Kommentar zum Matthäus-Evangelium Patrick Schnell April 2011 1 Die Auslegung geschieht nach den Grundsätzen der historisch-kritischen Exegese. Andere Kommentare werden in der Regel nicht zu Rate gezogen, wie der Literaturliste zu entnehmen ist, da die Auslegung vor allem meinem persönlichen Verständnis des Evangeliums dienen soll. Die einzelnen Schritte der historisch-kritischen Exegese sind unter diesem Vorbehalt zu lesen. Diese Schritte sind: • Die Übersetzung aus dem griechischen Urtext. Sie ist eher eine Meditation des Evangeliums als eine streng wissenschaftliche Übertragung ins Deutsche. Die Übersetzung ist alles andere als willkürlich. Sie wird, wo nötig, während der Auslegung begründet und soll vor allem eine Hilfe sein, die Aussagen der Heiligen Schrift tiefer zu erfassen. Die Überschriften und die Einteilung der Abschnitte sind vom Übersetzer. Es gilt zu beachten: (..) enthält die Nummer des Verses, <..> enthält Einfügung des Übersetzers als Tribut an die deutsche Grammatik oder zum besseren Verständnis des Textes und [..] enthält eine Passage des griechischen Textes, die im Deutschen umständlich wirkt oder nicht der Grammatik entspricht • Die Textkritik versucht, mit Hilfe sprachwissenschaftlicher Ansätze die ursprüngliche Fassung des Textes zu ermitteln. In diesem Zusammenhang stellt sie unterschiedliche Überlieferungen auf den Prüfstand • Die Literarkritik untersucht den Text in seiner verschriftlichen Form auf innere (Un-) Stimmigkeiten (Kohärenzkritik ) und auf Abgrenzungen / Brüche zum Kontext (Kontextkritik ) • Die Überlieferungskritik versucht, ein vorschriftliches Stadium des Textes zu bestimmen • Die Quellen- und Redaktionskritik versucht, verschiedene Phasen der Verschriftlichung zu unterscheiden und zu klären • Die Formkritik dient der Analyse von Stil und Struktur des Textes 2 • Die Gattungskritik versucht, den vorliegenden Text einer literarischen Gattung zuzuordnen, den „Sitz im Leben“ zu ermitteln und die Intention des Textes zu bestimmen • Die Traditionskritik versucht, inhaltl. Vorprägungen zu identifizieren • Bei der Bestimmung des historischen Ortes versucht, den Text in eine bestimmte historische Situation einzuordnen • Klärung von Einzelaspekten wie Namen, Begriffe, Orte, Handlungen • In der deutenden Zusammenfassung wird versucht, die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen. Dabei geht es darum, aufgrund des bisher Erarbeiteten die vermutlich ursprüngliche Intention zu ermitteln, nicht aber, eine Bedeutung in den Text hineinzulegen • abschließend können die Verse einzeln ausgelegt werden Der Verfasser des Evangliums ist nach alter Überlieferung der Apostel Matthäus, der in Palästina gewirkt und sein Werk zunächst in hebräischer oder aramäischer Sprache geschrieben haben soll. Das legt die Vermutung nahe, er habe es für Judenchristen geschrieben. Die heutige Forschung geht davon aus, dass das Matthäus-Evangelium nach dem des Markus entstanden ist, doch gibt es auch andere Theorien. Irenäus von Lyon überliefert eine Abfassung um das Jahr 60 n.Chr1 . 1 Vgl. Henning, Kurt (Hg.), Jerusalemer Bibellexikon, Neuhausen-Stuttgart, 4. Aufl. 1998, p.572-573 Inhaltsverzeichnis I Mt 1,1-18: Der Schlüssel zum Evangelium 1 Mt 1,1-18: Der Stammbaum Jesu 1.1 II Die historisch-kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . Mt 1,18-2,23: Der Beginn des Evangeliums 2 Mt 1,18-25: Die Umstände der Geburt Jesu 2.1 4 5 6 20 21 Die historisch-kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3 Mt 2,1-23: Reaktionen auf Jesus: Verehrung & Bekämpfung 33 3.1 III Die historisch-kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Mt 3,1-4,11: Die Zeit der Vorbereitung 4 Mt 3,1-4,11: Umkehr und Versuchung 4.1 51 52 Die historisch-kritische Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3 Teil I Mt 1,1-18: Der Schlüssel zum Evangelium 4 Kapitel 1 Mt 1,1-18: Der Stammbaum Jesu (1) Geschlechterbuch <des> Jesus Christus, <des> Sohnes Davids, <des> Der Sohnes Abraams: Text (2) Abraam zeugte den Isaak, und Isaak zeugte den Jakob, und Jakob zeugte den Judas und seine Brüder, (3) und Judas zeugte den Fares und den Zara aus der Thamar, und Fares zeugte den Hesrom, und Hesrom zeugte den Aram, (4) und Aram zeugte den Aminadab, und Aminadab zeugte den Naasson, und Naasson zeugte den Salmon, (5) und Salmon zeugte den Boes aus der Rachab, und Boes zeugte den Jobed aus der Ruth, und Jobed zeugte den Jessai, (6) und Jessai zeugte den David - den König. Und David zeugte den Solomon aus der <Frau> des Uria, (7) und Solomon zeugte den Roboam, und Roboam zeugte den Abia, und Abia zeugte den Asaf, (8) und Asaf zeugte den Josafat, und Josafat zeugte den Joram, und Joram zeugte den Ozias, (9) und Ozias zeugte den Joatham, und Joatham zeugte den Achaz, und Achaz zeugte den Hezekias, (10) und Hezekias zeugte den Manasses, und Manasses zeugte den Amos, und Amos zeugte den Josias, (11) und Josias zeugte den Jechonias und seine Brüder in der Babylonischen Gefangenschaft. (12) Und nach der Babylonischen Gefangenschaft: Jechonias zeugte den Salathiel, und Salathiel zeugte den Zorobabel, (13) und Zorobabel zeugte den Abiud, und Abiud zeugte den Eliakim, und Eliakim zeugte den Azor, (14) 5 KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 6 und Azor zeugte den Sadok, und Sadok zeugte den Achim, und Achim zeugte den Eliud, (15) und Eliud zeugte den Eleazar, und Eleazar zeugte den Matthan, und Matthan zeugte den Jakob, (16) und Jakob zeugte den Josef, den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde, den man „Christos <d.h. Gesalbter>“ nennt. (17) Alle nun: Die Geschlechter von Abraam bis David - vierzehn Geschlechter; die Geschlechter von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft - vierzehn Geschlechter; die Geschlechter von der Babylonischen Gefangenschaft bis zum Gesalbten - vierzehn Geschlechter. 1.1 Die historisch-kritische Analyse V.8 ergänzen einige Textzeugen nach 1 Chr 3,10ff: „..., und Joram Textkritik zeugte Ochozias, und Ochozias zeugte den Joas, und Joas zeugte den Amasias, und Amasias zeugte den Ozias“. Allem Anschein nach soll so der Stammbaum an die atl. Überlieferung angeglichen werden. Die ausdrückliche Struktur des mt. Stammbaumes (V.17) und die geringe Überlieferung dieser Ergänzung sprechen für diese kürzere und schwierigere Lesart. V.16 sind folgende Lesarten überliefert: 1. „...Josef, mit dem die Jungfrau Mariam verlobt war, von der Jesus geboren wurde...” 2. „...Josef, mit dem die Jungfrau Maria verlobt war, die Jesus Christus gebar.” 3. „...Josef, mit dem Mariam verlobt war, von der geboren wurde der Christos, der Sohn GOTTes.” 4. „...Josef, und Josef zeugte den Jesus, den man Christos nennt.” 5. „...Josef, den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde, den man Christos nennt.” KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 7 Für 5. als ursprünglicher Lesart sprechen die reiche Überlieferung und das Fehlen der Jungfrauen-Lehre, die sich erst auf den ersten Ökumenischen Konzilien durchsetzte. Josef ist sogar Marias Mann! Allerdings entspricht 4. dem Duktus des Stammbaumes. Diese Lesart kann als Angleichung an den Stammbaum gewertet werden. Der ausdrückliche Sohn-Gottes-Titel in 3. gehörte eher in V.1 als Aussage über das Wesen Jesu, wie wir es etwa bei Mk finden oder bei Lk. Der Sohn-Gottes-Titel scheint sekundär und nicht ursprünglich zu sein. Die geringe Überlieferung unterstützt diese Vermutung. Die Lesarten 1. und 2. sind aufgrund der geringen Überlieferung ebenfalls zu verwerfen. • Im Original besteht dieser Abschnitt des ersten Evangeliums aus drei AuffälligSätzen, die ihn zugleich gliedern. Der mt Stammbaum Jesu unterschei- keiten det sich von dem im Lukasevangelium. Er steht nicht im Zusammenhang mit der Taufe, ist also nicht von hier aus zu deuten. Der lk Stammbaum reicht daher auch bis Adam zurück (neue Schöpfung, Aufhebung des Sündenfalls). Der mt. Stammbaum beginnt bei Abraham und steht am Anfang des Evangeliums. Welche Aussage will der Evangelist treffen? • Es werden insgesamt siebenmal (mit Maria achtmal) bestimmte Verwandte außerhalb der Linie genannt: die Stammväter, Tamar, Zara, Rahab, Ruth, Urias Frau, die Brüder des Jechonias (und Maria). Weshalb? • Auffällig ist zudem die Gliederung in 3*14 Generationen: 3 Generationen fallen mitten im 2. Zeitabschnitt weg. Die Zahlensymbolik 3*14 = 42 = 6 (4+2), die sich daraus ergibt, dass im hebräischen und griechischen Zahlen und Buchstaben zusammenhängen, ist möglicherweise ein symbolischer Hinweis auf einen Namen oder Satz. Durch die Gliederung des Stammbaumes wird zugleich die Geschichte in aufeinanderfolgende Abschnitte eingeteilt. • Welches Geschichts- und Gottesbild liegt dem zu Grunde? KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 8 • Was bedeuten die Begriffe „Sohn Abrahams”, „Sohn Davids” und „Messias/Christos” in Bezug auf Jesus? Die Abgrenzung des Textes ergibt sich aus seinem Aufbau: V.1 leitet den Text ein und kann durch die Bezeichnung Geschlechterbuch nur auf die VV. 2-16 bezogen werden. V.17 fasst den Stammbaum unter anderen Gesichtspunkten zusammen als V.1. V.18 wiederum leitet die Überlieferung zur Geburt Jesu ein und muss daher als vom Stammbaum unterschieden betrachtet werden. Der Stammbaum bildet den Beginn des Mt, wodurch er eine besondere Stellung erhält. V.1 nennt bereits eine Deutung Jesu, die grundlegend scheint für das Verständnis des Evangeliums: Jesus ist Sohn Davids und Sohn Abrahams (das gilt auch, wenn wir die Formulierung „Sohn Abrahams“ auf David beziehen, wie der Stammbaum zeigt). Literarkritik (Kontextkritik) Der Stammbaum VV.2-17 ist im Ganzen monoton verfasst: „xx zeugte yy, (Kohärenzyy zeugte zz“ usf. Durchbrochen wird dieses Schema nur an wenigen Stellen, kritik) 7 (bzw. 8) an der Zahl, die zusätzlich entweder die Mütter oder Brüder des Gezeugten benennen. Vom eigentlichen Stammbaum grenzen sich auch die beiden Verse ab, die ihn einleitend (V.1) bzw. abschließend (V.18) deuten. Durch diese rahmenden Verse wirkt der Text in sich geschlossen und zusammengehörig. V.17 lässt vermuten, dass die Struktur des Stammbaums und die Anzahl der Generationen entweder vom Evangelisten oder einer möglichen Quelle beabsichtigt ist. Der Text weist sowohl historische Angelpunkte auf (s. Struktur: Abraham, auf den der Bund zurückgeht, David, dem idealen König, das Fiasko der Babylonischen Gefangenschaft, die Vollendung in Jesus Christus) als auch theologische (Abraham - David - Jesus), die sich gegenseitig bedingen und keinesfalls ausschließen. Ein vorschriftliches Stadium des Stammbaumes zu bestimmen, ist schwierig. ÜberlieferungsDer Ausgangspunkt, Jesus sei Nachkomme Abrahams und vor allem Da- kritik vids, ist sicherlich vor-mt, allgemeines christliches Glaubensgut, denn nur ein Nachkomme Davids kann nach jüdischer Überlieferung der Messias sein. Paulus greift diese Thematik auf. Er überliefert uns auch den Glauben, dass Abraham der vorbildlich Glaubende ist, was die christliche Tradition ebenfalls wie selbstverständlich auf Jesus überträgt. Ob es für den streng geglie- KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 9 derten Stammbaum selbst eine vor-mt und gar mündliche Überlieferung gab, muss vorerst unbeantwortet bleiben. Hat dem Evangelisten eine Quelle vorgelegen in Form eines schriftlichen oder mündlichen Stammbaums, so scheint zumindest die strenge Gliederung in 3x14 Generationen mt Ursprungs zu sein. Zumindest in der biblischen Tradition ist eine ähnliche Gliederung nicht zu finden wohl aber Stammbäume, die z.T. von Mt aus der LXX1 übernommen werden: Auch der lk Stammbaum kennt eine solche Komposition nicht. Lk nennt zudem andere Namen und führt seinen Stammbaum in umgekehrter Richtung von Jesus aus zurück über Abraham hinaus bis Adam. Der lk Stammbaum steht nicht am Anfang des Evangeliums, sondern zwischen Taufe und Versuchung. Bei Lk erhält der Stammbaum seine Bedeutung also anscheinend durch das Taufgeschehen (durch Christus wird der Getaufte ein neuer Mensch, die ursprüngliche Würde des ersten Menschenpaares ist wieder hergestellt, die Folge des Sündenfalls behoben). Bei Mt ist die Grundlage des Stammbaums offenbar eine andere. Die Namensunterschiede in beiden Stammbäumen können nicht befriedigend erklärt werden. Wie es scheint, dienen sie nicht einem in unserem Sinn historischen Zweck. Inwieweit sie auf entsprechenden Überlieferungen beruhen, muss offen bleiben. 1 LXX ist in römischen Ziffern die Kurzform der sogenannten Septuaginta, der maßgeblichen Übertragung alttestamentlicher Schriften ins Griechische. Die frühe Kirche hat diese Übersetzung übernommen. Quellenund Redaktionskritik KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU Nr 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Name Abraham Isaak Jakob Judas (+ Brüder) +Thamar Fares (+ Zara) Hesrom Aram Aminadab Naasson Salmon (+ Rahab) Boes + Ruth Jobed Jessai David (+ Frau des Uria) Salomon Rhoboam Abia Asaf Josafat Joram Ozias Joatham Achaz Hezekias Manasses Amos Josias Jechonias (+ Brüder) Salathiel Zorobabel Abiud Eliakim Azor Sadok Achim Eliud Eleazar Matthan Jakob Josef + Maria Jesus ??? 10 Stelle im AT Gen 11,27-25,10 Gen 21-28 Gen 25, 27-31; 38,1-30 Ruth 4,18-22 1 Chr 2,51; Jos 2,1-8; 6,17-25 Buch Ruth Ruth 4,22; 1 Chr 2,12-15 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 Sam 16 – 2 Sam 24 parr Kön 1-11 Kön 12,1-19; 14,21-31 par Kön 15,1-8 Kön 15,9-24 par Kön 22,41-51 par Kön 8,16-24 par Kön 15,1-7 par Kön 15, 32-38 par Kön 16,1-20 par Kön 18,1-20,21 par Kön 21,1-18 par Kön 21,19-26 par Kön 22,1-23,30 par Kön 24,8-17 par Esra 2,2 Diese Ahnenfolge ist sonst in der Bibel nicht belegt Tabelle 1.1: Der Stammbaum Jesu und das Alte Testament KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 11 Der Text lässt sich wie folgt gliedern. Die Gliederung ist grammatisch vorge- Formkritik geben durch die drei Sätze, aus denen der Text besteht und inhaltlich durch die Strukturierung in V.17: 1. Deutende Einleitung (V.1) 2. Stammbaum (V.2-16) (a) Abraham bis David (V.2-6a) (b) Salomon bis zur Babylonischen Gefangenschaft (V.6b-12) (c) nach der Babylonischen Gefangenschaft bis zur Geburt Jesu (V.1316) 3. Abschließende zahlensymbolische Zusammenfassung (V.17) Formal handelt es sich beim Stammbaum selbst um eine schlichte Aufzählung. Die vorliegende Perikope gehört zur Gattung der Stammbäume. Die Stamm- Gattungskritik bäume des Alten Testaments sind oft zugleich Chronologien, die größere Zeiträume überbrücken sollen, oder dienen wie in den Königsbüchern der zeitlichen Einordnung. Im Neuen Testament begegnen uns zwei Stammbäume Jesu: der bei Matthäus und der von Lukas. Im Mt beginnt das Evangelium mit dem Stammbaum. In Lk folgt der Stammbaum auf die Taufe Jesu, verfolgt also ganz offensichtlich einen anderen theologischen Zweck, wohl eine Aussage über das Taufgeschehen. Der Stammbaum des ersten Evangeliums scheint sich von den anderen Stammbäumen der Heiligen Schrift in seiner Zielsetzung zu unterscheiden, wie die Struktur und die rahmenden Verse und die Stellung im Evangelium vermuten lassen. Die sieben (bzw. acht) „Erweiterungen“ in der Aufzählung des Stammbaums scheinen vor allem die entsprechenden wichtigen Ereignisse in der jüdischen Geschichte in Erinnerung rufen zu wollen – die Ereignisse, auf die es ankommt, etwa die Untreue Davids, die die Geburt Salomos und die Weissagung Natans zur Folge hat. KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 12 Manche sagen, diese Erweiterungen zeigten, dass Gott auch durch Sünder sein Heil wirken könne, dass er auch auf „krummen Zeilen gerade schriebe“, und – im Zusammenhang mit der feministischen Theologie – dass er Frauen in seinen Heilsplan einbinde. Dies alles sei der Vollständigkeit halber erwähnt, scheint mir aber in den Text hinein interpretiert. Insgesamt steht Jesus am Ende einer langen Geschichte, die zu ihm hin führt. Jesus selbst ist Teil dieser Geschichte. In ihm erfüllen sich die Verheißungen an Abraham und David (V.1), er ist der erwartete Messias. Durch ihn steht auch die Geschichte der Kirche in Kontinuität und enger Verbindung mit der Geschichte Gottes und seines Volkes. Der Stammbaum setzt demnach voraus, dass der Leser oder Hörer mit der jüdisch-biblischen Überlieferung und mit der Messias-Erwartung vertraut ist, richtet sich also vermutlich an Christen oder Interessierte aus dem Dunstkreis des Judentums, und damit auch an solche, die sich dem jüdischen Glauben nahe fühlen und die Gebote befolgen, ohne selbst Juden zu sein. Näher betrachtet werden müssen die drei Aussagen über Jesus in V.1. Er ist Traditionskritik Christus = Messias: „Der Gesalbte“ ist der König (der das Volk als Guter Hirt versorgt und leitet), der Hohepriester (der das Volk mit JHWH versöhnt und entsündigt) und der Prophet (der das Wort Gottes als Sprachrohr Gottes in seinem ursprünglichen Sinn in die jeweilige Zeit hinein verkündet, ob gelegen oder ungelegen). Gerade dem König kommt hierbei die Ehre zu, in diesem Sinne „Sohn Gottes“ zu sein, Hohepriester und Propheten sind wie auch der König „Knecht Gottes“. Die Salbung zeigt den Beistand Gottes, das Geschenk besonderer Begnadung und Leitung durch den Höchsten, aber auch besondere Erwählung (z.B. Saul, David oder die Propheten). Seit dem Exil wird ein Messias erwartet, der das Volk von Unterdrückung und Knechtschaft befreit und das davidische Königtum sogar noch übertrifft. Dieser Messias stellt (Bundes-) Gerechtigkeit und (Bundes- bzw. Glaubens-) Treue und sogar den umfassenden Frieden der Urzeit wieder her, er setzt die Herrschaft Gottes gegen alle Feinde durch. KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 13 Sohn Davids: Diese Bezeichnung meint offensichtlich einerseits „Sohn“ im Sinne von „Nachkomme“. Andererseits ist damit automatisch die Weissagung des Propheten Natan an David aufgegriffen, die an ihn ergeht, als er JHWH einen Tempel bauen will, nachdem er das Volk geeint hat: Sein Nachkomme werde ein Gotteshaus bauen (die Kirche?), die Familie Davids aber auf ewig herrschen (2 Sam 7). David wird so zum Urtyp des „Gesalbten Gottes“. Darum muss der Messias zwangsläufig ein Nachfahre Davids sein. Nach christlicher Lesart sind diese Verheißungen in Jesus erfüllt, auch wenn vordergründig Salomo gemeint ist (wie Jesus ein uneheliches Kind). Sohn Abrahams: Auch diese Bezeichnung ist sowohl biologisch als auch theologisch zu verstehen. Mit Abraham wurde der grundlegende Bund der Beschneidung geschlossen, durch den sich Israel von den anderen Völkern unterscheidet. So wird jeder, der diesem Bund beitritt, Abrahams Sohn. An Abraham erging die Verheißung, der Vater vieler Völker zu sein, nach christlicher Lesart ist dies in der Kirche verwirklicht. Jeder Glaubende ist „Sohn Abrahams“, folglich nach jüdischem Denken jeder „Gerechte“, jeder der rechtschaffen, also gemäß der Tora, lebt. Glaube und Gerechtigkeit sind in Jesus noch vorbildlicher erfüllt als in Abraham. Was nicht weniger wichtig ist: Der Gott, den Jesus verkündet, ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Da im letzten Zeitabschnitt des Stammbaumes eine Generation fehlt, ist fraglich, ob es dem Evangelisten wirklich auf die Zahl 42 (3x14) ankommt oder es sich ähnlich wie bei der Zahl 72 bzw. 70 um einen Hinweis auf die Zahl 40 handelt (40 Tage Sintflut, 40 Jahre Wüstenwanderung, 40 Tage Fasten Jesu (und auch des Mose), 40 Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt). Die Zeit von Abraham bis Jesus mit all ihren Wirrungen wäre dann verstanden in Analogie zur Wüstenwanderung aus der Sklaverei in die Freiheit und das verheißene Land, oder in Analogie zum Fasten Jesu als Zeit der Vorbereitung auf Sein Kommen. Die Vermutung, es handele sich um einen zahlensymbolischen Hinweis auf David, dessen Buchstaben den Zahlenwert 14 ergeben, sei der Vollständigkeit KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 14 halber genannt. Der Stammbaum wäre dann ein verborgener Hinweis darauf, dass Jesus ein dreifacher David sei. Da die jüdische Überlieferung vorausgesetzt und zugleich die Einheit von jüdischer und christlicher Geschichte betont wird, ist der Stammbaum in einer Zeit entstanden, in der Spannungen zwischen Christen und Juden groß waren, aber die Spaltung anscheinend noch nicht völlig vollzogen war. Noch ist die Kontinuität zur jüdischen Offenbarung so wichtig, dass sie direkt am Anfang einer Schrift über Jesus steht. Es ist zu erwarten, dass im weiteren Evangelium immer wieder auf diese Kontinuität verwiesen werden wird. Möglicherweise hatte der Stammbaum ursprünglich seinen Sitz in der Verkündigung an Juden und Gottesfürchtige, möglicherweise spiegelt sich darin eine erste Apologie in Auseinandersetzung mit jüdischen Gegnern oder innerkirchlichen Strömungen, die die jüdischen Wurzeln leugnen wollten. Bestimmung des historischen Ortes Sehen wir uns für ein besseres Verständnis die Personen des Stammbaumes Klärung v. genauer an, soweit die auf der Grundlage der Heiligen Schrift möglich ist: EinzelAbraham: (ca 14. Jht v.d.Z.) Erzvater, der als erster das später verheißene aspekLand bereist. An ihn ergehen grundlegende Verheißungen, mit ten ihm wird der Bund der Beschneidung geschlossen (Gen 17,9ff). Abraham gilt der frühe Kirche als „Vater Israels (Jes 51,2; vgl. Mt 3,9; Joh 8,39), Empfänger göttl. Zusagen (Lk 1,55.73), Vorbild des Glaubens (Röm 4; vgl. Gal 3,9), "Freund Gottes" (Jes 41,8; Jak 2,23). Isaak: ("lächeln möge die Gottheit"), Sohn Abrahams. Isaak gilt der frühen Kirche aufgrund der Verheißung seiner Geburt bei Mamre als Kind der Verheißung und damit als Stammvater der "Kinder der Verheißung" (Röm 9,7-10). Jakob/Israel: („Betrüger/ Gott schützt / Gottesstreiter“). Stammvater der 12 Stämme. Nach seinem nächtlichen Kampf mit einem Wesen ist das Gottesvolk benannt. Juda(s): („Dank“?), einer der 12 Söhne Jakobs. Nach ihm benennt sich bis heute ebenfalls das Volk mitsamt seinem Gottesglauben, nach KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 15 ihm wird später das „Südreich“ benannt, nach seinem Vater das „Nordreich“. Er bewahrt Josef vor dem Tod (Gen 37,26). Seine kinderlose und zweimal verwitwete Schwiegertochter Tamar, eine heidnische Kanaaniterin, überlistet ihn und wird von ihm schwanger und bringt Zwillinge zur Welt [Fares & Zara: (Perez „Durchbruch“ & Serach „Rotglanz“)] Salmon & Rahab: Salmon gilt als der „Vater Betlehems“(1 Chr 2,51). Die Dirne Rahab hilft Josua bei der Eroberung Jerichos. Nach Jos 6,17-25 wird sie deswegen nach der Einnahme der Stadt verschont, nach Hebr 11,31 wegen ihres vorbildlichen Glaubens, nach Jak 2,25 wegen ihrer Werke. Ihre Beziehung zu Salmon ist nicht näher überliefert. Im AT ist der Name Rahab sonst Synonym für das Urchaos (Iob 9,13; 26,12) und gottfeindliche Mächte (vgl. Ps 89,11; Jes 30,7). Boes & Ruth: Ruth ist eine Moabiterin, deren jüdische Männer sterben. Erst als sie in Treue zu Gott und ihrer Schwiegermutter mit dieser nach Israel zieht, ist ihre Leviratsehe mit Boes von Dauer. Ruth ist der Überlieferung nach die Urgroßmutter Davids. David: (um 1000 v.d.Z König): David gilt zusammen mit Salomo als Urbild des Königs. Er schafft erst den Staat Israel, der nach Salomo zerbricht. Salomo ist sein Sohn mit Batseba, der Frau seines Feldherrn Urija, der sterben muss, als David Batseba schwängert. David und Batseba begehen Ehebruch. David soll die Psalmen und Klagelieder gedichtet haben. Mit ihm verbindet sich die Erwartung des Messias. Salomo: (um 972-932 v.d.Z. König), Davids Sohn aus einem Ehebruch. Seine Herrschaft ist eine Zeit des Wohlstands und des Friedens. Gerühmt wird seine große Weisheit. Er erbaut JHWH den ersten Tempel. Rehabeam: (um 932-917 v.d.Z. König des Südreiches Juda): Unter ihm spal- KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 16 tet sich das Reich, es entsteht gegen den Willen Gottes ein Bruderkrieg mit dem Nordreich Israel. Abia: (um 916-914 v.d.Z. König von Juda): Ihm gelingt ein Sieg über Israel, aber er ist wie sein Vater ein Sünder, besonders weil er fremde Kulte zulässt. Asa(f): (um 914-874 v.d.Z. König von Juda): Geht gegen den Götzendienst vor und erneuert den Bund mit Gott. Auch er führt einen Dauerkrieg gegen Israel und verbündet sich zu diesem Zweck mit Damaskus. Josafat: (um 874-849 v.d.Z. König von Juda): schließt Frieden mit Israel und geht weiter gegen den Götzendienst vor. Joram: (um 849-842 v.d.Z. König in Juda): Fördert den Götzendienst in Juda. Fehlende K.: Ahasja (842), Atalja (Königin 841-836), Joas (836-797), Amasias (797-779) Ozias: (779-738 v.d.Z. König von Juda): wirtschaftliche Blüte unter seiner Herrschaft, wie sein Vater Amasias fördert er die jüdische Religion. Joatam: (738-736 v.d.Z. König von Juda): weigert sich, einem Bündnis gegen Assur beizutreten. Auch er fördert den Bund mit Gott. Achaz: (736-721 v.d.Z. König von Juda): weil er bei der Weigerung seines Vaters bleibt, muß er sich schließlich gegen den Rat Jesajas mit Assur verbünden und opfert sogar seinen Sohn einem assyrischen Gott. Hezekias: (721-693 v.d.Z. König von Juda): Nach der Eroberung Israels führt er eine Kultreform durch und entfernt alle Götzenbilder, auch die Eherne Schlange. Alle Kultstätten außerhalb Jerusalems KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 17 werden beseitigt. Die Eroberungen Assurs machen ihn fast zu einem Stadtkönig. Manasses: (693-639 v.d.Z König von Juda): Wird ein Vasall Assurs und macht die Reformen seines Vaters rückgängig. Gesetzestreue Juden sterben als Märtyrer. Amos: (639-638 v.d.Z. König von Juda) Josias: (638-608 v.d.Z. König von Juda): Stellt den Jahwe-Kult unumschränkt wieder her. Zu seiner Zeit wird im Tempel ein Gesetzestext gefunden. Der Kult wird zum Tempel hin zentriert, alle anderen Kulte und Kultstätten ausgerottet. Er verschafft seinem Reich neue Gebiete und nützt den Zerfall Assurs geschickt aus. Fehlende K.: Joahas (608), sein Bruder Jojakim (608-597) Jechonias: Sohn Jojakims, wird 597 in die Gefangenschaft verschleppt. Zorobabel: Führer einer Gruppe von Heimkehrern aus dem Exil, einer der Männer, die den zerstörten Tempel von Jerusalem wieder aufbauten Welches Geschichts- und Gottesbild liegt dem Stammbaum zugrunde? Bereits der erste Vers offenbart den Gott der Juden und Christen als den Herrn der Geschichte. Er erfüllt seine Versprechen an Abraham und David auf eine unvorhersehbare Weise. Jesus, der Christus, sammelt ein Bundesvolk aus allen Völkern weit über das ursprüngliche Gottesvolk hinaus. Nun kann jeder, unabhängig von seiner Herkunft, Glied des Bundesvolkes werden, das gerade durch Taufe und Salbung zu einem Volk aus Priestern und Propheten wird, wie die biblische Definition des Gottesvolkes lautet. Der Petrusbrief wird von einem Haus (Tempel) aus lebendigen Steinen sprechen - eine Anspielung an die Verheißung an David. Zugleich rechnet dieser Gott offenbar in anderen Zeiträumen als wir Menschen. KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 18 Da Gott der Herr der Geschichte ist, hat sie offenbar ein Ziel: Das Reich Gottes - die Vollendung von Mensch und Schöpfung, die innige Lebensgemeinschaft mit eben diesem Gott. Eine Schritt in diese Richtung ist die Ausbreitung und Erneuerung des Gottesvolkes. Von dem Beginn dieses Schrittes erzählt das Evangelium. Der Stammbaum bildet den Beginn des Mt, wodurch er eine besondere Stellung erhält. V.1 nennt bereits eine Deutung Jesu, die grundlegend scheint für das Verständnis des Evangeliums: Jesus ist „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“: Nur ein Nachkomme Davids kann der Messias sein, zugleich wird in der Jüngerschaft Jesu die Verheißung erfüllt, dass Abraham der Vater vieler Völker würde. Der Bund der Beschneidung erhält in prophetischer Tradition in der Kirche eine neue (geistige) Bedeutung. Warum der Evangelist auf 42 Generationen besteht und warum er achtmal von der strengen Form seinest Stammbaums abweicht, bleibt Spekulation. Es wurden dazu folgende Überlegungen angestellt: • Die Zahl 14 (3x14=42) verweist zahlensymbolisch auf David. • Die Zahl 42 steht für die Zahl 40 als Zeit der Vorbereitung auf das Kommen des Herrn bzw. auf den Einzug in das Verheißene Land. • Die acht Erweiterungen des Stammbaums rufen wichtige Ereignisse der Heilsgeschichte in Erinnerung. • Frauen spielten im Heilsplan Gottes schon immer eine wichtige Rolle. Das wird auch später im Evangelium deutlich. Insgesamt steht Jesus am Ende einer langen Geschichte, die zu ihm hin führt. Jesus selbst ist Teil dieser Geschichte. In ihm erfüllen sich die Verheißungen an Abraham und David (V.1), er ist der erwartete Messias. Durch ihn steht auch die Geschichte der Kirche in Kontinuität und enger Verbindung mit der Geschichte Gottes und seines Volkes. Der Stammbaum setzt also voraus, dass der Leser oder Hörer mit der jüdisch-biblischen Überlieferung und mit der Messias-Erwartung vertraut ist. Deutende Zusammenfassung (Zsfssg d. Ergebnisse) KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU 19 Der Stammbaum steht am Anfang des Evangeliums und soll dem Leser an (Intention dieser Stelle eine grundlegenden Hilfe zum Verständnis Jesu und seiner Bot- des schaft sein: Textes) 1. Jesus ist der Messias, der erwartet wird. Gleichsam als Legitimation zeigt der Stammbaum, dass er ein Nachkomme Davids ist. 2. Jesus steht im Bund der Beschneidung und Erwählung („Sohn Abrahams“). Jesus steht damit in der jüdischen Tradition und Überlieferung und ist Teil davon. Innerhalb dieses Horizontes ist alles, was nun folgt, zu verstehen. Wer diesen Zusammenhang ausblendet, geht in die Irre. Die Vermutung liegt nahe, dass schon für den Evangelisten diese Tradition in Jesus ihre Vollendung und ihr Ziel hat. 3. Der Gott, von dem Jesus kündet, ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Damit ist erwiesen, dass auch die Christen an diesen Gott glauben. Teil II Mt 1,18-2,23: Der Beginn des Evangeliums 20 Kapitel 2 Mt 1,18-25: Die Umstände der Geburt Jesu (18) Mit der Geburt Jesu Christi verhielt es sich aber so: Seine Mutter Maria Der war die Braut Josefs. <Noch> bevor sie zusammengekommen waren zeigte Text sich, dass sie schwanger war - von heiligem Geist. (19) Ihr Mann Josef überlegte, sie heimlich <aus der Verbindung> zu entlassen; denn er war gerecht und wollte sie nicht <öffentlich> bloßstellen. (20) Siehe, während er dies erwog, erschien ihm im Traum <der> Engel des HERRn und sprach: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, deine Frau Mariam zu dir zu nehmen! Denn das <Kind> in ihr ist gezeugt vom Heiligen Geist. (21) Sie wird einen Sohn gebären, und sein Name soll ’Jesus’ sein, denn er wird sein Volk von ihren Sünden erretten.” (22) Dies alles ist geschehen, damit die Rede des HERRn durch den Propheten erfüllt sei, die besagt: (23) Siehe, die Jungfrau wird schwanger und einen Sohn gebären. Sie werden in EMMANU-EL nennen, das heißt übersetzt: Mit uns [der] GOTT! (24) Aus dem Schlaf erwacht, tat Josef, wie ihm der Engel des HERRn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. (25) Aber er erkannte sie nicht, bis sie <einen> Sohn geboren hatte. Ihn nannte er ’Jesus’. 21 KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 2.1 V.18 22 Die historisch-kritische Analyse Für diesen Vers gibt es folgende Lesarten: 1. „Mit der Geburt Jesu Christi aber...” 2. „Mit der Geburt Christi Jesu aber...” 3. „Mit der Geburt Jesu aber...” 4. „Mit der Geburt Christi aber...” Die Lesarten 2 und 3 sind jeweils nur einmal überliefert, 2 aus dem 4. Jh, 3 aus dem 5. Jh. Die geringe und späte Überlieferung spricht also jeweils dagegen, dass es sich um den ursprünglichen Wortlaut handele. Allerdings erinnern beide Lesarten daran, das „Christus” kein Eigenname, sondern ein Titel ist. Lesart 4 ist bei Irenäus (seit 178 n.Chr. Bischof von Lyon) und einigen wenigen lateinischen und syrischen Zeugen belegt. Am besten belegt ist Lesart 1, allerdings erst seit dem 3. Jh. Die gute Bezeugung spricht für diese Lesart als der ursprünglicheren – gegen die ältere aus 4, gegen die die geringe Zeugenzahl spricht. V.20 Hier lesen Textzeugen „Mariam” und andere Textzeugen „Maria”. „Mariam” ist die besser bezeugte Lesart und wird aus diesem Grund bevorzugt. V.21 Hier lesen einige wenige syrische Zeugen: „Sie wird dir einen Sohn gebären...”. Die geringe Bezeugung spricht gegen diese Lesart. Ein syrischer Zeuge liest: „...denn er wird den Kosmos von ihren Sünden erretten”. Auch hier spricht die geringe Bezeugung gegen diese Lesart. Inhaltlich wäre hier auch die Ausweitung auf die ganze Welt zu hinterfragen. V.22 lesen eine Reihe Zeugen: „...durch den Propheten Jesaja”. Die Mehrheit der Zeugen lässt den Namen weg, was somit die wahrscheinlichere Fassung ist. Der Name Jesaja wurde anscheinend Textkritik KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 23 später hinzugefügt, damit der Prophet deutlich gekennzeichnet ist. V.25 Für diesen Vers sind wieder mehrere Lesarten überliefert: 1. „... bis sie <einen> Sohn geboren hatte...” 2. „... bis sie ihm <einen> Sohn geboren hatte...” 3. „...bis sie ihren Sohn, den Erstgeborenen, geboren hatte...” Lesart 2 ist nur einmal bei einem syrischen Zeugen belegt und damit vermutlich ein Schreib- oder Diktatfehler. Lesart 3 scheint eine Angleichung an die Überlieferung bei Lk 2,7 zu sein und ist trotz seiner guten Bezeugung wohl in diesem Sinn zu bewerten. Bleibt die ebenfalls gut bezeugte Lesart 1, die in ihrer Wortwahl an V.21 anschließt und somit wahrscheinlich die ursprüngliche Lesart wiedergibt. • Die Gerechtigkeit Josefs scheint aus heutiger Sicht schwierig zu verste- Auffällighen (sie zeigt sich am Ende der Perikope als Gehorsam - am Anfang keiten auch?) • Was ist unter Engel zu verstehen und wie verhält es sich mit Träumen? • Muss übersetzt werden „ein Engel” oder „der Engel”? • Der Schriftbeweis fällt ins Auge (s. Das zum Stammbaum Gesagte) • Was hat es mit den Namen auf sich? Treffen sie eine Aussage über Jesus? Warum ist es nicht der gleiche Name? Der einleitende Satz V.18 wirkt wie der Beginn einer eigenständigen Erzählung. Ob zuvor etwas anderes berichtet wurde (wie in Mt der Stammbaum) ist daraus nicht zu schließen, der Bezug zum Stammbaum ist sehr locker. Von daher ist es berechtigt, die Darstellung der Geburt Jesu hier beginnen zu lassen. Literarkritik (Kontextkritik) KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 24 Der Text wirkt in sich geschlossen. V.2,1 setzt neu ein und schließt sich nicht nahtlos an diese Perikope an. Daher ist es sinnvoll, zwischen V.25 und V.2,1 eine Zäsur zu machen. V.18 wirkt wie eine Überschrift, allerdings wird im Folgenden erzählt, was (Kohärenzvor der Geburt Jesu geschah, die Geburt selbst wird nur lapidar in V.25 kritik) festgestellt. In sich wirkt der Text geschlossen und kann als Einheit betrachtet werden. Der Text wirkt wie eine Einheit, die mündlich fast so erzählt worden sein Überkönnte. Das Zitat aus der Heiligen Schrift ist ein Hinweis auf theologische lieferungsReflektion sowohl mit Blick auf den Namen Jesu als auch mit Blick auf seine kritik Sendung und seine Herkunft. Kein anderer Evangelist überliefert die Ereignisse in dieser Weise aus der Perspektive Josefs, bei Lk steht Maria im Brennpunkt der Erzählung. Vermutlich greift der Evangelist eine ihm bekannte, in einem begrenzten Gebiet überlieferte, zunächst mündliche Tradition auf. Der Text ist eine Erzählung, zu der wundersame Elemente (Traum und Engel- Formkritik Erscheinung) aus der atl. Tradition und ein Zitat aus dem Alten Testament hinzukommen. Gliedern lässt sich der Text wie folgt: 1. Überschrift (V.18a) 2. Schwangerschaft Mariens (V.18b) 3. Reaktion Josefs (V.19) 4. Eingreifen übermenschlicher Mächte in einem Traum (V.20-21) 5. Deutung mit Hilfe der Hl. Schrift (V.22-23) 6. „Happy End”: Frommer Gehorsam Josefs (V.24-25) Aus dem Text ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob das Schriftzitat als Teil der Worte des Engels zum Traum gehört, oder ein deutender Einschub des Erzählers ist. Bei der Perikope handelt es sich um eine Erzählung, in der mythische Ele- Gattungskritik KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 25 mente vorkommen. Die Aussage des Engels gibt zugleich einen Hinweis auf die Intention dieser Erzählung: Es geht um die Frage, wer Jesus ist (buchstäblich Gottes Sohn, durch Adoption in die Familie Davids aufgenommen1 ) und wozu er gekommen ist (Heil bringen durch die Erlösung v.d. Sünden). Der Name Immanuel schlägt innerhalb des Evangeliums möglicherweise den Bogen zum Aussendungsbefehl des Auferstandenen, mit dem das Evangelium endet („Ich bin bei euch....“), oder zur Gottesoffenbarung im Brennenden Dornbusch („Ich bin JHVH, der Ich-bin-da“), die sich nun in anderer Form wiederholt. Der Schriftbeweis schlägt insgesamt einen Bogen zur atl. Heilsprophetie, die dem Evangelium vorausgeht. So könnte der Text ursprünglich im Zusammenhang mit der Mission entstanden sein, entweder als Zusage an die Missionare und die (bedrängten) Gläubigen oder in der Auseinandersetzung mit Gegnern als deutliche Aussage über die göttliche Herkunft Jesu und damit über den göttlichen Auftrag der Verkündiger. Die Erzählung von der Verkündigung und Geburt Jesu greift verschiedene TraditionsElemente aus der biblischen Tradition auf: kritik Traum / Traumdeutung: Besonders in der Jakobs- und Josefstradition sind Träume und ihre Aussagen von Bedeutung. So träumt beispielsweise Jakob-Israel von der berühmten Himmelsleiter, sein Sohn Josef träumt von der Unterwerfung seiner Brüder und deutet mit Hilfe göttlichen Geistes Pharaos Traum zum Wohle Ägyptens und seiner Nachbarn. Durch Träume spricht in atl. Sicht der Schöpfer und Behüter zu den Menschen, wenn es Ihm beliebt. Doch nicht jeder Traum ist eine Botschaft Gottes. Mt greift das Motiv mehrmals auf (z.B. Warnung der drei Weisen und Traum der Frau des Pilatus). Verkündigung: Im Lukasevangelium verkündet der Engel Gabriel Maria die Geburt Jesu. Der gleiche Engel verkündet Zacharias die Geburt des Täufers, in beiden Fällen jedoch nicht als Traum! Jesaja kündet auf Geheiß Gottes die Geburt des Königssohnes an (s.u.). Drei Gottesmänner 1 Vgl. Seite 12 (Stichwort „Christus”) KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 26 künden Abraham und Sarah ein Kind an. Das Motiv der Verkündigung ist also ein altes Motiv: Gott sagt an, was als nächstes geschehen wird. Allerdings fehlt in der Abrahamstradition der Hinweis, wie das Kind heißen soll. Bei Jesus und Isaak wird ein Versprechen eingelöst, bei Johannes und „Immanuel“ auf eine Not reagiert. Immer ist an das verheißene Kind eine Zusage Gottes geknüpft. Engel (des Herrn): Engel (angelos = Bote) sind eine Art Hofstaat Gottes, in Entsprechung zum Hofstaat des Königs. Sie sind Herolde und Diener des Höchsten und wachen als Schutzengel über jeden Menschen und jedes Volk. Sie sind aber auch Stellvertreter des Höchsten und treten oft in Seinem Namen auf. In Entsprechung zur antiken und mittelalterlichen Herrscherideologie stehen sie damit für den Herrn der Heerscharen selbst. Darum kann der Engel des Herrn auch eine Umschreibung für Gott selbst sein, der im Traum oder in sichtbarer Gestalt erscheint. Da Engelerscheinungen deshalb auch immer Gotteserscheinungen sind, ist die Frage in solchen Zusammenhängen nebensächlich, ob bei fehlendem Artikel mit „der Engel” oder „ein Engel” übersetzt werden müsse. Engel müssen keine übernatürlichen Wesen sein: Die drei Männer, die Abraham die Geburt seines Sohnes ankündigen, sind aus Fleisch und Blut, das Wesen, mit dem Israel kämpft, anscheinend auch, und ausdrücklich wird Johannes der Täufer mit dem Engel identifiziert, der dem Herrn den Weg bereiten soll. Namen und ihre (Be-) Deutung: In der Antike sagte ein Name etwas über die betreffende Person oder Gottheit aus. Bei Naturvölkern hat sich das bis heute erhalten. In der Magie bedeutet das Wissen um den Namen zugleich Macht über das entsprechende Wesen. In der heiligen Schrift ist zumeist Gottes Wirken damit verbunden: Gott selbst nennt sich JHWH („Ich bin da” oder „Ich bin, der ich bin”). Aus Abram („Der Vater ist erhaben”) wird Abraham („der Vater vieler Völker”), aus Sarai („Fürstin”) Sarah („Herrin”), der Name Adam („Erdling”) hat seine spezifische Bedeutung, aus Jakob („Ferse” bzw. „Betrüger”) wird Israel („Gottesstreiter”, wörtl.: „Du hast mit Gott gekämpft”), Perez KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 27 („Riss”) heißt aus gutem Grund so, die Namen der Engel Gabriel („Gott ist stark”) und Michael („Wer ist wie Gott”) drücken Eigenschaften oder Wirkungsweisen Gottes aus, mit der Ankündigung des Immanuel („Gott mit uns”) wird dem König ein idealer Herrscher als Nachfolger und Gegenbild vorausgesagt. Die Namen Johannes (der Täufer: „Gott ist gnädig”) und Jesus („Gott rettet / erlöst”) sind den Evangelisten zufolge ebenfalls kein Zufall, sondern drücken auf Befehl Gottes die besondere Sendung der beiden aus. Demzufolge sagen die Namen etwas über Jesus aus: In ihm und damit durch ihn ist Gott mit uns. In ihm und durch ihn zeigt sich Gott als unser Erlöser und Retter (aus und vor der Verstrickung in die Sünde). Das Jesaja-Zitat (Jes 7,14): Der Immanuel, der als Nachfolger und Gegenentwurf zum herrschenden König Ahas angekündigt wird, zeichnet sich durch drei Dinge aus: Seine Mutter ist eine Jungfrau (oder junge Frau), er wird Gutes von Bösem unterscheiden können (vgl. „Sündenfall”) und er kommt, wenn das Gericht über das Gottesvolk bereits hereingebrochen ist - als Strafgericht und als Erfüllung der Sehnsüchte nach einer heilen Welt (vgl. Jes 7,14-25). Wenn Jesus im Verständnis der frühen Christen dieser Immannuel ist, dann ist das Endgericht schon hereingebrochen, und Gott zeigt sich als der Herr und Beschützer seines Volkes, das nach Wohlstand, Frieden und Gerechtigkeit hungert. Gerechtigkeit: Darunter versteht der atl. Mensch - folglich auch Josef und seine Zeitgenossen - die Erfüllung der Vorschriften der Tora, die den Menschen von Gott gegeben wurde. Wer sich an das gottgegebene Recht hält, ist gerecht (Ex 19,5-6). In diesem Sinne ist auch die Gerechtigkeit Josefs zu Beginn dieses Abschnitts zu verstehen. Durch das Eingreifen Gottes verändert sie sich leicht. Gerechtigkeit bleibt Gehorsam gegenüber den Weisungen Gottes, aber die einzelne Vorschrift der Tora wird nun im Sinne der Gottes- und Nächstenliebe mit Inhalt gefüllt und nicht einfach sklavisch oder ängstlich befolgt. Der Unterschied ist ein qualitativer: Weil Josef Maria trotz der Schwangerschaft zur Frau nimmt, schützt er sie mehr als durch die heimliche Scheidung. Die Kritik an KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 28 einer zu engen, menschenverachtenden Auslegung der Tora deutet sich bereits hier an und begegnet im Evangelium noch häufiger. Es scheint (wie schon im vorhergehenden Abschnitt) darum zu gehen, wer Jesus denn eigentlich ist. Unter dieser Voraussetzung ist die Perikope im Zusammenhang mit der Missionierung innerhalb des Judentums zu lesen. Möglicherweise ist sie auch unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit den jüdischen Glaubensbrüdern zur Zeit der endgültigen Trennung entstanden. Das Motiv der göttlichen Zeugung kann - so verhalten es formuliert ist bereits ein Hinweis auf Heidenmission sein. Der Schrifterweis lässt aber auch hier auf eine Nähe zum Judentum schließen. Bestimmung des historischen Ortes Wer ist Jesus? Diese Frage wurde bereits im Stammbaum beantwortet. Die Erzählung von der Geburt Jesu geht darüber hinaus: Jesus ist nicht nur „Sohn Davids” und „Sohn Abrahams” und damit allgemein Messias. Er ist gewissermaßen die Verkörperung Gottes, weil gezeugt vom Geist des Höchsten. Er ist die Erfüllung der Heilszusage des Herrn, wie die ausdrückliche Namensgebung deutlich macht. Die Jungfrauengeburt ist anscheinend von der Zusage durch den Propheten Jesaja her zu verstehen als Erfüllung der Verheißung des Immanuel. Jesus ist eher ein prophetischer als ein politischer Messias: Seine Sendung besteht in der Erfahrung, dass Gott immer bei uns ist und uns das Heil durch die Vergebung der Sünden schenkt. Die Freiheit, in die er führt, ist zunächst keine rein politische! Deutende Zusammenfassung (Zsffsg d. Ergebnisse) In der Auslegung des mosaischen Gesetzes (hier in Bezug auf den aus gutem Grund vermuteten Ehebruch Mariens) deutet sich diese prophetische Sendung an: Im Traum muss Josef lernen, dass Gottes- und Nächstenliebe die Grundlage der Bestimmungen ist und die Gebote von dieser Wurzel her umzusetzen sind. Die Kritik an einer anderen Praxis ist nicht zu übersehen, zugleich ist ein Hinweis gegeben, wie sich die Freiheit äußern kann, in die Jesus führt. Der Text bestimmt näher, wer Jesus ist: Sohn Gottes, von Ihm selbst auf (Intention wundersame Weise gezeugt. Möglicherweise sollen die Namen, die ihm hier des gegeben werden, auf der einen Seite die Missionare und Gläubigen stärken Textes) KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 29 und auf der anderen Seite deutlich machen, dass Gott seine Verheißungen erfüllt. Der Schrifterweis bestätigt die Aussage des Stammbaumes: All das, was über Jesus berichtet wird, ist im Gesamtzusammenhang der biblischen Überlieferung zu lesen oder zu hören. Da Jesaja von einer Jungfrau spricht, die den gebären soll, in dem Gott mit uns ist, muss sie bei Empfängnis und Geburt Jesu eine Jungfrau gewesen sein. Vers 18 In wenigen Worten wird die anstößige Situation dargestellt: Maria Versweise ist mit Josef verlobt und schon vor der eigentlichen Eheschließung Deuschwanger, aber nicht von Josef! Nach Dtn 22,23-27 würde das tung ihre Steinigung bedeuten, da sie ihren Verlobten betrogen hat. Jesus ist also ein uneheliches Kind Mariens. Der Zusatz, sie sei „von heiligem Geist” geschwängert, ist eine Glaubensaussage, die damals wie heute vor keiner Behörde und keinem gehörnten Verlobten bestehen könnte. Zugleich deutet sie, was an diesem Jesus so außergewöhnlich ist. Zum Zeitpunkt des Verlöbnisses und folglich auch der hier geschilderten Ereignisse war Maria eine junge Frau - den damaligen Gepflogenheiten ihrer Kultur entsprechend. Da Josef als gesetzestreu geschildert wird, ist anzunehmen, dass sie auch noch Jungfrau war, wie damals allgemein üblich. Verhielt es sich mit der Empfängnis so, wie hier und entsprechend bei Lk geschildert, dann war sie es wenigstens bis zum Zeitpunkt der Geburt. Ohne der späteren theologischen Deutung der Heilsereignisse vorzugreifen, deutet die Empfängnis durch den Geist Gottes an, wie nahe dieser Jesus dem himmlischen Vater ist und welches Gewicht seine Worte und Taten dadurch bekommen. Vers 19 Josef ist hier als gerechter, d.h. gesetzestreuer, und gottesfürchtiger Mann geschildert. Die Gebote lassen ihm keine Wahl: Er muss Maria aus der Verbindung entlassen, da sie unübersehbar den Bund mit Gott gebrochen hat. Anscheinend will er sie aber zumindest vor der Steinigung bewahren. Zwei Übersetzungen sind hier möglich: Entweder überlegte er heimlich, sich von ihr zu trennen, oder er überlegte, sich heimlich von ihr zu trennen. Da er sie KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 30 nicht öffentlich bloßstellen will, um so ihr Leben zu retten, kann nur letzteres gemeint sein. Vers 20 Die Verse 18 und 19 geben die Ausgangssituation für die Erscheinung des Engels vor. Das Problem ist beschrieben. JHVH selbst greift ein, um das Kind zu schützen, das durch sein Eingreifen entstanden ist. Die Frage, ob „der Engel des Herrn” oder „ein Engel des Herrn” zu lesen ist, ist vordergründig. Engel sind als Gesandte Gottes nach altorientalischer Anschauung seine Vertreter und so zu behandeln, als stünde er selbst vor einem. Das gilt für die Boten des jeweiligen politischen Herrschers, also nicht weniger für den Herrn aller Herren. Wenn der Engel spricht, spricht also Gott selbst, wenn ein Engel erscheint, erscheint Gott selbst. Der Engel erscheint im Traum. Ist Josef über seinen Überlegungen eingeschlafen? Oder hat er einen Tagtraum? Anscheinend hat er sich mit der Entscheidung schwer getan, sie hat sich über einen längeren Zeitraum hingezogen. Die Anrede des Engels weist Josef als Nachkommen Davids aus. Wenn er das ungeborene Kind als sein eigenes aufnimmt, gehört es ebenfalls zur Davidischen Familie. Besonders für Leser mit jüdisch-biblischem Hintergrund wichtig, wenn sie Jesus als Messias akzeptieren sollen. Dieses Kind ist anders als alle anderen Menschen: Es ist gezeugt vom Geist, gemeint ist der Heilige Geist oder der Geist Gottes. Der Engel klärt Josef über die ungewöhnliche Empfängnis auf. Josef hat keinen Grund mehr, Maria aus der Verlobung zu entlassen, denn sie hat ihn nicht betrogen. Vers 21 Nun erklärt der Engel, was das Besondere an diesem Kind ist. Es hat einen Auftrag, der in der Bedeutung seines Namens erkennbar wird: „Jesus”, das bedeutet „Gott rettet”. Wie geschieht dies? In der Vergebung der Sünden. Wenn Jesus sein Volk von seinen Sünden erlösen wird, klingt darin auch an, dass er das endgültige, abschließende Versöhnungsopfer sein wird. Ostern wird in christlichem Verständnis bereits angedeutet. Jesus ist also nicht nur von KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 31 der jüdischen Überlieferung her zu verstehen, sonder auch von Kreuz und Auferstehung. Das Zeichen für die Sündenvergebung ist für die Alte Kirche die Taufe. Mit dem Taufbefehl des Auferstandenen wird darum das Evangelium schließen. Sündenvergebung ist die treibende Kraft hinter allem, was Jesus lehren und (be-) wirken wird. Das Wort, das hier mit „erretten” wiedergegeben wird, kann auch „bewahren” bedeuten und wird in der EÜ2 mit „erlösen” wiedergegeben. Wer getauft wird zum Zeichen der Umkehr, hält sich in Zukunft an die Worte Jesu und nimmt seine Taten zum Vorbild. Für Sünden ist da kein Platz mehr. Sünde ist nämlich in der Anschauung des Biblischen Judentums gleichbedeutend mit Ungerechtigkeit, also der bewussten Abkehr von den Weisungen Gottes (und damit von Gott), für den Christen zudem von Jesus und seinem Weg. „Erretten” macht deutlicher, dass diese Abkehr ins Verderben führt (vgl. z.B. Ps 1), und dass wir oft die Hilfe des Erlösers brauchen, um aus der Verstrickung in das Böse herauszukommen. Vers 22 + 23 Endet die Rede des Engels mit V.21 oder schließt sie das Schriftzitat mit ein? Die Übersetzung des Names „Immanuel” ins Griechische gibt uns den Hinweis, dass ersteres anzunehmen ist, denn Josef hätte keine Übersetzung gebraucht. Der Verweis auf die Überlieferung soll klar machen, dass nun erfüllt wird, was damals angekündigt worden ist: Maria ist jene junge Frau oder Jungfrau, von der der Prophet spricht. Folglich ist Jesus der verheißene „Immanuel”, der nun leiblich erfahrbar macht, dass Gott noch immer an der Seite seines Volkes steht! Es wird nun aber auch deutlich, dass die Empfängnis Jesu gar nicht anders als auf diese Weise geschehen konnte, denn eine Empfängnis auf natürlichem Wege hätte bedeutet, dass Maria keine Jungfrau mehr sein konnte. Doch nun ist die Verheißung Gottes wörtlich erfüllt! Damit ist innerbiblisch geklärt, wofür in unseren Tagen Religi2 EÜ = Einheitsübersetzung KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU 32 onswissenschaftler das kulturelle Umfeld Israels bemühen. Vers 24 + 25 Da Josef keinen Grund mehr hat, Maria aus der Verbindung zu entlassen, vor allem aber, weil Gott selbst ihn dazu auffordert, nimmt er die Schwangere zur Frau und erkennt damit faktisch das Ungeborene als sein Kind an. So wird Jesus, der unmittelbare Sohn Gottes, durch Adoption zum Sohn Abrahams - die Tradition ist erfüllt. Bis zur Geburt bleibt Maria Jungfrau, das wird ausdrücklich betont und kann der zitierten Verheißung zufolge auch gar nicht anders sein. Soweit der biblische Befund, bei dem es hier bleiben soll. Nur soviel: Die Glaubensaussage, sie sei auch nach der Geburt Jungfrau geblieben, kann biologisch verstanden werden, kann aber auch moralisch gemeint sein (ein Hinweis, dass sie als vorbildliche Gläubige nicht gesündigt hat, Sünde hier keineswegs sexuell verstanden). Kapitel 3 Mt 2,1-23: Reaktionen auf Jesus: Verehrung & Bekämpfung (1) Als Jesus in den Tagen des Königs Herodes in Bethlehem <in> Judäa Der geboren worden war, siehe: Magier aus dem Osten kamen herbei nach Je- Text rusalem. (2) Sie sagten: „Wo ist der (neu-) geborene König der Juden? Wir sahen nämlich seinen Stern aufgehen und kamen, ihm kniefällig zu huldigen!” (3) Als Herodes <das> hörte, wurde er unruhig - und mit ihm ganz Jerusalem. (4) Er versammelte all die Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes und erfragte von ihnen, wann der Christus geboren werden solle. (5) [Und] sie sagten zu ihm: „In Bethlehem <in> Judäa, denn so steht es geschrieben durch den Propheten: (6) Und du, Bethlehem <im> Lande Juda, bist keineswegs die Geringste unter den Hegemonien Judas. Aus dir wird nämlich der Herrscher herauskommen, der mein Volk Israel weiden soll.” (7) Da rief Herodes heimlich die Magier. Er erkundigte sich bei ihnen genau, wann der Stern erschienen war, (8) und sandte sie nach Bethlehem. Er sprach: „Geht und forscht gründlich nach dem Kind! Wenn ihr es findet, bringt mir die Gute Nachricht. Auch ich will kommen und mich vor ihm niederwerfen!” (9) Sie hörten den König und machten sich auf. Und siehe: Der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, ging vor ihnen her, bis er ankam. Er blieb über <dem Ort> stehen, wo das Kind war. (10) Als sie den Stern sahen, freuten sie sich 33 KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG34 überschwänglich. (11) Sie gingen in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter. Niederfallend huldigten sie ihm [kniefällig]. Sie öffneten ihre Schätze und überreichten ihm ihre (Opfer-) Gaben: Gold und Olibanum und Myrrhe. (12) Weil sie durch <einen> Traum die Weisung erhalten hatten, nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie über einen anderen Weg zurück in ihr Land. (13) Als sie aber fortgezogen waren, siehe: <der> Engel des HERRn erschien dem Josef im Traum und sprach: „Steh auf! Nimm das Kind und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten! Bleibe dort, bis ich es dir sage! Denn Herodes ist im Begriff, das Kind zu suchen, um es zu töten!” (14) Und er stand auf, nahm bei Nacht das Kind und seine Mutter mit sich, und entwich nach Ägypten. (15) Dort war er bis zum Ende <des> Herodes, damit das Wort des HERRn durch den Propheten erfüllt sei, der sagt: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen! (16) Damals wurde Herodes sehr zornig, als er sah, dass er von den Magiern betrogen worden war. Er sandte aus, alle Knaben in Bethlehem und all seinen Grenzen zu töten, vom Zweijährigen an abwärts, gemäß der Zeit, die er von den Magiern erfahren hatte. (17) Damals wurde das Wort durch den Propheten Jeremia erfüllt, der sagt: (18) Schreien wurde in Rama gehört, viel Weinen und Wehklagen: Rahel beweinte ihre Kinder; sie wollte sich nicht trösten lassen, weil sie nicht <mehr> waren! (19) Als aber Herodes gestorben war, siehe: <der> Engel des HERRn erschien in Ägypten dem Josef im Traum (20) und sprach: „Auf, nimm das Kind und seine Mutter, und zieh in das Land Israel! Gestorben sind nämlich, die dem Kind nach dem Leben trachteten!” (21) Und er stand auf, nahm das Kind und seine Mutter und zog in das Land Israel. (22) Als er hörte, dass Archelaos anstelle seines Vaters Herodes König Judäas war, bekam er aber Angst, dorthin zu gehen. Weil er im Traum Weisung erhalten hatte, zog er sich in das Gebiet von Galiläa zurück, (23) und als er in die Stadt Nazareth kam, ließ er sich nieder. So wurde das Wort durch den Propheten erfüllt, der sagt: Er wird Nazoräer heißen! KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG35 3.1 Die historisch-kritische Analyse V.3 Hier fehlt in Handschrift D (5. Jh) das Wort „ganz” („...und mit Textkritik ihm Jerusalem”). Die Auslassung verändert den Sinn der Aussage nicht, da sie aber nur in dieser einen Handschrift vorkommt, scheint es sich um einen Schreib- oder Diktatfehler zu handeln. V.4 Hier fehlt in den Handschriften D (5. Jh) und Г (10.Jh) „von ihnen” („... und erfragte, wann der Christus...”). Auch hier kann die Lesart aufgrund ihrer Seltenheit und späten Datierung nicht die ursrpüngliche sein und ist entweder ein Schreib- oder Diktatfehler oder will den Text leserlicher machen durch Streichung der an und für sich überflüssigen näheren Bestimmung. V.6 Hier gibt es folgende Lesarten: 1. „Und du, Bethlehem, <im> Lande Juda, ...” 2. „Und du, Bethlehem Judäas...” 3. „Und du, Bethlehem, <im> Lande der Judäer....” Lesart 2 ist in der Handschrift D und in einigen syrischen Handschriften und in einer armenischen Handschrift des Kirchenvaters Irenäus (seit 178 n.Chr. Bischof von Lyon) belegt. Lesart 3 findet sich in einigen bohairischen Handschriften. Lesart 1 ist bei allen anderen Textzeugen belegt. Keine der Lesarten gibt den Text bei Mich 5,1 (LXX) wieder. So sind die Lesarten 2 und 3 aufgrund ihrer geringen Bezeugung als nicht ursprünglich zu betrachten. V.9 Hier sind folgende Lesarten überliefert: 1. „Er blieb über dem <Ort> stehen, wo das Kind war.” 2. „Er blieb über dem Kind stehen.” Lesart 2 findet sich nur bei D und in italienischen Handschriften. Lesart 1 ist bedeutend häufiger belegt und daher der einfacheren Lesart 2 vorzuziehen. KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG36 V.11 Hier sind folgende Lesarten überliefert: 1. „...und fanden das Kind mit Maria, seiner Mutter” 2. „...und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter” Lesart 1 findet sich nur bei einigen wenigen lateinischen Zeugen, daher ist Lesart 2 zu bevorzugen. V.13 Hier liest ein Textzeuge (B, 4. Jh.): „Als sie aber fortgezogen waren in ihr Land”. Aufgrund des singulären Vorkommens kann diese Lesart nicht die ursprüngliche sein. Sie geht vermutlich auf den liturgischen Gebrauch zurück, der die Ereignisse nicht chronologisch darstellt. V.15 Hier liest ein syrischer Zeuge: „... damit das Wort des HERRn durch den Mund des Propheten Jesaja erfüllt sei”. Dies scheint nur eine Verdeutlichung des Textes zu sein. Der schwierigere und besser bezeugte Text ist vorzuziehen. V.17 Hier liest D (5. Jh.): „... damit das Wort des HERRn durch den Propheten Jeremia...“. Hier scheint eine Angleichung an die anderen Einleitungen zu den Zitaten dieses Abschnitts vorzuliegen. Der kürzere und besser bezeugte Text ist vorzuziehen. V.18 Hier liest die Mehrheit der Zeugen nach Jer 38,15 LXX: „... gehört, viel Totenklage und Weinen und Wehklagen...”. Die gute Bezeugung spricht deutlich für diese Lesart. Andererseits könnte es sich um eine Angleichung an Jer 38,15 handeln, die im Nachhinein vorgenommen wurde. Den Regeln entsprechend ist der kürzere und damit schwierigere Text vorzuziehen, da erfahrungsgemäß eher etwas verdeutlichend oder wie hier korrigierend ergänzt als weggelassen wird. • Was ist die Aussage dieser Perikope? • Mögliche alternative Übersetzungen müssen geprüft werden Auffälligkeiten KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG37 • Warum erschrickt Herodes? Machen seine Gelehrten ihre Arbeit nicht? • Warum ruft er die Magier heimlich (Vorbereitung zum Kindermord?) • Wer sind diese Magier? Wie kommt es zu ihrer Deutung des Sterns? Was hat es mit dem Stern auf sich? Gab es ihn wirklich oder ist die Antwort anderer Natur? • Die Träume der Magier und Josefs • Warum fürchtet sich Josef vor Archelaos? • ungewöhnlich: die Magier huldigen dem armen Schlucker in der Krippe und gehorchen dem Gott der Hebräer • Wie verhalten sich die Magier zu den Hirten bei Lk? • Die Schrifterweise • Wieso diese Gaben? Myrrhe, Gold und Olibanum? • Wen und wo fragen die Magier nach dem neuen König? • Sind Stern und Kindermord Entsprechungen zu Kreuz und Auferstehung? • Spiegelt sich hier die Ablehnung vieler Juden und der Erfolg der Heidenmission? • Was versteht man unter einem Nazoräer? Kapitel 2 wirkt inhaltlich wie ein geschlossenes Ganzes. Die Geburt Jesu wird in V.1 vorausgesetzt, die Perikope ist auch ohne die Weihnachtserzählung zu verstehen, die Handlung baut intern auf dem vorhergehenden auf. So ist die Flucht nach Ägypten ohne den Kindermord nicht zu verstehen und der Kindermord nicht ohne den Besuch der Magier. Mit Johannes dem Täufer beginnt in V.3,1 ein gänzlich neuer Abschnitt. Literarkritik (Kontextkritik) Der Besuch der Weisen muss mit den nachfolgenden Erzählungen von der (Kohärenzkritik) KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG38 Flucht nach Ägypten, vom Kindermord und von der Rückkehr der Heiligen Familie als Einheit gelesen werden, da zumindest die Szene mit Herodes den Kindermord vorbereitet. Die Huldigung des Christuskindes und die Flucht mit göttlicher Hilfe ist die Gegenszene zum Kindermord und betont dessen Grausamkeit und Gottlosigkeit. Herodes ist das Gegenbild zu den Magiern und der Heiligen Familie und wird ihnen gegenübergestellt. Eine vorschriftliche Form der Perikope ist denkbar. Sie wird nur bei Mt über- Überliefert, scheint also in seiner Gemeinde oder Region überliefert zu sein. Die lieferungsMöglichkeit, der Evangelist habe sie gedichtet, um die unter „Gattungskritik” kritik beschriebene Grunderfahrung darzustellen, besteht allerdings auch. Ebenso die Möglichkeit, dass Jesus tatsächlich einige Zeit in Ägypten gelebt hat; sie wird aber durch das Schriftzitat geschmälert, das anscheinend mit dieser Erzählung als wahr dargestellt werden soll. Die weitere Analyse gibt einen Aufschluss über diese Frage. Die Schriftzitate lassen eine theologische Reflektion vermuten. Fast mutet es an, die Geschichte werde um die Zitate herum erzählt, um zu zeigen, dass Gottes Verheißungen nun verwirklicht werden. Wenn Jesus einige Zeit in Ägypten gelebt hat, könnte sich die Erinnerung daran in seinem Familienund Freundeskreis gehalten haben und vielleicht schon vor dem Evangelisten verschriftlicht worden sein. Wenn es sich um eine bildliche Darstellung einer nachösterlich-frühchristlichen Grunderfahrung handelt, ist eine vorevangelische Verschriftlichung für die Unterweisung denkbar. Quellenund Redaktionskritik Der Text lässt sich folgendermaßen gliedern: Formkritik 1. Der Besuch der Magier (VV. 1-12) (a) Ausgangssituation: Die Suche der Magier (1-2) (b) Reaktionen des Herodes (3-8) i. Überprüfung der Heiligen Schriften (3-6) mit Schriftzitat ii. Auftrag an die Magier (7-8) (c) Die Magier finden das Kind und huldigen ihm (9-11) KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG39 (d) Auf göttlichen Befehl hin vollenden sie den Auftrag des Herodes nicht (12) 2. Der Kindermord (VV. 13-23) (a) Auf göttlichen Befehl hin: Flucht der Hl. Familie nach Ägypten (13-15) mit Schriftzitat (b) Der Kindermord zu Bethlehem (16-18) mit Schriftzitat (c) Nach dem Tod des Herodes: Neubeginn der Hl. Familie in Nazareth (19-23) mit Schriftzitat Insgesamt gibt es 4 Schriftzitate, nämlich in den Versen 6, 15, 18, 23. Die Perikope scheint in legendarischer Form eine Grunderfahrung der frü- Gattungshen Kirche zu schildern, die sich wie ein roter Faden durch das Evangelium kritik zieht: Das jüdische Volk lehnt Jesus ab und verfolgt ihn und seine Jünger, obwohl ihm die Verheißungen zuerst gelten, während Heiden den HERRn in Jesus verehren. Das zeigt sich im Hauptmann unterm Kreuz, der das Gegenbild zu den Hohepriestern ist, im Missionsbefehl des Auferstandenen und in der Verfolgung der frühen Kirche durch die jüdischen Glaubensbrüder. Die Perikope hätte dann den Sinn, die Gläubigen daran zu erinnern, dass „der Knecht nicht über dem Herrn steht”(Mt 10, 24f.), dass die Ausweitung der Mission auf die Heiden in Gottes Heilsplan liege, die Verfolgung durch die Juden allerdings nur deren Engherzigkeit anzulasten sei. Da das bisherige Gottesvolk aus Ägypten gerufen wurde und nun das neue auch, ist andererseits das Schicksal beider eng miteinander verknüpft. Möglicherweise verbirgt sich hier eine Warnung, nicht so zu werden wie die Vertreter jüdischer Macht, die anscheinend für das Wirken Gottes nicht mehr offen genug sind. Möglicherweise will die Perikope aber auch schlicht die Frage beantworten, wie Jesus, als Nachkomme Davids in Bethlehem geboren, in Nazareth aufwachsen konnte oder warum man ihn als „Nazoräer” bezeichnete. Sehen wir uns an, was dieser Begriff und andere Punkte der Schriftstelle in Traditionsder biblischen Tradition bedeuten: kritik KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG40 Nazoräer: In der Perikope wird dieser Begriff von „Nazareth” hergeleitet, würde also etwa „Bewohner Nazareths” oder „Einer aus Nazareth” bedeuten. Die Heilige Schrift kennt aber vor allem eine andere Bedeutung. Mit Nazoräer wird ein Mensch bezeichnet, der das sogenannte Nasiratsgelübde (Num 6,1-21) abgelegt hat. Die berühmtesten Nazoräer sind der Richter Simson und Paulus (der dies Gelübde nach seiner Bekehrung ablegt). Mit dem Gelübde weiht sich der Mensch für eine gewisse Zeit seinem Gott. Er darf als Zeichen dafür in dieser Zeit seine Haare nicht schneiden, keinen Wein trinken oder Trauben essen und sich unter keinen Umständen irgendwie verunreinigen. Weitere Opferleistungen sind dem Einzelnen überlassen, auch, für wie lange er sich diesem Gelübde unterwirft. Nazoräern wurde für die Zeit ihrer Weihe eine besondere Kraft zugeschrieben (s. die Legenden um Simson). Da Jesus von Geburt an ein Gott geweihter Mensch ist und als Erwachsener mit göttlicher Kraft wirkt, könnte dies mit der Bezeichnung „Nazoräer” ausgedrückt sein. Allerdings ist überliefert, dass er als „Fresser und Säufer” galt, also Wein nicht unbedingt ablehnte. Magier: Magoi sind persische Priesterwissenschaftler, die sich mit Astrologie, den Himmelskörpern, Kräuter- und Heilkunde, Wahrsagen, Orakeln, Beschwörungen von Geistern/Toten und Visionen auskannten. Von ihnen leitet sich der Begriff Magier unserer Zeit ab. Sie sind die Gelehrten der großen antiken Kulturen in Persien, Chaldäa und Ägypten. Dass ausgerechnet sie dem Christkind huldigen, ist ein Affront gegen die jüdischen Gelehrten, die in dieser Erzählung neben den heidnischen Weisen wie Knaben wirken. Beachtenswert ist, dass ausgerechnet die im Alten Testament (Ex 22,17-19; Lev 19,26-31; 20,1-8.27; 26,1f.; Dtn 18,10-14; Jes 47,9-15) verbotenen magischen Künste, hier vor allem die Astrologie, die Männer zum Heiland führen, siehe dazu auch weiter unten. Verfolgung - Errettung - Kindermord: Das Motiv ist in der Heiligen Schrift nicht ganz unbekannt. Mose wurde bereits durch göttliche Fügung vom Kindermord Pharaos errettet und muss als Erwachsener vor KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG41 dem Unterdrücker fliehen, kehrt aber später als Befreier zurück. Gleiches gilt hier von Jesus. Das Schriftzitat deutet an, dass dieses Motiv theologisch zu deuten ist, nicht aber in unserem Sinn als historisch, wie besonders in esoterischen Kreisen behauptet wird, um die Wunderkräfte Jesu auf ägyptische Magie zurückzuführen. Jesus ist in der Sicht des Evangelisten der, der ist wie Mose (Dtn 18,18). 4 Schrifterweise: Der Evangelist legt von Anfang an großen Wert darauf, alles, was es über Jesus zu sagen gibt, im Zusammenhang mit der jüdischen und biblischen Tradition zu sehen (s. Stammaum) und zu deuten. In dieser Perikope geschieht das gehäuft. Es finden sich 4 explizite Zitate und vier Anspielungen (zu dreien s. „Verfolgung - Errettung Kindermord” und „Stern”). Die vierte Anspielung findet sich in den Gaben, die die Magier darbringen: Nach Ps 72,10 bringen die Könige der Erde dem König von Israel als Vertreter des einen Gottes Gold und Weihrauch als Opfergaben dar. Nach Jesaja 60,1-22 wandern ganze Völker zum Licht Gottes und bringen ihm kostbare Gaben wie Gold und Weihrauch dar. In der Wanderung der drei Magier erfüllen sich diese Verheißungen, deswegen stehen sie in der späteren Tradition für die verschiedenen Erdteile Afrika, Europa und den Vorderen und Mittleren Orient. • Das erste Zitat (V.6) ist dem Buch Micha (5,1) entnommen. In Micha 5,1-5 wird ein Messias angekündigt, der ursprünglich als Kriegerkönig Israel von den Assyrern befreien und ein Reich des Friedens gründen sollte. • Das zweite Zitat (V.15) entstammt Hos 11,1 und bezieht sich ursprünglich auf das ganze Gottesvolk. In Hos 11 wird die große Liebe Gottes zu diesem Volk besungen. • Das dritte Zitat (V.18) findet sich in Jer 31,15. Ursprünglich beweint Rahel ihre verschleppten Kinder, deren Rückkehr nach Jer 16-22 durch den liebenden Gott ermöglicht und realisiert wird. KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG42 • Das vierte Zitat (V.23) aus Ri 13,5 bezieht sich ursprünglich auf den Richter Simson, dessen Geburt verheißen wird. Zum Nasiratsgelübde s.o. Der Evangelist geht mit der hebräischen Bibel, die ihm offensichtlich in einer griechischen Übersetzung vorliegt, aus heutiger Sicht insgesamt sehr frei um, wenn er Ereignisse, die ihm aus dem Leben Jesu überliefert sind, durch Gottesworte legitimiert. Träume: Vgl. das zu Mt 1,18ff gesagte. Stern: Dem priesterlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a) zufolge sind die Sterne nichts weiter als Hilfsmittel zur Bestimmung von (Liturgischen) Zeiten und zur Erhellung der Nacht. Sie sind im biblischen Denken also ausdrücklich keine Götter oder Schicksalsmächte, auch wenn dieser Schöpfungsbericht von den Traditionen der Nachbarvölker beeinflusst ist. Sie sind von Gott geschaffen. Andererseits kann ein Stern aber auch ein Bild sein, wie in der Weissagung Bileams, auf die der Evangelist augenscheinlich anspielt (Num 24,17) und die er auf Jesus umdeutet. Bileam selbst ist wie die drei Magier ein Heide und der verbotenen Künste mächtig. Die Erzählung vom Stern geht möglicherweise zudem auf die Vorstellung zurück, dass bei der Geburt eines Menschen ein neuer Stern aufgeht, der beim Tod der Person wieder untergeht. Die Vorstellung von Jesus als dem Morgenstern, der die neue Schöpfung und das Gottesreich ankündigt, indem er von den Toten aufersteht, fließt hier wohl ebenfalls ein oder ist zumindest von hier aus stark beeinflusst. Der Stern, der den Magiern voranzieht, erinnert zudem an die Feuersäule, die das Gottesvolk nach dem Exodus ins Heilige Land führt und auf dem Weg beschützt. 3 Gaben: Gold, Olibanum (Weihrauchharz) und Myrrhe zeigen am deutlichsten den stark legendarischen und theologischen Charakter der Erzählung. Nach alter Deutung verweist das Gold auf den Königssohn aus dem Stamm David, der Weihrauch auf den Gottessohn, die Myrrhe als KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG43 bitteres Heilkraut auf das Todesleiden und die heilende Sendung Jesu. Zu den atl. Bezügen s.o. Christus: siehe das auf Seite 12 gesagte. Hier ist aufgrund der Frage der Magier wohl der endzeitliche (Heils-) König gemeint. Engel des HERRn: siehe das auf Seite 26 gesagte. Es wurde bereits vermutet, die Perikope spiegele die Erfahrung, dass Heiden die Verheißungen annehmen und Jesus verehren, während viele seines eigenen Volkes in ihm nicht den verheißenen Heiland entdecken. Zumindest scheint in der Perikope das gespaltene Verhältnis zwischen Juden und Christen durch. Die Erzählung selbst entstammt also einer Zeit, in der diese Auseinandersetzung noch tobte und für das Christentum noch die größte Gefahr vom Judentum ausging. Sie muss somit vor oder unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalem und der Zerstreuung des Gottesvolkes im Jahr 70 n.Chr. entstanden sein. Die Erinnerung an die Grausamkeit des Herodes ist noch nicht verblasst und stützt diese Vermutung. Die reichhaltigen Anspielungen auf Mose und die Propheten lassen erkennen, dass die Perikope zumindest in einem Umfeld entstanden ist, dem die biblische Überlieferung vertraut war, und sich an Menschen richtet, die auch die Anspielungen sofort erkennen können. Bestimmung des historischen Ortes An diesem Abschnitt lässt sich besonders gut erkennen, dass es sich nicht um eine in unserem Sinn historische Erzählung handelt. Der Stern verweist auf den Morgenstern Christus, der im Dunkel dieser Welt den Suchenden den Weg weist. Nach einem entsprechenden Naturphänomen zu suchen um den Geburtstermin Jesu zu bestimmen, ist folglich absurd. Die Magier sind die ersten Heiden, die Christus anbeten - im Unterschied zu den jüdischen Gelehrten: ein deutlicher Hinweis auf die Heidenmission und die spätere Entwicklung der Kirche. Nicht weniger deutlich die Absage an gewisse heidnische Einflüsse: die Gestirne stehen ganz im Dienst des Schöpfers und sind Hinweise auf sein Wirken. Deutende Zusammenfassung Die antithetische Gegenüberstellung der gläubigen Heiden (Magier) und der ungläubigen Juden (Herodes, Archelaos) scheint den Konflikt zwischen Juden (Zsfssg d. Ergebnisse) KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG44 und Heiden zu spiegeln: jene lehnen Jesus mehrheitlich ab und bekämpfen alle, die sind wie er, diese nehmen einen weiten Weg auf sich und schauen ihn. Die endzeitliche Völkerwallfahrt hat begonnen. Herodes und sein Sohn Archelaos waren für ihre Grausamkeit berühmt, die Erinnerung daran fließt hier mit ein. Für den Kindermord gibt es keine historischen Belege, er scheint eher zu begründen, warum die heilige Familie später in Nazareth lebt. Die Perikope trifft nähere Aussagen über Jesus: Er steht unter dem besonderen Schutz Gottes und ist ihm geweiht (Nazoräer). Die Anbetung durch die Magier betont diese enge Beziehung des Christus zum Schöpfer, als dessen Abbild und Stellvertreter er verehrt wird. Er ist das Licht, das im Dunkeln scheint und zugleich der neue Mose, der sein Volk in die Freiheit führt. Der Text ist in seinen Aussagen sehr vielschichtig: Jesus ist der erwartete end- (Intention zeitliche Heilskönig, der neue Mose, in besonders enger Beziehung zu Gott. des Die Völkerwallfahrt hat begonnen. Das Los jener, die Christus ähnlich sind Textes) (Christen), ist Verfolgung. Die Heidenmission wird legitimiert, die Erfahrung des Bruchs mit dem ursprünglichen Gottesvolk im Glauben gedeutet. Und schließlich wird äthiologisch erklärt, warum Jesus in Nazareth aufwächst und nicht in Bethlehem. Da diese Aussage am Ende steht, die Erzählung auf sie hinausläuft, scheint diese Äthiologie die eigentliche Intention des Textes zu sein: Man nennt Jesus „Nazoräer”, weil er (auch in unserem Sinn historisch) in Nazareth aufgewachsen ist. Wie es dazu kam, erzählt die Perikope. Vers 1: Der Vers ordnet die Ereignisse grob zeitlich ein. Herodes war Kö- Versweise nig von Judäa in den Jahren 37-4 vor Christus. Aussenpolitisch Deuvon Rom abhängig, war er innenpolitisch selbständig. Herodes tung war kein Jude sondern Idumäer, also eigentlich Heide. Sein Reich hielt er mit diplomatischem Geschick und großer Gewalt zusammen, auch vor der Ermordung einiger seiner Söhne schreckte er in diesem Zusammenhang nicht zurück (s. Stuttgarter Bibellexikon). Da in der Erzählung der Kindermord kurz nach der Geburt Jesu angesiedelt ist (max zwei Jahre danach, vgl. V.16), wäre Jesus spätestens irgendwann zwischen 6 und 4 v.d.Z. geboren worden, je nach der Zeit, die zwischen dem Kindermord und dem Tod KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG45 des Herodes liegt. Dass die Magier von Osten kommen, lässt auf Persien oder Chaldäa schließen, die nächsten östlichen Nachbarn des römischen Imperiums. Vermutlich reisen sie nach Jerusalem, weil die Stadt der Sitz des Königs war. Wie viele Magier sich auf den Weg gemacht haben, lässt der Text offen. Vers 2: Dieser Vers klärt uns über den Grund für ihren Besuch auf. Zwei Übersetzungen sind möglich, die entsprechend auch für V.9 gelten: 1. a) „... wir sahen seinen Stern im Osten und kamen...” 2. b) „... wir sahen seinen Stern aufgehen (wörtl.: im Aufgang) und kamen...” Sahen sie seinen Stern aufgehen, dann deutet das auf die Geburt hin (s.o. „Stern“). Sahen sie den bereits aufgegangenen Stern im Osten, dann deutet das auf eine mächtige Persönlichkeit hin, schließlich wäre ihnen der zusätzliche Stern sonst nicht aufgefallen. Da sie ausdrücklich dem neugeborenen König huldigen wollen, ist Übersetzung 2 vorzuziehen, dass sie ihm huldigen wollen, zeigt aber, dass dieser Stern offenbar auf eine außergewöhnliche Herrschergestalt hinweist. Vers 3: Erst dieser Vers deutet an, wen die Magier fragen und wo in Jerusalem sie nach dem Kind forschen: im Königspalast, anscheinend bei Herodes selbst, in dem sie wohl den Vater vermuten. Herodes’ „Unruhe” ist verständlich. Der damalige Hörer und Leser konnte sofort vermuten, dass er alles daran setzen würde, seine Macht zu schützen (vgl. das zu V.1 gesagte). Dass „ganz Jerusalem” mit ihm erschrak, ist wohl eine Übertreibung. Herodes war alles andere als beliebt. Verse 4-6: Der Scharfsinn des Herodes, der sofort auf eine von JHWH gesandte Messiasgestalt schließt, ist beeindruckend. Da in der atl. Tradition kein berechenbarer Zeitpunkt für das Erscheinen des KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG46 Messias genannt ist, haben die Schriftgelehrten und Hohepriester offensichtlich nicht damit gerechnet, dass er in ihrer Zeit kommen würde. Die Frage nach dem Geburtsort deutet bereits darauf hin, was der Gewaltherrscher plant. Dabei wird die Prophetie Michas neu verstanden: Der endzeitliche Kriegerkönig befreit sein Volk von der aktuellen Fremdherrschaft durch das römische Imperium und seine Vasallen - wie Herodes (s.o.). Auch für den jeweiligen Hohepriester eine Gefahr, kollaborierte seine Familie doch mit den Besatzern - wenn auch in guten Absichten für das Gottesvolk und seine Religion. Im Unterschied zu Herodes, der sein Volk ausbeutet und sich steinerne Denkmäler setzt, wird der neugeborene Friedensfürst, Jesus, das tun, was die Aufgabe eines guten Herrschers ist: „das Volk weiden”, ihm ein „guter Hirt” sein. Der Messias kann als Nachfolger und Nachkomme Davids theologisch nur aus der Davidsstadt Bethlehem stammen. Verse 7-8: Nachdem der Ort herausgefunden ist, fehlt noch das ungefähre Alter des Messias. Das erfragt der listige Herrscher bei den Magiern. Der Evangelist betont dabei ausdrücklich, dass diese Unterredung, deren Schluss er in V.8 zitiert, im Geheimen stattfand. Der Grund für diese Heimlichtuerei bleibt offen. Vielleicht um zu verhindern, dass jemand seine Absichten durchkreuzte. Herodes macht die Magier sogar zu seinen Spionen. Die wörtliche Rede in V.8. Lässt in beiden Sätzen mehrere Übersetzungen zu. Sehen wir zunächst auf die Alternativen des ersten Teils: 1. „Geht und forscht gründlich nach dem Kind...” 2. „Geht und forscht gründlich in Bezug auf das Kind...” Übersetzung 1 bezieht sich streng genommen auf den Aufenthaltsort, den Herodes für einen gezielten Schlag wissen muss. Alternative 2 meint alles, was über das Kind und seine Familie zu erfahren ist. Diese Alternative würde bedeuten, dass Herodes vor der „Beseitigung” des Kindes sicher gehen wolle, ob dieser Schritt KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG47 auch nötig sei. Da Herodes insgesamt negativ dargestellt wird (wie übrigens später auch sein Sohn gleichen Namens), scheint Übersetzung 1 die angemessenere zu sein. Zudem legt der folgende Satz diese Übersetzung nahe. Zu diesem Satz sind ebenfalls zwei Übersetzungen möglich: 1. „... Wenn ihr es findet, bringt mir die Gute Nachricht!” 2. „... Wenn ihr es findet, evangelisiert mich!” (wörtlich) Beide Alternativen bringen zum ersten Mal das Evangelium, wörtlich: die Gute Nachricht, ins Spiel. Herodes meint das natürlich in einem anderen Sinn: Wenn er weiß, wo er das Kind findet, ist das gut für seine Pläne. Dennoch: Es ist eine Frohe Botschaft, wenn jemand zu Jesus findet und ihm huldigen kann. Ja, die Geburt oder Menschwerdung selbst wird hier zum ersten Mal als Gute Nachricht bezeichnet. Dass Herodes versichert, er wolle dem Kind ebenfalls huldigen, soll wohl vor allem die Magier in Sicherheit wiegen und verdeutlicht seine Hinterlist. Vers 9: Hier ist ein logischer Bruch in der Erzählung: Warum sind die Magier dem Stern nicht von Anfang an bis zum Ziel gefolgt? Vielleicht, weil sie es in Jerusalem vermuteten? Der geheimnisvolle Stern führt sie jedenfalls zu Jesus. Die Schöpfung steht im Dienste Gottes und kann Menschen zum Heiland führen. Vers 10: Was an dem Stern versetzt die Magier in so große Freude? Dass er endlich stehen geblieben ist? Das Wunder, dass er ihnen zum Wegweiser wurde? Die Entsprechung zur Feuersäule, in der Gott seinem Volk während der Wüstenwanderung vorangeht, eröffnet sich nur dem, der mit der biblischen Überlieferung vertraut ist. Ahnen sie, dass Gott selbst hier am Werk ist? Die Parallele zur Feuersäule lässt die Frage aufkommen, ob der Evangelist in den Magiern das neue Gottesvolk abgebildet sah, dem der Herr voran geht, oder ob er zeigen wollte, dass wir frei werden, wenn wir an Jesus glauben, oder ob er uns sagen will, dass Gott uns auf uns KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG48 angemessene Weise zu Jesus führt? All diese Deutungen sind ein Grund zu großer Freude. Vers 11: Den höfischen Sitten entsprechend huldigen sie dem Kind wie einem Gott. Die Geschenke sind zugleich Opfergaben, die Huldigung ein sakrales Geschehen. Der Text lässt auch diese Deutung zu, und vieles vom antiken und mittelalterlichen Hofzeremoniell ist im Laufe der Zeit in die Liturgie eingeflossen. Dem zufolge gibt es zwei mögliche Übersetzungen, von denen erstere bevorzugt wurde, weil sie am ehesten beiden o.g. Aspekten gerecht wird: 1. „... Niederfallend huldigten sie ihm [kniefällig]. Sie öffneten ihre Schätze und überreichten ihm ihre (Opfer-) Gaben:...” 2. „...Niederfallend beteten sie ihn an. Sie öffneten ihre Schätze und brachten ihm ihre (Opfer-) Gaben dar:...” Die heidnischen Magier sind die ersten Menschen, die Jesus anbeten, wenn auch nach heidnischen Bräuchen. Darin kann eine Spitze gegen radikale Gegner der Heidenmission liegen oder gegen solche Christen, die nicht-jüdische Einflüsse aus der JesusVerehrung ausschließen wollten. Die Göttlichkeit Jesu, schon im Stern angedeutet, tritt hier bereits zutage. Als der von Gott gesandte und eingesetzte König Israels ist er zugleich Stellvertreter dieses Gottes. Die Gottsohnschaft, die in der Erzählung von der Geburt so elementar ist, wird zwar nicht explizit genannt, findet aber in der Verehrung durch die Heiden ihren Ausdruck. Im Vergleich zum Stall bei Lk lebt die Heilige Familie in der mt Tradition in einem Haus und ist offenbar in Bethlehem beheimatet. Die lk Tradition löst das Problem des Wohnortes Nazareth also auf andere Weise als die mt Tradition. Vers 12: Wieder greift Gott durch einen Traum in die Ereignisse ein (wie schon bei der Geburt Jesu). Für die Menschen in der Antike anscheinend keine unbekannte Art, mit höheren Wesen in Kontakt KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG49 zu treten, denn die Magier reagieren entsprechend auf den Traum. Ob nur einer von ihnen die Weisung erhalten hat oder es sich gewissermaßen um einen kollektiven Traum handelt, bleibt offen und ist letztlich unerheblich sowohl für den Fortgang der Ereignisse als auch für die Größe und Macht Gottes, die sich hier zeigt. Wichtig ist, dass dieses Kind etwas ganz besonderes sein muss, wenn der Herr der Geschichte so deutlich eingreift. Zugleich wird literarisch der Grundstein gelegt für die Flucht, den Kindermord und die Umsiedlung nach Nazareth. Verse 13-15: Die Flucht der Heiligen Familie ist ebenfalls von Gott initiiert. Die Gerechtigkeit Josefs zeigt sich auch hier (wie schon in der vorhergehenden Perikope) in seinem Gehorsam - das gilt übrigens auch für die Magier! Die wörtliche Rede zeigt deutlich, dass es sich jetzt um ein erzählerisches Element handelt. Gott hat schon die Ermordung des Mose-Kindes verhindert, um sein Volk in die Freiheit zu führen, nun geschieht gleiches erneut. Die Parallele zu Mose ist deutlich. Jedes mal lässt ein Herrscher, der um seine Macht fürchtet, Kinder ermorden, jedes mal greift Gott ein. Das Schriftzitat, das sich ursprünglich auf das ganze Gottesvolk bezieht, kann zweifach verstanden werden: Entweder bezieht es sich nur auf Jesus, oder es deutet bereits auf die Kirche hin, die zwar verfolgt wird, aber zugleich unter einem besonderen Schutz Gottes steht. Ägypten war zur Zeit des Herodes bereits römische Provinz, Jesus wird also nur dem Machtbereich des Idumäers entzogen! Offen bleibt, warum sich die Heilige Familie nicht einfach den Magiern anschließen durfte, was jedenfalls sicherer gewesen wäre. Verse 16-18: Der Kindermord in Bethlehem ist weder in der jüdischen noch in der römischen Geschichtsschreibung dokumentiert. Es scheint sich also um ein legendarisches Element zu handeln, dass die Parallele zwischen Jesus und Mose unterstreicht. Zugleich war ein derart brutales Vorgehen dem Herodes offenbar zuzutrauen (s.o.). KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG50 Herodes, erbost über den „Verrat” der Magier, lässt kurzerhand alle Kinder Bethlehems im entsprechenden Alter töten, um ganz sicher zu gehen. Die Altersangabe liefert einen möglichen Hinweis auf das Geburtsjahr Jesu (s.o.), abhängig vom Abstand des Kindermordes zum Tod des Herrschers. Verse 19-21: Vers 19 liefert den ersten halbwegs konkreten historischen Hinweis mit der Erwähnung des Todes des Herodes. Dennoch bleibt fraglich, ob Jesus erst seit dem Jahr 4 v.d.Z. in Nazareth gelebt hat. Die lk Überlieferung sieht Nazareth von Anfang an als Wohnort Josefs und Mariens an. Die mitunter geäußerte Ansicht, Jesus habe in Ägypten okkulte Praktiken erlernt, widerspricht sowohl der Gerechtigkeit seiner Eltern (die sich hier abermals als Gehorsam gegenüber den Weisungen Gottes zeigt), als auch der Tatsache, dass die Heilige Familie offenbar nicht lange in Ägypten gelebt hat - es sei denn, man datiert die Geburt Jesu noch weiter vor, was bedeuten würde, dass er bei seiner Kreuzigung entschieden älter gewesen wäre als Mitte 30. Jesus selbst hat den Gehorsam gegenüber Gott wahrscheinlich von seinen Eltern übernommen, wie viele seiner Lehren zeigen. Verse 22-23: Aus Angst vor Archelaos und auf göttliche Weisung hin siedelt die Familie im galiläischen Nazareth an. Archelaos, 4.v.d.Z. - 6 n.d.Z. Ethnarch von Judäa, galt als grausamer Tyrann und wurde schließlich wegen seiner Grausamkeit von den Römern nach Gallien verbannt. Die Erinnerung an den Herrscher hat sich in diesen wenigen Zeilen erhalten. Auch diesmal greift Gott schützend ein, damit der Messias in Ruhe aufwachsen kann. Nach der Darstellung des Evangelisten zog die Heilige Familie also spätestens 6 n.d.Z. zurück in Heilige Land. Jesus wäre dann ca. 10 Jahre alt gewesen. Da Lukas eine andere Tradition überliefert, scheint die historische Einordnung zweitrangig. Die Frage, die hier beantwortet wird, ist, wieso der Messias, in Bethlehem geboren, als Nazarener gilt. Teil III Mt 3,1-4,11: Die Zeit der Vorbereitung 51 Kapitel 4 Mt 3,1-4,11: Umkehr und Versuchung (1) In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündigte in der Wüs- Der te Judäas (2) [sagend]: „Kehrt um! Nahe <ist> nämlich die Königsherrschaft Text der Himmel!” (3) Dieser nämlich ist der <, von dem das> Wort des Propheten Jesaja sagt: Eine Stimme rufend in der Wüste: „Bereitet den Weg <des> HERRn, gerade macht die Pfade sein!” (4) Und er, [der] Johannes, hatte ein Gewand aus Kamelhaaren und um die Hüften einen ledernen Gürtel. Seine Nahrung waren Heuschrecken und wilder Honig. (5) Damals kamen zu ihm hinaus Jerusalem und ganz Judäa und das ganze Umland des Jordan. (6) [Und] sie ließen sich im Jordanfluß von ihm taufen, ihre Sünden eingestehend. (7) Als Johannes viele der Pharisäer und Sadduzäer zu seiner Taufe kommen sah, sagte er zu ihnen: „Schlangenbrut! Wer hat euch gezeigt, dem kommenden Gericht zu entfliehen? (8) Bringt Frucht hervor, der Umkehr angemessen! (9) Und wähnt nicht, <ihr könntet> bei euch sagen: ’Als Vater haben wir Abraam’ - denn ich sage euch: [der] GOTT vermag aus diesen Steinen Kinder Abraams entstehen zu lassen! (10) Die Axt ist bereits an die Wurzel der Bäume angelegt: Jeder Baum also, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen! 52 KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 53 (11) Ich, ich taufe euch mit Wasser in die Umkehr hinein; der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich - ich tauge nicht, ihm die Schuhe zu tragen! Er wird euch mit heiligem Geist und Feuer taufen. (12) Die Worfschaufel in seiner Hand, wird er seine Tenne reinigen und seinen Weizen in der Scheune sammeln. <Die> Spreu aber wird er <in> unauslöschlichem Feuer verbrennen.” (13) Damals kam [der] Jesus aus Galiläa an den Jordan zu [dem] Johannes, um von ihm getauft zu werden. (14) [Der] Johannes aber hielt ihn ab und sprach: „Ich, ich habe es nötig, von dir getauft zu werden - und du kommst zu mir?” (15) Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Gestatte es <gerade> jetzt, denn dies ist angemessen, <damit> wir die ganze Gerechtigkeit erfüllen werden!” Da gestattete er ihm <die Taufe>. (16) <Kaum> getauft, stieg [der] Jesus sofort aus dem Wasser, und siehe: die Himmel wurden ihm geöffnet, und er sah GOTTes Geist herabsteigen - gleichsam <als> Taube - und zu sich kommen. (17) Und siehe: <eine> Stimme aus den Himmeln sagte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe!” (4,1) Damals wurde [der] Jesus vom Geist hinauf in die Wüste geführt, um vom Verleumder auf die Probe gestellt zu werden. (2) Und er fastete vierzig Tage und vierzig Nächte; danach hatte er Hunger. (3) Und der Verleumder trat hinzu und sprach zu ihm: „Wenn du Sohn GOTTes bist, so befiehl diesen Steinen, Brote zu werden!” (4) Er aber entgegnete [und sagte]: „Nicht allein vom Brot lebt der Mensch, sondern von allen Worten, <die> herauskommen aus GOTTes Mund!” (5) Da nahm ihn der Verleumder mit in die Heilige Stadt, stellte ihn auf die Spitze des Heiligtums (6) und sagte zu ihm: „Wenn du Sohn GOTTes bist, wirf dich selbst (von hier) hinab. Denn es steht geschrieben: Seine Engel wird Er deinetwegen beauftragen, und sie werden dich auf Händen in die Höhe heben, damit dein Fuß nicht an <einen> Stein stößt!” (7) Sprach zu ihm [der] Jesus: „Ferner steht geschrieben: Du sollst den HERRn, deinen GOTT, nicht auf die Probe stellen!” (8) Abermals nahm ihn der Verleumder mit auf <einen> sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Königreiche der Erde und deren Herrlichkeit (9) und sprach zu KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 54 ihm: „Dies alles werde ich dir geben, wenn du niederfällst und mich kniefällig anbetest!” (10) Da sprach Jesus zu ihm: „Geh fort, hinter mich, Satan! Denn es steht geschrieben: Den HERRn, deinen GOTT, sollst du kniefällig anbeten und Ihm allein dienen!” (11) Da verließ ihn der Verleumder, und siehe: Engel kamen hinzu und bedienten ihn. 4.1 Die historisch-kritische Exegese V.3 Hier fehlt bei einem syrischen Zeugen der erste Vers des Schriftzitats („Eine Stimme rufend in der Wüste:”), bei einem anderen syrischen und einem altlateinischen Zeugen dagegen der letzte Vers des Schriftzitats („Gerade macht die Pfade sein!”) Diese Auslassungen sind, da sie so selten auftauchen, als nicht ursprünglich anzusehen. Da jeweils ein ganzer Satz fehlt, ist ein Abschreibfehler auszuschließen. Möglicherweise wollte der Schreiber das Zitat au den wesentlichen Teil beschränken und sah in dem einen Fall den letzten Satz als unnötige Doppelung an und im anderen Fall die Einleitung als irrelevant, da das Zitat auf den in der Wüste wirkenden Täufer bezogen ist. V.7 lesen Origenes (2./3.Jh), 01 (4.Jh), 03 (3.Jh), 28 (9.Jh) und die sahidische und mittelägyptische Überlieferung: „Als Johannes die vielen Sadduzäer und Pharisäer zur Taufe kommen sah...”. Die Mehrheit der Zeugen liest den Satz jedoch „... zu seiner Taufe...”. Möglicherweise handelt es sich um Schreibfehler, das häufige Vorkommen der anderen Lesart spricht eher für eine bewusste Auslassung, da die Formulierung „seine Taufe” die Vermutung aufkommen lässt, es habe noch andere Täufer gegeben, die vielleicht auch noch auf den Messias hingewiesen hätten, oder die Täufertaufe stehe gleichberechtigt neben der christlichen Taufe. Die schwierigere und besser bezeugte Lesart ist vorzuziehen. KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 55 V.16 lesen verschiedene italienische Handschriften, D (5.Jh.) und VulgataHandschriften „... er sah Gottes Geist aus dem Himmel herabsteigen”. In allen anderen Handschriften fehlt der Zusatz „aus dem Himmel”, er ist also als Ergänzung anzusehen. V.17 lesen einigen Handschriften „Eine Stimme aus dem Himmel sagte zu ihm...”. Der logische Fehler zur wörtlichen Rede lässt diese Lesart als die falsche erscheinen, zumal in den anderen Handschriften der Zusatz „zu ihm” fehlt. Wenige Handschriften lesen „Du bist mein geliebter Sohn”. Da es sich um nur drei Handschriften handelt, ist auch diese Lesart aufgrund des seltenen Vorkommens zu verwerfen. V.4,4 lesen einige Zeugen „... sondern von jedem Wort Gottes”. Das seltene Auftreten dieser Lesart lässt vermuten, dass es sich nicht um die ursprüngliche handelt. Die besser belegte Lesart orientiert sich in diesem Fall am ursprünglichen Text der LXX und ist aufgrund der besseren Bezeugung vorzuziehen. V.4,10 lesen viele Zeugen (Mehrheitszeuge, D (5.Jh.), L (9.Jh), Z (6.Jh), syrische, sahidische und bohairische Handschriften und der Kirchenlehrer Justin (+ um 165)): „Geh fort, hinter mich.....”. Die übrigen Zeugen lesen den Text jedoch ohne den Zusatz „hinter mich”, der im Evangelium vor allem als Aufruf zur Nachfolge auftritt. Den Regeln zufolge ist die schwierigere Lesart der leichteren im Zweifelsfall vorzuziehen, wie es auch hier geschieht. • Wie ist in V.7 „seine Taufe” zu deuten? • In V.11 (ερχομενος οπισvω μου) erinnert an das οπισvω μου (d.h. „hinter mich, hinter mir her”), mit dem Jesus die Jünger zu Nachfolge ruft. Bedeutet das hier, er sei ein Jünger des Täufers gewesen? Wie stehen Jesus und Johannes zueinander? • Der Aufruf zur Umkehr entspricht dem Jesu Aufälligkeiten KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 56 • Weshalb wurde die Bußpredigt zusammenfassend wiedergegeben? • Weshalb wird der Täufer vergleichsweise genau beschrieben? • Beachte den Bezug zu Abraham (Stammbaum!): Erwählung? Heidenmission? • Der Schluß der Predigt erinnert sehr an entsprechende Gleichnisse Jesu • Jesus lässt sich taufen. Warum? • Was hat es mit der Weigerung des Täufers auf sich? • Was meint Jesus mit dem Wort von der Gerechtigkeit, die durch die Taufe Jesu erfüllt werden muss? • Taube und Heiliger Geist • Jesus wird öffentlich als Sohn Gottes proklamiert (es handelt sich also nicht um eine Vision o.ä.) • Was hat es mit diesen 3 Versuchungen auf sich? Prüfen sie die Gottessohnschaft? • Sehen wir an Jesus exemplarisch, was es heißt, dem Herrn in der Wüste den Weg zu bereiten? Mit V.3,1 beginnt ein neuer Erzählabschnitt, erkennbar an der Wendung „in jenen Tagen” ”. Protagonist und Handlungsort verändern sich. Inhaltlich liegt zwischen dem Umzug der Heiligen Familie nach Nazareth und dem Auftreten des Täufers eine zeitliche Differenz von augenscheinlich mehreren Jahrzehnten (vgl. V.13). In V.4,12 beginnt das öffentliche Auftreten Jesu ausdrücklich mit dem Ende des Wirkens des Täufers, die Wüste wird verlassen, ein Schnitt ist als gerechtfertigt. Literarkritik (Kontextkritik) Der vorliegende Abschnitt besteht aus vier Teilen: an die Einführung des Täu- (Kohärenzfer werden mit dem dreimaligen „damals“ (V.3,5.13, V.4,1) drei Episoden an- kritik) geschlossen, die inhaltlich durch den Themenkreis Umkehr-Taufe-Versuchung KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 57 und durch den gleich bleibenden Ort der Wüste locker miteinander verbunden sind: die Umkehr und Taufe der vielen (incl. Bußpredigt), die Taufe Jesu im Mittelteil und die Versuchungen Jesu. Im ersten Teil ist Johannes im Mittelpunkt, im zweiten Johannes und Jesus, im dritten Jesus. Inhaltlich gibt auch dieser Text eine Antwort auf die Frage, wer Jesus ist. Der Befund bei den anderen Evangelisten lässt für die Täufertradition eine Übervorschriftliche Überlieferung vermuten. Während Markus sehr knapp bleibt, lieferungsfindet sich die Predigt des Täufers weit ausführlicher bei Lukas. Bei Johannes kritik ist er vor allem der, der Jesus ankündigt. Johannes überliefert aber auch, dass der Täufer Johannes seinen Jüngern als Messias galt, und vermutlich nicht nur ihnen. Da ihre Gemeinschaft auch nach seinem gewaltsamen Tod lange Zeit neben der christlichen Kirche weiter bestand, ist eine zunächst mündliche und später schriftliche Überlieferung seines Wirkens sehr wahrscheinlich. Die Taufe wird nur von Matthäus, Markus und Lukas überliefert, bei Johannes zumindest angedeutet und vorausgesetzt. Bei Mk beschränkt sich die Darstellung auf 2 Verse, ebenso bei Lk, der an die Taufe einen Stammbaum anfügt. Die Überlieferung, dass Jesus sich taufen ließ, ist also gesamtchristlich, der Disput zwischen ihm und Johannes ist entweder Überlieferung der mt Gemeinde(n) oder mt Bildung. Die Versuchungen werden nur von Matthäus, Markus und Lukas geschildert, bei Mk bleibt es bei der Notiz, dass Jesus in Versuchung geführt wurde. Lukas berichtet von den gleichen Versuchungen, allerdings in anderer Reihenfolge, es scheint sich also um eine Überlieferung zu handeln, die nicht in allen christlichen Gemeinden so detailliert bekannt war. Mt und Lk scheinen hier aber auf eine gemeinsame mündliche oder schriftliche Tradition zurückzugreifen. Gesamtchristlich ist die Überlieferung, dass Jesus nach der Taufe in der Wüste in Versuchung geführt wurde. Eine erste Stufe der Verschriftlichung lässt sich aus der biblischen Überlieferung ableiten: sie findet sich bei Markus und umfasst in etwa im vorliegenden Abschnitt die Verse 3-5.11. Inhaltlich ist es die knappe Beschreibung des Täufers als endzeitlichem Propheten, der die Menschen zur Umkehr aufruft und auf Jesus hinweist, und ihn tauft, bevor Jesus in der Wüste in Versu- Quellenund Redaktionskritik KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 58 chung geführt wird. Irgendwann scheint in einigen Gegenden (Lk und Mt) eine Zusammenfassung der Johanneischen Verkündigung hinzugekommen zu sein, vermutlich dort, wo Johannes-Jünger und Jesus-Jünger coexistierten und schließlich verschmolzen. In diesen Gegenden scheint auch die Versuchung Jesu ausgeschmückt worden zu sein. Zu dem Disput zwischen Jesus und Johannes s.o. Auch scheint sich in einigen Gegenden eine ausführlichere Darstellung der Versuchung gebildet oder erhalten zu haben. Der vorliegende Abschnitt lässt sich wie folgt gliedern: 1. Einleitung (VV.1-4): Vorstellung des Täufers mit Schrifterweis V.3 2. Teil 1: Das Wirken des Täufers (VV.5-12), erstes „damals” (a) Wirkung seines Auftretens (5-6) (b) Predigt des Täufers (7-12) i. Endzeitliche Ermahnung der Sadduzäer und Pharisäer (7-10) ii. Ankündigung des Messias, der in naher Zukunft als Retter und Richter kommen wird (11-12) 3. Teil 2: Die Taufe Jesu (VV.13-17), zweites „damals” (a) Ankunft Jesu (13) (b) Disput über seine Bitte um Taufe (14-15) (c) Herabkunft des Geistes und Proklamation als Gottessohn (16-17) 4. Teil 3: Die Versuchungen (VV.1-11), drittes „damals” (a) Ausgangssituation (1-2) (b) Hunger als erste Prüfung der Gottsohnschaft (3-4) mit Schriftzitat V.4 (c) falsches Gottvertrauen als zweite Prüfung der Gottsohnschaft (57) mit zwei Schriftzitaten V.6.7 Formkritik KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 59 (d) Glaubensabfall aufgrund von Machtstreben als dritte Prüfung der Gottsohnschaft (8-10) mit indirektem Schriftverweis V.10 (e) Rückzug Satans (11) Im ersten Teil (V.1-6.11-12) wird Johannes eingeführt. Es scheint auf einer Gattungshistorischen Erinnerung seines Wirkens zu basieren und christlich gedeutet kritik worden zu sein. Die Predigt des Täufers scheint eine Vorlage für christliche Verkündigung zu sein, die eine jüdische Hörerschaft vor Augen hat und zugleich die Heidenmission begründet (V.9). Zumindest scheint sich auch hier die Auseinandersetzung mit dem Judentum zu spiegeln. Insgesamt handelt es sich um den Grundzug frühchristlicher Verkündigung: Was ist zu tun angesichts des nahen Weltgerichts und der Ankunft Jesu? Im Disput Jesu mit dem Täufer wird eine Antwort auf die Frage gegeben, warum Jesus sich taufen lässt. Sie trägt weisheitlich-belehrenden Charakter und wird sich historisch kaum so zugetragen haben. Die Schilderung der Herabkunft des Heiligen Geistes und der Proklamation trifft eine theologische Aussage über das Wesen der christlichen Taufe und Jesu. Die Erzählung von den Versuchungen ist so kunstvoll aufgebaut, dass auch hier die Vermutung naheliegt, die Intention sei eine belehrende. Folgende inhaltliche Kenntnisse werden vorausgesetzt: Jesaja Zitat (Jes 40,3 LXX): Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, dass ihr Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist; denn sie hat die volle Strafe erlitten von der Hand des Herrn für all ihre Sünden. Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, alle Sterblichen werden sie sehen. Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen. Eine Stimme sagte: Verkünde! Ich fragte: Was soll ich verkünden? Alles Sterbliche ist wie das Gras, und all seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die Traditionskritik KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 60 Blume verwelkt, wenn der Atem des Herrn darüberweht. Wahrhaftig, Gras ist das Volk. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit. Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den Städten in Juda: Seht, da ist euer Gott. Seht, Gott der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Seht, er bringt seinen Siegespreis mit: Alle, die er gewonnen hat, gehen vor ihm her. Wie ein Hirt führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand. Die Lämmer trägt er auf dem Arm, die Mutterschafe führt er behutsam (Jes 40,1-11). Der Zusammenhang, in dem die Worte stehen, die Mt, Lk und Mk auf den Täufer beziehen, ist eindeutig: Wie die Stimme in der Wüste Gottes machtvolles und befreiendes und alles veränderndes Kommen ankündigt, so auch Johannes. Jesus ist der Herr, der Gute Hirt, auf den verwiesen wird. Die frühen Christen, die ihre Bibel kannten, haben diesen Zusammenhang mitgehört, wenn die zitierte Stelle auf jene Ereignisse am Jordan hin gedeutet wurden. Die Menschen, die Jesus als Siegespreis voran gehen, sind alle, die umkehren und sich als Zeichen dafür taufen lassen. Anders als die Szene, die Mt beschreibt, atmet der Jesaja-Text allerdings pure Freude. Schriftzitate in der Versuchungsszene: • Dtn 8,3: Durch Hunger hat er dich gefügig gemacht und hat dich dann mit dem Manna gespeist, das du nicht kanntest und das auch deine Väter nicht kannten. Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht. Mit diesen Worten leitet Mose eine Ermahnung ein, auch im Reichtum nicht zu vergessen, dass das Leben und alles Gute darin von Gott kommt, dass auf ihn mehr Verlass ist, als auf Reichtum und Wohlstand. • Ps 91: Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: „Du bist für mich Zuflucht und Burg, KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 61 mein Gott, dem ich vertraue.“ Er rettet dich aus der Schlinge des Jägers und aus allem Verderben. Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht, Schild und Schutz ist dir seine Treue. Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag. Fallen auch tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es doch dich nicht treffen. Ja, du wirst es sehen mit eigenen Augen, wirst zuschauen, wie den Frevlern vergolten wird. Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt. Dir begegnet kein Unheil, kein Unglück naht deinem Zelt. Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt; du schreitest über Löwen und Nattern, trittst auf Löwen und Drachen. „Weil er an mir hängt, will ich ihn retten; ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen. Wenn er mich anruft, dann will ich ihn erhören. Ich bin bei ihm in der Not, befreie ihn und bringe ihn zu Ehren. Ich sättige ihn mit langem Leben und lasse ihn schauen mein Heil.“ Ein Psalm, der großes Vertrauen in den Beistand Gottes ausdrückt, weil dieser Beistand durch Gott selbst zugesagt ist. • Dtn 6,16-18: Ihr sollt den Herrn, euren Gott, nicht auf die Probe stellen, wie ihr ihn bei Massa auf die Probe gestellt habt. Ihr sollt auf die Gebote des Herrn, eures Gottes, genau achten, auf seine Satzungen und Gesetze, auf die er dich verpflichtet hat. Du sollst tun, was in seinen Augen richtig und gut ist. Dann wird es dir gut gehen, und du kannst in das prächtige Land, das der Herr deinen Vätern mit einem Schwur versprochen hat, hineinziehen und es in Besitz nehmen. Auch in dieser Stelle wird mit Verweis auf ein Ereignis während der Wüstenwanderung das Volk ermahnt, nicht zu vergessen, wer es in die Freiheit geführt hat und wessen Weisung und Satzung diese Freiheit garantiert. Diesen Gott in Versuchung zu führen heißt, sich gegen ihn aufzulehnen. • Der Schriftverweis in V.10 ist eher allgemeiner Natur und bezieht sich KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 62 z.B. auf die Zehn Gebote und ist zudem in den bisherigen Schriftverweisen Jesu enthalten. Königsherrschaft der Himmel oder „Königreich der Himmel” oder „Reich Gottes” ist eine schwer zu definierende Größe. Jesus nähert sich ihr im weiteren Verlauf seiner Verkündigung in vielen Gleichnissen und Zeichen. Gott ist der König, sein Wort, seine Weisung, überliefert durch Mose und die Propheten und nicht zuletzt Jesus, garantieren ein Leben in Freiheit und Würde und in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott, so wie es zu Beginn im Paradies war. Dazu gehört, dass Tod, Krankheit, Armut und Unrecht, Krieg und Hass und Gewalt keine bestimmenden Größen mehr sind. Gott allein hat alles in der Hand. Diese Gottesherrschaft am Ende der Zeit hat nach christlichem Verständnis mit Jesus begonnen, darum wird er im Evangelium als der endzeitliche Messias gefeiert. Doch nicht jeder ist Teil dieses Himmelreiches: Nur, wer den Willen des Vaters tut, gehört dazu, der Gerechte, wie etwa Josef und Maria. Der Sünder, also der, der den Willen des Vaters nicht tut, hat keinen Anteil am Gottesreich, wie Jesus später betonen wird und wie auch schon die Drohrede des Johannes anklingen lässt. Umkehr / Buße: Seit dem Bund ist Gottes Volk zu besonderer Treue aufgefordert; durch Begegnung mit anderen Völkern und deren Göttern wird es zu Untreue und Abfall von Gott verführt. In der Heiligen Schrift ergeht darum immer wieder der Ruf der Umkehr; sie wird vollzogen durch bestimmte gemeinsame Bußübungen wie Fasten (1Sam 7,6; Joel 1,14), Weinen und Klagen, Tragen eines Bußgewandes (2Sam 12,16) und Bestreuen des Hauptes mit Asche (Neh 9,1) verbunden mit Sündenbekenntnis (Lev 5,5) und formulierten Gebeten (Dan 9,4-19), wie sie auch in den Bußpsalmen erhalten sind. Umkehr, die aus Demut übernommen wird, befähigt die Menschen, die Barmherzigkeit Gottes zu erlangen (2Sam 12). Die Bußpraxis erstarrte jedoch immer mehr zu einem äußerlichen Formalismus. Die Propheten verkünden deshalb eine neue Art der Umkehr, die im Herzen des Menschen geschehen muss (Ez 11,19; 18,31). Nur diese Umkehr wird das Volk vor dem Tag KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 63 des Herrn bewahren; sie allein ist Voraussetzung einer Versöhnung mit Gott (Jer 31,33; Ez 11,19). Der prophetische Ruf nach Umkehr wird im NT zunächst vom Täufer aufgenommen. Umkehr ist notwendige Vorbereitung auf den kommenden Messias (Mt 3,7ff). Anruf Gottes und Gehorsam des Menschen werden in der Umkehr zur Einheit. Nach der Botschaft Jesu ist Umkehr Bedingung zum Eintritt ins Gottesreich. Sie ist Vorbereitung auf die nicht berechenbare Wiederkunft des Herrn. Umkehr ist immer bewusstes Hinwenden des Menschen zu Gott und seinem Reich. Jesus wird später verschiedene Wege der Umkehr aufzeigen (z.B.Versöhnung, Reue und Schuldbekenntnis, Gebet, befolgen des Gesetzes). Auftreten des Täufers: Johannes wird als Asket beschrieben, der offenbar sehr bewusst auf die Tradition Elijas zugreift, der ebenfalls am Jordan wirkte und ähnlich gekleidet war (2 Kön 1,8). Damit ist er der Prophet, der am Ende der Zeiten wiederkommen soll (Mal 3,1.23-24; Sir 48,10-12). Der Zusammenhang mit dem Jesaja-Zitat ist vor diesem Hintergrund hergestellt. Die Taufe scheint an rituelle Waschungen im Judentum und an die übliche Taufe von Proselyten anzulehnen, ist aber zugleich äußeres Zeichen der Umkehr, der Hinwendung zu JHVH und seinen Weisungen. Pharisäer (zu unterscheiden v. der Priesterkaste der Sadduzäer) waren keine Priester; auf Grund ihrer Gesetzeskenntnis besaßen sie große Autorität bei den Ungebildeten und werden daher gelegentlich als Führer des Proletariats bezeichnet. Ihre Bemühungen waren religiöser, nicht politischer Natur. Gegenüber dem Staat vertraten sie eine mittlere Linie (anders die Zeloten). In ihrer Auslegung des atl. Gesetzes war die buchstabengetreue Erfüllung höchstes Ideal; die in der mündlichen Überlieferung entstandenen unzähligen Vorschriften hatten dieselbe Geltung wie das schriftliche Gesetz. Im Unterschied zu den Sadduzäern vertraten die Pharisäer die Auferstehung der Toten und die Existenz der Engelwelt. „Pharisäer und Schriftgelehrte” sind in den Evangelien meist KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 64 als Bezeichnung einer zusammengehörenden Gruppe zu finden1 . Sadduzäer: Jüdische Gruppe zur Zeit Jesu, politisch orientiert, äußerst konservativ bzw. opportunistisch, getragen besonders von höher gestellten Priestern und wohlhabenden Familien. Sie standen im Gegensatz zu den Pharisäern. Sie ließen nur das geschriebene Gesetz (Mosebücher) gelten, nicht dessen zeitgemäße Auslegung durch mündliche Überlieferung. Auch die Schriften der Propheten betrachteten sie nicht als maßgebend. Sie leugneten die leibliche Auferstehung, ein Weiterleben nach dem Tod und die Existenz v. Engeln. Ihre Denkweise und Lebenseinstellung waren weltoffen, dem Hellenismus zugewandt. Nach dem Fall Jerusalems (70 n.C.) verschwand die Gruppe der Sadduzäer; das spätere Judentum ist geprägt durch das Pharisäertum. Sünde ist nach atl. Vorstellung die Abkehr von Gott und seinem Weg, also etwas, das zunächst vom Menschen ausgeht. Die Versuchung zur Sünde wird allerdings später übermenschlichen Mächten zugeschrieben. Sünde verhindert daher die Vollendung des Menschen und der Schöpfung, wie Gen 2-3 darstellen. Letzten Endes wurzelt Sünde im Unglauben oder doch zumindest im Kleinglauben. Versuchung2 : Das griechische Wort πειραζω, das hier benutzt wird (V.4,1.7), bedeutet soviel wie: prüfen, versuchen, untersuchen, auf die Probe stellen. Gegenstand der Prüfung ist letztlich die Bundestreue (vgl. z. B. Buch Hiob), unabhängig ob Gott versucht wird oder ein Glaubender. Wird Gott versucht, ist das auf Seiten des Menschen ein Zeichen für mangelnden Glauben und mangelndes Gottvertrauen. Dieses wird geprüft, wenn ein Mensch in Versuchung geführt wird, allerdings bleibt biblisch offen, wer letzten Endes in Versuchung führt: mal ist es Satan aus eigenem Antrieb, mal im Auftrag Gottes. Teufel: Das griechische Wort διαβολος bedeutet soviel wie: Teufel, Verleumder, wörtlich „der durcheinander bringt/wirft”. Dabei ist diabolos als 1 Siehe Kleines Stuttgarter Bibellexikon. KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 65 griechische Übersetzung des hebräischen satan zu verstehen. Zusammenfassend ist Satan im Biblischen Denken ein (gefallener) Engelfürst, der im Buch Hiob sogar zum Thronrat Gottes gehört, und den Glauben und die Treue des Menschen auf die Probe stellt – auch, indem er göttliche Inspiration vorgaukelt. Entrinnen kann man seiner List nur durch Umkehr, Buße und Gebet. Taube: Sie taucht hier als Bild für den Heiligen Geist auf. In Mt 10,16 ist sie Symbol für Arglosigkeit. Bei der Sintfluterzählung zeigt die Taube mit dem Ölzweig im Schnabel das Ende der Sintflut an. Heiliger Geist: Der Geist Gottes schwebt am 1. Schöpfungstag über dem Wasser (Gen 1,2) und ist sogar das gestaltende Prinzip der Schöpfung (Jdt 16,4, Weish 1,7). Lukas interpretiert daher die Taufe als eine Neuschöpfung. Der Geist wird auserwählten Menschen für die Zeit ihres Wirkens geschenkt (Königen, Propheten, Richtern) als Ausdruck dafür, dass Gott durch diese Menschen wirkt. Gerechtigkeit: Siehe das auf Seite 27 gesagte. Im Mk beginnt mit dem Wirken des Täufers auch das Wirken Jesu. Die Taufe in die Umkehr hinein wurde zum Eintrittszeichen in die Kirche. Damit wird ein zentrales Wesen der Jüngerschaft beschrieben: Umkehr zum Gesetz Gottes und das Streben, im Sinne Jesu nach diesem Gesetz zu leben, damit das Reich Gottes Wirklichkeit werden kann. Umkehr und Sündenbekenntnis sind Voraussetzung für den Neubeginn mit Gott. Die Predigt des Täufers spiegelt die Kritik seiner Bewegung und der Jesus-Jünger an Gruppen des zeitgenössischen Judentums. Wieder schimmert die Spannung zwischen Juden und Christen hindurch. Zugleich spiegelt sich die Auseinandersetzung mit der Johannes-Gefolgschaft, die nur die Taufe in die Umkehr hinein kannte, nicht aber ihre Vollendung in der Taufe mit dem Heiligen Geist, der dem Täufling von Gott geschenkt wird. In den Versuchungen tritt Jesus als Sohn Gottes in Erscheinung, zugleich wird deutlich, dass Versuchungen immer zu Leben des Getauften gehören. Versuchung, Sündenbekenntnis und Umkehr sind Grundelemente christlichen Lebens. Bestimmung des historischen Ortes KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG 66 Die Perikope ist also sowohl Erinnerung an den Anfang jesuanischen Wirkens als auch Zusammenfassung christlicher Verkündigung. Sie könnte daher ursprünglich Bestandteil christlicher Vorbereitung auf die Taufe gewesen sein als auch Teil der Verkündigung an Johannes-Jünger.