5 Grundbegriffe einer buddhistischen Psychologie 5 Grundbegriffe einer buddhistischen Psychologie Ulrike Anderssen-Reuster, Jörg Meibert 5.1Einleitung In diesem Kapitel soll ein Überblick über wesentliche psychologische Aspekte des Buddhismus gegeben werden, wie sie im Pāli-Kanon vermittelt und von Gelehrten wie Nyanaponika (1993) sowie zeitgenössischen buddhistischen Lehrern wie Thich Nhat Hanh (1999), Jack Kornfield (2008), Han F. de Wit (2001) oder Josef Goldstein (Kornfield u. Goldstein 2006) für westliche Interessierte zugänglich gemacht wurden. Es ist nicht unproblematisch, Begriffe einer 2 500 Jahre alten Bewusstseinsdisziplin (Walsh 1980) und einer seit ca. 100 Jahren bestehenden westlichen Wissenschaft miteinander in Verbindung zu bringen. Während die westliche Psychologie die empirische Nachprüfbarkeit und Objektivität ihrer Paradigmen in den Vordergrund stellt, betont der Buddhismus die Erforschung und Schulung des Geistes und die damit verbundene Ebene der persönlichen Erfahrung (s. auch Kap. 18, S. 263 ff.). Bei Tarab Tulku Rinpoche (2005), einem tibetischen Gelehrten und Meditationsmeister, findet man für die Bezeichnung der psychologischen Aspekte des Buddhismus den Begriff »Wissenschaft vom Bewusstsein«, der Dalai Lama spricht von der »Wissenschaft vom Geist« (Kornfield 2008). Erfahrung, Emotion, Bewusstsein, Geist oder Ego haben in einer buddhistischen Psychologie aber eine völlig andere Bedeutung als in der westlichen Psychologie. »Ihre Verwendung hat ein sehr spezielles Ziel, denn sie verfolgt die Einsicht, wie der nicht erleuchtete Geist entsteht und sich verfestigt und wie der Lotos der Erleuchtung zum Blühen gebracht werden kann« (de Wit 2001, S. 89). Die Prinzipien einer buddhistischen Psychologie können dem Grunde nach nur im Kontext der gesamten buddhistischen Lehre verstanden werden. Diese besteht aus aufeinander bezogenen religiösen, philosophischen und psychologischen Aspekten und ist in der buddhistischen Tradition stets im Sinne dieser Ganzheit gelehrt worden. Als buddhistische Psychologie kann man am ehesten die Aussagen des Buddha über die Struktur und Natur des Geistes sowie die Ursachen des Leidens ansehen, wie sie in den Schriften des Abhidharma (Kompendium des höheren Wissens) niedergeschrieben wurden. Die Lehren des Buddha wurden 59 60 II Begegnung von westlicher Psychotherapie und Buddhismus mit der Aufzeichnung der zuvor mündlich überlieferten Unterweisungen in die sogenannten »drei Körbe« (Sanskrit Tipitaka) eingeteilt. Dies sind die drei kanonischen Lehren: Vinaya Pitaka – Ordenslehren (Ethik), Sūtra Piṭaka – Lehrreden des Buddha, bestehend aus fünf »Sammlungen«, sowie Abhidharma Pitaka – Kompendium buddhistischer Psychologie und Philosophie (FischerSchreiber u. Schuhmacher 1995). Buddhas Bestreben war es nicht, eine in sich schlüssige psychologische Theorie zu vermitteln, sondern einen praktischen Weg aufzuzeigen, wie man sich aus dem Leiden befreien kann. Er vermittelte der Welt einen Weg, den er selbst gegangen ist, und entwickelte Lehren darüber, wie man durch meditative Übung und Geistesschulung selbst frei werden kann. Da er aber dennoch eine konsistente Theorie der menschlichen Psyche entwarf und zudem eine empirisch begründete Methode zur Linderung von Leiden vermittelte, wird in diesem Kontext von einer »buddhistischen Psychologie« gesprochen. Stets voller Furcht ist dieses Herz, Stets voll Besorgnis ist der Geist Durch Nöte, welche droh’n und solche, welche sind. Furchtfreies Leben, gibt es solches denn? O künd’ es an, von mir befragt! Wirrsal innen, Wirrsal außen – In Wirrsal ist verwirrt das Volk. Dies frag’ ich nun, o Gotama: Wer kann die Wirrsal wohl entwirren? (Nyanaponika 1993) Diese Zeilen, welche vermutlich vor 2 500 Jahren – zu Buddhas Zeiten – in Indien verfasst wurden, zeigen, dass Menschen schon immer unter Sorgen, Ängsten und Nöten gelitten haben (Nyanaponika 1993). Sie fühlten sich auch damals verwirrt von inneren und äußeren Bedrängnissen und haben nach einem Weg gesucht, welcher ihnen verhelfen könnte, aus diesen belastenden Erfahrungen herauszufinden. Der Buddha hatte diesen Weg gefunden und – motiviert von dem Wunsch, den Lebewesen zu helfen – entschied er sich, seine Erkenntnisse weiterzugeben. Obwohl sich der Buddhismus später in unterschiedliche Lehren und Traditionslinien aufgespaltet hat und auch jeweils sehr stark von der Kultur mitgeprägt wurde, in welcher er sich entwickelte, gibt es doch einige Grundaussagen und Kernbotschaften, die für alle buddhistischen Strömungen bindend sind (vgl. auch Goldstein 2004). In den folgenden Abschnitten wird eine begrenzte, aber wesentliche Auswahl dieser grundlegenden buddhistischen Lehren vorgestellt. 5 Grundbegriffe einer buddhistischen Psychologie 5.2 Die Zwei Wahrheiten »Unser Leben hat sowohl eine universelle als auch eine persönliche Dimension. Beide müssen respektiert werden, wenn wir frei und glücklich sein wollen«, formuliert es Kornfield (2008, S. 119). Der Buddhismus ist eine nicht theistische Lehre mit der Betonung auf der Unterscheidung zwischen einer relativen bzw. konventionellen Wahrheit (skrt. samuti sacca) und einer absoluten Wahrheit (skrt. paramattha sacca). Die relative Wahrheit, die bei Kornfield als »persönliche Dimension« bezeichnet wird, bezieht sich auf die Wahrnehmung der Welt, so wie sie uns im Alltag erscheint. Diese Wahrnehmung ist geprägt durch die Verwendung von Begriffen und Konzepten. Die absolute Wahrheit, die Kornfield »universelle Dimension« nennt, bezieht sich auf die uns im Alltag normalerweise verborgene Wirklichkeit, »die die gegenseitige Abhängigkeit aller Erscheinungen bzw. ihre Leerheit (shunyata) ausmacht« (von Brück 2007, S. 143). In der buddhistischen Psychologie sind das Verständnis und das Durchdringen dieser Lehre von den beiden Wahrheiten essenziell und es wird davon ausgegangen, »dass Heilung dann stattfindet, wenn wir uns aus der Welt der Begriffe lösen und in die direkte Erfahrung eintreten. Unsere geistigen Konzepte und Vorstellungen über Dinge, Menschen oder Gefühle sind statisch. […] die Realität der Erfahrung aber ist ein stets sich wandelnder Fluss. Die direkte Wahrnehmung greift unter die Schicht der Namen und Begriffe, die wir den Dingen geben, und legt deren geheimnisvolle, flüchtige Natur offen« (Kornfield 2008, S. 131). 5.3 Den Geist erkennen, formen und befreien Das Dhammapada, eines der bekanntesten Bücher des buddhistischen Kanons, beginnt mit den Zeilen: »Vom Geiste gehen die Dinge aus, sind geistgeboren, geistgeführt …« (Nyanaponika 1993, S. 14). Es ist der eigene Geist, in welchem unsere Vorstellungen entstehen – Vorstellungen von der Welt, Vorstellungen von uns selbst. Wenn wir an diesen Vorstellungen leiden, so ist es möglich, sie zu verändern. »Die Buddha-Botschaft als Lehre vom menschlichen Geist lehrt ein Dreifaches: den Geist zu erkennen, ihn, der so nahe ist und doch so unbekannt; den Geist zu formen, ihn, der so widersetzlich ist und doch so willfährig; den Geist zu befreien, ihn, der so vielfach gefesselt ist und doch frei sein kann: hier und jetzt.« (Nyanaponika 1993) 61 II Begegnung von westlicher Psychotherapie und Buddhismus 62 In der ersten Phase, der Phase des Erkennens, lernt man seinen Geist und damit sich selbst kennen. Im zweiten Schritt geht es darum, den Geist zu zähmen, zu formen und zu zügeln, »der so widersetzlich ist und doch so willfährig«. Diese Phase bedarf der kontinuierlichen Bemühung und Praxis. Man lernt langsam, die eigenen Impulse wahrzunehmen, ihnen aber mit Achtsamkeit zu begegnen und nicht jedem emotionalen oder körperlichen Drang nachzugeben. In dieser Phase wird Selbstbeherrschung und Selbstführung eingeübt. Diese sind schließlich Voraussetzung für die Befreiung des Geistes »der so vielfach gefesselt ist und doch auch frei sein kann: hier und jetzt«. Darunter wird verstanden, dass es möglich ist, den Bereich des diskursiven Denkens – zumindest zeitweise – hinter sich zu lassen und in einem Gewahrsein zu ruhen, das frei von Bewertung und dualistischem Unterscheiden ist. Diese Erfahrung geht mit der Einsicht einher, dass man mit der Mit- und Umwelt untrennbar verbunden ist und in einem Netz von Bezogenheiten und Beziehungen verflochten ist. Alleinsein und Trennung finden in unserem Erleben statt – tatsächlich sind wir immer Teil eines größeren Ganzen, selbst wenn wir das nicht direkt wahrnehmen können. In der buddhistischen Terminologie wird diese Tatsache als das »abhängige Entstehen« benannt, Thich Nhat Hanh spricht in diesem Kontext von »Intersein« (Erber 2011). 5.4 Der mittlere Weg Siddharta, der spätere Buddha, wurde um 560 v. Chr. als Sohn eines Fürsten im nördlichen Indien, dem heutigen Nepal, geboren. Es wird berichtet, dass seine Mutter früh verstarb. Er wuchs sehr behütet im Palast seines Vaters und den umgebenden Parks und Ländereien auf. Er sollte nicht zu früh mit der äußeren Welt und deren Gefahren in Kontakt kommen und durfte deshalb das eingegrenzte und beschützte Areal nicht verlassen. Offenbar hat er eine sorgfältige Erziehung genossen und die Philosophien und religiösen Lehren seiner Zeit gekannt. Die Legende berichtet, dass er sich im Alter von 29 Jahren erstmalig durch das Verlassen des vom Vater geschützten Raumes, durch mehrere heimliche Ausfahrten aus seinem Palast, mit den Schattenseiten des Lebens konfrontiert sah. Er erlebte bewusst einen schwer kranken Mann, dann einen uralten, von den Jahren gezeichneten Menschen und schließlich sogar einen Toten. Diese Erfahrung erschütterte ihn zutiefst und er verstand, dass ein angenehmes Leben, Jugend, Gesundheit und das Leben selbst vergänglich sind und unweigerlich irgendwann Krankheit, Alter und Tod auftreten werden. Ab diesem Zeitpunkt befasste er sich mit der Frage, wie es möglich sein kann, trotz dieser universellen Gegebenheiten, vor welchen ihn sein Vater unbedingt bewahren 11 Einführung in die ­Achtsamkeitsmeditation 11 Einführung in die ­Achtsamkeitsmeditation Cornelius von Collande 11.1 Einleitung: Achtsamkeit Wie kommt es, dass manche Menschen in schwierigen Situationen über sich selbst hinauswachsen, andere hingegen in weit weniger kritischen Momenten verzagen? Was können die einen, was die anderen nicht können? Lässt sich diese Haltung erlernen? Diese Fragen beschäftigen die Bewusstseinsforschung schon seit langem. Neue Studien umschreiben das, was man benötigt, um in Krisenzeiten gesund und lebendig agieren zu können, als Resilienz. Eines der Ergebnisse kann uns allen Mut machen: Resilienz ist erleb- und erlernbar. Und noch etwas hat sich erwiesen: Achtsamkeit und Meditation unterstützen und fördern diesen Prozess. So viel zu den eindeutigen Dingen. Zwei- bis vieldeutig scheint jedoch der Begriff »Achtsamkeit« zu sein. Häufig wird nämlich die formelle Übung mit der Haltung gleichgesetzt. Die Übung beinhaltet z. B. stilles Sitzen, langsames Gehen, sorgfältiges Arbeiten und aufmerksames Zuhören. Das verleitet viele zu der Auffassung, Achtsamkeit bedeute, still, langsam, sorgfältig und aufmerksam zu sein. Dies trifft allerdings nur oberflächlich gesehen zu. Im Kern handelt es sich bei all diesen Techniken um das Einüben einer Haltung des »Bereitstellens«, nämlich des Bereitstellens eines möglichst offenen Raumes, in dem ganz neue Informationen zu einer völlig neuen Perspektive führen können. Dieser Raum steht im Grunde jedem, immer und überall zur Verfügung, sei es in der Stille einer Kirche oder mitten auf einem Fußballplatz. Am besten lässt sich das anhand einer kurzen Begebenheit erläutern: Ein Bekannter berichtete vor einiger Zeit, dass er zu einem Kongress fliegen wollte, auf dem er den Hauptvortrag halten sollte. Auf dem Flughafen angekommen, musste er auf der Anzeigetafel lesen, dass der einzige Flug zum Ort des Kongresses gestrichen worden war. Seine Reaktion auf diese unerwartete Wendung war ein Satz, den ich mir seitdem in schwierigen Situationen immer wieder ins Gedächtnis rufe: »Nun bin ich aber mal gespannt, wie mein Leben jetzt weitergeht!« Dieser Satz beinhaltet alle wichtigen Aspekte einer Haltung, die – wie der Psychotherapeut Viktor Frankl (1985) einmal sagte – nicht danach fragt, was wir vom Leben wollen, sondern was das Leben von uns erwartet: Offenheit 151 IV Heilung von innen durch Bewusstseinsveränderung 152 und vertrauensvolles Sich-Einlassen auf die ständigen Veränderungen des Lebens. Dies sind gute Voraussetzungen für eine persönlich stimmige Antwort. Eine Antwort, die in Verbindung steht mit dem Leben, so wie es sich in diesem Augenblick zeigt. 11.2 Aspekte der Achtsamkeit Bevor ich auf jeden der genannten Aspekte näher eingehe, nehmen Sie sich jetzt bitte einen Augenblick Zeit, um das Gelesene anhand der folgenden Fragen noch einmal zu reflektieren. Fragen zum Thema Achtsamkeit • Wie erleben Sie Achtsamkeit? • Was unterstützt Sie dabei, achtsam zu sein? Was hindert Sie daran? • Haben achtsame Menschen weniger Probleme? • Sind ruhige Menschen achtsamer als lebhafte? • Ist es möglich, Unachtsamkeit achtsam wahrzunehmen? Offenheit Wir Menschen zeichnen uns dadurch aus, dass wir in der langen Zeit unseres Reifens unendlich viele Konzepte über die Welt erlernen. So können wir dann als Erwachsene in Bruchteilen von Sekunden hochkomplexe Situationen erfassen. Das befähigt uns etwa dazu, dass beim Anblick des Wortes »Apfel« sofort alle wesentlichen Erinnerungen, die wir mit Äpfeln gemacht haben, in unserem Geist auftauchen. Diese hochwirksame Spezialisierung hat allerdings zur Konsequenz, dass wir uns die meiste Zeit völlig unbewusst in einer durch unsere Erfahrungen geprägten Vorstellungswelt bewegen. So ist es eben in unserem Fall auch kein leibhaftiger Apfel, der auftaucht und dessen Süße wir schmecken können, sondern nur das Konzept eines Apfels, noch dazu verschlüsselt in Form einiger schwarzer Zeichen auf dem Papier vor uns. Um der eigenen Konzeptwelt einerseits auf die Spur zu kommen und sie andererseits für Neues zu öffnen, gibt es im Achtsamkeitstraining nach Jon Kabat-Zinn, der MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction = Stressbewältigung durch Achtsamkeit), die sog. »Rosinenübung« (s. Kabat-Zinn 2006). Um der »wirklichen Rosine« zu begegnen, werden wir bei dieser Übung eingeladen, das Objekt mit all unseren Sinnen noch einmal ganz ausführlich zu erkunden. Mit dieser Haltung erforschen wir den »kleinen Gegenstand« mit einer Offen- 11 Einführung in die ­Achtsamkeitsmeditation heit und Neugier, als sähen wir ihn zum allerersten Mal. Wir entdecken dabei tatsächlich erstaunliche Dinge. Zum Bespiel, dass dieser Gegenstand knistert, wenn wir ihn ans Ohr drücken. Er hat einen frischen, zitronigen Geruch und schmeckt vielleicht plötzlich sogar jemandem, der Rosinen bislang nicht ausstehen konnte. Wie schwer es allerdings ist, ganz unvoreingenommen zu sein, ganz »von vorne« anzufangen, wird schon an dem vorangegangenen Satz klar, in dem ich mit dem Wort »zitronig« wieder auf ein anderes, bereits vorhandenes Konzept Bezug genommen habe. Das verdeutlicht vor allem eines: dass wir weder alle Konzepte über Bord werfen können noch dass wir das tun müssen. Vielmehr profitieren wir in der Übung der Achtsamkeit von unserer Fähigkeit, die Welt zu konzeptualisieren. Allerdings erfahren diese Konzepte flexible Erweiterungen. Wir ergänzen beispielsweise unsere bereits gemachten Erfahrungen durch neue, hier und jetzt zur Verfügung stehende Informationen. So schossen dem gestrandeten Flugreisenden angesichts des gestrichenen Flugs vermutlich zuerst einmal all seine Erfahrungen mit »zu spät kommen« durch den Kopf. Daneben gelang es ihm aber, offen zu bleiben und gleichsam mit einem zweiten Blick noch einmal ganz von vorne zu schauen, wie »sein Leben jetzt weitergeht«. Um sich auf dieses Abenteuer einzulassen, half ihm sicher auch eine Portion Vertrauen in das Leben und dessen sich ständig wandelnde Prozesse. Um auch Ihnen die Erfahrung des »zweiten Blicks« zugänglich zu machen, sind Sie eingeladen, die folgende Übung auszuführen. Übung zum Thema »Konzepte öffnen« Untersuchen Sie dieses Buch so, als ob Sie zum ersten Mal ein Buch in Händen halten würden. Tun Sie das mit allen Sinnen. Wonach riecht es? Wie fühlt es sich an verschiedenen Stellen an? Wie klingt es, wenn Sie die Seiten bewegen? Nach was schmeckt es, wenn Sie vorsichtig daran lecken? Wie sieht es aus, wenn Sie es ganz genau betrachten? Vielleicht kommt dabei Langeweile in Ihnen auf: »Das weiß ich doch schon alles!« Stimmt das wirklich? Welche ganz eigenen, ganz neuen Informationen erhalten Sie hier und heute von diesem speziellen Buch? Vertrauen Wie entsteht Vertrauen? Hierzu wieder eine kleine Geschichte: Ein christlicher und ein buddhistischer Weiser trafen sich an einem See zum Angeln. Sie ließen sich dazu von einem jungen Fischer ein Stück mit einem Boot hinausrudern. Nach einiger Zeit hatten sie keine Köder mehr und überlegten, wie sie wohl am 153 IV Heilung von innen durch Bewusstseinsveränderung 154 schnellsten ans Ufer gelangen könnten, um neue Würmer zu holen. Da stand der Christ auf, machte voller Vertrauen Anstalten, über das Wasser zum Ufer zu gehen und … versank. Darauf setzte sich der Buddhist vertrauensvoll in den Lotussitz und … versank in tiefe Meditation. Als aber nach einiger Zeit immer noch keine Köder im Boot waren, schwang sich der Fischer kurzerhand über die Brüstung des Bootes, sprang geschickt von Stein zu Stein ans Ufer und innerhalb kurzer Zeit kehrte er mit dem Köder zurück. Auf die verblüffte Frage der beiden weisen Männer, wie er das geschafft habe, antwortete er: »Ich lebe hier schon seit meiner Kindheit und bin vertraut mit allen Untiefen dieses Sees.« Vertrauen scheint also viel mit Erfahrung und einem daraus entstandenen Können zu tun zu haben. Das ist auch der Grund, warum es Übungswege, wie z. B. die Achtsamkeitsmeditation, gibt. Wir üben damit, uns mit größtmöglicher Offenheit auf das Leben einzulassen, so wie es sich gerade ereignet. Dabei gewinnen wir immer größeres Vertrauen darin, dass wir da, wo wir sind, so wie wir sind, genau jetzt am richtigen Ort sind. Auch hierzu wieder eine kleine Übung. Übung zum Thema Vertrauen Stellen Sie sich vor, Sie seien in einer schwierigen Lage. Welche Qualitäten sollte eine Person besitzen, der Sie sich anvertrauen könnten? Sich einlassen Wenn wir uns wirklich auf eine Situation einlassen, entscheiden wir uns, nicht mehr mit dem zu hadern, was uns fehlt, sondern mit dem zu gehen, was wir haben. Wir hören auf, das Unvorhergesehene und Ungewollte als Hindernis zu sehen, weil wir begreifen, dass auch das unser Leben ist. Auf diese Weise kommen wir in Kontakt mit dem Leben, so wie es sich von Moment zu Moment entfaltet. Mir selbst wurde das einmal schlagartig klar, als ich am Ende eines Seminars im Rahmen der Abschlussfeier dazu aufgefordert wurde, einen kleinen Sketch, ein Lied, ein Gedicht oder Ähnliches zum Besten zu geben. Meine erste Reaktion war: »Nein, das mache ich nicht, das überlasse ich lieber anderen!« Da sagte einer der Seminarteilnehmer zu mir: »Es ist ein Geschenk, das du uns machst!«, und plötzlich hatte ich die Freiheit, aus der Verweigerung herauszugehen und mich in Form einer kleinen Anekdote zu verschenken. Selbst in extremen Situationen haben wir noch die Chance zur Entscheidung. So beschreibt der Psychotherapeut und Auschwitz-Überlebende Viktor Frankl in seinem Buch »Trotzdem Ja zum Leben sagen« (Frankl 2009) eine Szene, in der ein Bewacher des Vernichtungslagers versuchte, ihn zu einer 11 Einführung in die ­Achtsamkeitsmeditation sehr harten Arbeit zu zwingen. Frankl war es möglich, seine innere Freiheit zu retten, indem er sich dafür entschied, die Arbeit freiwillig zu erledigen. Durch die Akzeptanz des Unabwendbaren, durch sein Einlassen auf das Unvermeidliche, ließ er die Position des Opfers hinter sich und wurde dadurch zum Akteur, zum Mitspieler. Im täglichen Leben gibt es ständig Situationen, mit denen wir hadern, in denen wir also das »Mitspielen« ausprobieren könnten. Als Stimulation soll die folgende kleine Übung gelten. Übung zum Sich-Einlassen Denken Sie an eine Aufgabe, mit der Sie zwar immer wieder konfrontiert sind, die Sie aber sehr ungern erfüllen. Machen Sie sich nun klar, dass auch dies ein Teil Ihres Lebens ist. Möchten Sie ihn loswerden oder ist es möglich, auch diesem Teil immer wieder offen, interessiert und zugewandt zu begegnen? Könnten Sie sich vielleicht sogar dazu entschließen, diese Aufgabe achtsam zu erledigen? Beobachten Sie, was geschieht, wenn Sie dies tun. Antworten Aus einem soliden, von Erfahrung getragenen Vertrauen, mit dem wir uns immer wieder erneut auf das Leben einlassen, erwachsen uns dann auch adäquate, ganz persönliche, auf das Hier und Jetzt bezogene Antworten (Konsequenzen). Hier wurde bewusst das Wort »erwachsen« gewählt, denn mit der Haltung der Achtsamkeit stellen wir einen Raum, ein Feld zur Verfügung. Mehr können wir nicht tun. Eine verbundene Antwort entwickelt sich als natürlicher Prozess, so wie auch Wachstum und Heilung als Prozesse der Natur nicht getan werden können. Das ist ein großes Missverständnis unserer Zeit: Immer geht es um die Frage, was zu tun sei. Achtsamkeit fragt jedoch nach der Haltung, aus der ganz natürlich eine angemessene, ganz persönliche Konsequenz (oder eben »Antwort«) entstehen kann. Diese braucht dann auch keine »Kuschelantwort« zu sein. Eine adäquate Antwort kann in einem offenen »Ja«, aber auch in einer klaren Abgrenzung oder Zurückweisung liegen. Sie kann eine Handlung, aber ebenso ein Nichthandeln, kann Reden, aber auch Schweigen sein. Nehmen Sie sich bitte auch hier wieder einige Minuten Zeit, um mit der folgenden Übung dem Antworten nachzuspüren. 155 13 Zugang zu achtsamem Gewahrsein ­inmitten von Leid und Schmerz 13 Zugang zu achtsamem Gewahrsein ­inmitten von Leid und Schmerz Petra Meibert 13.1Einleitung »In anderen Traditionen werden die Dämonen äußerlich verjagt, doch in meiner Tradition werden sie mitfühlend angenommen.« (Machig Labdrön) In diesem Zitat benennt Machig Labdrön eine Herausforderung, der wir auch in psychotherapeutischen Prozessen begegnen: Würden wir nicht gerne mit dem Klienten zusammen das Leid »verjagen« und wissen doch gleichzeitig nur allzu gut, dass eine Hinwendung zum Leid erforderlich ist, um es aufzulösen? Welche Möglichkeiten bietet die Praxis der Achtsamkeit, um schwierige Erfahrungen zu integrieren, und wie wird damit in der modernen Psychotherapie umgegangen? Achtsamkeit zu praktizieren, also präsent zu sein für die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks mit all seinen Facetten, ist bei schmerzhaften, leidvollen Erfahrungen, eine große Herausforderung. Gleichzeitig wirkt eine zugewandte, annehmende Umgangsweise mit schwierigen Erfahrungen auf die Dauer stabilisierend und heilsam, während das Gegenteil langfristig zu noch mehr Leid führt. Sowohl aus der Sicht der akademischen Psychologie als auch aus buddhistischer Perspektive wird ein kontraphobischer Umgang mit negativen Emotionen wie Angst, Trauer oder Wut (Seligman 2009) als problemverstärkend erachtet. Schulenübergreifend sind sich Kliniker und Forscher einig, dass Vermeidungsverhalten im Umgang mit unangenehmen Erfahrungen als eine wesentliche Ursache für psychische Probleme angesehen werden kann. In den kognitiven Theorien wird die Tendenz zum Vermeidungsverhalten als experiential avoidance operationalisiert (Kumar et al. 2008; Roemer u. Orsillo 2009) und gilt störungsübergreifend als ein wichtiger Vulnerabilitätsfaktor sowie als eine aufrechterhaltende Bedingung für psychische Erkrankungen. Das Ziel sowohl verhaltenstherapeutischer als auch psychodynamischer und humanistischer Psychotherapierichtungen besteht darin, das Vermeidungsverhalten bewusst zu machen und aufzuweichen, wenngleich die Wege, um dies zu erreichen unterschiedlich sein mögen (vgl. Germer et al. 2009). 177 178 IV Heilung von innen durch Bewusstseinsveränderung Hier finden sich Übereinstimmungen mit der inneren Haltung, die in den buddhistischen Meditationstraditionen gegenüber unangenehmen Erfahrungen geübt wird. In der Meditation ist der Übende angehalten, sich auf das Objekt seiner Praxis zu konzentrieren, z. B. auf den Atem, und möglichst bei diesem zu bleiben. Treten dann Gefühle, Gedanken oder Körperempfindungen ins Feld der Aufmerksamkeit, besteht die meditative Übung, z. B. im Rahmen der Einsichtsmeditation (vipassana; vgl. Goldstein u. Kornfield 1996)1, darin, sich der inneren Reaktionen bewusst zu werden, diesen aber nicht zu folgen. Somit kann beobachtet werden, wie der Geist angenehme Erfahrungen festhalten und unangenehme vermeiden möchte. Im weiteren Verlauf der Meditation geht es darum, diese inneren Reaktionen genau zu beobachten. Dies beinhaltet auch, die unangenehmen Gefühle, Gedanken oder Körperempfindungen möglichst wertfrei wahrzunehmen, ohne sie zu kontrollieren, und ihnen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Das Ergebnis kann sich auf folgende Weise zeigen (Germer et al. 2009, S. 73): »Hierdurch lernen Meditierende, dass sie unangenehme mentale Inhalte tolerieren können und keine Angst vor ihnen haben müssen. Das Vermeidungsmuster ist willentlich und vorläufig beiseitegelegt, und alle Ereignisse werden willkommen geheißen, gleich welche Einstellung wir zu ihnen haben.« Diese Form des Zulassens und Erforschens von schmerzhaften Erfahrungen erfordert eine bewusste Entscheidung, die immer wieder neu getroffen werden kann und muss. Eine solche Entscheidung braucht Motivation, Entschlusskraft und Weisheit ebenso wie Mitgefühl und Selbstachtung, weil die Abwehrreak­ tion auf unangenehme Erfahrungen automatisch abläuft und man leicht in den Strudel von unbewussten Ablenkungsstrategien hineingezogen werden kann (vgl. Segal et al. 2008). Deshalb wird in den Meditationstraditionen der Aspekt der regelmäßigen Übungspraxis stark betont. Ziel ist es dabei, das achtsame Gewahrsein möglichst ununterbrochen, auch bei den täglichen Aktivitäten, aufrechtzuerhalten. Achtsamkeit in der modernen Psychotherapie Um die nötige innere Stärke und Motivation aufzubringen, sich den schwierigen Erfahrungen zu stellen und bei ihnen zu bleiben, wird das Kultivieren von Achtsamkeit als hilfreicher Weg angesehen und mittlerweile auch schulenübergreifend in psychotherapeutische Ansätze integriert. Achtsamkeit hilft 1 Einen Überblick über verschiedene Formen der Meditation geben auch Goleman 1990 und Carrington 1999. 13 Zugang zu achtsamem Gewahrsein ­inmitten von Leid und Schmerz nicht nur, die Konzentrationsfähigkeit zu stabilisieren, um Schwieriges auszuhalten, sie bringt auch wieder in Kontakt mit dem, was gut ist. Sie ermöglicht Glückserfahrungen, die aus einer mitfühlenden Begegnung mit dem Leid entstehen können. Die humanistischen Therapien haben von Anfang an eine achtsamkeitsähnliche Methodik 2 integriert. In den psychodynamischen Verfahren findet man achtsamkeitsanaloge Elemente wie z. B. die gleichschwebende Aufmerksamkeit oder das freie Assoziieren (Weiss u. Harrer 2010). In der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT nach Reddemann 2004, 2011) wird das Konzept der Achtsamkeit in die Behandlung von Traumafolgestörungen integriert. Auch in den kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapien werden achtsamkeits- und akzeptanzorientierte Interventionen meist als strukturierte Gruppenprogramme in den Therapieprozess einbezogen, etwa beim SkillsTraining in der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT), der MindfulnessBased Cognitive Therapy (MBCT), die aus dem Programm der MindfulnessBased Stress Reduction (MBSR) entwickelt wurde, oder in der Einzeltherapie wie im Rahmen der Acceptance and Commitment Therapy (ACT). 13.2 Was ist achtsames Gewahrsein? Achtsames Gewahrsein ist ein Geisteszustand, in dem die gegenwärtige Erfahrung bewusst wahrgenommen wird ohne den Versuch, sie zu manipulieren oder zu bewerten. Epstein (1995, 2000) hat diese Haltung »reine Aufmerksamkeit« (bare attention) genannt und führt aus: »Ohne etwas zu verändern, geht es um die Beobachtung unseres Denkens, Fühlens und unserer Körperempfindungen« (Epstein 2000, S. 119). Nyanaponika, ein buddhistischer Gelehrter und Mönch, definiert Achtsamkeit als »das klare und zielstrebige Gewahrsein dessen, was in den sukzessiven Momenten der Wahrnehmung gerade mit und in uns geschieht« (zit. in Epstein 2000, S. 119). Dieses Beobachten oder Wahrnehmen dessen, was ist, hat eine bestimmte Qualität, die geprägt ist von dem, was Gunaratana (1996, S. 41) als »teilnehmende Beobachtung« bezeichnet. 2 Humanistische Therapieverfahren mit Achtsamkeitselementen sind die Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers, die Gestalttherapie nach Fritz Perls, die Hakomi-Therapie nach Ron Kurtz, das Focusing nach Eugen Gendlin sowie verschiedene körperpsychotherapeutische Richtungen. Einen Überblick bieten Weiss und Harrer 2010 sowie Marlock und Weiss 2006. 179 180 IV Heilung von innen durch Bewusstseinsveränderung »Der Meditierende ist sowohl Teilnehmer als auch Beobachter zu ein und derselben Zeit. Wenn man seine Gefühle oder körperlichen Empfindungen betrachtet, fühlt man sie auch genau in diesem Moment. Achtsamkeit ist keine intellektuelle Bewusstheit, sie ist einfach Bewusstheit. […] Achtsamkeit ist objektiv, aber sie ist nicht kalt oder gefühllos. Sie ist die wachsame Erfahrung des Lebens, eine aufmerksame Teilnahme am laufenden Prozess des Lebens.« (Gunaratana 1996, S. 154f.) Hauptaspekt des achtsamen Gewahrseins ist also eine bewusste Wahrnehmung der Erfahrung des gegenwärtigen Momentes mit einer Haltung der Neugier und Offenheit, ohne zu urteilen, im Geiste von freundlicher Teilnahme und Akzeptanz für die Dinge, wie sie sind. Neben der Fähigkeit, die Erfahrung des Augenblicks so wahrzunehmen, wie sie ist, ist es wichtig, dass dies nicht nur mit der reinen Aufmerksamkeit (manasikara, skrt. manaskara) erfolgt, sondern mit der rechten Achtsamkeit (samma sati) (Wetzel 2011). Achtsamkeit ist im buddhistischen Kontext eine zentrale Übung und »rechte Achtsamkeit ist ein heilsamer Geistesfaktor. Sie fördert und ermöglicht die Unterscheidung zwischen heilsam und unheilsam. Sie ist moralisch nicht neutral, sondern will heilsames Verhalten fördern« (Wetzel 2011, S. 41). Achtsamkeit im Sinne einer Aufmerksamkeitslenkung kann helfen zu bemerken, was jetzt gerade vor sich geht. Dies ist der erste Schritt, der sehr hilfreich ist und vielleicht sogar eine entlastende Wirkung haben kann. Der zweite Schritt ist das Sich-Erinnern an das, was heilsam ist, die rechte Achtsamkeit, das nicht urteilende Gewahrsein. Mit Nicht-Urteilen ist aber nicht gemeint, dass man keine Urteile oder Bewertungen mehr hat, sondern dass man sich der Urteile bewusst wird und die Unterscheidungskraft entwickelt, welche hilfreich sind und welche nicht (vgl. auch Wetzel 2011). Dem gegenüber steht ein Alltagsbewusstsein, das normalerweise von einem unruhigen, stets mit Vergangenem oder Zukünftigem beschäftigten Geist geprägt ist – umherschweifend, suchend und immerfort urteilend. Dieses Alltagsbewusstsein geht einher mit der Neigung, sich mit den Gedanken und Gefühlen, die gerade auftauchen, zu identifizieren und an ihnen festzuhalten, als seien sie die Wahrheit. Ist die Erfahrung unangenehm, reagiert der Geist mit Abwehr und Vermeidung, ist sie angenehm, reagiert er mit Anhaftung und Festhaltenwollen. Vorwort V Vorwort Einleitung Zwei junge Fische schwimmen des Wegs und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: »Morgen Jungs. Wie ist das Wasser?« Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: »Was zum Teufel ist Wasser?« (David Foster Wallace 2012, S. 8) Seine Parabel über den Dialog zwischen dem weisen alten Fisch und den noch »blinden« jungen Fischen schließt David Foster Wallace mit der Einladung zur achtsamen Wahrnehmung dessen, was uns alltäglich im Leben umgibt und das wir doch so oft nicht einmal erkennen. Und er führt uns damit direkt in die Essenz und Thematik des vorliegenden Buches. Sind wir nicht oft selbst wie die jungen Fische, denen nicht klar ist, dass ihr Erleben von der Verfassung ihres eigenen Geistes bestimmt ist? Dabei bleiben wir häufig so in uns selbst gefangen, dass wir nicht mehr erkennen können, wie unser jeweiliger Geisteszustand die selektive Wahrnehmung äußerer und innerer Phänomene bestimmt. Es ist somit nicht unerheblich, ob wir selbst und auch unsere Patienten erkennen, wie »das Wasser gerade in diesem Moment« ist. Ziel des vorliegenden Buches ist es nun, aus verschiedenen wissenschaftlichen und therapeutischen Perspektiven darzustellen, welche Geisteszustände dazu führen, dass dieser achtsame Blick auf das »Wasser« besser gelingen kann. In Hinblick auf die Wahrnehmung, Differenzierung und Gestaltung von Geisteszuständen können wir vom Buddhismus und seiner dezidierten Bewusstseinskultur sowie den vielfältigen Methoden des Geistestrainings lernen. In der buddhistischen Lehre sagt man, dass die Dinge vom Geiste ausgehen, durch ihn entstanden sind und auch gelenkt werden. Dies gilt insbesondere für menschliches Leid und psychische Probleme. In der 2 500 jährigen Tradition der buddhistischen Psychologie beließ man es aber nicht bei der Diagnose und Klassifikation von psychischem Leid, sondern entwickelte vielfältige Methoden, um belastende psychische Geisteszustände zu transformieren. Der Buddhismus zeigt auf, wie es möglich ist, den eigenen Geist zur Ruhe zu bringen und sowohl eigenem wie fremdem Leiden mit Mitgefühl und Achtsamkeit zu begegnen. Ziele sind eine Stabilisierung der eigenen geistigen und emotionalen Verfassung und eine allmähliche Transformation von Schmerz und Kummer, um glücklicher, menschlicher und verbundener zu leben. VI Vorwort So verwundert es nicht, dass sich auch immer mehr Psychotherapeuten für Meditation und buddhistische Ansätze interessieren. Sie erfahren selbst oder mit ihren Patienten gemeinsam, dass in der Wendung nach innen zur Einübung einer ruhigen Beobachterhaltung etwas erlebt werden kann, das jenseits von Worten und Theorien liegt. Sie erkennen die unmittelbar erfrischende und wohltuende Kraft der Achtsamkeitspraxis und dass es Geisteszustände gibt, in welchen man sich gesund und frei fühlen kann, auch wenn objektive Belastungsfaktoren weiterhin bestehen. Die Mehrzahl der Beiträge des vorliegenden Bandes entstand anlässlich des Kongresses »Bewusstseinskultur – Begegnung westlicher Psychotherapie und buddhistischer Geistesschulung: Herausforderungen und Grenzen« im April 2012 in den Hellerauer Werkstätten in Dresden. Die Verfasser sind ­Buddhismusexperten und Philosophen, Kliniker und Forscher; und sie sind alle in einer langjährigen meditativen Übungspraxis erfahren. Ergänzt wurden diese Beiträge durch einige Texte, die sich besonders mit der Entwicklung von Mitgefühl in der Therapie befassen. Das vorliegende Buch steht somit in der Tradition der 2. Welle der Buddhismus-Rezeption in der Psychotherapie. In der 1. Welle wurde in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts insbesondere die Achtsamkeitspraxis mit ihren verschiedenen Möglichkeiten rezipiert. In der gegenwärtigen 2. Welle richtet sich das Interesse nun verstärkt auf die transformative Kraft des Mitgefühls und die Entwicklung von Weisheit. Darunter wird, neben der bestmöglichen Selbststeuerung und geschickten Umgangsweise mit Herausforderungen insbesondere die Reflexion des Selbstkonzeptes verstanden, welches im Buddhismus gänzlich anders definiert wird als in der westlichen Psychologie. Der 1. Abschnitt des Buches widmet sich dem Rätsel des Bewusstseins. So führt Michael von Brück in seiner Annäherung an den Begriff aus, dass es das Bewusstsein nicht geben könne, sondern dass vielmehr eine Vielfalt fluktuierender Geisteszustände existiere, welche Ausdruck der Impermanenz und des abhängigen Entstehens aller Phänomene sei. Von Brück definiert Bewusstseinskultur als das Erlernen selbstreflexiver Geistesruhe, worunter er die Wahrnehmung der Wahrnehmung selbst versteht. Thomas Reuster beleuchtet Bewusstseinskonzeptionen aus der Perspektive der klassischen europäischen Philosophie. Er erarbeitet eine Begriffsbestimmung, betont die Kontextabhängigkeit des Verständnisses von Bewusstsein und vermittelt die erkenntnistheoretische Dimension des Begriffs. Carola Roloff nähert sich dem Phänomen des Bewusstseins aus der Tradition des Mahayana-Buddhismus, in welchem vermittelt wird, dass die Natur unseres Geistes die Buddha-Natur sei. Bewusstsein wird dabei als erkennende Instanz verstanden, die klar und frei von Widerständen ist. Carola Roloff stellt verschiedene buddhistische Geisteskonzepte vor und führt uns in die Lehre der Geistesfaktoren ein, welche für Vorwort die Gestaltung unterschiedlicher Bewusstseinszustände verantwortlich zeichnen. Ulrich Ott stellt dar, welche neurobiologischen Voraussetzungen unser Bewusstsein hat und wie veränderte Bewusstseinszustände biologisch erklärt werden können. Er widmet sich dem »Ich im Gehirn«, welches gespürt, sozial gespiegelt und gedacht werden kann. Ulrich Ott erläutert zudem die Wirkung des mentalen Trainings der Meditation auf die Förderung der interozeptiven Wahrnehmung, der Aufmerksamkeits- und Emotionsregulation sowie der De-Konditionierung pathologischer Gewohnheiten. Im 2. Abschnitt des vorliegenden Bandes wird die Begegnung von westlicher Psychotherapie und buddhistischem Denken reflektiert. Ulrike AnderssenReuster und Jörg Meibert geben einen Überblick über die Grundbegriffe der buddhistischen Psychologie. Die buddhistische Heilslehre ist eine ganzheitliche Lehre, die religiöse, philosophische und praktische Aspekte umfasst. Ihr Ziel ist es, Leiden zu mindern oder zu beenden und den Praktizierenden zu befreien. In diesem ersten Beitrag des 2. Abschnittes werden die Kernbotschaften der Lehre vorgestellt. Ralf Zwiebel betont in seinem Dialog zwischen psychoanalytischen und buddhistischen Paradigmen den Wert des abwartenden Zuhörens und des »Anfänger-Geistes« im Gegensatz zum »Experten-Geist«. Die Haltung des reinen Beobachtens und die Haltung der Selbstzurücknahme treten als eine gemeinsame Haltung auf, welche ein fundamentales In-FrageStellen narzisstischer Positionen impliziert. Paul Fulton stellt die introspektiven Methoden der Geistesschulung den westlichen Erwartungen entgegen, nach denen Veränderungen und Verbesserungen eher in der Außenwelt angestrebt werden. Des Weiteren vermittelt er die Bedeutung einer kontinuierlichen Übungspraxis insbesondere für die Entwicklung von Mitgefühl und Intersubjektivität und erörtert die unterschiedlichen Selbstkonzepte, die die Paradigmen unseres Selbstverständnisses und unseres Verständnisses von Gesundheit und Krankheit in Frage stellen können. Das Problem der Selbstkonstruktion wird im 3. Abschnitt erläutert. Ulrike Anderssen-Reuster schlägt einen Bogen von psychoanalytischen Ich-Kon­ struktionen zu der Problematik der Identitätsfindung in der Moderne. Sie bezieht sich auf Thomas Metzingers Selbstmodelltheorie der Subjektivität, welche manche Gemeinsamkeiten mit der buddhistischen Anatta-Lehre aufweist, der Lehre vom Nicht-Ich und der Unbeständigkeit des Selbsterlebens. Der Psychiater und Psychotherapeut Mark Epstein, der sich schon seit Jahrzehnten theoretisch mit der Schnittstelle von Buddhismus und Psychotherapie befasst, arbeitet in seinem Beitrag Übereinstimmungen zwischen dem Buddhismus und der Lehre Winnicotts heraus. Er betont, dass Selbsterfahrung und Beziehungserfahrung Prozesse sind, die sich wechselseitig durchdringen und verweist darauf, dass das Selbst niemals ohne Kontext und Beziehungspartner vorstellbar ist. Ausdrucksvoll stellt Georg Engeli die Dualität von Ich und Selbst in Bildern künstlerisch dar. Sein Held, Mr. Fivehair, bemüht sich darum, VII VIII Vorwort das Leben zwischen Denken und Erleben, zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Öffnung und Rückzug zu gestalten. Die dabei auftretenden Fragen und Probleme sowie Mr. Fivehairs Bemühungen und Einsichten erscheinen sehr vertraut und menschlich. Eine der wesentlichen Botschaften der buddhistischen Wissenschaft vom Geist ist, dass alle Menschen, auch die schwierigen und psychisch kranken, im Kern vollkommen und ganz und gar gesund sind. Im 4. Abschnitt des Buches wird der Zugangsweg zu diesem heilsamen Erleben vermittelt. Es wird dargestellt, wie eine Heilung von innen durch Etablierung entsprechender Bewusstseinszustände konkret gelingen kann. Der Zen-Lehrer und Psychotherapeut Cornelius von Collande erläutert Schritt für Schritt, wie man meditieren lernt und was dabei zu beachten ist. Er erläutert die Techniken des Sitzens, der Atembeobachtung, des offenen Gewahrseins und der Achtsamkeit im Alltag. Wilfried Belschner schlägt den Bogen zur therapeutischen Praxis und vermittelt, wie man Patienten dabei unterstützen kann, auf ihrem »Wachbewusstseinskontinuum« von einem eingeengten und unsicheren Erleben in einen offenen und vertrauenden Zustand zu gelangen. Er beschreibt ferner, wie Psychologiestudenten in einem säkularen Kontext Zugang zu solchen heilsamen Bewusstseinszuständen fanden. Petra Meibert wendet sich dem achtsamen Erleben inmitten von Schmerz und Leid zu. Sie stellt dar, mit welcher Haltung man sich den schwierigen Situationen zuwenden kann und wie eine liebevolle und annehmende Haltung dem Leiden gegenüber, dieses allmählich verändert und Zugang zu Erfahrungen von Verbundenheit und Freude ermöglicht. Der 5. Abschnitt widmet sich dem Mitgefühl. Mitgefühl ist eine Qualität, die dazu beiträgt, sowohl mit dem Herzen als auch mit dem Verstand, sowohl mit Zuwendung als auch mit Abgrenzung anderen Menschen zu helfen. Es ermöglicht, belastende Zustände bei sich selbst und bei anderen auszuhalten, ohne sich zu erschöpfen oder in ein »Helfer-Burnout« zu geraten. Christopher Germer beleuchtet den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl und arbeitet insbesondere den Zugang und die Kultivierung zum Mitgefühl mit sich selbst, dem Selbst-Mitgefühl, heraus. Jef Boeckmans vertieft diesen Ansatz um Aspekte der Zen-Lehre und speziell der Tonglen-Praxis, die von Kirsten DeLeo weiter ausgeführt und mit Beispielen unterlegt wird. Die Tonglen-Praxis ist eine Methode aus dem tibetischen Buddhismus, welche dazu verhilft, auch in psychisch schwierigen Situationen die eigene Stabilität nicht zu verlieren und dennoch offen, empfänglich und zugewandt im Hinblick auf den Menschen zu sein, der Hilfe beansprucht und in Not ist. Rosamund Oliver ergänzt diesen Ansatz um spezifische Formen und Techniken des Zuhörens und Zuwendens für Menschen in helfenden Berufen, die dazu dienen, präsent, zugewandt, mitfühlend und zugleich abgegrenzt zu sein. Neben der Kultivierung von Mitgefühl wird auch ein Zugang zu den anderen »Unermesslichen Geisteszuständen«, nämlich Freude, Gleichmut und Güte dargestellt. Vorwort Schließlich wird im letzten Abschnitt des Buches untersucht, welche Einflüsse die Achtsamkeitspraxis des Therapeuten auf die Therapie und die Arbeitszufriedenheit der Therapeuten selbst hat. Gerald Virtbauer geht in seinem Kapitel aus buddhistischer Perspektive der Frage nach, inwieweit die Achtsamkeitspraxis implizit therapeutisch und transformativ wirkt. Michael Harrer stellt in seinem praxisrelevanten Beitrag die verschiedenen Aspekte der Achtsamkeit in der Psychotherapiepraxis dar. Er vertieft die Aspekte des bewertungsfreien Wahrnehmens, der Non-Identifikation, der Non-Reaktanz und der Intimität, d. h. der teilhabenden Nähe zur jeweiligen Erfahrung. Das Buch runden Sabine Weidenfeller, Thomas Heidenreich und Johannes Michalak mit einer empirischen Analyse des Wirkfaktors des achtsamen Therapeuten ab. Sie beleuchten die Frage, ob Therapeuten, die eine eigene regelmäßige Achtsamkeitspraxis pflegen, andere Therapieverläufe generieren. Ausdrücklich sei an dieser Stelle allen Autoren gedankt, die mit ihren originellen, oft innovativen und immer anregenden Beiträgen einen großen Bogen von philosophischen, neurobiologischen und buddhistischen Grundlagen zur praktischen Anwendbarkeit in der psychotherapeutischen Praxis geschlagen haben. Unser Dank gilt aber auch all den vielen Kollegen, Mitstreitern und Patienten, die Interesse an dem Thema Buddhismus und Psychotherapie zeigen und uns verdeutlichen, dass wir Teil einer Bewegung sind, die kraftvoll und verändernd wirkt. Wir fühlen uns von dieser Arbeit und der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit der Thematik angeregt und beschenkt und wünschen unseren Lesern ähnliche Erfahrungen. Wir hoffen, dass sich der Dialog von Buddhismus und Psychotherapie zum Wohle unserer Patienten und uns selbst fortsetzen und vertiefen wird. Sehr herzlich sei auch Herrn Dr. Wulf Bertram vom Schattauer Verlag gedankt, der uns ermöglichte, dieses Buch herauszugeben und damit einmal mehr Mut zeigte, einem Thema Raum zu geben, das therapeutisch hochrelevant ist, aber (noch) nicht im Mainstream der aktuellen Behandlungspraxis steht. Besonders möchten wir auch Frau Ruth Becker und Frau Marianne Schmidt danken, die als Lektorinnen sehr sorgfältig und kompetent die verschiedenen Texte redigierten und auch die Mühe auf sich nahmen, sich in die Komplexität buddhistischer Terminologie einzuarbeiten. IX Vorwort X Wir wünschen diesem Buch eine kritische und neugierige Leserschaft. Möge es dazu beitragen, Leib und Seele zu schützen und uns dazu verhelfen, dass wir unser kostbares Leben bewusster erleben. Ulrike Anderssen-Reuster Petra Meibert Sabine Meck Dresden EssenBerlin Literatur Wallace DF (2012). Das hier ist Wasser. Köln: Kiepenheuer und Witsch.