Auflage: 10379 Gewicht: Ratgeberrubrik 18. Oktober 2010 GEMEINDEN, SEITE 2 NETZWERK ADHS - (k)eine Modediagnose? Von Dr. med. Marc Risch* Die psychiatrische Diagnosefindung kann - stark vereinfacht, aber dem besserenVerständnis halber - mit dem Legospielen verglichen werden. Die Legosteine stellen Einzelsymptome (z. B. Antriebslosigkeit, Einschlafstörung, Traurigkeit, etc.) dar, die auf verschiedene Arten zusammengebaut, zu unterschiedlichen Syndromen und schliesslich zu einer Diagnose wie beispielsweise dem «ADHS» führen können. Beim ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom - früher POS: psychoorganisches Syndrom) sind die zentralen Diagnose-Bausteine die «Aufmerksamkeitsstörung» und die «Störung der Aktivität», die durch grössere und kleinere Neben-Bausteine ergänzt oder «über-baut» werden können. Selbstredend lässt sich durch einen überzufällig häufig vorkommenden «Haufen» von Symptomen noch wenig über Erleben, Verhalten, Aussenwahrnehmung und «Sein» des individuell betroffenen Menschen aussagen. Um sich dem «Wesen» des ADHS anzunähern und zu verstehen, wie sich dieses Syndrom im Krankheitslängsverlauf von der Kindheit über die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter verändern kann, sind Protagonisten aus den Werken Wilhelm Buschs, der Gebrüder Grimm und weiterer «Märchenbücher» hilfreich. Zappelphilip, Suppenkasper, Max & Moritz und Struwwelpeter repräsentieren Teilaspekte des ADHS in eindrücklicher Art. Doch was ist aus ihnen geworden, als sie sich aus dem typischen Legospielalter verabschiedeten? Wir wissen es - mit Ausnahme von Max und Moritz, die aufgrund ihres Verhaltens tragisch in der Getreidemühle endeten und ihre Fähigkeiten leider nicht sinnstiftend umzusetzen vermochten - nicht. Dass aus dem gleichzeitig sympathischen, aber auch «anstrengenden» Zappelphilip der in seiner Kindheit weniger dafür berühmt war, schöne, gleichfarbige Legotürme zu bauen - sicher nie ein tapferes Schneiderlein oder ein besonnener Prinz werden würde, war abzusehen. Seine Rastlosigkeit und Impulsivität, aber auch seine Loyalität, Liebenswürdigkeit und der Hang zu Aussenaktivitäten prädestinierten ihn vielmehr für andere «Rollen»: die eines Zoodirektors oder eines Robin Hood vielleicht? Kein Märchen ist, dass ADHS neurobiologische Ursachen hat, die durch psychosoziale Faktoren in unter-schiedlichem Masse beeinflusst werden. Mit rund 5 % gehört ADHS zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Oft wird vergessen, dass bei zirka der Hälfte der Zappelphilips und Struwwelpetras ADHS-typische Symptome bis ins Erwachsenenalter überdauern oder aber in neuer Ausprägung im Erwachsenenalter erst wirksam bzw. auch subjektiv als störend und insofern krankheitswertig erlebt werden. Dann stehen oftmals Schwierigkeiten im Selbstmanagement während der Ausbildung oder am Arbeitsplatz, Konzentrationsprobleme, mangelnde Affektkontrolle, die in der Kindheit und Adoleszenz «gerade noch» akzeptabel waren, im Vordergrund bzw. in der Kritik. Depressive Verstimmungen, verminderte Stresstoleranz, impulsive Wutausbrüche, Einschlafstörungen, Unfähigkeit zur Ruhe, etc. sind die Folge und oftmals Zuweisungsgründe zu Fachleuten der Erwachsenen-Psychiatrie. Was tun? Lesen Sie wieder einmal Wilhelm Busch und erfreuen Sie sich am Positiven seiner Figuren. Nehmen Sie mal wieder die Kiste mit Legosteinen hervor und bauen sie einen nicht ganz so perfekten Turm. Oder: Fragen Sie eine Fachperson, die ihren ADHS-Verdacht nicht nur bestätigen, sondern zusammen mit Ihnen die hindernden, aber auch verborgenen, wertvollen Steine zu erkennen vermag - denn: Wir alle sind viel mehr als die Summe der erkennbaren Symptome. Dr. med. Marc Risch wirkt am Psychiatriezentrum Werdenberg-Sarganserland, Trübbach © Sarganserländer