. Dennoch ist dieser Zeitabschnitt einer der ereignisreichsten in der jüngeren Geschichte der Alpen und ihrer Vorländer. Die Eiszeiten prägten das heutige Erscheinungsbild des Berchtesgadener Landes und Chiemgaus nachhaltig. Und nicht nur das. Den eiszeitlichen Ablagerungen, insbesondere denjenigen aus der letzten Eiszeit, verdanken wir heute in ganz Mitteleuropa Wohlstand, unsere Lebensgrundlage sowie wertvolle und ertragsreiche Böden. Denn ohne Eiszeit müsste man Saatgüter in nährstoffarme, kaum düngefähige tropische Böden des Tertiärs einbringen. Eiszeit – eine Naturkatastrophe? Das Wort „Naturkatastrophe“ setzt sich aus dem lateinischen Wort natura = Geburt und dem griechischen Begriff katastréphein = umwenden zusammen. Katá bedeutet im Griechischen völlig, und strophé ist die Wendung. „Katastrophe“ bezeichnet in antiken Dramen den plötzlichen Wendepunkt im Sinne von Unglück oder Verheerung. Das Wort „Naturkatastrophe“ bezeichnet also eine plötzliche und unheilvolle, verheerende Wendung sowohl durch als auch für die Natur. Aus menschlicher Sicht sind daher Naturgewalten wie Erdbeben oder Überschwemmungen Naturkatastro- phen, für die Natur jedoch nicht. Denn die Natur erholt sich schnell von den lokal begrenzten Verwüstungen. Naturkatastrophen im Sinn von plötzlicher Wendung für die Natur sind rasche Veränderungen, die weiträumig oder global wirksam und von Dauer sind. Dazu gehört vor dem Hintergrund geologischer Zeitrechnung der Wechsel von Eis- und Warmzeiten. Naturkatastrophe ist in diesem Sinne ein wertfreier Begriff, da sich unter beiden Klimabedingungen eine jeweils angepasste Fauna und Flora einstellte. LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 5 66 22.11.2010 12:54 Uhr Seite 66 5 Eiszeit 5.1 Eiszeit. Westgrönland, Eqi-Gletscher. Ähnliche Anblicke waren dem steinzeitlichen Menschen im Chiemgau über Jahrhunderttausende mehrfach vergönnt (Foto: H. Funk). Eiszeiten und Warmzeiten im Wechsel Seit sich die Wissenschaft mit den pleistozänen Eiszeiten befasst, stellt sich die Frage nach ihrer Entstehung und warum sie im Wechsel mit Warmzeiten auftraten. Zahlreiche Theorien entstanden, von denen der astronomische Ansatz des Belgrader Astrophysikers und Mathematikers Milutin Milanković (1879–1958) eine der bislang besten Antworten auf die Frage nach den Ursachen für den Wechsel zwischen Eis- und Warmzeiten liefert. Er erkannte, dass die Bewegungen der Erde um ihre Achse und ihre Bahn um die Sonne Zyklen unterliegen, die heute Milanković-Zyklen genannt werden. Astronomische Parameter bestimmen die Stärke der Sonneneinstrahlung und somit die Temperaturen auf der Erde: die Schiefe der Ekliptik (Neigung der Erdachse), die Präzession der Erdachse (Trudeln der Erdachse ähnlich einem Kinderkreisel) und die Exzentrizität der Erdbahn um die Sonne (Form der Erdbahn). Dass astronomische Parameter für Eiszeiten von Bedeutung sind, vermuteten zuvor schon der französische Mathematiker JosephAlphonse Adhémar (1797–1862) und der schottische Naturforscher James Croll (1821–1890). Auch Sonnenzyklen wurden als mögliche Ursache für den Wechsel zwischen Eiszeiten und Warmzeiten diskutiert. In neuerer Zeit haben Arbeiten am ozeanografischen Institut in Woods Hole (USA) und am Massachusetts Institute of Technology (USA) gezeigt, dass die Neigung der Erdachse am Ende einer Eiszeit besonders stark war. Derzeit beträgt sie 23,5 Grad mit abnehmender Tendenz. Eine klare, definitive Antwort auf die Frage nach der Ursache von Eiszeit-Warmzeit-Zyklen ist bis heute jedoch nicht möglich, da es sich sehr wahrscheinlich um äußert komplexe Wechselwirkungen zwischen mehreren Auslösemechanismen handelt. Dass es überhaupt zu Eiszeiten kommen kann, wird heute durch die Theorie der Plattentektonik erklärt. In der Erdgeschichte gab es lange Zeit kein Festland in den Polregionen. Warme Meeresströmungen konnten sie vom Äquator her kommend durchströmen. Somit wurden die Temperaturen recht gleichmäßig über die ganze Erde verteilt. Durch die Wanderung der Kontinente gelangten große Landmassen in Regionen, in denen sie den Wärmetransport der Meeresströmungen unterbrachen. Besonders stark ist dieser Effekt, wenn Kontinente direkt an den Polen oder in ihrer Nähe liegen, so wie dies LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 67 Eiszeiten und Warmzeiten im Wechsel 67 Was heißt „düngefähig“? Unter feucht-warmen Klimaten, so etwa im Erdmittelalter (Mesozoikum) und im Tertiär, entstehen im Boden durch intensive chemische Verwitterung so genannte ZweischichtTonminerale, insbesondere Kaolinit, benannt nach dem ersten Fundort in China am Berg Kaoling in der chinesischen Provinz Kiangsi, einem Abbauort von Porzellanerde (chinesisch g o l ng = hoher Hügel). Tonminerale sind schichtweise aufgebaute, plättchenartige Minerale. Sie sind überwiegend kleiner als 0,002 Millimeter und bilden den Hauptanteil der Mineralteilchen der Korngröße (= Bodenart) „Ton“ im Boden. Die Schichten der Tonminerale setzen sich aus einer Kombination von Silizium-, Sauerstoff-, Aluminium- und Wasserstoffatomen zusammen. Einige Tonminerale können Wasser und Nährstoffe speichern und abgeben. Sie sind somit für heute in der Antarktis und Arktis der Fall ist. Die Temperaturunterschiede zwischen Äquator und den Polen nehmen dadurch stark zu, was Gletscherbildung in den höheren Breiten ermöglicht. Zudem reagieren Landmassen stärker auf Strahlungsänderungen als Meerwasser. Da die astronomischen Parameter Zyklen unterwor- 5.2 Astronomische Parameter. Die Exzentrizität der Erdbahn um die Sonne (A ohne Exzentrizität, B mit einer Exzentrizität von 0,5°), die Schiefe der Erdachse (C) und die Präzession der Erdachse (D) bewirken eine zyklische Veränderung der Intensität der Sonneneinstrahlung (Grafik: E. Langenscheidt). die Bodeneigenschaften und die Ernährung der Pflanzen äußerst wichtig. Nach ihrem Kristallaufbau unterscheidet man unter anderen Zweischicht- und Dreischichttonminerale. Dreischicht-Tonminerale, die im gemäßigten Klima bei der Verwitterung von Gesteinen entstehen, können Nährstoff-Ionen und Wasser aufnehmen, speichern und wieder abgeben. Sie sind damit quellfähig oder aufweitbar. Neben dem Humus spielen sie deshalb eine herausragende Rolle für die Ernährung von Pflanzen. Nährstoffe in Form von Dünger können sich bei Zweischicht-Tonmineralen nur an den Außenflächen oder an Bruchflächen anlagern. Daher sind Böden feucht-warmer Klimate, in denen Zweischicht-Tonminerale vorherrschen, nicht besonders fruchtbar und kaum auf konventionelle Art düngefähig. fen sind, war nun auch der Wechsel zwischen Eis- und Warmzeiten möglich. Dafür spricht auch die Tatsache, dass die Milanković-Zyklen Jahrzehntausende bis Jahrhunderttausende umfassen, jedoch im Mesozoikum über Jahrmillionen keine nennenswerten Vereisungen der Erde nachzuweisen sind, da sich keine Landmasse in 5 LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 5 68 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 68 5 Eiszeit Polnähe befand. Ältere Eiszeiten sind zum Beispiel die permo-karbonischen Eiszeiten, als im Erdaltertum Afrika als größere Landmasse am Südpol lag. Von Eiszeit zu Eiszeit In den kältesten Phasen der pleistozänen Eiszeiten, den Hochglazialen, waren die Alpen von einem Eisstromnetz erfüllt. Dabei standen die ehemaligen Talgletscher nach ihrem gewaltigen Anschwellen über Pässe hinweg miteinander in Verbindung und ernährten sich somit gegenseitig. Man spricht dabei auch von Transfluenzpässen (von lateinisch trans = über, hinaus und fluere = fließen, strömen). Das Eis bewegte sich nicht mehr dem Relief untergeordnet durch ein Tal, sondern diesem übergeordnet in Richtung des allgemeinen Gefälles, das von den Zentralalpen aus hauptsächlich nördlich und südlich gerichtet ist. Vergleichbare Gletschertypen oder Eisstromnetze gibt es heute auf der Inselgruppe Svalbard oder auf Grönland. Vom Alpennordrand strömte das Eis in einzelnen Zungen weit in das Vorland hinein und breitete sich dort ohne das Widerlager von Talflanken fächer- oder fladenförmig aus. Man spricht jedoch bei den in das Vorland vordringenden Eismassen nicht von Gletscherzungen, sondern von Vorland-Gletschern. Für das Gebiet zwischen Inn und Salzach waren dies hauptsächlich der Inn-, Chiemsee- (auch Tiroler Achen-Gletscher genannt) und der Salzach-Gletscher. In den Warmzeiten schmolzen die Gletscher zurück. Mitunter waren sie in vergangenen Warmzeiten bei höheren Jahresdurchschnittstemperaturen als heute deutlich kleiner als die derzeitigen Gletscher. Die jüngste Eiszeit endete vor etwa 10 000 Jahren. Mit dem Ende des Pleistozäns begann das Holozän (von griechisch hólos = ganz und kainós = neu), unsere Warmzeit. Beide Epochen bilden die Periode des Quartärs. Dieser Wechsel der Epochen sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir trotz aktueller Klimaerwärmung noch immer in einem Eiszeitalter leben, in dem sich mit großer Wahrscheinlichkeit und in geologisch gar nicht allzu ferner Zukunft erneut gewaltige Gletscher in das Alpenvorland vorschieben werden. Denn die Lage der Kontinente hat sich in den letzten 2,6 Millionen Jahren nur geringfügig verändert. Warmzeiten dauerten etwa 10 000 bis 20 000 Jahre an. Unsere Warmzeit, das Holozän, währt rund 10 000 Jahre, sodass die nächste Eiszeit sozusagen vor der Tür steht. 5.3 Eisstromnetz. Antarktis. Vergleichbar wie auf dem Foto sah es in den Hochglazialen des Pleistozäns in den Alpen aus. Ein Eisstromnetz durchströmte das Gebirge, aus dem nur die höchsten Gipfel herausragten (Foto: Fred Walton, NOAA). LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 69 Eiszeiten und Gletschervorstöße 69 Die Sache mit der TQ-Grenze Gemeint ist die Grenze zwischen Tertiär (Paläogen und Neogen) und Quartär (von lateinisch quartus = der Vierte). Der Begriff Quartär geht offiziell auf den französischen Geschichtsschreiber, Archäologen und Geologen Jules Desnoyers (1800–1887) zurück. Er schlug ihn im Jahr 1829 vor, um Sedimente im Pariser Becken anzusprechen, obwohl der Begriff schon vom italienischen Geologen Giovanni Ardunio (1714–1795) benutzt worden war. Die von Desnoyers beschriebenen Schichten waren deutlich jünger als die tertiären Ablagerungen. Damals gliederte man die Erdgeschichte in drei Teile. Das Quartär sollte diese ergänzen zu: Primär, Sekundär, Tertiär und Quartär. Im Jahr 1948 wurde die TQGrenze auf einem internationalen Geologenkongress auf 1,81 Millionen Jahre vor heute festgelegt. Doch diese Grenze Eiszeiten und Gletschervorstöße Bis zum Jahr 1930 ging man innerhalb des Pleistozäns von vier Eiszeiten aus, die für Süddeutschland nach Flüssen des bayerisch-schwäbischen Alpenvorlandes in der Reihenfolge ihres Alters von alt bis jung benannt wurden: Günz-, Mindel-, Riß- und Würm-Eiszeit. Den Nachweis dafür erbrachten die beiden deutschen Quartärforscher Albrecht Penck (1858–1945) und Eduard Brückner (1862–1927) Anfang des 20. Jahrhunderts. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts kamen drei weitere nachgewiesene Eiszeiten hinzu, zwei noch ältere namens Biber und Donau sowie die zwischen Günzund Mindel-Eiszeit eingeschaltete Haslach-Eiszeit. Heute weiß man, dass sich innerhalb dieser „klassi- 5.4 Gletscher. Eiszeitliche Gletscher und ihre gewaltigen Eismassen prägten entscheidend das Erscheinungsbild der Alpen und ihre Vorländer. In den Hochphasen der pleistozänen Vereisungen stießen Gletscher mehrfach in das Alpenvorland vor. In den Berchtesgadener und Chiemgauer Alpen ragten nur die höchsten Gipfel aus den Eismassen empor (Foto: A. Stahr). blieb umstritten. So wurde sie 2004 durch die Internationale Stratigraphische Kommission (International Commission on Stratigraphy, ICS) eliminiert und samt Tertär und Quartär kurzerhand aus der geologischen Zeitskala gestrichen. Das ließen verschiedene quartärgeologische Vereinigungen nicht auf sich beruhen. Im Jahr 2005 waren ihre Bemühungen um den Erhalt von Tertiär und Quartär von ersten Erfolgen gekrönt. 2009 wurde die TQ-Grenze offiziell auf 2,6 Millionen Jahre vor heute festgelegt. Damit wurden sämtliche eiszeitlichen Ablagerungen mit einbezogen. Zudem begann zu dieser Zeit die Entwicklungsgeschichte des steinzeitlichen Menschen. Da der Beginn des Pleistozäns nicht verschoben wurde, umfasst das Quartär jetzt auch noch den jüngsten Zeitabschnitt des Tertiärs (Neogen), das Gelasium. schen“ Eiszeiten weitere Wechsel zwischen kälteren und wärmeren Phasen ereignet haben, sodass man von Eiszeitkomplexen sprechen kann. Bekannt sind nunmehr mindestens 20 bis 25 Eiszeit-Warmzeit-Zyklen, wobei die Eiszeiten zeitlich gesehen die Warmzeiten um Längen übertrafen. Die weitesten und kräftigsten Gletschervorstöße in das nördliche Alpenvorland fanden nach heutigem Wissen während der Günz-, Mindel- und Riß-Eiszeiten im Zeitraum zwischen etwa 1 200 000 und 130 000 Jahren vor heute statt. Von diesen Vorstößen zeugen unter anderem die Altmoränen, die sich im Gegensatz zu den Jungmoränen der Würm-Eiszeit durch verwaschene, ruhigere Formen auszeichnen. Die weitesten Vorstöße des Inn- und Chiemsee-Gletschers fallen in die Mindel- 5 LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 5 70 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 70 5 Eiszeit Eiszeit, Kaltzeit Gemäß der Fachliteratur herrschte in den Gebieten, die auch während der kältesten Zeitabschnitte des Pleistozäns nicht vergletschert waren, eine „Kaltzeit“, während sich eine Eiszeit nur in den von Gletschern bedeckten Regionen vollzog. Da eine drastische Abnahme der Jahresdurchschnittstemperaturen ein globales Phänomen ist, wird von uns generell der Begriff Eiszeit verwendet. und Riß-Eiszeit. Dabei wurde nordwestlich von München das Gebiet der heutigen Stadt Erding erreicht, die vom Alpennordrand rund 70 Kilometer entfernt ist. Altmoränen der Mindel-Eiszeit liegen bei Dorfen, rund 60 Kilometer vom Alpenrand entfernt. Altmoränen der Riß-Eiszeit sind auch südlich vom Maximalvorstoß als Rückzugsstadium bei Traunreut und Trostberg erhalten. Für den Salzach-Gletscher nimmt man das Maximum der Eisausbreitung im Vorland in der Günz-Eiszeit an. Altmoränen dieses maximalen Vorstoßes finden sich nahe Burghausen, etwa 40 Kilometer vom Alpenrand entfernt. Moränen der Günz-Eiszeit erstrecken sich zu- dem nördlich von Traunstein und im Alztal bei Altenmarkt. Von den älteren Gletschervorstößen ist nur wenig bekannt. 5.1 Findlinge oder: die lange Diskussion Die Wurzeln der Eiszeitforschung finden wir im späten 18. Jahrhundert. Damals reiste der schottische Naturforscher und Geologe James Hutton (1726–1797) in die Schweiz. Er studierte große Gesteinsblöcke, auch Erratika, erratische Blöcke (von lateinisch errare = umherirren) oder Findlinge genannt, die nicht zum Gestein der näheren Umgebung passten. Nach eingehenden Beobachtungen kam Hutton zum Schluss, dass nur Gletscher auf ihrem Weg zu Tal, auf denen er bei seinen Studienreisen ebensolche Blöcke bemerkte, für den Transport verantwortlich sein können. Unterstützung für diese Annahme erhielt Hutton im Jahr 1802 von seinem schottischen Landsmann, dem Mathematiker und Geologen John Playfair (1748– 1819), der Hutton auf zahlreichen Exkursionen beglei- 5.5 Eiszeit. Narsaq, Westgrönland. Ähnlich wie auf dem Foto eines grönländischen Gletschers dürfte es in den kältesten Phasen der pleistozänen Vereisungen am Alpennordrand vor dem Eintritt der Eismassen in das Vorland ausgesehen haben (Foto: H. Funk). LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 71 5.1 Findlinge oder: die lange Diskussion 71 䉳 5.6 James Hutton. Der schottische Naturforscher James Hutton (1726–1797) gilt als Begründer der Geologie als Wissenschaft. Dabei vertrat er den Aktualismus, ein grundlegendes Prinzip der modernen Geologie. Er ging davon aus, dass die gleichen geologischen Vorgänge, die gegenwärtig zu beobachten sind, auch in der Vergangenheit gewirkt haben müssen. Somit seien direkte Rückschlüsse von der Gegenwart auf frühere geologische Prozesse möglich. Im Jahr 1785 veröffentlichte Hutton das Werk Theory of the Earth. Seine Auffassungen über die Herkunft von erratischen Blöcken und eine ehemals große Vergletscherung der Alpen über die Vorländer hinaus waren lange umstritten. Die dritte Auflage von Theory of the Earth wurde nach Huttons Tod vom schottischen Mathematiker und Geologen John Playfair herausgegeben, der die Thesen seines Landsmannes unterstützte (Foto: USGS). tete und die Herkunft von Erratika in Schottland untersuchte. Die Ansichten der beiden Wissenschaftler wurden zur damaligen Zeit ungern akzeptiert. Findlinge waren für die Kirche ein nicht zu widerlegender Beweis für die Sintflut. Selbst renommierte Wissenschaftler wollten die Auffassungen der schottischen Kollegen 5.7 Schusterstein. Bundesstraße Berchtesgaden–Königssee, Berchtesgadener Land. Findlinge wie der „Schusterstein“ boten gegen Ende des 18. Jahrhunderts Anlass zur Diskussion unter den Wissenschaftlern. Wie kamen die zum Teil haushohen Felsen, die sich von den umgebenden Gesteinen deutlich unterscheiden, an Ort und Stelle? (Foto: E. Langenscheidt) nicht teilen. Sintflutartige Ereignisse, Eisbergdrift oder Überflutungen durch das Meer waren verbreitete Deutungen für die Herkunft der Findlinge. So vertrat der deutsche Geologe Christian Leopold Freiherr von Buch (1774–1853) in einem Werk über die Verbreitung von Findlingen aus dem Jahr 1815 noch eine Schlammfluttheorie. Doch noch im gleichen Jahr äußerte der Schweizer Ingenieur, Botaniker und Gletscherkundler Ignaz Venetz (1788–1859) in Luzern ähnliche Ansichten wie Hutton und Playfair Jahre zuvor. Venetz’ Thesen wurden 1830 vom deutsch-schweizerischen Geologen und Gletscherforscher Johann von Charpentier (1786– 1855), der sich auch Jean de Charpentier nannte, sowie vom schweizerisch-amerikanischen Zoologen, Paläontologen und Geologen Jean Louis Rodolphe Agassiz (1807–1873) und dem deutschen Botaniker und Geolo- 5 LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 5 72 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 72 5 Eiszeit 5.8 Findling. Schönau, Berchtesgadener Land. Sintflutartige Ereignisse wurden unter anderem für den Transport solch gewaltiger Felsbrocken verantwortlich gemacht (Foto: E. Langenscheidt). gen Karl Friedrich Schimper (1803–1867) unterstützt. In der Vorstellung Schimpers gab es den Weltsommer und den Weltwinter, in welchem es nach seiner Auffassung zur Verschleppung erratischer Blöcke kam. In München hielt Schimper 1835 und 1836 darüber Vorträge. Von Ende 1836 bis zum Frühjahr 1837 hielt er sich bei Agassiz in Neuenburg (Neuchâtel) auf, wo er nach weiteren Spuren von Gletschern suchte. Schimper hat nie ein wissenschaftliches Werk verfasst. Die Lorbeeren seiner Gedanken zu erratischen Blöcken erntete Agassiz, der Schimper in seinen Büchern nach jahrelangem Zwist nie erwähnte. 5.9 Jean Louis Rodolphe Agassiz. Gemälde von Abner 䉴 Lowe. Louis Jean Rodolphe Agassiz (1807–1873) wurde in der Schweiz geboren. Er war Zoologe, Paläontologe und Geologe. Bekannt ist er insbesondere für seine Leistungen als Ichthyologe (Fischkundler) und Eiszeitforscher. Im Jahr 1840 veröffentlichte er seine Studien über Gletscher. Im gleichen Jahr stellte er zusammen mit dem englischen Geologen William Buckland (1784–1856) fest, dass auch Schottlands Landschaften von Gletschern geprägt worden waren. Von 1847 an lehrte er als Professor für Zoologie und Geologie an der Harvard University. Agassiz starb in Cambridge. Sein Grabmal besteht aus einem Felsen der Moräne des Schweizer AarGletschers. Das 3 946 Meter hohe Agassizhorn in den Berner Alpen der Schweiz sowie eine Reihe von Tierarten wie der Agassiz Zwergbuntbarsch (Apistogramma agassizii), die Kalifornische Wüstenschildkröte (Gopherus agassizii) und sogar ein Krater auf dem Mars tragen seinen Namen (Foto: USGS). Im Juni 1837 hielt Agassiz bei einem Treffen der Schweizer Gesellschaft der Naturwissenschaften in Neuchátel die Eröffnungsrede. Darin postulierte er, dass nicht die Sintflut die Findlinge bewegt hatte, sondern Gletscher. Er führte zudem aus, dass die Gletscher ehemals über ganz Europa von der Arktis bis zum Mittelmeer verbreitet waren. Von vielen Anwesenden erntete LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 73 5.2 Die Würm und ihre Eiszeit er Wut und Empörung. Auf einer anschließenden Exkursion konnte Agassiz noch einige Fürsprecher für seine Thesen gewinnen, doch in der Wissenschaft gab es trotz seiner Ernennung zum Professor in Harvard, von wo aus er seine Theorien verbreiten konnte, noch über Jahrzehnte Widerstand. Im Jahre 1840 führte Agassiz den Begriff „Eiszeit“ in die wissenschaftliche Literatur ein. Als die Eiszeittheorie Jahre später doch noch ihren Siegeszug angetreten hatte, ging man noch von einer einzigen großen Vergletscherung aus, was als Monoglazialismus bezeichnet wird (von griechisch mónos = allein und lateinisch glacies = Eis). Im Jahr 1861 folgerte der Schweizer Geologe Adolph von Morlot (1820–1867) nach Untersuchungen am Genfer See, dass die Gletscher der Alpen mindestens zwei Mal bis dorthin vorgestoßen sein müssen. Durch die richtungsweisenden Arbeiten der deutschen Quartärforscher Albrecht Penck (1858–1945) und Eduard Brückner (1862–1927) gelang schließlich der Nachweis von vier Eiszeiten. Das war die Geburtsstunde des Polyglazialismus (von griechisch polýs = viel) und somit der modernen Eiszeitforschung. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Johann von Charpentier bei seinen Aufenthalten in der Schweiz mit Bergbauern sprach, denen die Verfrachtung von Findlingen durch Gletscher längst klar war. Sicherlich auch vielen anderen Menschen, die jedoch nicht berühmt oder einflussreich genug waren, um ihre Erkenntnisse wissenschaftlichen Kreisen überzeugend zu vermitteln. 5.2 Die Würm und ihre Eiszeit Am besten erforscht ist die Würm-Eiszeit, die jüngste Vereisungsphase des Pleistozäns. Sie wird zusammen mit der vorangegangenen Warmzeit in das Jungpleistozän gestellt. Ihren Namen hat sie von der Würm, dem 73 rund 35 Kilometer langen Abfluss des Starnberger Sees, der bis 1962 noch Würmsee hieß. Mit einer Klimaverschlechterung vor rund 115 000 Jahren begann die Frühwürm-Phase (Frühglazial). Sie folgte der „nur“ etwa 11 000 bis 15 000 Jahre währenden Riß-WürmWarmzeit (= Eem-Warmzeit in Nordeuropa, benannt nach dem Fluss Eem in den Niederlanden). Diese Warmzeit war durch vergleichsweise stabile Klimaverhältnisse charakterisiert und wies in Mitteleuropa im Optimum Temperaturen auf, die um 5 Grad Celsius über den heutigen Jahresmitteltemperaturen lagen, wodurch der Meeresspiegel auch ohne Einfluss des Menschen deutlich höher lag als in der Gegenwart. Frühglazial: Flüchtlinge und Heimkehrer In dieser ersten, sehr langen Phase der Würm-Eiszeit zwischen 115 000 und 25 000 Jahren vor heute wechselten kältere und wärmere Klimabedingungen mehrfach einander ab. Bekannt sind bislang mindestens sechs Stadiale und Interstadiale (Stadiale = Kaltphasen und Interstadiale = Warmphasen innerhalb einer Eiszeit). So gab es im Berchtesgadener Land und im Chiemgau mit zunehmender Abkühlung am Beginn der Frühwürm-Phase Kiefern- und Fichtenwälder mit Wacholder (Juniperus spec.) und Gräsern in der Strauch- und Krautschicht. Der Eichenmischwald der Riß-WürmWarmzeit verschwand, ebenso viele andere Gewächse, darunter etwa die Gemeine Hasel (Corylus avellana), die Europäische Stechpalme (Ilex aquifolium), die Weißtanne (Abies alba) und die Hainbuche (Carpinus betulus) sowie zahlreiche weitere Gattungen der letzten Warmzeit. Etwas günstigere Klimaverhältnisse zwischen den Abkühlphasen ließen beispielsweise Gemeine Hasel (Corylus avellana), Sanddorn (Hippophae rhamnoides) und Serbische Fichte (Picea omorika) zurückkehren. Serengeti in Bayern und Mitteleuropa Während der Riß-Würm-Warmzeit glich die Tierwelt Mitteleuropas fast derjenigen, wie wir sie heute im trockentropischen Ostafrika oder im tropischen Zentralafrika vorfinden. Zu ihren Vertretern gehörten fossilen Funden zufolge unter anderen der Waldelefant (Elephas antiquus), das Nashorn (Dicerorhinus kirchbergensis), der Auerochse (Bos primigenius), das Flusspferd (Hippopotamus amphibius), der Was- serbüffel (Bubalus murrensis), die Sumpfschildkröte (Mauremys orbicularis), der Höhlenlöwe (Panthera leo spelaea), die Höhlenhyäne (Crocuta crocuta spelaea) und der Elch (Alces alces). Im Vergleich dazu ist unsere derzeitige Warmzeit deutlich zu kalt, was sie durch die Klimaerwärmung seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Kälterückschlag der „Kleinen Eiszeit“ aufzuholen scheint. 5 LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 5 74 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 74 5 Eiszeit 5.10 Höhlenlöwe. Die Raubkatze jagte sowohl in der Riß-Würm-Warmzeit als auch in der Würm-Eiszeit im Chiemgau, da unter beiden Klimabedingungen genügend Beutetiere vorhanden waren. Das Exponat im Diorama des Südostbayerischen Naturkundeund Mammut-Museums Siegsdorf ist einem Skelettfund im Gerhartsreiter Graben bei Siegsdorf nachempfunden worden. Mittels Radiokarbonmethode wurde das Alter der aufgefundenen Überreste des Höhlenlöwen auf etwa 47 000 Jahre vor heute bestimmt. Die Skelettreste weisen Schnittspuren auf, die darauf hindeuten, dass steinzeitliche Menschen das Raubtier mit Steinmessern abgefleischt haben. Ob es sich um Neandertaler oder um moderne Menschen gehandelt hat, welche die Spuren auf den Löwenknochen hinterließen, kann aufgrund fehlender Werkzeuge an der Fundstelle nicht gesagt werden (Foto: A. Stahr). Man weiß dies durch die Bestimmung von Pflanzenüberresten und Blütenpollen aus mehr als 300 000 Jahren alten Moränen- und Seeablagerungen. Die Auswertung des darin eingeschlossenen Pflanzenmaterials gibt die Vegetationsentwicklung von wärmeren und kälteren Klimaphasen detailliert wieder. Auch mehrere übereinander folgende Bodenbildungen innerhalb würmeiszeitlicher Lössablagerungen, die nur unter wärmeren Kli- 5.11 Wolf. In der frühen Würm-Eiszeit durchstreifte der Wolf in Rudeln das Berchtesgadener Land und den Chiemgau auf der Suche nach Beute, zu der neben Rentieren und Aas zahlreiche kleinere Säugetiere zählten. Der Wolf war einer der Nahrungskonkurrenten der steinzeitlichen Jäger, aber nachweislich auch deren Beute. Da die Domestikation des Wolfes nach neuesten Forschungsergebnissen bereits vor mehr als 100 000 Jahren begonnen hatte, dürften Wölfe oder erste Hunde schon im Frühglazial die Jäger auf Beutezügen begleitet haben, um etwa als Furcht erregende Meute einzelne Großsäuger wie Mammuts, Rentiere oder Pferde von der Herde zu trennen (Foto: A. Stahr). LaSt_Kap05.qxd:Musterlayout 14.11.2010 14:02 Uhr Seite 75 5.2 Die Würm und ihre Eiszeit 75 5.12 Luchs. Auch der Luchs war im Frühglazial Nahrungskonkurrent und Beute des Menschen. Und sicherlich war, neben Fleisch und Knochen, sein Fell schon damals begehrt, aber mehr aus der Not heraus als wegen einer zweifelhaften Mode in modernen Zeiten (Foto: A. Stahr). Löss Löss ist die hochdeutsche Schreibweise für das schweizerisch-elsässich-schwäbische Wort „lösch“, das „locker“ bedeutet. Dabei handelt es sich um ein vom Wind transportiertes gelbbraunes Lockermaterial aus verschiedenen Mineralien mit der Korngröße 0,002 bis 0,02 Millimeter, das auch als Schluff bezeichnet wird. Man könnte auch Staub dazu sagen. Löss wurde während der Eiszeiten nach dem Rückzug der Vorland-Gletscher durch starke Stürme (Winderosion) aus trocken gefallenen Flussbetten, Schotterfeldern und Grundmoränen ausgeweht und in unmittelbarer Nähe wie auch in größeren Entfernungen wieder abgelagert. Löss besteht hauptsächlich aus dem Mineral Quarz. Hinzu kommen noch einige andere Minerale sowie Kalk und Tonminerale. Dabei handelt es sich um schichtartig aufgebaute Minerale. Sie haben die Fähigkeit, zwischen ihren Schichten NährstoffIonen aufzunehmen oder abzugeben, einer der Gründe für die Entwicklung nährstoffreicher Böden aus eiszeitlichen Ablagerungen. Werden Löss-Ablagerungen im Zuge der Verwitterung und Bodenbildung entkalkt, so spricht man von Lösslehm. Isotope: uralt und verräterisch Woher weiß die Wissenschaft, wann es kalt oder warm war? Die Klimaschwankungen im Pleistozän ließen die Gletscher mehrfach bis in das Alpenvorland vorstoßen und wieder bis auf Gletscherstände ähnlich den heutigen abschmelzen. In der Arktis und Antarktis bewirkten diese klimatischen Veränderungen zwar auch beträchtliche Schwankungen im Eisvolumen, doch die gewaltigen Eismassen dieser Regionen verschwanden in Anbetracht ihrer Pollage und der dort vorherrschenden Klimaverhältnisse niemals in auch nur annähernd vergleichbarer Art und Weise. Daher konnten Eisbohrkerne gewonnen werden, die aufgrund der SauerstoffIsotopen-Verhältnisse das Klima der vergangenen 150 000 Jahre lückenlos wiedergeben. Man spricht auch von der Sauerstoff-Isotopen-Methode oder von Sauerstoff-IsotopenStadien (OIS = oxygen isotope stages). Auch aus Tiefseebohrkernen konnten anhand der Kalkgehäuse von Foraminiferen (einzellige Lebewesen) Sauerstoff-Isotopen-Stadien bestimmt werden. Atome bestehen aus Protonen, Neutronen und Elektronen. Isotope (von griechisch ísos = gleich und tópos = Ort, Gegend) sind Atome eines Elements wie Sauerstoff, die eine unterschiedliche Anzahl an Neutronen und somit eine unterschiedliche Massenzahl aufweisen. Beim Sauerstoff (O) gibt es die Isotope 16O, 17O und 18O. Das Verhältnis zwischen 16O und 18O ist abhängig von der Temperatur. In einer Kaltphase wird mehr leichtes 16O im Eis festgelegt, 18O reichert sich hingegen relativ im Meerwasser an. Ermittelt man durch Datierungen das Alter von einzelnen Schichten in Eis- oder Tiefseebohrkernen, erhält man eine Zeit-Temperaturkurve, die für die letzten 900 000 Jahre gut mit den astronomischen Milanković-Zyklen übereinstimmt. Auch Pollenanalysen zeigen aufgrund des Vegetationsspektrums in Verbindung mit Datierungen, ob und wann kältere oder wärmere Klimaphasen vorherrschten. 5