Methoden zu den Schwerpunktthemen

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Johann Meyer
Pädagogische Methoden zu den
Schwerpunktthemen
Johann Meyer
Schwerpunktthemen3
Deutsche Handwerker in Konstantinopel 3
Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
6
Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen 10
Parallelwelten?
Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
10
Die Veränderung der Zeit.
Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
19
www.annefrank.de/mensch
Johann Meyer
Schwerpunktthemen
Deutsche Handwerker in Konstantinopel
Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
Deutsche Handwerker in Konstantinopel
Schon Reiseberichte aus dem 16. Jahrhundert erwähnen deutsche Handwerker
in Konstantinopel. Über ihre genaue Zahl wissen wir allerdings wenig.
Während der Auswanderungswellen im 19. Jahrhundert kamen dann in größerer
Zahl »Deutsche« ins Osmanische Reich. Einer von ihnen war Johann Meyer, der
als Uhrmachermeister an den Hof des Sultans ging. »Deutsch« bezieht sich in
vielen der damaligen Berichte auf die Sprache. So wurden auch Menschen aus
der Schweiz oder Österreich zum Teil als »Deutsche« bezeichnet. Ohnehin gab
es bis 1871 viele deutsche Einzelstaaten.
Gründung von Vereinen und
Zusammenkünften
Eisenbahnbau der deutschen Firma Holzmann
im Osmanischen Reich. 1837.
Die Initiative zur Gründung der ersten »deutschen« Vereinigung in
Konstantinopel, der Teutonia, ging auf eine Gruppe von Glashändlern aus
Böhmen zurück, die sich regelmäßig in einem Lokal trafen. Böhmen ist
ein Gebiet der heutigen Tschechischen Republik und gehörte damals zum
Großreich Österreich-Ungarn. Laut Satzung des 1847 gegründeten Vereins
Teutonia konnte jeder Mitglied werden, der deutsch sprach und älter als 18
Jahre war.
Gründer der Teutonia waren ein Schuster und ein Schneider. Weitere Mitglieder
waren zum Beispiel Tischler, Wagenbauer, Büchsenmacher, Messerschmiede
und Glasbläser. Etwa 15 Jahre später wurde noch ein weiterer deutscher
Verein in Konstantinopel gegründet, der sich Deutscher Handwerkerverein
Alemania zu Konstantinopel nannte. Daraus können wir schließen, dass die
»deutsche Community« in Konstantinopel damals vor allem aus Handwerkern
bestand. Dies wird auch durch einen Bericht aus dem Jahr 1850 bestätigt, der
die Zahl »der Deutschen« in Konstantinopel mit 1.000 angibt. »Die meisten
sind Handwerker, höchstens ein paar Kaufleute und Beamte mögen darunter
sein«. Allerdings, so heißt es in dem Bericht weiter, lebten die meisten dieser
etwa tausend Menschen nicht dauerhaft in Konstantinopel. Es gab vielmehr
ein ständiges Kommen und Gehen. So genannte Wanderjahre, in denen die
Handwerker von Ort zu Ort zogen, waren nach der Gesellenprüfung die Regel.
Johann Meyer > Schwerpunktthemen > Deutsche Handwerker in Konstantinopel
3
Deutsche in größerer Zahl gab es auch in Smyrna, dem heutigen Izmir.
Bereits 1759 war hier eine evangelische Gemeinde gegründet worden. Bei den
»Deutschen« in Smyrna handelte es sich aber vor allem um Seeleute und nur in
geringerer Zahl um Handwerker.
Die gegründeten Vereine und Kirchen waren ein wichtiger Anlaufpunkt für
Neuankömmlinge und unterstützten auch in Not Geratene. In erster Linie
aber dienten die Vereine dem »geselligen Beisammensein«. So nennt die
Satzung des Handwerkervereins als Zweck des Vereins, »für Aufmunterung
und gesellige Unterhaltung« zu sorgen. Im Vereinshaus der Teutonia gab
es zum Beispiel ein Spielzimmer, eine Bibliothek und ein Lesezimmer.
Daneben entstanden auch weitere
Vereinigungen, Frauenvereine,
Gesangsvereine, Laienspielgruppen
und andere kulturelle Vereine.
Schon 1843 hatten deutsche
Handwerker in Konstantinopel eine
evangelische Gemeinde gegründet.
Diese rief einen Wohlfahrtsverein zur
Auswandererhaus in Bremerhaven 1865. Viele
Unterstützung Bedürftiger ins Leben.
Menschen verließen im 19. Jahrhundert das
Es entstand auch eine KrankenstaDeutsche Reich über die Hafenstädte.
tion, aus der 1870 das deutsche
Krankenhaus hervorging. 1868 wurde eine deutsche Schule gegründet, die
allein der Schulausbildung der in Konstantinopel lebenden »deutschen«
Kinder diente. Für osmanische Schüler, die eine Ausbildung in deutscher
Sprache wünschten, gab es ab 1884 das İstanbul Erkek Lisesi als deutsche
Auslandsschule.
Mit eigener Schule, einem Krankenhaus, Kirchen und Vereinen hatten sich die
Deutschen eine Art »Parallelwelt« geschaffen. In ihr sprachen sie Deutsch und
lebten nach deutschen Sitten und Bräuchen. Auch die Vereinigungen Teutonia
und der Handwerkerverein nannten in ihren Satzungen als oberstes Ziel »die
Pflege deutscher Art und Sitten«. So wohnten in Konstantinopel eine ganze
Reihe Deutscher, die kaum Kontakt zu Menschen außerhalb der deutschen
Gemeinde hatten und nicht einmal richtig Türkisch sprechen konnten.
Arbeitsbereiche
Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und den sich verstärkenden
deutsch-osmanischen Beziehungen wuchs der wirtschaftliche und politische
Einfluss Deutschlands in der Türkei. Ein Ausdruck dessen war die Entsendung
deutscher Spezialisten ins Osmanische Reich. Dies waren in erster Linie
Angehörige des Militärs, aber auch Ingenieure, Wissenschaftler und
Handwerker, die auf Anforderung des Sultans gerufen wurden.
Damit änderte sich auch die Zusammensetzung der deutschen
Community sehr stark: So finden sich im Mitgliederverzeichnis der Teutonia
von 1914 vor allem Kaufleute, Geschäftsleiter, Direktoren, höhere Offiziere
und Firmenvertreter, aber kaum noch einfache Handwerker. Auch war die
Entsendung als Spezialisten für manch einen mit einem sozialen oder
beruflichen Aufstieg verbunden.
Johann Meyer > Schwerpunktthemen > Deutsche Handwerker in Konstantinopel
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Der Bahnbau
Zu den wichtigsten deutschen Projekten im Osmanischen Reich, in denen
zahlreiche Ingenieure, Architekten und Facharbeiter arbeiteten, gehörten die
Bahnbauten: 1888 erhielt eine Gruppe deutscher Großbanken unter Führung
der Deutschen Bank die Konzession zum Bau der Anatolischen Eisenbahn, die
von Istanbul bis ins zentralanatolische Konya führte. Eine Konzession ist eine
befristete behördliche Genehmigung, in diesem Fall für den Bau der Eisenbahn.
Die Leitung erhielt der Eisenbahningenieur Heinrich August Meissner, der
schon seit 1887 Ingenieur bei der staatlichen osmanischen Eisenbahn war.
Im osmanischen Auftrag hatte er bereits den Bau der Hedschasbahn geleitet,
die Damaskus mit Mekka verbinden sollte. Muslimischen Pilgern sollte so die
Reise zu den heiligen Stätten erleichtert werden. Es wurde allerdings nur die
Strecke bis Medina fertiggestellt. 1904 wurde Meissner vom Sultan zum Pascha
(einer der höchsten Titel im Osmanischen Reich) ernannt. 1903 erlangten
deutsche Firmen – wieder unter Leitung der Deutschen Bank – die Konzession
zum Bau einer weiteren, noch größeren Bahnstrecke. Diese sollte von
Konya bis Basra führen. Im Anschluss an die bereits fertiggestellte Linie der
Anatolischen Bahn sollte sie Konstantinopel mit Bagdad und Basra verbinden.
Die neue Linie bekam den Namen Bagdadbahn. Das Projekt der Bagdadbahn
versprach den Deutschen gleich mehrere Vorteile. So erhielten sie zum Beispiel
mit der Konzession das Recht, die Bahn auf 100 Jahre zu betreiben und durften
über die Einnahmen verfügen.
Die Bahnbauten der Anatolischen Bahn und der Bagdadbahn wurden
fast ausschließlich von deutschen Firmen durchgeführt, ebenso der Bau der
Bahnhöfe an der Strecke, wie zum Beispiel der berühmte Bahnhof Haydarpaşa
in Istanbul. Zahlreiche Aufträge erhielt die Firma Phillip Holzmann, die bis
2002 das größte deutsche Bauunternehmen war. Lokomotiven, Schienen,
Schwellen, Nieten, Wassertanks – alles kam aus dem Deutschen Reich. Für
die deutsche Industrie war der Bau der Bagdadbahn ein riesiges Geschäft.
Daneben nützte sie auch deutschen militärischen Interessen: Während des
Ersten Weltkriegs diente die Bahn zum Transport der Truppen.
Für das gigantische Bauprojekt waren etwa 35.000 Arbeiter im Einsatz.
Darüber hinaus bot es auch weiteren deutschen Fachleuten Arbeit im
Osmanischen Reich und lockte Händler und Abenteurer an, die sich zum Teil
entlang der Bahnstrecke niederließen. So berichteten mehrere Reisende, die
die Bahnstrecke zu jener Zeit besichtigten, von einem Herrn Cohn in Eskişehir.
Dieser exportierte von dort Meerschaumpfeifen.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 mussten außer den deutschen Militärs,
Politikern und Beratern auch die meisten der deutschen Handwerker und
Geschäftsleute das Land verlassen. Einige konnten die Staatsangehörigkeit
eines anderen Staates erlangen und bleiben. Manche kehrten mit Aufnahme
der deutsch-türkischen Beziehungen 1924 in die Türkei zurück. Die zahlreichen
Modernisierungs- und Aufbauprojekte in der »neuen« Türkei lockten in den
Jahren zwischen den Kriegen erneut Handwerker aus Deutschland in das Land
am Bosporus.
Johann Meyer > Schwerpunktthemen > Deutsche Handwerker in Konstantinopel
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Vom Osmanischen Reich zur
Türkischen Republik
Das Osmanische Reich war ein Vielvölkerstaat. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts
erstreckte es sich fast über den gesamten Balkan, die heutige Ukraine und die
meisten arabischen Gebiete. Religion spielte für die Gesellschaft eine wichtige
Rolle. Aber auch Familie, Stammeszugehörigkeit, regionale Herkunft und Beruf
bestimmten die Situation der Menschen.
Absoluter Herrscher war der Sultan. Er hatte zwar ein Beratungsgremium und
auch Minister, aber es gab kein Parlament und keine andere Vertretung der
Bevölkerung.
Die Reformperiode im 19. Jahrhundert
Während des 19. Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich große Gebiete an
Österreich-Ungarn und das erstarkende Russische Reich. Die Osmanen wurden
in elf Kriegen aus dem Kaukasus, von der Krim, aus der heutigen Ukraine sowie
aus Südosteuropa verdrängt. Auch die arabischen Gebiete gingen verloren:
Algerien und Tunesien fielen unter französische, Zypern und Ägypten unter
britische Kontrolle.
Parallel dazu kam es zu einem Niedergang der einheimischen Wirtschaft.
Dies wiederum führte zu wachsender Verschuldung und schließlich 1875 zum
Staatsbankrott. In diesem Jahr kam Johann Mayer an den Hof des Sultans, um
dort als Uhrmachermeister zu arbeiten.
Aufgeschreckt durch die militärischen Niederlagen leiteten die osmanischen
Herrscher Reformen ein. Diese werden als »Tanzimat« (Neuordnung)
bezeichnet. In den Erlassen von 1839 und von 1856 wurde allen Untertanen,
egal welcher Religion sie angehörten, das Recht auf Unverletzlichkeit der
Person und des Eigentums zugestanden. In Städten, Bezirken und Provinzen
wurden regionale Vertretungsorgane eingerichtet. 1876 wurde ein Grundgesetz
erlassen. Dieses sah die Gleichstellung aller Bürger und die Einführung einer
eingeschränkten konstitutionellen Monarchie mit gesetzgebendem Parlament
vor.
Abdülhamid II. Sultan des Osmanischen Reichs
1876-1909
Darüber hinaus wurde die Verwaltung reformiert, wurden Verkehrswege neu
gebaut, Schulen und Hochschulen gegründet und ein Pressewesen eingeführt.
Allein während der Regentschaft von Sultan Abdülhamid II. von 1876 bis 1909
wurden 10.000 öffentliche Schulen gegründet.
Diese Reformen lassen sich als Versuch begreifen, den Untergang
des Reiches zu verhindern. Viele von ihnen wurden jedoch nur halbherzig
ausgeführt oder wieder zurück genommen.
Sultan Abdülhamid II. löste das neu gegründete Parlament nach nur zwei
Sitzungsperioden auf. Es sollte erst 30 Jahre später erneut einberufen werden.
Oppositionelle Politiker und Intellektuelle ließ er bespitzeln und ins Exil jagen.
Johann Meyer > Schwerpunktthemen > Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
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Nationalismus,
die Ideologie des 19. Jahrhunderts
Im 19. Jahrhundert setzte sich in Europa die Idee der Nation durch:
Bevölkerungsgruppen, die die gleiche Sprache sprachen oder aber derselben
Religion angehörten, erklärten sich zu Nationen und wurden auch von anderen
als Nation betrachtet.
Nationale Unabhängigkeitsbewegungen erkämpften die Gründung eigener
Nationalstaaten. In einem Krieg von 1821 bis 1830 erkämpfte Griechenland,
das bis dahin zum Osmanischen Reich gehörte, zunächst auf einem Teil seines
heutigen Gebietes die Gründung eines unabhängigen Staates. Nacheinander
setzten auch die Donaufürstentümer Moldawien und die Walachei (Rumänien),
Serbien, Montenegro und Bulgarien ihre Autonomie durch.
Innerhalb eines Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich etwa die
Hälfte seines Gebietes.
Gleichzeitig wuchs unter den osmanischen Intellektuellen die
Unzufriedenheit über die repressive Herrschaftsweise des Sultans.
Territoriale Veränderungen des Osmanischen
Reichs 1683 - 1922
Die Jungtürken
Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entstand im Osmanischen Reich
sowie im Exil eine Oppositionsbewegung, die als Jungtürken bezeichnet wird.
Die Jungtürken kämpften anfangs gegen den Absolutismus Abdülhamids.
Angehörige verschiedener Volksgruppen, darunter Armenier, Kurden, Araber
und Juden, unterstützten sie. Bald setzte sich jedoch die türkisch-nationalistische Strömung unter den Jungtürken durch. Das Selbstverständnis der
Muslime als herrschende Gruppe und die von den Nationalisten propagierte
Stellung der Türken als bestimmende Nation schloss eine Gleichberechtigung
der übrigen Gruppen von vornherein aus. Zunehmend wurde die »rassische
Überlegenheit« der Türken propagiert.
Johann Meyer > Schwerpunktthemen > Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
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Nationalistische Mobilisierung
An die Stelle der Einheit aller osmanischen Untertanen trat die Einheit der
Türken.
Zur Durchsetzung der türkisch-nationalistischen Fraktion trugen die
Brutalität der Balkankriege (1912 und 1913) sowie der Verlust der wirtschaftlich starken Gebiete bei. Eine wichtige Rolle spielten auch die Muslime, die
als Flüchtlinge aus den Balkangebieten und aus Russland ins Reich strömten.
Im Januar 1913 riss die Führung der Jungtürken um Enver Paşa und Talat Paşa
durch einen Putsch die Alleinherrschaft an sich und übte bis 1918 diktatorisch
die Macht im Staat aus. Erneut wurden Oppositionelle unterdrückt und das
Parlament aufgelöst.
Wirtschaftlicher Nationalismus
Die Türkisierung der Wirtschaft wurde zu einem der wichtigsten Ziele der
Jungtürken. Nichtmuslime sollten verdrängt und enteignet werden.
So wurden zum Beispiel Boykottaktionen gegen nicht-türkische und
nicht-muslimische Läden organisiert. Ab 1914 blieb es nicht beim Boykott: Im
Frühjahr 1914 wurden Griechen terrorisiert und aus ihren Dörfern vertrieben.
Rund 150.000 Griechen verließen das Land, 50.000 wurden ins Innere des
Landes zwangsumgesiedelt.
Die Katastrophe des
Ersten Weltkriegs
Im Schatten des Ersten Weltkriegs:
Völkermord an den Armeniern
Bis zum Frühsommer 1914 gab es keine einheitliche Haltung der jungtürkischen
Führung zum sich abzeichnenden Krieg. Das änderte sich mit dem geheimen
deutsch-türkischen Bündnisvertrag vom 2. August 1914 und der Neutralitätsverletzung durch die Aufnahme der deutschen Kriegsschiffe Breslau und Göben
am 10. August 1914. Die deutschfreundliche Fraktion der Jungtürken setzte den
Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite Deutschlands durch.
Der Krieg führte das Osmanische Reich in eine militärische Katastrophe,
die seinen Untergang besiegelte. Die Armee von 800.000 osmanischen
Soldaten kämpfte zeitweilig an allen Fronten zugleich: an den Dardanellen,
an der Kaukasusfront, in Persien, in Arabien, im Irak, in Ägypten sowie in
Rumänien und Mazedonien. Die katastrophale Ausrüstung und Versorgung der
Soldaten ist von ausländischen Beobachtern ausführlich beschrieben worden.
Zehntausende Soldaten starben nicht infolge von Kampfhandlungen, sondern
erfroren an der Kaukasusfront oder verhungerten in den arabischen Gebieten.
Die katastrophale Situation führte zur massenhaften Desertion: Ende 1917
schätzte General Liman von Sanders, der Leiter der deutschen Militärmission,
die Zahl der Desertierten auf 300.000.
Der Versuch der osmanischen Armee, gegen die russischen Truppen in
den Kaukasus vorzustoßen, endete im Winter 1914/15 bei Sarıkamış in
einer Tragödie. Hier starben etwa 78.000 Soldaten, das waren 90 Prozent
dieser Armee. Die meisten Soldaten erfroren oder verhungerten. Um von
der eigenen Verantwortung abzulenken, machte die Regierung die Armenier
für die Niederlage verantwortlich. Sie würden desertieren und wurden als
Verräter bezeichnet. Dabei war die Desertion keineswegs auf Armenier oder
Nichtmuslime beschränkt. Doch sie wurden höher bestraft, oftmals mit der
Zerstörung ganzer Ortschaften, wogegen sich die Armenier wehrten.
Johann Meyer > Schwerpunktthemen > Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
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Ein regionaler Aufstand sowie die Beschuldigung des »Vaterlandsverrats«
diente den Machthabern als Vorwand für eine großangelegte Festnahmeaktion.
Am 24. April 1915 wurden in Istanbul 235 bekannte armenische Persönlichkeiten festgenommen, darunter zahlreiche Schriftsteller, Journalisten, Ärzte,
Rechtsanwälte, Lehrer, Musiker sowie mehrere Geistliche. Die meisten von
ihnen wurden später ermordet. Die Armenier, die in der osmanischen Armee
dienten, wurden entwaffnet, in Zwangsarbeitskommandos gesteckt oder
umgebracht. In den folgenden 15 Monaten wurde die armenische Bevölkerung
aus allen Teilen des Osmanischen Reiches in die Wüstengebiete Syriens
deportiert. Lediglich die Armenier in Istanbul und Izmir blieben weitgehend
verschont. Über 1,5 Millionen Armenier starben während der Todesmärsche
oder gingen in den Todeslagern in der Wüste zugrunde. Im September
1915 wurde ein Gesetz erlassen, demzufolge der Besitz der Deportierten
dem türkischen Staat zufiel. Betriebe, Läden und Landbesitz von je einer
Million Armeniern und Griechen wurden von muslimischen Türken in Besitz
genommen.
Das Ende des Osmanischen Reiches –
der Vertrag von Sèvres
Der Vertrag von Lausanne und der
Bevölkerungsaustausch
Mit dem Waffenstillstand vom 30. Oktober 1918 unterschrieb der Vertreter
des Osmanischen Reichs die bedingungslose Kapitulation. Bereits während
des Kriegs hatten Großbritannien und Frankreich in einem Geheimvertrag die
Aufteilung der arabischen Gebiete unter sich vereinbart.
Im August 1920 wurde zwischen den Vertretern der Entente, dem
Militärbündnis zwischen Frankreich, England und Russland und einem
Bevollmächtigten des osmanischen Sultans der Vertrag von Sèvres
geschlossen. Im Wesentlichen war er ein Diktat der Siegermächte und schrieb
die bereits abgesprochene Aufteilung der osmanischen Gebiete fest. Die
neu gebildeten arabischen Staaten wurden französischer und britischer
Mandatsmacht unterstellt. Keine der Großmächte unternahm ernsthafte
Schritte, um die den Armeniern und Kurden gemachten Versprechen
durchzusetzen. Die USA lehnten die Übernahme eins Mandats über Armenien
ab. Der Vertrag von Sèvres trat nie in Kraft, weil er von kaum einem der
Vertragsstaaten ratifiziert wurde.
Nach dem türkisch-griechischen Krieg wurde im Juli 1923 der Vertrag von
Lausanne geschlossen. Den religiösen Minderheiten wurden zwar in den
Artikeln 37–45 bestimmte Rechte zuerkannt, faktisch legitimierte der Vertrag
jedoch nachträglich die Vertreibung und Ermordung der Griechen und
Armenier. Bereits im Januar 1923 war ein »Bevölkerungsaustausch« zwischen
der Türkei und Griechenland vereinbart worden. Danach wurden etwa 1,5
Millionen orthodoxe Christen aus Anatolien nach Griechenland und umgekehrt
eine halbe Million Muslime aus Thrakien in die Türkei umgesiedelt. Da diese
Umsiedlungen strikt nach religiöser Zugehörigkeit durchgeführt wurden,
mussten auch etwa 50.000 Karamanlı, türkischsprachige orthodoxe Christen
gegen ihren Willen Anatolien verlassen. Vor den Kriegen und der Vertreibung
machten Griechen und Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei mehr als
zwanzig Prozent der Bevölkerung aus. Als Mustafa Kemal Paşa am 29. Oktober
1923 die Republik Türkei ausrief, hatten Krieg, Vertreibung und »Bevölkerungsaustausch« zu einer weitgehend neuen Zusammensetzung der Bevölkerung
Anatoliens geführt.
Johann Meyer > Schwerpunktthemen > Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
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www.annefrank.de/mensch
Johann Meyer
Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen
Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik
Parallelwelten? Arbeitsmigration am
Beispiel der Familie Meyer
Schlüsselfragen
Autorin
Problematik, Durchführung und
intendierte Lernerfolge
Warum sind Menschen aus deutschsprachigen Ländern in das Osmanische
Reich immigriert? Warum haben sich diese Menschen an ihren neuen
Wohnorten noch in der zweiten und dritten Generation deutsche
»Parallelwelten« geschaffen? Was haben die Nachfahren Johann Meyers –
Wolfgang Meyer, Isolde Feiland – für ein Selbstverständnis? Wie werden
»Parallelwelten« heute in Deutschland bewertet?
Ingrid Bettwieser
Die folgende Methode vermittelt den Lernenden zunächst, dass die frühe
Arbeitsmigration in das Osmanische Reich für deutschsprachige Handwerker
wie Johann Meyer primär finanzielle Gründe hatte. Jüngere Lerngruppen
recherchieren in diesem Zusammenhang zur historischen Bedeutung einzelner
Handwerksberufe; ältere Lerngruppen setzen sich in Teamdiskussionen mit
dem Thema auseinander. Die Lernenden erarbeiten sich dann den Begriff der
»Parallelwelt« am Beispiel der Familie Meyer, indem sie den Begriff inhaltlich
füllen und Kriterien erarbeiten, anhand derer sie Zitate der Meyers kritisch
überprüfen. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage, warum die Familie
Meyer sich so wenig innerhalb der türkischen Mehrheitsgesellschaft bewegt
(hat), wird die »Parallelwelt« als Raum für die Schaffung und den Erhalt
kultureller Identitäten denkbar. Abschließend setzen sich die Lernenden mit
der mehrheitsdeutschen Bewertung von (vermeintlichen) »Parallelwelten«
der Nachfahren von aus der Türkei nach Deutschland Migrierten auseinander.
Jüngere Lerngruppen befragen dazu externe Personen, ältere Gruppen
erarbeiten Positionen anhand von Quellen.
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
10
Lernziele
Alle TN erfassen am Beispiel der Familie Meyer, dass sich die »deutsche
community« von Istanbul in deutschen »Parallelwelten« bewegt.
Die meisten TN vollziehen nach, warum Handwerker wie Johann Meyer in das
Osmanische Reich immigrierten.
Einige TN kritisieren die in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbreitete
negative Konnotation der Wörter »Parallelwelt« und »Parallelgesellschaft«.
Entscheidungshilfen
Klassenstufe: 8. - 12. Klasse, der Ablauf ist in je eine Variante für jüngere und
ältere Lerngruppen differenziert.
Dauer: 1. Phase: 45 Minuten; 2. Phase: 45 Minuten; 3. Phase: 60 bis 90
Minuten.
Sozialform: Arbeit in Zweier-Teams, Gruppenarbeit, Plenumsdiskussionen.
Vorbereitung
• Arbeitsblätter »Parallelwelt«, »Zitate« als Klassensatz ausdrucken.
• Text »Deutsche Handwerker in Konstantinopel« ausdrucken. Der Text kann
•
•
•
•
•
Ablauf
vorbereitend gekürzt werden, erhalten bleiben sollte der einführende Teil
zu deutschsprachigen Handwerkern im Osmanischen Reich.
Optional für jüngere Lerngruppen: Wikipedia-Artikel zum Wort »Handwerk«
und folgenden Handwerksberufen für Arbeitsgruppen ausdrucken:
Goldschmied, Büchsenmacher, Messerschmied, Uhrmacher, Wagenbauer,
Glasbläser.
Optional für ältere/leistungsstärkere Lerngruppen: Krititerien zum Wort
»Parallelgesellschaft« ausdrucken.
Optional: Fremdwörterbuch zur Verfügung stellen.
Optional: Ausdrucken das Stammbaumes der Familie Meyer im
Klassensatz.
Tafel oder Flipchart, entsprechendes Papier, Plakate, Stifte bereitstellen.
Phase 1:
Die Lernenden sammeln zunächst in Einzelarbeit ihre Assoziationen mit
dem Begriff »Parallelwelt« (bekannter vielleicht »Parallelgesellschaft«) im
Zusammenhang mit der Türkei. Arbeitsgrundlage dafür sind die Arbeitsblätter,
auf denen der Begriff steht; zu jedem Buchstaben des Begriffes soll ein neues
Wort gefunden werden, wobei der jeweilige Buchstabe sowohl den Wortanfang
markieren als auch an einer anderen Stelle des neuen Wortes stehen kann. Die
Ergebnisse werden in Zweier-Teams verglichen.
In dieser Phase können Sie strukturierende Fragen (Welche Gemeinsamkeiten
und Unterschiede findet ihr? Fehlt eurer Meinung nach ein wichtiger Begriff?)
zentral an der Tafel oder auf einem Flipchart angeben.
Die Teams erhalten den Auftrag, auf der Grundlage ihrer Ergebnisse und der in
diesen enthaltenen Wissenslücken selbständig Fragen zu erarbeiten, die zum
Thema »Parallelwelten in der Türkei« interessant sein könnten. Alle Fragen
werden gesammelt und auf der Tafel oder einem Flipchart für die weitere Arbeit
visualisiert.
In Kleingruppen zu drei bis vier Personen lesen die Lernenden dann den
Hintergrundtext zur Arbeitsmigration von Handwerkern in das Osmanische
Reich mit verteilten Rollen:
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
11
1.
2.
3.
4.
Rolle: Vorlesen eines Abschnitts
Rolle: mündliches Zusammenfassen des Abschnitts
Rolle: Finden einer Überschrift für den Abschnitt
Rolle: Klären von schwierigen oder unbekannten Begriffen
Mit jedem Abschnitt werden die Rollen an die nächste Person in der Gruppe
im Uhrzeigersinn weitergereicht. Um möglichst viele Informationen aus
dem komplexen Text übernehmen zu können, sollte jedes Mitglied einer
Gruppe jede Rolle einmal erfüllen. Auch bei leistungsstarken Gruppen
bietet sich dieses Vorgehen an, da diese Methode einem zu oberflächlichen
Lesen vorbeugt und sicherstellt, dass für die Weiterarbeit am Thema ein
vergleichbarer Wissensstand in der gesamten Gruppe herrscht.
Jüngere Lerngruppen können sich nach der Texterschließung optional
ihnen unbekannte Handwerksberufe (Goldschmied, Büchsenmacher,
Messerschmied, Uhrmacher, Wagenbauer, Glasbläser) und die Handwerksregeln der Wanderjahre sowie das Gesellen- und Meistersystem erschließen.
Bei Internetzugang bietet sich eine Onlinerecherche an, Sie können
entsprechendes Material aber auch vorab bereitstellen. Bei der Vorstellung
der Arbeitsergebnisse im Plenum präsentieren die Gruppen ihre Ergebnisse
anhand folgender Fragen:
• Was macht man in dem betreffenden Handwerksberuf überhaupt?
• Gibt es den Beruf noch?
• Was glaubt Ihr, konnte man im 19. Jahrhundert Geld mit diesem Beruf
verdienen?
• Stellt Vermutungen an, warum jemand, der diesen Beruf erlernt hat, in
das Osmanische Reich zieht.
Als zusammenfassendes Ergebnis sollte für die Lerngruppe an der Tafel oder
auf einem Flipchart festgehalten werden, dass Handwerksberufe wie der
Johann Meyers angesehen und gut bezahlt wurden und Arbeitsmigration
lukrativ sein konnte.
Ältere Lerngruppen verschriftlichen während des Texterschließungsprozesses
in Stichworten ihre Vermutungen über die Gründe für deutschsprachige
Handwerker wie Johann Meyer, in das Osmanische Reich auszuwandern
(optional können Onlinerecherchen betrieben werden). Darauf erfolgt eine
kurze Plenumsauswertung. Im Anschluss erhalten die Gruppen den Auftrag,
sich entweder ein Themengebiet oder mindestens drei Fragen auszusuchen,
die sie besonders wichtig finden. Diese Fragen werden in den Gruppen
diskutiert. Abschließend erfolgt eine Auswertung der Ergebnisse im Plenum:
• Welche Fragen zu »Parallelwelten« ließen sich für euch auf Basis des
Texts gut beantworten? Welche nicht?
• Stimmen die Aussagen des Texts mit den Erwartungen überein, die ihr
zum Begriff »Parallelwelt« vorher gesammelt habt?
• Welche Information findet ihr besonders wichtig? War etwas für euch
überraschend?
• Wie könnte uns dieses neue Wissen dabei helfen, wenn wir mit den
Biografien der Generationen der Familie Meyer weiter arbeiten?
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
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Phase 2:
In der folgenden Lernphase wird in Arbeitsgruppen der Begriff »Parallelwelt«
auf das Leben der Familie Meyer in Istanbul angewandt. Einleitend erarbeiten
sich dazu jüngere Lerngruppen im Plenum anhand konkreter Kriterien eine
kurze Arbeitsdefiniton des Wortes »Parallelwelt«, die auf der Tafel oder einem
Flipchart visualisiert wird. Hierfür können die Kriterien des Politikwissenschaftlers Thomas Meyer aus der Vorlage vereinfacht werden. Ältere oder
leistungsstärkere Lerngruppen machen sich mit Thomas Meyers Kriterien
vertraut, indem sie Verständnisschwierigkeiten oder unbekannte Wörter
gemeinsam besprechen und klären. Alle Lerngruppen lesen im Folgenden
in den bereits bestehenden Gruppen ein oder zwei Zitate von Angehörigen
der Familie Meyer. Anhand der Arbeitskriterien des Begriffes »Parallelwelt«
überprüfen sie gemeinsam, ob die Familienmitglieder in Istanbul tatsächlich
in einer deutschen »Parallelwelt« lebten. Als Hilfestellung kann der verkürzte
Stammbaum aus den Materialien benutzt werden.
In einer gemeinsamen Plenumsauswertung wird dann besprochen, welche
Kriterien die Meyers für das Leben in einer »Parallelwelt« erfüllen. Sie können
in diesem Zusammenhang anregen zu diskutieren, was die Gründe für die Wahl
dieser Lebensumstände sein könnten und ob sich Wolfgang Meyer oder Isolde
Feiland eher deutsch oder türkisch definieren würden.
Phase 3:
Die Lerngruppen informieren sich autark darüber, wie (vermeintliche) türkische
Parallelwelten von der mehrheitsdeutschen Bevölkerung bewertet werden.
Dabei soll eine Bewertung nach zweierlei Maß kenntlich werden: Während die
Migrationsgeschichte der Meyers als Erfolg bewertet wird, werden die aus der
Türkei nach Deutschland Migrierten und ihre Nachkommen in der deutschen
Mehrheitsgesellschaft meist ablehnend bewertet. Die Lerngruppen sollen
dazu kurze Interviews mit Passantinnen und Passanten oder Personen aus der
Schule durchführen.
Kernfragen der Interviews können sein:
• Was bedeutet für Sie das Wort »Parallelwelt« oder »Parallelgesellschaft« in Deutschland?
• Glauben Sie, dass Menschen mit einem türkischen Hintergrund in
Deutschland in einer »Parallelwelt« oder »Parallelgesellschaft« leben?
• Wenn ja, wie finden Sie das?
In der abschließenden Auswertung sammeln die Gruppen die Antworten,
Bewertungen und Argumentationsmuster, die sie am häufigsten gehört
haben. Im Anschluss bewertet die Lerngruppe die Deutungsmuster der
Befragten. Dazu verorten sich die Lernenden räumlich im Klassenraum: Eine
Seite des Raumes steht für »gerecht«, die gegenüberliegende Seite steht für
»ungerecht«. Wenn die Zeit ausreicht, können einzelne Lernende ihre jeweilige
Meinung in Form eines kurzen Statements abgeben und sich wenn gewünscht
auch noch einmal umpositionieren.
Tipp: Im Anschluß an diese Methode oder auch direkt davor bietet sich die
Methode zu Mehrsprachigkeit in der Familie Meyer an.
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
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Arbeitsblatt »Parallelwelt«
P
A
R
A
L
L
E
L
W
E
L
T
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
14
Kriterien für eine »Parallelwelt«
oder »Parallelgesellschaft« nach
Thomas Meyer
Für den Politikwissenschaftler Thomas Meyer lebt eine soziale Gruppe in einer
»Parallelwelt«, wenn folgende Merkmale erfüllt sind:
• ethno-kulturelle bzw. kulturell-religiöse Homogenität.
• nahezu vollständige lebensweltliche oder zivilgesellschaftlich
weitgehende Möglichkeiten der ökonomischen Segregation.
• nahezu komplette Verdopplung mehrheitsgesellschaftlicher Institutionen.
• formal freiwillige Form der Segregation.
• siedlungsräumliche oder nur sozial-interaktive Segregation, sofern die
anderen Merkmale erfüllt sind.
Aus: Thomas Meyer: Der Begriff der Parallelgesellschaft. URL: http://
www.forum-interkultur.net/fileadmin/user_upload/pdf/19.pdf (Abruf am
23.10.2012).
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
15
Stammbaum der Familie Meyer
Johann Meyer
1843-1920
Emil Meyer
1883-1854
Wolfgang Meyer
Isolde Feiland
1909-1981
*1920
Gerd Feiland
*1944
Christian Feiland
*1972
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
16
Zitate ‚Parallelwelten der Familie Meyer‘
Hintergrund: Die Deutsche Schule in Istanbul 1971
Emil Meyers Schulzeit und Ausbildung
»An der Schule unterrichten 63 Lehrkräfte: 42 deutsche,
von denen 39 durch das Auswärtige Amt vermittelt sind,
und 21 nur z.T. (zum Teil) vollbeschäftigte türkische. Der
Schulleiter ist Deutscher, sein Stellvertreter auch; ein
türkischer Subdirektor steht Ihnen zur Seite. Der Anteil
des von deutschen Lehrkräften erteilten Unterrichts
beträgt je nach Klassenstufe und Mitwirkung an
Arbeitsgemeinschaften zwischen 71, 5 und 83,3 %.
(…) Deutsche und andere nichttürkische Schüler können
aufgrund einer Alternativregelung des türkischen
Erziehungsministeriums seit Schuljahr 1967/68 von der
Teilnahme an türkischen Fächern entbunden werden;
sie werden dann ausschließlich von deutschen Lehrern
unterrichtet.«
»Inzwischen war mein Vater Emil Meyer, der die
hiesige Deutsche Schule [in Istanbul] besucht und bei
seinem Vater das Uhrmacherhandwerk erlernt hatte,
herangewachsen. Um sein handwerkliches Können zu
vervollständigen, wurde er vom Großvater zur Firma
Felsing nach Berlin geschickt. (…) Die theoretische
Ausbildung erhielt mein Vater in der Uhrmacherschule
in Berlin, die er mit Auszeichnung absolvierte.«
Heinz Anstock: Die Deutsche Schule Istanbul. In: Materia Medica
Nordmark 23 (11), Seite 351-358, hier Seite 353.
Wolfgang Meyers Schulzeit und Ausbildung
»Ich selbst besuchte die Deutsche Schule in Istanbul,
anschließend ging ich zu meinem Vater in die Lehre
und spezialisierte mich danach in Deutschland auf dem
Gebiet der technischen Uhren.«
Wolfgang Meyer: Überblick über unsere 100-jährige Tätigkeit.
Istanbul 1978, o. S.
Wolfgang Meyer über die Erfindung seines Großvaters
Johann Meyer
»Die Fabrikation konnte nicht realisiert werden, weil das
muselmanische Volk sehr rückständig war und auch
sehr arm, so dass keiner den Mut hatte, eine größere
Auflage zu verantworten. Ich kann mich dunkel daran
erinnern, dass ich als achtjähriger Bub mit unserem
Vater bei einer Firma Tolayan in der Kapalı Çarşı war
und Papa verhandelt hat, leider ergebnislos, wegen der
Mengenauflage. Die muselmanische Bevölkerung hat
sich nun erweitert und auch durch das Öl bereichert
und ist nun aufnahmefähiger geworden.«
Wolfgang Meyer: Überblick über unsere 100-jährige Tätigkeit.
Istanbul 1978, o. S.
Wolfgang Meyer über den Beginn seiner Internierung
1944 in Kırşehir (Anatolien)
Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit wurden
Ende des Zweiten Weltkriegs in der Türkei interniert.
Wolfgang Meyer wurde in ein anatolisches Dorf
gebracht. Er erinnert sich an die Zeit:
»Zunächst aber interessierte uns Internierte, wann
wir endlich wieder zu unseren Personalausweisen
kommen würden. Und siehe da, eines Tages ging es wie
ein Lauffeuer durch den Ort, dass wir den folgenden
Montag um 9 Uhr im Polizeirevier die Ausweise abholen
könnten. So hatten sich Punkt 9 Uhr 800 Deutsche
dort eingefunden, die jedoch ein unvorhersagbares
Chaos anrichteten. Da der Bau so einem Ansturm nicht
gewachsen war, brachen die Fußböden ein, und an den
Wänden entstanden Risse. Wir wurden schleunigst
aus der Polizeistation getrieben. Der Kommissar
meinte ganz bestürzt, er hätte niemals erwartet, dass
alle so pünktlich sein würden. Denn »Montag 9 Uhr«
bedeute nicht exakt Montag, es könne auch Dienstag
der Mittwoch sein, zumal montags Markttag sei und
dann wichtigere Dinge zu tun seien. Damit hatten wir
Deutschen die erste Lektion in anatolischer Mentalität
erhalten.
Wolfgang Meyer: Ein Deutscher in der Türkei. O. J., Seite 9.
Wolfgang Meyer: Brief. O. J., o. S.
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
17
Isolde Feiland: Lebenslauf
Nachruf der Deutsch-Türkischen Gesellschaft e.V. Bonn
auf Wolfgang Meyer
»Die letzte wissenschaftliche Publikation von Wolfgang
Meyer war ein Beitrag für den I. Internationalen
Kongress für Geschichte der Türkisch-Islamischen
Wissenschaft und Technologie mit dem Titel
»Instrumente zur Bestimmung der Gebetszeiten im
Islam« (…). Am nächsten Morgen mussten die zu seinem
Referat Gekommenen erfahren, er sei plötzlich erkrankt
und ins Deutsche Krankenhaus [in Istanbul] gebracht
worden. (…)
Darüber hinaus verfügte Wolfgang Meyer über
umfassende Kenntnisse der Geschichte und Kultur der
Türkei. (…) Jeder, der Wolfgang Meyer kennengelernt
hat, der von seinem Fachwissen profitieren und seinen
persönlichen Erinnerungen zuhören durfte, wird mich
verstehen, wenn ich sage: Mit Wolfgang Meyer wurde
ein Stück Istanbuler Geschichte zu Grabe getragen.«
Hans-Peter Laqueur: Wolfgang Meyer 1909-1981. In: DeutschTürkische Gesellschaft e.V. Bonn. Mitteilungen, November 1982.
»(…) Ich besuchte die Deutsche Schule vom
Kindergarten an bis zum Abschluss meines Abiturs (in
Istanbul). (…) 1943 heiratete ich Rolf Feiland in Istanbul.
1944 ist mein Sohn im Deutschen Krankenhaus [in
Istanbul] zur Welt gekommen. (…)
Ich bin fast jedes Jahr in meine »alte Heimat« Istanbul
gereist, weil ich mich sehr verbunden fühlte. In Bonn
gehöre ich der Deutsch-Türkischen Gesellschaft an.
(…)«
Isolde Feiland: Lebenslauf. O. J.
Heiratsurkunde Isolde Feiland
»Istanbul, den ersten Juni Neunzehnhundertdreiundvierzig. Bei dem unterzeichneten Beamten erschienen
heute zum Zwecke der Eheschließung: 1. Der deutsche
Staatsangehörige Rolf Walter Klaus Gerhard Feiland,
(…) Beruf Kaufmann, geboren (…) in Kiel, wohnhaft in
Istanbul. 2. Die deutsche Staatsangehörige Isolde Marie
Meyer (…). Als Zeugen zugezogen und erschienen: 3.
Der deutsche Staatsangehörige Bankprokurist Heinrich
Johann Friedrich Lilly, (…) wohnhaft in Istanbul. 4. Der
deutsche Staatsangehörige Kaufmann Emil Herman
Meyer (…) wohnhaft in Istanbul. (…)
Der Deutsche Generalkonsul. In Vertretung.«
Heiratsurkunde Nr. 3/1943. München, Reg. Nr. 2001/20.
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Parallelwelten? Arbeitsmigration am Beispiel der Familie Meyer
18
Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen
Reich zur Türkischen Republik
Strukturierende Fragestellung
Autorin
Problematik, Durchführung und
intendierte Lernerfolge
Lernziele
Entscheidungshilfen
Vorbereitung
Was verändert sich für die Firma Meyer durch die Gründung der Republik
Türkei? Was bedeutet Zeit für die Uhrmacher der Familie Meyer? Was bedeutet
Zeit für die Teilnehmenden? Worin gleichen sich diese Auffassungen von Zeit?
Worin unterscheiden sie sich?
Ingrid Bettwieser
In der folgenden Methode stellen die Lernenden ihre eigenen Aufassungen des
Wortes »Zeit« denen der Uhrmacherfamilie Meyer gegenüber. Dabei lernen sie
anschaulich, welche konkreten Folgen der Systemwechsel vom Osmanischen
Reich zur Republik Türkei für das alltägliche Leben hatte.
Alle TN vergleichen ihre eigenen Auffassungen von Zeit mit den Auffassungen
von Johann, Emil und Wolfgang Meyer. Sie können dabei feststellen, dass die
drei Uhrmacher mit den menschlichen Ideen »Zeit« und »Pünktlichkeit« Geld
verdienen.
Die meisten TN erfassen, dass ein politischer Systemwechsel vom
Osmanischen Reich zur laizistischen RepublikTürkei stattgefunden hat.
Einige TN erwerben Kenntnisse über Praxen des Betens im Islam.
Klassenstufe: 8. - 12. Klasse.
Dauer: 60 Minuten.
Sozialformen: Plenum, Partnerarbeit.
• Flipchart, entsprechendes Papier, Stifte bzw. Poster, Klebeband, Stifte
•
•
•
•
bereitstellen.
Vorbereitungstext: »Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik« im
Klassensatz ausdrucken und als Hausaufgabe lesen lassen (siehe Tipp).
Drei Vorlagen »Zeitmolekül« (siehe Material) auf das Flipchart oder Poster
zeichnen.
Material: Zitate ausdrucken, optional: verkürzten Stammbaum ausdrucken.
Alle Teilnehmenden brauchen ein leeres Blatt Papier und einen Stift.
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik 19
Ablauf
Phase 1:
Am Beginn steht ein kurzes Plenumsgespräch zur Frage »Was bedeutet Zeit für
euch?«. Wichtige Fragen an die Gruppe sind dabei:
»Wann spielt Zeit in eurem Leben eine Rolle?«, »Wann ist die aktuelle Uhrzeit
wichtig für euch, wann nicht?«, »Wie informiert ihr euch über die aktuelle
Uhrzeit?«
Beispiele können sein: Früh aufstehen; pünktlich zur Schule kommen;
Anfangszeiten eines Fernsehprogrammes oder Konzertes; Zeit für Freundinnen
und Freunde; Zeit zum Nichtstun. Tragen Sie die zentralen Punkte, die die
Gruppe nennt, in das erste »Zeitmolekül« ein (vgl. Material).
Phase 2:
Teilen Sie die Lerngruppe in zwei Hälften: Die eine erhält das Zitat zur Arbeit
im Osmanischen Reich, die andere das Zitat über den Beginn der Republik
Türkei. Für einen besseren Überblick über die verschiedenen Generationen
der Familie Meyer kann zusätzlich der verkürzte Stammbaum aus den
Materialien ausgeteilt werden. Beide Großgruppen lesen ihr jeweiliges Zitat in
Partnerarbeit und stellen gemeinsam kurze, schriftliche Vermutungen an, was
»Zeit« im jeweiligen Zitat für die Firma Meyer bedeutet. Die Arbeitsergebnisse
der ersten Gruppe werden nach und nach in ein zweites »Zeitmolekül« mit der
Überschrift »Die Firma Meyer am Ende des Osmanisches Reichs« eingetragen.
Parallel werden nach und nach die Arbeitsergebnisse der zweiten Gruppe
in ein drittes »Zeitmolekül« mit der Überschrift »Die Firma Meyer zu Beginn
der Republik Türkei« übertragen. Alle drei »Zeitmoleküle« werden im Raum
aufgehängt.
Phase 3:
Die gesamte Lerngruppe macht sich in einem stillen Rundgang mit allen
Arbeitsergebnissen vertraut. Leiten Sie danach ein abschließendes
Auswertungsgespräch an, etwa unter Verwendung folgender Fragen:
• Was hat euch überrascht? Was habt ihr nicht erwartet?
• Was bedeutet eurer Meinung nach Zeit für die Uhrmacher Johann, Emil
und Wolfgang Meyer?
• Wie verändert sich Zeit nach der Gründung der Republik Türkei?
• Worin ähnelt eure Aufassung von Zeit der der Uhrmacherfamilie Meyer,
worin unterscheiden sich die Auffassungen?
• Gibt es einzelne Zeitmoleküle, die sich wiedersprechen?
Tipp:
Für diese Methode wird vorausgesetzt, dass die Lernenden mit der Biografie
Johann Meyers vertraut sind (vgl. Methode eins und zwei). Außerdem wird
davon ausgegangen, dass alle Teilnehmenden den Schwerpunktthemen-Text
des politischen Übergangs vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei kennen
und Fragen zur Ereignisgeschichte bereits geklärt wurden. Denkbar wäre,
den Text als vorbereitende Hausaufgabe zu behandeln und die Lernenden
einen Zeitstrahl zur Ereignisgeschichte anfertigen sowie eine autarke
Online-Recherche durchführen zu lassen.
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik 20
Zur Vertiefung
kann mit der Lerngruppe recherchiert werden, wie Menschen heute die
islamischen Gebetszeiten bestimmen. Hinweise geben unter anderem folgende
Internetseiten:
Auf www.kandil-marketing.online.de/portal/images/uploads/German.pdf
(Zugang 24.10.2012) findet sich die Gebrauchanweisung eines Weckers, der zu
den Ezan-Zeiten zum Gebet ruft.
www.islamicfinder.org/cityPrayerNew.php?country=germany (Zugang
24.10.2012) zeigt die Gebetszeiten für größere deutsche Städte an.
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik 21
Vorlage »Zeitmolekül«
ZEIT
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik 22
Wolfgang Meyer berichtet über
die Arbeit der Firma Meyer im
Osmanischen Reich
»Der Tag wurde, wie heute üblich, von Mitternacht zu Mitternacht mit 24
Stunden gerechnet, während im ganzen Orient die »Ezan-Zeit« galt. Es ist die
Zeit, die den Tag von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang in zweimal 12
Stunden einteilt und nach der im Islam die Gebetszeiten bestimmt werden.
Da sich der Sonnenuntergang aber zu den verschiedenen Jahreszeiten
ändert, trug man zur Umrechnung Tabellen mit sich, mit deren Hilfe man den
Zeitunterschied berechnen konnte.
Mein Großvater (Johann) konstruierte nun eine Uhr (…) deren inneres
Zifferblatt die europäische Zeit anzeigte. Außerdem waren noch zwei
Zahlenkränze, ein innerer für die Stunden (…) und ein äußerer (…) zum Ablesen
der Minuten, vorhanden. Diese Uhr wurde über die Firma Tolayan, die sich in
der Kapalı Çarşı1 im Varahiçi han befand und die gute Beziehungen zum Hof
hatte, in der Schweiz bestellt und in der Türkei in großer Anzahl verkauft.
Die Uhr wurde Hamidiye-saat (saat=Uhr) genannt. Das Zeitablesen war sehr
einfach. Jeden Morgen wurden die Zahlenkränze nach der Ezan-Zeit eingestellt.
Mit den Zeigern, die die europäische Zeit anzeigten, konnte man gleichzeitig
die (…) [europäische] Zeit ablesen.
(…) Viele Jahre hindurch waren beide Zeiten [im Osmanischen Reich]
nebeneinander (…) in Gebrauch. Die Gebete richteten sich nach der Ezan-Zeit,
das Geschäftsleben mit Telefon, Telegramm und Schiffsfahrtplänen nach
europäischer Zeit, die auch beim Militär eingeführt wurde.
Mit der Hamidiye-Uhr musste die Zeit auf den Zahlenkränzen, die für
die Ezan-Zeit bestimmt waren, täglich eingestellt werden. Mein Großvater
[Johann] gab sich mit dem Gedanken ab, eine Uhr zu konstruieren, die die
Zeitunterschiede der zeitlich verschiedenen Sonnenuntergänge automatisch
regeln sollte. In mühevoller Arbeit gelang es ihm, ein solches Werk von Hand
herzustellen. Er ließ dazu ein schönes goldenes Gehäuse mit Emailverzierung
anfertigen und schenkte die Uhr seinem Sultan Abdülhamid II. (…).
Während heute die Zeit im Fernsehen und im Rundfunk bekanntgegeben
wird, war es früher ein Problem, sie genau zu ermitteln. Mein Großvater
[Johann] war immer bestrebt, die beiden Normaluhren, die im Geschäft die
europäische Zeit sowie die Ezan-Zeit anzeigten, sekundengenau gehen zu
lassen. Es sprach sich in der Stadt herum, dass die genaue Zeit bei »Meyer« zu
haben war.
(…) In damaliger Zeit mussten die Uhren wöchentlich aufgezogen und
gestellt werden. So gab es viele Behörden, Botschaften und auch Privathäuser,
die bei der Firma Meyer ein Abonnement hatten, damit ihre Uhren regelmäßig
aufgezogen und reguliert wurden und somit Genauigkeit und richtige Zeit
gewährleistet waren.«
(Aus: Wolfgang Meyer: Überblick über unsere 100-jährige Tätigkeit. Istanbul
1978, o. S.)
1 Geschäftsviertel in Istanbul
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik 23
Wolfgang Meyer berichtet über den
Beginn der Republik Türkei
»Bereits während seiner Ausbildung im Jahre 1908 fasste er [Emil] den
Entschluss, eine Uhr zu konstruieren, die beide Zeiten, die europäische und
die Ezan-Zeit [islamische Gebetszeiten] anzeigen sollte (…). Er arbeitete
unermüdlich an seiner Erfindung, bis er das Problem gelöst hatte. Die Uhr
war so konstruiert, dass sie die europäische Zeit anzeigte. Ein Druck auf die
Aufziehkrone der Uhr genügte, um beide Zeiger auf die Ezan-Zeit springen zu
lassen. Nach abermaligem Druck sprangen die Zeiger wieder auf die normale
Zeit zurück. Leider hatte mein Vater (Emil) mit dem Vertrieb dieser Uhr keinen
Erfolg, da 1910 die Ezan-Zeit in der Türkei allgemein abgeschafft wurde.
1919 wurde mein Vater [Emil] mit allen Deutschen, die in Istanbul lebten,
von den Ententemächten ausgewiesen. (…) In München übernahm mein Vater
die Leitung des Geschäftes Andreas Huber am Karlsplatz. (…)
Nach dem Sieg Atatürks konnte mein Vater [Emil] Ende 1922 wieder
nach Istanbul zurückkehren und abermals die Leitung des Geschäfts in der
Tunnelstraße übernehmen. (…) Unter anderen sandte auch Atatürk seine Uhren
zur Reparatur zu meinem Vater. (…)
Mit dem Fortschritt der Industrialisierung in der Türkei entstand ein
Bedarf an technischen Uhren. Mein Vater war der erste Uhrmacher, der
Wächterkontrolluhren und Arbeitszeitkontrollapparate sowie Signaluhren
und auch Haupt- und Nebenuhren in die Türkei importierte, die alle heute
noch in Betrieb sind. (…) Nach dem unerwarteten Tode meines Vaters im
Jahre 1954 übernahm ich die Firma nunmehr als dritte Generation (…). Da
ich mich bis dahin nur technisch betätigt hatte, musste ich mich in das
Gebiet der Administration einarbeiten. Die damalige Wirtschaftskrise mit
ihrer Devisenknappheit erschwerte die Geschäftsführung, so dass ich keine
Uhren (…) importieren konnte. Bei meinen Schwierigkeiten kam mir die Sınai
Kalkınma Bankası zur Hilfe. Der Direktor dieser Bank fragte mich, warum
ich keine Uhren selbst herstelle, und ermunterte mich, mit Hilfe einer Bank
dies zu unternehmen. (…) Wir stellten einen Plan auf und fertigten eine Liste
der notwendigen Maschinen an, die wir der Türkiye sınai kalkınma bankası
unterbreiteten. Nach deren Prüfung konnte ich am 26.12.1956 einen Vertrag
unterschreiben, in welchem ich mich verpflichtete, in zwei Jahren den
gesamten Bedarf der Türkei an Wächterkontrolluhren und Signaluhren (…) zu
decken. In Bakırköy mietete ich eine Werkstatt, in der ich die erste Uhrenfabrik
in der Türkei einrichtete.«
(Aus: Wolfgang Meyer: Überblick über unsere 100-jährige Tätigkeit. Istanbul
1978, o. S.)
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik 24
Stammbaum der Familie Meyer
Johann Meyer
1843-1920
Emil Meyer
1883-1854
Wolfgang Meyer
Isolde Feiland
1909-1981
*1920
Gerd Feiland
*1944
Christian Feiland
*1972
Johann Meyer > Pädagogische Methoden zu den Schwerpunktthemen > Die Veränderung der Zeit. Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik 25
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