2 Was erlebt der Kranke im Wahn? Hier geht es um die Inhalte des Wahns. Was im Wahn vorkommt, auf welche Themen sich das wahnhafte Erleben erstreckt, soll nun beschrieben werden. Die psychopathologischen Zusammenhänge und die Entstehungsbedingungen werden in den folgenden Kapiteln besprochen. Die Inhalte des Wahns sind sehr vielfältig. Es ist eine lange Reihe von Wahnthemen zu beschreiben, ohne dass Vollständigkeit beansprucht werden könnte. Denn jedes menschliche Erleben kann in einen Wahn einbezogen werden. Oft sind mehrere Wahnthemen zugleich zu erkennen. Im Beziehungswahn (engl.: delusion of reference) meint der Kranke, ein Vorgang in seiner Umgebung geschehe nur seinetwegen. Wie er den Vorgang wahrnimmt, hat dieser eine besondere Bedeutung für ihn selbst, und zwar nur für ihn. Was er z. B. aus der Zeitung oder dem Fernsehen erfährt, hat diese und nur diese Bedeutung. Ein Blick oder ein Lächeln bezieht der Kranke in einem besonderen Sinn auf sich. Andere Menschen können das nicht so sehen und verstehen. Eine ehemalige Patientin (Prins in Krisor 2003, S. 163) definiert so: „… das Bestreben, in einer Psychose Zusammenhänge herzustellen, die für andere nicht ersichtlich sind, allem, auch den zufälligen und nebensächlichen Angelegenheiten, einen tieferen Sinn beizumessen …“ Die Bedeutung, die der Patient den so wahrgenommenen Vorgängen beimisst, ist oft konfliktreich und negativ besetzt, für ihn beschämend oder kränkend. Daher würden, so meint er, andere schlecht von ihm denken und – in seiner Abwesenheit – übel über ihn sprechen; denn die Menschen seiner Umgebung wüssten längst von dem, was da im Gange sei. Der Beziehungswahn steht oft am Anfang einer Wahnbildung. Wenn die Wahnentwicklung fortschreitet, treten meist andere Themen hinzu, insbesondere Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn. Ein Beeinträchtigungswahn (engl.: delusion of injury) entwickelt sich, wenn der Kranke bestimmte Vorgänge um ihn herum auf sich bezieht und gegen sich gerichtet deutet: Man habe es auf ihn abgesehen, man wolle ihn herabsetzen, beleidigen, schädigen und vernichten. Nur so, meint er, seien z. B. die Schikanen des Hauswirtes oder eines Beamten in einer Behörde zu verstehen. Bei älteren Menschen sind diese Wahninhalte relativ häufig (s. S. 106). Diese Wahnbildungen können bis zum Verfolgungswahn (engl.: delusion of persecution) gesteigert werden: Was in der Umwelt geschieht, wird als Zeichen der Bedrohung und Verfolgung gewertet. Zunächst besteht ein unheimliches Gefühl, dass etwas im Gange sei, und zwar gegen ihn (sogenannte Wahn- 9 Was ist Wahn spannung). Darauf kommt es zu konkreten Deutungen: Ein Komplott sei gegen ihn gerichtet, eine Verschwörung werde geschmiedet und gar eine Vernichtungsaktion sei geplant. Wie das geschehen soll, wird unterschiedlich angegeben; es werden zahlreiche Mittel und Methoden genannt: Giftgase, elektrischer Strom oder gesundheitsschädigende Strahlungen. Die Bedeutung des Bestrahlungswahns ist medizinhistorisch auch anhand alter Abbildungen zu belegen (s. Schott 2003). Dabei ständen die Verfolger immer im Hintergrund, sie träten nicht hervor, sondern seien Drahtzieher oder Helfershelfer. Hinter dem Verfolgungswahn steht nicht selten die Vorstellung des Kranken, er sei ein außergewöhnlicher Mensch, um den so viel Aufhebens gemacht werde, um den herum so viel Geheimnisvolles geschehe. Der Verfolgungswahn kann also mit einem Größenwahn verbunden sein. Andererseits kann ein Kranker überzeugt sein, die Verfolgung sei im Grunde genommen berechtigt, denn er habe sich die Verfehlungen zuschulden kommen lassen. Seiner Untaten wegen geschähen konsequenterweise die Verfolgungen. Das grenzt an einen Strafwahn (s. unten). Wenn ein Kranker sich aber gegen wahnhafte Beeinträchtigungen und Verfolgungen wehrt, kann querulatorisches Verhalten oder Querulantenwahn (s. unten) entstehen. Liebeswahn (auch Erotomanie genannt; engl.: delusion disorder, erotomanic type) ist ein Beziehungswahn mit erotischem Inhalt. Die Kranke – der Liebeswahn tritt bei Frauen weit häufiger auf als bei Männern – ist fest überzeugt, von einem bestimmten Mann geliebt zu werden. Nicht selten handelt es sich um eine höhergestellte Person, z. B. um einen Politiker oder Priester. Was dieser, so wähnt die Kranke, bei einer Versammlung, in einer Predigt oder im Fernsehen gesagt oder vielleicht auch nur mit Blicken oder Gesten angedeutet habe, sei nicht anders aufzufassen, als dass er sie und niemand anderen dabei im Sinn habe, dass er sie liebe und ein Verhältnis mir ihr wünsche. Fragt man, ob es hierfür eindeutige Erklärungen des Mannes gäbe, wird eingeräumt, dass sie ihn nicht einmal gesprochen habe, sondern nur von Weitem oder per Fernsehen kenne: Wenn er nicht deutlicher geworden sei, liege das an seiner familiären Bindung oder an seiner beruflichen Stellung. Es stehe aber außer Zweifel, dass sein ganzes Verhalten ihr gelte und er ihr seine Liebe versichern wolle (Weiteres s. S. 30 ff.). Der Liebeswahn wird meist glückhaft erlebt, er kann auch schuldhaft empfunden werden (z. B. von einer verheirateten Frau) oder aber als Belästigung bzw. Bedrohung durch vermeintliche sexuelle Ansprüche, fast wie in einem Verfolgungswahn. Die Betroffenen können das Erleben des Liebeswahnes anschaulich, oft geradezu drastisch beschreiben. So auch die Patientin im ersten Beispiel des ersten Kapitels. Der ehemalige Patient Emanuel Fehlbier, der eine Reihe von Abhandlungen über den Wahn verfasst hat, schrieb, der Liebeswahn sei „eine Bezie- 10 2 Was erlebt der Kranke im Wahn? hungskonstruktion auf Hoffnung ohne alle Hoffnung […] Die wirksame Verkennung objektiver Sachverhalte an der Person des Geliebten sowie der Beziehungsrealität macht Liebeswahn zu einem Geschäft mit Rechnung ohne den Wirt. Liebeswahn ist dann eine massive emotionale Investition ohne Rücksicht auf den sicheren Bankrott und gefühlsmäßigen Ruin […] Liebeswahn ist ein groß angelegter Selbstbetrug, bei dem der Kranke sich selbst etwas vormacht und letzten Endes emotional draufzahlt […] Liebe ohne Verstand ist wie ein Zimmer ohne Wand […] Es bleibt noch zu erwähnen, dass Liebeswahn zu den erregendsten und oft auch zu den ‚schönen‘ Wahnerlebnissen zählt im Gegensatz zu einschlägigen Weltuntergangsstimmungen. Der ‚Kater‘ danach bleibt aber in jedem Fall ein beschämender und herber Nachgeschmack […]“ (Fehlbier 2002, 1, S. 3). Übrigens bezweifelt der Autor, dass Liebeswahn bevorzugt bei Frauen auftrete. Etwas ganz anderes als Liebeswahn ist das Stalking. Der Stalker belästigt andere Menschen, meist Frauen, oder er droht damit, auch im sexuellen Sinne, und er erzeugt Schrecken und Angst. Im Eifersuchtswahn (auch Othello-Syndrom; engl.: delusional jealousy) ist der Kranke unbeirrbar von der Untreue seiner Partnerin überzeugt. Dieser Wahn tritt bei Männern 2- bis 3-mal häufiger auf als bei Frauen. Der Eifersuchtswahn wurde früher auch Wahn ehelicher Untreue genannt; denn er richtete sich bevorzugt gegen die Ehefrau bzw. den Ehemann, was aber heute infolge der bekannten soziologischen Veränderungen kaum mehr gilt. Im typischen Fall berichtet der Patient in grotesker Weise über das ausschweifende Sexualleben der Frau. Er hat aber hierfür keine Beweise, nicht einmal eindeutige „Indizien“. Fragt man nach konkreten Beobachtungen, erfährt man nur, sie sei zum Einkaufen verdächtig lange ausgeblieben, sie habe sich im Bus bedeutsam umgesehen, ihre Frisur oder Kleidung sei nicht ordentlich gewesen usw. Realiter ist die Frau im Allgemeinen unbescholten, es kann aber auch eine tatsächliche „Verfehlung“ vorausgegangen sein. Der Wahn, der sich später entwickeln kann, ist eindeutig krankhaft (zur Diagnose im Einzelnen s. Kap. 18). Bei diesem Wahnthema und auch bei anderen Wahninhalten ist oft schwer zu unterscheiden, was im Bericht des Patienten realen Geschehnissen entspricht und was wahnhaft ist. Ein weiteres Wahnthema gehört in den Bereich der Personenverkennung (engl.: delusional misidentification), die folgendermaßen definiert wird: „Störung in der Identifikation von Personen; entweder in der Form, dass unbekannte Personen für Bekannte […] gehalten werden, oder (seltener) dass bekannte Personen für Fremde gehalten werden. Kann bei Gesunden vorkommen, wird dann aber rasch korrigiert, sobald Möglichkeiten dazu vorhanden sind. Tritt häufiger als Wahneinfall auf […]“ (Peters 1999, S. 406). Eine spezielle Form der Personenverkennung ist der Doppelgängerwahn. Der Doppelgänger ist 11