Kommentar zum Matthäus-Evangelium

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Kommentar zum Matthäus-Evangelium
Patrick Schnell
April 2011
1
Die Auslegung geschieht nach den Grundsätzen der historisch-kritischen Exegese. Andere Kommentare werden in der Regel nicht zu Rate gezogen, wie
der Literaturliste zu entnehmen ist, da die Auslegung vor allem meinem persönlichen Verständnis des Evangeliums dienen soll. Die einzelnen Schritte
der historisch-kritischen Exegese sind unter diesem Vorbehalt zu lesen. Diese
Schritte sind:
• Die Übersetzung aus dem griechischen Urtext. Sie ist eher eine Meditation des Evangeliums als eine streng wissenschaftliche Übertragung ins
Deutsche. Die Übersetzung ist alles andere als willkürlich. Sie wird, wo
nötig, während der Auslegung begründet und soll vor allem eine Hilfe
sein, die Aussagen der Heiligen Schrift tiefer zu erfassen. Die Überschriften und die Einteilung der Abschnitte sind vom Übersetzer. Es
gilt zu beachten: (..) enthält die Nummer des Verses, <..> enthält Einfügung des Übersetzers als Tribut an die deutsche Grammatik oder
zum besseren Verständnis des Textes und [..] enthält eine Passage des
griechischen Textes, die im Deutschen umständlich wirkt oder nicht der
Grammatik entspricht
• Die Textkritik versucht, mit Hilfe sprachwissenschaftlicher Ansätze die
ursprüngliche Fassung des Textes zu ermitteln. In diesem Zusammenhang stellt sie unterschiedliche Überlieferungen auf den Prüfstand
• Die Literarkritik untersucht den Text in seiner verschriftlichen Form auf
innere (Un-) Stimmigkeiten (Kohärenzkritik ) und auf Abgrenzungen /
Brüche zum Kontext (Kontextkritik )
• Die Überlieferungskritik versucht, ein vorschriftliches Stadium des Textes zu bestimmen
• Die Quellen- und Redaktionskritik versucht, verschiedene Phasen der
Verschriftlichung zu unterscheiden und zu klären
• Die Formkritik dient der Analyse von Stil und Struktur des Textes
2
• Die Gattungskritik versucht, den vorliegenden Text einer literarischen
Gattung zuzuordnen, den „Sitz im Leben“ zu ermitteln und die Intention des Textes zu bestimmen
• Die Traditionskritik versucht, inhaltl. Vorprägungen zu identifizieren
• Bei der Bestimmung des historischen Ortes versucht, den Text in eine
bestimmte historische Situation einzuordnen
• Klärung von Einzelaspekten wie Namen, Begriffe, Orte, Handlungen
• In der deutenden Zusammenfassung wird versucht, die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen. Dabei geht es darum, aufgrund des bisher
Erarbeiteten die vermutlich ursprüngliche Intention zu ermitteln, nicht
aber, eine Bedeutung in den Text hineinzulegen
• abschließend können die Verse einzeln ausgelegt werden
Der Verfasser des Evangliums ist nach alter Überlieferung der Apostel Matthäus, der in Palästina gewirkt und sein Werk zunächst in hebräischer oder
aramäischer Sprache geschrieben haben soll. Das legt die Vermutung nahe, er
habe es für Judenchristen geschrieben. Die heutige Forschung geht davon aus,
dass das Matthäus-Evangelium nach dem des Markus entstanden ist, doch
gibt es auch andere Theorien. Irenäus von Lyon überliefert eine Abfassung
um das Jahr 60 n.Chr1 .
1
Vgl. Henning, Kurt (Hg.), Jerusalemer Bibellexikon, Neuhausen-Stuttgart, 4. Aufl.
1998, p.572-573
Inhaltsverzeichnis
I
Mt 1,1-18: Der Schlüssel zum Evangelium
1 Mt 1,1-18: Der Stammbaum Jesu
1.1
II
Die historisch-kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mt 1,18-2,23: Der Beginn des Evangeliums
2 Mt 1,18-25: Die Umstände der Geburt Jesu
2.1
4
5
6
20
21
Die historisch-kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3 Mt 2,1-23: Reaktionen auf Jesus: Verehrung & Bekämpfung 33
3.1
III
Die historisch-kritische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Mt 3,1-4,11: Die Zeit der Vorbereitung
4 Mt 3,1-4,11: Umkehr und Versuchung
4.1
51
52
Die historisch-kritische Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3
Teil I
Mt 1,1-18: Der Schlüssel zum
Evangelium
4
Kapitel 1
Mt 1,1-18: Der Stammbaum Jesu
(1) Geschlechterbuch <des> Jesus Christus, <des> Sohnes Davids, <des> Der
Sohnes Abraams:
Text
(2) Abraam zeugte den Isaak, und Isaak zeugte den Jakob, und Jakob zeugte
den Judas und seine Brüder, (3) und Judas zeugte den Fares und den Zara aus
der Thamar, und Fares zeugte den Hesrom, und Hesrom zeugte den Aram,
(4) und Aram zeugte den Aminadab, und Aminadab zeugte den Naasson,
und Naasson zeugte den Salmon, (5) und Salmon zeugte den Boes aus der
Rachab, und Boes zeugte den Jobed aus der Ruth, und Jobed zeugte den
Jessai, (6) und Jessai zeugte den David - den König.
Und David zeugte den Solomon aus der <Frau> des Uria, (7) und Solomon
zeugte den Roboam, und Roboam zeugte den Abia, und Abia zeugte den
Asaf, (8) und Asaf zeugte den Josafat, und Josafat zeugte den Joram, und
Joram zeugte den Ozias, (9) und Ozias zeugte den Joatham, und Joatham
zeugte den Achaz, und Achaz zeugte den Hezekias, (10) und Hezekias zeugte
den Manasses, und Manasses zeugte den Amos, und Amos zeugte den Josias,
(11) und Josias zeugte den Jechonias und seine Brüder in der Babylonischen
Gefangenschaft.
(12) Und nach der Babylonischen Gefangenschaft: Jechonias zeugte den Salathiel, und Salathiel zeugte den Zorobabel, (13) und Zorobabel zeugte den
Abiud, und Abiud zeugte den Eliakim, und Eliakim zeugte den Azor, (14)
5
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
6
und Azor zeugte den Sadok, und Sadok zeugte den Achim, und Achim zeugte den Eliud, (15) und Eliud zeugte den Eleazar, und Eleazar zeugte den
Matthan, und Matthan zeugte den Jakob, (16) und Jakob zeugte den Josef,
den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde, den man „Christos <d.h.
Gesalbter>“ nennt.
(17) Alle nun: Die Geschlechter von Abraam bis David - vierzehn Geschlechter; die Geschlechter von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft - vierzehn Geschlechter; die Geschlechter von der Babylonischen Gefangenschaft
bis zum Gesalbten - vierzehn Geschlechter.
1.1
Die historisch-kritische Analyse
V.8
ergänzen einige Textzeugen nach 1 Chr 3,10ff: „..., und Joram Textkritik
zeugte Ochozias, und Ochozias zeugte den Joas, und Joas zeugte
den Amasias, und Amasias zeugte den Ozias“. Allem Anschein
nach soll so der Stammbaum an die atl. Überlieferung angeglichen
werden. Die ausdrückliche Struktur des mt. Stammbaumes (V.17)
und die geringe Überlieferung dieser Ergänzung sprechen für diese
kürzere und schwierigere Lesart.
V.16
sind folgende Lesarten überliefert:
1. „...Josef, mit dem die Jungfrau Mariam verlobt war, von der
Jesus geboren wurde...”
2. „...Josef, mit dem die Jungfrau Maria verlobt war, die Jesus
Christus gebar.”
3. „...Josef, mit dem Mariam verlobt war, von der geboren wurde der Christos, der Sohn GOTTes.”
4. „...Josef, und Josef zeugte den Jesus, den man Christos nennt.”
5. „...Josef, den Mann Marias, von der Jesus geboren wurde,
den man Christos nennt.”
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
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Für 5. als ursprünglicher Lesart sprechen die reiche Überlieferung
und das Fehlen der Jungfrauen-Lehre, die sich erst auf den ersten Ökumenischen Konzilien durchsetzte. Josef ist sogar Marias
Mann! Allerdings entspricht 4. dem Duktus des Stammbaumes.
Diese Lesart kann als Angleichung an den Stammbaum gewertet
werden. Der ausdrückliche Sohn-Gottes-Titel in 3. gehörte eher
in V.1 als Aussage über das Wesen Jesu, wie wir es etwa bei Mk
finden oder bei Lk. Der Sohn-Gottes-Titel scheint sekundär und
nicht ursprünglich zu sein. Die geringe Überlieferung unterstützt
diese Vermutung. Die Lesarten 1. und 2. sind aufgrund der geringen Überlieferung ebenfalls zu verwerfen.
• Im Original besteht dieser Abschnitt des ersten Evangeliums aus drei AuffälligSätzen, die ihn zugleich gliedern. Der mt Stammbaum Jesu unterschei- keiten
det sich von dem im Lukasevangelium. Er steht nicht im Zusammenhang mit der Taufe, ist also nicht von hier aus zu deuten. Der lk Stammbaum reicht daher auch bis Adam zurück (neue Schöpfung, Aufhebung
des Sündenfalls). Der mt. Stammbaum beginnt bei Abraham und steht
am Anfang des Evangeliums. Welche Aussage will der Evangelist treffen?
• Es werden insgesamt siebenmal (mit Maria achtmal) bestimmte Verwandte außerhalb der Linie genannt: die Stammväter, Tamar, Zara,
Rahab, Ruth, Urias Frau, die Brüder des Jechonias (und Maria). Weshalb?
• Auffällig ist zudem die Gliederung in 3*14 Generationen: 3 Generationen fallen mitten im 2. Zeitabschnitt weg. Die Zahlensymbolik 3*14 =
42 = 6 (4+2), die sich daraus ergibt, dass im hebräischen und griechischen Zahlen und Buchstaben zusammenhängen, ist möglicherweise ein
symbolischer Hinweis auf einen Namen oder Satz. Durch die Gliederung
des Stammbaumes wird zugleich die Geschichte in aufeinanderfolgende
Abschnitte eingeteilt.
• Welches Geschichts- und Gottesbild liegt dem zu Grunde?
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
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• Was bedeuten die Begriffe „Sohn Abrahams”, „Sohn Davids” und „Messias/Christos” in Bezug auf Jesus?
Die Abgrenzung des Textes ergibt sich aus seinem Aufbau: V.1 leitet den Text
ein und kann durch die Bezeichnung Geschlechterbuch nur auf die VV. 2-16
bezogen werden. V.17 fasst den Stammbaum unter anderen Gesichtspunkten
zusammen als V.1. V.18 wiederum leitet die Überlieferung zur Geburt Jesu
ein und muss daher als vom Stammbaum unterschieden betrachtet werden.
Der Stammbaum bildet den Beginn des Mt, wodurch er eine besondere Stellung erhält. V.1 nennt bereits eine Deutung Jesu, die grundlegend scheint für
das Verständnis des Evangeliums: Jesus ist Sohn Davids und Sohn Abrahams (das gilt auch, wenn wir die Formulierung „Sohn Abrahams“ auf David
beziehen, wie der Stammbaum zeigt).
Literarkritik
(Kontextkritik)
Der Stammbaum VV.2-17 ist im Ganzen monoton verfasst: „xx zeugte yy, (Kohärenzyy zeugte zz“ usf. Durchbrochen wird dieses Schema nur an wenigen Stellen, kritik)
7 (bzw. 8) an der Zahl, die zusätzlich entweder die Mütter oder Brüder des
Gezeugten benennen. Vom eigentlichen Stammbaum grenzen sich auch die
beiden Verse ab, die ihn einleitend (V.1) bzw. abschließend (V.18) deuten.
Durch diese rahmenden Verse wirkt der Text in sich geschlossen und zusammengehörig. V.17 lässt vermuten, dass die Struktur des Stammbaums und
die Anzahl der Generationen entweder vom Evangelisten oder einer möglichen Quelle beabsichtigt ist. Der Text weist sowohl historische Angelpunkte
auf (s. Struktur: Abraham, auf den der Bund zurückgeht, David, dem idealen König, das Fiasko der Babylonischen Gefangenschaft, die Vollendung in
Jesus Christus) als auch theologische (Abraham - David - Jesus), die sich
gegenseitig bedingen und keinesfalls ausschließen.
Ein vorschriftliches Stadium des Stammbaumes zu bestimmen, ist schwierig. ÜberlieferungsDer Ausgangspunkt, Jesus sei Nachkomme Abrahams und vor allem Da- kritik
vids, ist sicherlich vor-mt, allgemeines christliches Glaubensgut, denn nur
ein Nachkomme Davids kann nach jüdischer Überlieferung der Messias sein.
Paulus greift diese Thematik auf. Er überliefert uns auch den Glauben, dass
Abraham der vorbildlich Glaubende ist, was die christliche Tradition ebenfalls wie selbstverständlich auf Jesus überträgt. Ob es für den streng geglie-
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9
derten Stammbaum selbst eine vor-mt und gar mündliche Überlieferung gab,
muss vorerst unbeantwortet bleiben.
Hat dem Evangelisten eine Quelle vorgelegen in Form eines schriftlichen oder
mündlichen Stammbaums, so scheint zumindest die strenge Gliederung in
3x14 Generationen mt Ursprungs zu sein. Zumindest in der biblischen Tradition ist eine ähnliche Gliederung nicht zu finden wohl aber Stammbäume,
die z.T. von Mt aus der LXX1 übernommen werden:
Auch der lk Stammbaum kennt eine solche Komposition nicht. Lk nennt
zudem andere Namen und führt seinen Stammbaum in umgekehrter Richtung von Jesus aus zurück über Abraham hinaus bis Adam. Der lk Stammbaum steht nicht am Anfang des Evangeliums, sondern zwischen Taufe und
Versuchung. Bei Lk erhält der Stammbaum seine Bedeutung also anscheinend durch das Taufgeschehen (durch Christus wird der Getaufte ein neuer
Mensch, die ursprüngliche Würde des ersten Menschenpaares ist wieder hergestellt, die Folge des Sündenfalls behoben).
Bei Mt ist die Grundlage des Stammbaums offenbar eine andere. Die Namensunterschiede in beiden Stammbäumen können nicht befriedigend erklärt
werden. Wie es scheint, dienen sie nicht einem in unserem Sinn historischen
Zweck. Inwieweit sie auf entsprechenden Überlieferungen beruhen, muss offen
bleiben.
1
LXX ist in römischen Ziffern die Kurzform der sogenannten Septuaginta, der maßgeblichen Übertragung alttestamentlicher Schriften ins Griechische. Die frühe Kirche hat
diese Übersetzung übernommen.
Quellenund
Redaktionskritik
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
Nr
1
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35
36
37
38
39
40
41
42
Name
Abraham
Isaak
Jakob
Judas (+ Brüder) +Thamar
Fares (+ Zara)
Hesrom
Aram
Aminadab
Naasson
Salmon (+ Rahab)
Boes + Ruth
Jobed
Jessai
David (+ Frau des Uria)
Salomon
Rhoboam
Abia
Asaf
Josafat
Joram
Ozias
Joatham
Achaz
Hezekias
Manasses
Amos
Josias
Jechonias (+ Brüder)
Salathiel
Zorobabel
Abiud
Eliakim
Azor
Sadok
Achim
Eliud
Eleazar
Matthan
Jakob
Josef + Maria
Jesus
???
10
Stelle im AT
Gen 11,27-25,10
Gen 21-28
Gen 25, 27-31; 38,1-30
Ruth 4,18-22
1 Chr 2,51; Jos 2,1-8; 6,17-25
Buch Ruth
Ruth 4,22; 1 Chr 2,12-15
1
1
1
1
1
1
2
2
2
2
2
2
2
2
2
Sam 16 – 2 Sam 24 parr
Kön 1-11
Kön 12,1-19; 14,21-31 par
Kön 15,1-8
Kön 15,9-24 par
Kön 22,41-51 par
Kön 8,16-24 par
Kön 15,1-7 par
Kön 15, 32-38 par
Kön 16,1-20 par
Kön 18,1-20,21 par
Kön 21,1-18 par
Kön 21,19-26 par
Kön 22,1-23,30 par
Kön 24,8-17 par
Esra 2,2
Diese Ahnenfolge ist sonst in der Bibel nicht belegt
Tabelle 1.1: Der Stammbaum Jesu und das Alte Testament
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
11
Der Text lässt sich wie folgt gliedern. Die Gliederung ist grammatisch vorge- Formkritik
geben durch die drei Sätze, aus denen der Text besteht und inhaltlich durch
die Strukturierung in V.17:
1. Deutende Einleitung (V.1)
2. Stammbaum (V.2-16)
(a) Abraham bis David (V.2-6a)
(b) Salomon bis zur Babylonischen Gefangenschaft (V.6b-12)
(c) nach der Babylonischen Gefangenschaft bis zur Geburt Jesu (V.1316)
3. Abschließende zahlensymbolische Zusammenfassung (V.17)
Formal handelt es sich beim Stammbaum selbst um eine schlichte Aufzählung.
Die vorliegende Perikope gehört zur Gattung der Stammbäume. Die Stamm- Gattungskritik
bäume des Alten Testaments sind oft zugleich Chronologien, die größere
Zeiträume überbrücken sollen, oder dienen wie in den Königsbüchern der
zeitlichen Einordnung.
Im Neuen Testament begegnen uns zwei Stammbäume Jesu: der bei Matthäus
und der von Lukas. Im Mt beginnt das Evangelium mit dem Stammbaum. In
Lk folgt der Stammbaum auf die Taufe Jesu, verfolgt also ganz offensichtlich
einen anderen theologischen Zweck, wohl eine Aussage über das Taufgeschehen. Der Stammbaum des ersten Evangeliums scheint sich von den anderen
Stammbäumen der Heiligen Schrift in seiner Zielsetzung zu unterscheiden,
wie die Struktur und die rahmenden Verse und die Stellung im Evangelium
vermuten lassen.
Die sieben (bzw. acht) „Erweiterungen“ in der Aufzählung des Stammbaums
scheinen vor allem die entsprechenden wichtigen Ereignisse in der jüdischen
Geschichte in Erinnerung rufen zu wollen – die Ereignisse, auf die es ankommt, etwa die Untreue Davids, die die Geburt Salomos und die Weissagung
Natans zur Folge hat.
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
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Manche sagen, diese Erweiterungen zeigten, dass Gott auch durch Sünder
sein Heil wirken könne, dass er auch auf „krummen Zeilen gerade schriebe“,
und – im Zusammenhang mit der feministischen Theologie – dass er Frauen
in seinen Heilsplan einbinde. Dies alles sei der Vollständigkeit halber erwähnt,
scheint mir aber in den Text hinein interpretiert.
Insgesamt steht Jesus am Ende einer langen Geschichte, die zu ihm hin führt.
Jesus selbst ist Teil dieser Geschichte. In ihm erfüllen sich die Verheißungen
an Abraham und David (V.1), er ist der erwartete Messias. Durch ihn steht
auch die Geschichte der Kirche in Kontinuität und enger Verbindung mit der
Geschichte Gottes und seines Volkes.
Der Stammbaum setzt demnach voraus, dass der Leser oder Hörer mit der
jüdisch-biblischen Überlieferung und mit der Messias-Erwartung vertraut ist,
richtet sich also vermutlich an Christen oder Interessierte aus dem Dunstkreis
des Judentums, und damit auch an solche, die sich dem jüdischen Glauben
nahe fühlen und die Gebote befolgen, ohne selbst Juden zu sein.
Näher betrachtet werden müssen die drei Aussagen über Jesus in V.1. Er ist Traditionskritik
Christus = Messias: „Der Gesalbte“ ist der König (der das Volk als Guter
Hirt versorgt und leitet), der Hohepriester (der das Volk mit JHWH
versöhnt und entsündigt) und der Prophet (der das Wort Gottes als
Sprachrohr Gottes in seinem ursprünglichen Sinn in die jeweilige Zeit
hinein verkündet, ob gelegen oder ungelegen). Gerade dem König kommt
hierbei die Ehre zu, in diesem Sinne „Sohn Gottes“ zu sein, Hohepriester und Propheten sind wie auch der König „Knecht Gottes“. Die Salbung zeigt den Beistand Gottes, das Geschenk besonderer Begnadung
und Leitung durch den Höchsten, aber auch besondere Erwählung (z.B.
Saul, David oder die Propheten). Seit dem Exil wird ein Messias erwartet, der das Volk von Unterdrückung und Knechtschaft befreit und
das davidische Königtum sogar noch übertrifft. Dieser Messias stellt
(Bundes-) Gerechtigkeit und (Bundes- bzw. Glaubens-) Treue und sogar den umfassenden Frieden der Urzeit wieder her, er setzt die Herrschaft Gottes gegen alle Feinde durch.
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Sohn Davids: Diese Bezeichnung meint offensichtlich einerseits „Sohn“ im
Sinne von „Nachkomme“. Andererseits ist damit automatisch die Weissagung des Propheten Natan an David aufgegriffen, die an ihn ergeht,
als er JHWH einen Tempel bauen will, nachdem er das Volk geeint
hat: Sein Nachkomme werde ein Gotteshaus bauen (die Kirche?), die
Familie Davids aber auf ewig herrschen (2 Sam 7). David wird so zum
Urtyp des „Gesalbten Gottes“. Darum muss der Messias zwangsläufig
ein Nachfahre Davids sein. Nach christlicher Lesart sind diese Verheißungen in Jesus erfüllt, auch wenn vordergründig Salomo gemeint ist
(wie Jesus ein uneheliches Kind).
Sohn Abrahams: Auch diese Bezeichnung ist sowohl biologisch als auch
theologisch zu verstehen. Mit Abraham wurde der grundlegende Bund
der Beschneidung geschlossen, durch den sich Israel von den anderen
Völkern unterscheidet. So wird jeder, der diesem Bund beitritt, Abrahams Sohn. An Abraham erging die Verheißung, der Vater vieler Völker
zu sein, nach christlicher Lesart ist dies in der Kirche verwirklicht. Jeder
Glaubende ist „Sohn Abrahams“, folglich nach jüdischem Denken jeder
„Gerechte“, jeder der rechtschaffen, also gemäß der Tora, lebt. Glaube
und Gerechtigkeit sind in Jesus noch vorbildlicher erfüllt als in Abraham. Was nicht weniger wichtig ist: Der Gott, den Jesus verkündet, ist
der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Da im letzten Zeitabschnitt des Stammbaumes eine Generation fehlt, ist
fraglich, ob es dem Evangelisten wirklich auf die Zahl 42 (3x14) ankommt
oder es sich ähnlich wie bei der Zahl 72 bzw. 70 um einen Hinweis auf die Zahl
40 handelt (40 Tage Sintflut, 40 Jahre Wüstenwanderung, 40 Tage Fasten
Jesu (und auch des Mose), 40 Tage zwischen Ostern und Himmelfahrt). Die
Zeit von Abraham bis Jesus mit all ihren Wirrungen wäre dann verstanden
in Analogie zur Wüstenwanderung aus der Sklaverei in die Freiheit und das
verheißene Land, oder in Analogie zum Fasten Jesu als Zeit der Vorbereitung
auf Sein Kommen.
Die Vermutung, es handele sich um einen zahlensymbolischen Hinweis auf
David, dessen Buchstaben den Zahlenwert 14 ergeben, sei der Vollständigkeit
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
14
halber genannt. Der Stammbaum wäre dann ein verborgener Hinweis darauf,
dass Jesus ein dreifacher David sei.
Da die jüdische Überlieferung vorausgesetzt und zugleich die Einheit von
jüdischer und christlicher Geschichte betont wird, ist der Stammbaum in einer Zeit entstanden, in der Spannungen zwischen Christen und Juden groß
waren, aber die Spaltung anscheinend noch nicht völlig vollzogen war. Noch
ist die Kontinuität zur jüdischen Offenbarung so wichtig, dass sie direkt am
Anfang einer Schrift über Jesus steht. Es ist zu erwarten, dass im weiteren Evangelium immer wieder auf diese Kontinuität verwiesen werden wird.
Möglicherweise hatte der Stammbaum ursprünglich seinen Sitz in der Verkündigung an Juden und Gottesfürchtige, möglicherweise spiegelt sich darin
eine erste Apologie in Auseinandersetzung mit jüdischen Gegnern oder innerkirchlichen Strömungen, die die jüdischen Wurzeln leugnen wollten.
Bestimmung
des
historischen
Ortes
Sehen wir uns für ein besseres Verständnis die Personen des Stammbaumes Klärung
v.
genauer an, soweit die auf der Grundlage der Heiligen Schrift möglich ist:
EinzelAbraham: (ca 14. Jht v.d.Z.) Erzvater, der als erster das später verheißene
aspekLand bereist. An ihn ergehen grundlegende Verheißungen, mit
ten
ihm wird der Bund der Beschneidung geschlossen (Gen 17,9ff).
Abraham gilt der frühe Kirche als „Vater Israels (Jes 51,2; vgl.
Mt 3,9; Joh 8,39), Empfänger göttl. Zusagen (Lk 1,55.73), Vorbild
des Glaubens (Röm 4; vgl. Gal 3,9), "Freund Gottes" (Jes 41,8;
Jak 2,23).
Isaak:
("lächeln möge die Gottheit"), Sohn Abrahams. Isaak gilt der
frühen Kirche aufgrund der Verheißung seiner Geburt bei Mamre
als Kind der Verheißung und damit als Stammvater der "Kinder
der Verheißung" (Röm 9,7-10).
Jakob/Israel: („Betrüger/ Gott schützt / Gottesstreiter“). Stammvater der
12 Stämme. Nach seinem nächtlichen Kampf mit einem Wesen
ist das Gottesvolk benannt.
Juda(s):
(„Dank“?), einer der 12 Söhne Jakobs. Nach ihm benennt sich bis
heute ebenfalls das Volk mitsamt seinem Gottesglauben, nach
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15
ihm wird später das „Südreich“ benannt, nach seinem Vater das
„Nordreich“. Er bewahrt Josef vor dem Tod (Gen 37,26). Seine kinderlose und zweimal verwitwete Schwiegertochter Tamar,
eine heidnische Kanaaniterin, überlistet ihn und wird von ihm
schwanger und bringt Zwillinge zur Welt [Fares & Zara: (Perez
„Durchbruch“ & Serach „Rotglanz“)]
Salmon & Rahab: Salmon gilt als der „Vater Betlehems“(1 Chr 2,51). Die
Dirne Rahab hilft Josua bei der Eroberung Jerichos. Nach Jos
6,17-25 wird sie deswegen nach der Einnahme der Stadt verschont, nach Hebr 11,31 wegen ihres vorbildlichen Glaubens, nach
Jak 2,25 wegen ihrer Werke. Ihre Beziehung zu Salmon ist nicht
näher überliefert. Im AT ist der Name Rahab sonst Synonym für
das Urchaos (Iob 9,13; 26,12) und gottfeindliche Mächte (vgl. Ps
89,11; Jes 30,7).
Boes & Ruth: Ruth ist eine Moabiterin, deren jüdische Männer sterben. Erst
als sie in Treue zu Gott und ihrer Schwiegermutter mit dieser nach
Israel zieht, ist ihre Leviratsehe mit Boes von Dauer. Ruth ist der
Überlieferung nach die Urgroßmutter Davids.
David:
(um 1000 v.d.Z König): David gilt zusammen mit Salomo als Urbild des Königs. Er schafft erst den Staat Israel, der nach Salomo
zerbricht. Salomo ist sein Sohn mit Batseba, der Frau seines Feldherrn Urija, der sterben muss, als David Batseba schwängert. David und Batseba begehen Ehebruch. David soll die Psalmen und
Klagelieder gedichtet haben. Mit ihm verbindet sich die Erwartung des Messias.
Salomo:
(um 972-932 v.d.Z. König), Davids Sohn aus einem Ehebruch.
Seine Herrschaft ist eine Zeit des Wohlstands und des Friedens.
Gerühmt wird seine große Weisheit. Er erbaut JHWH den ersten
Tempel.
Rehabeam: (um 932-917 v.d.Z. König des Südreiches Juda): Unter ihm spal-
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16
tet sich das Reich, es entsteht gegen den Willen Gottes ein Bruderkrieg mit dem Nordreich Israel.
Abia:
(um 916-914 v.d.Z. König von Juda): Ihm gelingt ein Sieg über
Israel, aber er ist wie sein Vater ein Sünder, besonders weil er
fremde Kulte zulässt.
Asa(f):
(um 914-874 v.d.Z. König von Juda): Geht gegen den Götzendienst vor und erneuert den Bund mit Gott. Auch er führt einen
Dauerkrieg gegen Israel und verbündet sich zu diesem Zweck mit
Damaskus.
Josafat:
(um 874-849 v.d.Z. König von Juda): schließt Frieden mit Israel
und geht weiter gegen den Götzendienst vor.
Joram:
(um 849-842 v.d.Z. König in Juda): Fördert den Götzendienst in
Juda.
Fehlende K.: Ahasja (842), Atalja (Königin 841-836), Joas (836-797), Amasias (797-779)
Ozias:
(779-738 v.d.Z. König von Juda): wirtschaftliche Blüte unter seiner Herrschaft, wie sein Vater Amasias fördert er die jüdische
Religion.
Joatam:
(738-736 v.d.Z. König von Juda): weigert sich, einem Bündnis
gegen Assur beizutreten. Auch er fördert den Bund mit Gott.
Achaz:
(736-721 v.d.Z. König von Juda): weil er bei der Weigerung seines
Vaters bleibt, muß er sich schließlich gegen den Rat Jesajas mit
Assur verbünden und opfert sogar seinen Sohn einem assyrischen
Gott.
Hezekias: (721-693 v.d.Z. König von Juda): Nach der Eroberung Israels
führt er eine Kultreform durch und entfernt alle Götzenbilder,
auch die Eherne Schlange. Alle Kultstätten außerhalb Jerusalems
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
17
werden beseitigt. Die Eroberungen Assurs machen ihn fast zu
einem Stadtkönig.
Manasses: (693-639 v.d.Z König von Juda): Wird ein Vasall Assurs und
macht die Reformen seines Vaters rückgängig. Gesetzestreue Juden sterben als Märtyrer.
Amos:
(639-638 v.d.Z. König von Juda)
Josias:
(638-608 v.d.Z. König von Juda): Stellt den Jahwe-Kult unumschränkt wieder her. Zu seiner Zeit wird im Tempel ein Gesetzestext gefunden. Der Kult wird zum Tempel hin zentriert, alle
anderen Kulte und Kultstätten ausgerottet. Er verschafft seinem
Reich neue Gebiete und nützt den Zerfall Assurs geschickt aus.
Fehlende K.: Joahas (608), sein Bruder Jojakim (608-597)
Jechonias: Sohn Jojakims, wird 597 in die Gefangenschaft verschleppt.
Zorobabel: Führer einer Gruppe von Heimkehrern aus dem Exil, einer der
Männer, die den zerstörten Tempel von Jerusalem wieder aufbauten
Welches Geschichts- und Gottesbild liegt dem Stammbaum zugrunde? Bereits
der erste Vers offenbart den Gott der Juden und Christen als den Herrn der
Geschichte. Er erfüllt seine Versprechen an Abraham und David auf eine
unvorhersehbare Weise. Jesus, der Christus, sammelt ein Bundesvolk aus
allen Völkern weit über das ursprüngliche Gottesvolk hinaus. Nun kann jeder,
unabhängig von seiner Herkunft, Glied des Bundesvolkes werden, das gerade
durch Taufe und Salbung zu einem Volk aus Priestern und Propheten wird,
wie die biblische Definition des Gottesvolkes lautet. Der Petrusbrief wird von
einem Haus (Tempel) aus lebendigen Steinen sprechen - eine Anspielung an
die Verheißung an David. Zugleich rechnet dieser Gott offenbar in anderen
Zeiträumen als wir Menschen.
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
18
Da Gott der Herr der Geschichte ist, hat sie offenbar ein Ziel: Das Reich
Gottes - die Vollendung von Mensch und Schöpfung, die innige Lebensgemeinschaft mit eben diesem Gott. Eine Schritt in diese Richtung ist die Ausbreitung und Erneuerung des Gottesvolkes. Von dem Beginn dieses Schrittes
erzählt das Evangelium.
Der Stammbaum bildet den Beginn des Mt, wodurch er eine besondere Stellung erhält. V.1 nennt bereits eine Deutung Jesu, die grundlegend scheint für
das Verständnis des Evangeliums: Jesus ist „Sohn Davids“ und „Sohn Abrahams“: Nur ein Nachkomme Davids kann der Messias sein, zugleich wird in
der Jüngerschaft Jesu die Verheißung erfüllt, dass Abraham der Vater vieler
Völker würde. Der Bund der Beschneidung erhält in prophetischer Tradition in der Kirche eine neue (geistige) Bedeutung. Warum der Evangelist auf
42 Generationen besteht und warum er achtmal von der strengen Form seinest Stammbaums abweicht, bleibt Spekulation. Es wurden dazu folgende
Überlegungen angestellt:
• Die Zahl 14 (3x14=42) verweist zahlensymbolisch auf David.
• Die Zahl 42 steht für die Zahl 40 als Zeit der Vorbereitung auf das
Kommen des Herrn bzw. auf den Einzug in das Verheißene Land.
• Die acht Erweiterungen des Stammbaums rufen wichtige Ereignisse der
Heilsgeschichte in Erinnerung.
• Frauen spielten im Heilsplan Gottes schon immer eine wichtige Rolle.
Das wird auch später im Evangelium deutlich.
Insgesamt steht Jesus am Ende einer langen Geschichte, die zu ihm hin führt.
Jesus selbst ist Teil dieser Geschichte. In ihm erfüllen sich die Verheißungen
an Abraham und David (V.1), er ist der erwartete Messias. Durch ihn steht
auch die Geschichte der Kirche in Kontinuität und enger Verbindung mit der
Geschichte Gottes und seines Volkes. Der Stammbaum setzt also voraus, dass
der Leser oder Hörer mit der jüdisch-biblischen Überlieferung und mit der
Messias-Erwartung vertraut ist.
Deutende
Zusammenfassung
(Zsfssg
d.
Ergebnisse)
KAPITEL 1. MT 1,1-18: DER STAMMBAUM JESU
19
Der Stammbaum steht am Anfang des Evangeliums und soll dem Leser an (Intention
dieser Stelle eine grundlegenden Hilfe zum Verständnis Jesu und seiner Bot- des
schaft sein:
Textes)
1. Jesus ist der Messias, der erwartet wird. Gleichsam als Legitimation
zeigt der Stammbaum, dass er ein Nachkomme Davids ist.
2. Jesus steht im Bund der Beschneidung und Erwählung („Sohn Abrahams“). Jesus steht damit in der jüdischen Tradition und Überlieferung
und ist Teil davon. Innerhalb dieses Horizontes ist alles, was nun folgt,
zu verstehen. Wer diesen Zusammenhang ausblendet, geht in die Irre. Die Vermutung liegt nahe, dass schon für den Evangelisten diese
Tradition in Jesus ihre Vollendung und ihr Ziel hat.
3. Der Gott, von dem Jesus kündet, ist der Gott Abrahams, Isaaks und
Jakobs. Damit ist erwiesen, dass auch die Christen an diesen Gott glauben.
Teil II
Mt 1,18-2,23: Der Beginn des
Evangeliums
20
Kapitel 2
Mt 1,18-25: Die Umstände der
Geburt Jesu
(18) Mit der Geburt Jesu Christi verhielt es sich aber so: Seine Mutter Maria Der
war die Braut Josefs. <Noch> bevor sie zusammengekommen waren zeigte Text
sich, dass sie schwanger war - von heiligem Geist. (19) Ihr Mann Josef überlegte, sie heimlich <aus der Verbindung> zu entlassen; denn er war gerecht
und wollte sie nicht <öffentlich> bloßstellen.
(20) Siehe, während er dies erwog, erschien ihm im Traum <der> Engel
des HERRn und sprach: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, deine Frau
Mariam zu dir zu nehmen! Denn das <Kind> in ihr ist gezeugt vom Heiligen
Geist. (21) Sie wird einen Sohn gebären, und sein Name soll ’Jesus’ sein, denn
er wird sein Volk von ihren Sünden erretten.” (22) Dies alles ist geschehen,
damit die Rede des HERRn durch den Propheten erfüllt sei, die besagt: (23)
Siehe, die Jungfrau wird schwanger und einen Sohn gebären. Sie werden in
EMMANU-EL nennen, das heißt übersetzt: Mit uns [der] GOTT!
(24) Aus dem Schlaf erwacht, tat Josef, wie ihm der Engel des HERRn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. (25) Aber er erkannte sie nicht,
bis sie <einen> Sohn geboren hatte. Ihn nannte er ’Jesus’.
21
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
2.1
V.18
22
Die historisch-kritische Analyse
Für diesen Vers gibt es folgende Lesarten:
1. „Mit der Geburt Jesu Christi aber...”
2. „Mit der Geburt Christi Jesu aber...”
3. „Mit der Geburt Jesu aber...”
4. „Mit der Geburt Christi aber...”
Die Lesarten 2 und 3 sind jeweils nur einmal überliefert, 2 aus
dem 4. Jh, 3 aus dem 5. Jh. Die geringe und späte Überlieferung
spricht also jeweils dagegen, dass es sich um den ursprünglichen
Wortlaut handele. Allerdings erinnern beide Lesarten daran, das
„Christus” kein Eigenname, sondern ein Titel ist. Lesart 4 ist bei
Irenäus (seit 178 n.Chr. Bischof von Lyon) und einigen wenigen lateinischen und syrischen Zeugen belegt. Am besten belegt
ist Lesart 1, allerdings erst seit dem 3. Jh. Die gute Bezeugung
spricht für diese Lesart als der ursprünglicheren – gegen die ältere
aus 4, gegen die die geringe Zeugenzahl spricht.
V.20
Hier lesen Textzeugen „Mariam” und andere Textzeugen „Maria”.
„Mariam” ist die besser bezeugte Lesart und wird aus diesem
Grund bevorzugt.
V.21
Hier lesen einige wenige syrische Zeugen: „Sie wird dir einen Sohn
gebären...”. Die geringe Bezeugung spricht gegen diese Lesart.
Ein syrischer Zeuge liest: „...denn er wird den Kosmos von ihren
Sünden erretten”. Auch hier spricht die geringe Bezeugung gegen
diese Lesart. Inhaltlich wäre hier auch die Ausweitung auf die
ganze Welt zu hinterfragen.
V.22
lesen eine Reihe Zeugen: „...durch den Propheten Jesaja”. Die
Mehrheit der Zeugen lässt den Namen weg, was somit die wahrscheinlichere Fassung ist. Der Name Jesaja wurde anscheinend
Textkritik
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
23
später hinzugefügt, damit der Prophet deutlich gekennzeichnet
ist.
V.25
Für diesen Vers sind wieder mehrere Lesarten überliefert:
1. „... bis sie <einen> Sohn geboren hatte...”
2. „... bis sie ihm <einen> Sohn geboren hatte...”
3. „...bis sie ihren Sohn, den Erstgeborenen, geboren hatte...”
Lesart 2 ist nur einmal bei einem syrischen Zeugen belegt und
damit vermutlich ein Schreib- oder Diktatfehler. Lesart 3 scheint
eine Angleichung an die Überlieferung bei Lk 2,7 zu sein und ist
trotz seiner guten Bezeugung wohl in diesem Sinn zu bewerten.
Bleibt die ebenfalls gut bezeugte Lesart 1, die in ihrer Wortwahl
an V.21 anschließt und somit wahrscheinlich die ursprüngliche
Lesart wiedergibt.
• Die Gerechtigkeit Josefs scheint aus heutiger Sicht schwierig zu verste- Auffällighen (sie zeigt sich am Ende der Perikope als Gehorsam - am Anfang keiten
auch?)
• Was ist unter Engel zu verstehen und wie verhält es sich mit Träumen?
• Muss übersetzt werden „ein Engel” oder „der Engel”?
• Der Schriftbeweis fällt ins Auge (s. Das zum Stammbaum Gesagte)
• Was hat es mit den Namen auf sich? Treffen sie eine Aussage über
Jesus? Warum ist es nicht der gleiche Name?
Der einleitende Satz V.18 wirkt wie der Beginn einer eigenständigen Erzählung. Ob zuvor etwas anderes berichtet wurde (wie in Mt der Stammbaum)
ist daraus nicht zu schließen, der Bezug zum Stammbaum ist sehr locker.
Von daher ist es berechtigt, die Darstellung der Geburt Jesu hier beginnen
zu lassen.
Literarkritik
(Kontextkritik)
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
24
Der Text wirkt in sich geschlossen. V.2,1 setzt neu ein und schließt sich nicht
nahtlos an diese Perikope an. Daher ist es sinnvoll, zwischen V.25 und V.2,1
eine Zäsur zu machen.
V.18 wirkt wie eine Überschrift, allerdings wird im Folgenden erzählt, was (Kohärenzvor der Geburt Jesu geschah, die Geburt selbst wird nur lapidar in V.25 kritik)
festgestellt. In sich wirkt der Text geschlossen und kann als Einheit betrachtet
werden.
Der Text wirkt wie eine Einheit, die mündlich fast so erzählt worden sein Überkönnte. Das Zitat aus der Heiligen Schrift ist ein Hinweis auf theologische lieferungsReflektion sowohl mit Blick auf den Namen Jesu als auch mit Blick auf seine kritik
Sendung und seine Herkunft. Kein anderer Evangelist überliefert die Ereignisse in dieser Weise aus der Perspektive Josefs, bei Lk steht Maria im Brennpunkt der Erzählung. Vermutlich greift der Evangelist eine ihm bekannte, in
einem begrenzten Gebiet überlieferte, zunächst mündliche Tradition auf.
Der Text ist eine Erzählung, zu der wundersame Elemente (Traum und Engel- Formkritik
Erscheinung) aus der atl. Tradition und ein Zitat aus dem Alten Testament
hinzukommen. Gliedern lässt sich der Text wie folgt:
1. Überschrift (V.18a)
2. Schwangerschaft Mariens (V.18b)
3. Reaktion Josefs (V.19)
4. Eingreifen übermenschlicher Mächte in einem Traum (V.20-21)
5. Deutung mit Hilfe der Hl. Schrift (V.22-23)
6. „Happy End”: Frommer Gehorsam Josefs (V.24-25)
Aus dem Text ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob das Schriftzitat als Teil
der Worte des Engels zum Traum gehört, oder ein deutender Einschub des
Erzählers ist.
Bei der Perikope handelt es sich um eine Erzählung, in der mythische Ele- Gattungskritik
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
25
mente vorkommen. Die Aussage des Engels gibt zugleich einen Hinweis auf
die Intention dieser Erzählung: Es geht um die Frage, wer Jesus ist (buchstäblich Gottes Sohn, durch Adoption in die Familie Davids aufgenommen1 )
und wozu er gekommen ist (Heil bringen durch die Erlösung v.d. Sünden).
Der Name Immanuel schlägt innerhalb des Evangeliums möglicherweise den
Bogen zum Aussendungsbefehl des Auferstandenen, mit dem das Evangelium endet („Ich bin bei euch....“), oder zur Gottesoffenbarung im Brennenden
Dornbusch („Ich bin JHVH, der Ich-bin-da“), die sich nun in anderer Form
wiederholt. Der Schriftbeweis schlägt insgesamt einen Bogen zur atl. Heilsprophetie, die dem Evangelium vorausgeht.
So könnte der Text ursprünglich im Zusammenhang mit der Mission entstanden sein, entweder als Zusage an die Missionare und die (bedrängten)
Gläubigen oder in der Auseinandersetzung mit Gegnern als deutliche Aussage über die göttliche Herkunft Jesu und damit über den göttlichen Auftrag
der Verkündiger.
Die Erzählung von der Verkündigung und Geburt Jesu greift verschiedene TraditionsElemente aus der biblischen Tradition auf:
kritik
Traum / Traumdeutung: Besonders in der Jakobs- und Josefstradition
sind Träume und ihre Aussagen von Bedeutung. So träumt beispielsweise Jakob-Israel von der berühmten Himmelsleiter, sein Sohn Josef
träumt von der Unterwerfung seiner Brüder und deutet mit Hilfe göttlichen Geistes Pharaos Traum zum Wohle Ägyptens und seiner Nachbarn. Durch Träume spricht in atl. Sicht der Schöpfer und Behüter zu
den Menschen, wenn es Ihm beliebt. Doch nicht jeder Traum ist eine
Botschaft Gottes. Mt greift das Motiv mehrmals auf (z.B. Warnung der
drei Weisen und Traum der Frau des Pilatus).
Verkündigung: Im Lukasevangelium verkündet der Engel Gabriel Maria
die Geburt Jesu. Der gleiche Engel verkündet Zacharias die Geburt des
Täufers, in beiden Fällen jedoch nicht als Traum! Jesaja kündet auf Geheiß Gottes die Geburt des Königssohnes an (s.u.). Drei Gottesmänner
1
Vgl. Seite 12 (Stichwort „Christus”)
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
26
künden Abraham und Sarah ein Kind an. Das Motiv der Verkündigung ist also ein altes Motiv: Gott sagt an, was als nächstes geschehen
wird. Allerdings fehlt in der Abrahamstradition der Hinweis, wie das
Kind heißen soll. Bei Jesus und Isaak wird ein Versprechen eingelöst,
bei Johannes und „Immanuel“ auf eine Not reagiert. Immer ist an das
verheißene Kind eine Zusage Gottes geknüpft.
Engel (des Herrn): Engel (angelos = Bote) sind eine Art Hofstaat Gottes,
in Entsprechung zum Hofstaat des Königs. Sie sind Herolde und Diener
des Höchsten und wachen als Schutzengel über jeden Menschen und jedes Volk. Sie sind aber auch Stellvertreter des Höchsten und treten oft
in Seinem Namen auf. In Entsprechung zur antiken und mittelalterlichen Herrscherideologie stehen sie damit für den Herrn der Heerscharen
selbst. Darum kann der Engel des Herrn auch eine Umschreibung für
Gott selbst sein, der im Traum oder in sichtbarer Gestalt erscheint. Da
Engelerscheinungen deshalb auch immer Gotteserscheinungen sind, ist
die Frage in solchen Zusammenhängen nebensächlich, ob bei fehlendem
Artikel mit „der Engel” oder „ein Engel” übersetzt werden müsse. Engel
müssen keine übernatürlichen Wesen sein: Die drei Männer, die Abraham die Geburt seines Sohnes ankündigen, sind aus Fleisch und Blut,
das Wesen, mit dem Israel kämpft, anscheinend auch, und ausdrücklich
wird Johannes der Täufer mit dem Engel identifiziert, der dem Herrn
den Weg bereiten soll.
Namen und ihre (Be-) Deutung: In der Antike sagte ein Name etwas
über die betreffende Person oder Gottheit aus. Bei Naturvölkern hat
sich das bis heute erhalten. In der Magie bedeutet das Wissen um den
Namen zugleich Macht über das entsprechende Wesen. In der heiligen Schrift ist zumeist Gottes Wirken damit verbunden: Gott selbst
nennt sich JHWH („Ich bin da” oder „Ich bin, der ich bin”). Aus Abram
(„Der Vater ist erhaben”) wird Abraham („der Vater vieler Völker”),
aus Sarai („Fürstin”) Sarah („Herrin”), der Name Adam („Erdling”) hat
seine spezifische Bedeutung, aus Jakob („Ferse” bzw. „Betrüger”) wird
Israel („Gottesstreiter”, wörtl.: „Du hast mit Gott gekämpft”), Perez
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
27
(„Riss”) heißt aus gutem Grund so, die Namen der Engel Gabriel („Gott
ist stark”) und Michael („Wer ist wie Gott”) drücken Eigenschaften
oder Wirkungsweisen Gottes aus, mit der Ankündigung des Immanuel
(„Gott mit uns”) wird dem König ein idealer Herrscher als Nachfolger
und Gegenbild vorausgesagt. Die Namen Johannes (der Täufer: „Gott
ist gnädig”) und Jesus („Gott rettet / erlöst”) sind den Evangelisten
zufolge ebenfalls kein Zufall, sondern drücken auf Befehl Gottes die besondere Sendung der beiden aus. Demzufolge sagen die Namen etwas
über Jesus aus: In ihm und damit durch ihn ist Gott mit uns. In ihm
und durch ihn zeigt sich Gott als unser Erlöser und Retter (aus und
vor der Verstrickung in die Sünde).
Das Jesaja-Zitat (Jes 7,14): Der Immanuel, der als Nachfolger und Gegenentwurf zum herrschenden König Ahas angekündigt wird, zeichnet
sich durch drei Dinge aus: Seine Mutter ist eine Jungfrau (oder junge
Frau), er wird Gutes von Bösem unterscheiden können (vgl. „Sündenfall”) und er kommt, wenn das Gericht über das Gottesvolk bereits
hereingebrochen ist - als Strafgericht und als Erfüllung der Sehnsüchte
nach einer heilen Welt (vgl. Jes 7,14-25). Wenn Jesus im Verständnis der frühen Christen dieser Immannuel ist, dann ist das Endgericht
schon hereingebrochen, und Gott zeigt sich als der Herr und Beschützer
seines Volkes, das nach Wohlstand, Frieden und Gerechtigkeit hungert.
Gerechtigkeit: Darunter versteht der atl. Mensch - folglich auch Josef und
seine Zeitgenossen - die Erfüllung der Vorschriften der Tora, die den
Menschen von Gott gegeben wurde. Wer sich an das gottgegebene Recht
hält, ist gerecht (Ex 19,5-6). In diesem Sinne ist auch die Gerechtigkeit
Josefs zu Beginn dieses Abschnitts zu verstehen. Durch das Eingreifen
Gottes verändert sie sich leicht. Gerechtigkeit bleibt Gehorsam gegenüber den Weisungen Gottes, aber die einzelne Vorschrift der Tora wird
nun im Sinne der Gottes- und Nächstenliebe mit Inhalt gefüllt und nicht
einfach sklavisch oder ängstlich befolgt. Der Unterschied ist ein qualitativer: Weil Josef Maria trotz der Schwangerschaft zur Frau nimmt,
schützt er sie mehr als durch die heimliche Scheidung. Die Kritik an
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
28
einer zu engen, menschenverachtenden Auslegung der Tora deutet sich
bereits hier an und begegnet im Evangelium noch häufiger.
Es scheint (wie schon im vorhergehenden Abschnitt) darum zu gehen, wer
Jesus denn eigentlich ist. Unter dieser Voraussetzung ist die Perikope im
Zusammenhang mit der Missionierung innerhalb des Judentums zu lesen.
Möglicherweise ist sie auch unter dem Eindruck der Auseinandersetzung mit
den jüdischen Glaubensbrüdern zur Zeit der endgültigen Trennung entstanden. Das Motiv der göttlichen Zeugung kann - so verhalten es formuliert ist bereits ein Hinweis auf Heidenmission sein. Der Schrifterweis lässt aber auch
hier auf eine Nähe zum Judentum schließen.
Bestimmung
des
historischen
Ortes
Wer ist Jesus? Diese Frage wurde bereits im Stammbaum beantwortet. Die
Erzählung von der Geburt Jesu geht darüber hinaus: Jesus ist nicht nur „Sohn
Davids” und „Sohn Abrahams” und damit allgemein Messias. Er ist gewissermaßen die Verkörperung Gottes, weil gezeugt vom Geist des Höchsten. Er
ist die Erfüllung der Heilszusage des Herrn, wie die ausdrückliche Namensgebung deutlich macht. Die Jungfrauengeburt ist anscheinend von der Zusage
durch den Propheten Jesaja her zu verstehen als Erfüllung der Verheißung
des Immanuel. Jesus ist eher ein prophetischer als ein politischer Messias:
Seine Sendung besteht in der Erfahrung, dass Gott immer bei uns ist und
uns das Heil durch die Vergebung der Sünden schenkt. Die Freiheit, in die er
führt, ist zunächst keine rein politische!
Deutende
Zusammenfassung
(Zsffsg
d.
Ergebnisse)
In der Auslegung des mosaischen Gesetzes (hier in Bezug auf den aus gutem Grund vermuteten Ehebruch Mariens) deutet sich diese prophetische
Sendung an: Im Traum muss Josef lernen, dass Gottes- und Nächstenliebe
die Grundlage der Bestimmungen ist und die Gebote von dieser Wurzel her
umzusetzen sind. Die Kritik an einer anderen Praxis ist nicht zu übersehen,
zugleich ist ein Hinweis gegeben, wie sich die Freiheit äußern kann, in die
Jesus führt.
Der Text bestimmt näher, wer Jesus ist: Sohn Gottes, von Ihm selbst auf (Intention
wundersame Weise gezeugt. Möglicherweise sollen die Namen, die ihm hier des
gegeben werden, auf der einen Seite die Missionare und Gläubigen stärken Textes)
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
29
und auf der anderen Seite deutlich machen, dass Gott seine Verheißungen
erfüllt. Der Schrifterweis bestätigt die Aussage des Stammbaumes: All das,
was über Jesus berichtet wird, ist im Gesamtzusammenhang der biblischen
Überlieferung zu lesen oder zu hören. Da Jesaja von einer Jungfrau spricht,
die den gebären soll, in dem Gott mit uns ist, muss sie bei Empfängnis und
Geburt Jesu eine Jungfrau gewesen sein.
Vers 18
In wenigen Worten wird die anstößige Situation dargestellt: Maria Versweise
ist mit Josef verlobt und schon vor der eigentlichen Eheschließung Deuschwanger, aber nicht von Josef! Nach Dtn 22,23-27 würde das tung
ihre Steinigung bedeuten, da sie ihren Verlobten betrogen hat.
Jesus ist also ein uneheliches Kind Mariens. Der Zusatz, sie sei
„von heiligem Geist” geschwängert, ist eine Glaubensaussage, die
damals wie heute vor keiner Behörde und keinem gehörnten Verlobten bestehen könnte. Zugleich deutet sie, was an diesem Jesus
so außergewöhnlich ist. Zum Zeitpunkt des Verlöbnisses und folglich auch der hier geschilderten Ereignisse war Maria eine junge
Frau - den damaligen Gepflogenheiten ihrer Kultur entsprechend.
Da Josef als gesetzestreu geschildert wird, ist anzunehmen, dass
sie auch noch Jungfrau war, wie damals allgemein üblich. Verhielt es sich mit der Empfängnis so, wie hier und entsprechend
bei Lk geschildert, dann war sie es wenigstens bis zum Zeitpunkt
der Geburt. Ohne der späteren theologischen Deutung der Heilsereignisse vorzugreifen, deutet die Empfängnis durch den Geist
Gottes an, wie nahe dieser Jesus dem himmlischen Vater ist und
welches Gewicht seine Worte und Taten dadurch bekommen.
Vers 19
Josef ist hier als gerechter, d.h. gesetzestreuer, und gottesfürchtiger Mann geschildert. Die Gebote lassen ihm keine Wahl: Er
muss Maria aus der Verbindung entlassen, da sie unübersehbar
den Bund mit Gott gebrochen hat. Anscheinend will er sie aber
zumindest vor der Steinigung bewahren. Zwei Übersetzungen sind
hier möglich: Entweder überlegte er heimlich, sich von ihr zu trennen, oder er überlegte, sich heimlich von ihr zu trennen. Da er sie
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
30
nicht öffentlich bloßstellen will, um so ihr Leben zu retten, kann
nur letzteres gemeint sein.
Vers 20
Die Verse 18 und 19 geben die Ausgangssituation für die Erscheinung des Engels vor. Das Problem ist beschrieben. JHVH selbst
greift ein, um das Kind zu schützen, das durch sein Eingreifen entstanden ist. Die Frage, ob „der Engel des Herrn” oder „ein Engel
des Herrn” zu lesen ist, ist vordergründig. Engel sind als Gesandte Gottes nach altorientalischer Anschauung seine Vertreter und
so zu behandeln, als stünde er selbst vor einem. Das gilt für die
Boten des jeweiligen politischen Herrschers, also nicht weniger für
den Herrn aller Herren. Wenn der Engel spricht, spricht also Gott
selbst, wenn ein Engel erscheint, erscheint Gott selbst. Der Engel
erscheint im Traum. Ist Josef über seinen Überlegungen eingeschlafen? Oder hat er einen Tagtraum? Anscheinend hat er sich
mit der Entscheidung schwer getan, sie hat sich über einen längeren Zeitraum hingezogen. Die Anrede des Engels weist Josef als
Nachkommen Davids aus. Wenn er das ungeborene Kind als sein
eigenes aufnimmt, gehört es ebenfalls zur Davidischen Familie.
Besonders für Leser mit jüdisch-biblischem Hintergrund wichtig,
wenn sie Jesus als Messias akzeptieren sollen. Dieses Kind ist anders als alle anderen Menschen: Es ist gezeugt vom Geist, gemeint
ist der Heilige Geist oder der Geist Gottes. Der Engel klärt Josef
über die ungewöhnliche Empfängnis auf. Josef hat keinen Grund
mehr, Maria aus der Verlobung zu entlassen, denn sie hat ihn
nicht betrogen.
Vers 21
Nun erklärt der Engel, was das Besondere an diesem Kind ist. Es
hat einen Auftrag, der in der Bedeutung seines Namens erkennbar wird: „Jesus”, das bedeutet „Gott rettet”. Wie geschieht dies?
In der Vergebung der Sünden. Wenn Jesus sein Volk von seinen
Sünden erlösen wird, klingt darin auch an, dass er das endgültige,
abschließende Versöhnungsopfer sein wird. Ostern wird in christlichem Verständnis bereits angedeutet. Jesus ist also nicht nur von
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
31
der jüdischen Überlieferung her zu verstehen, sonder auch von
Kreuz und Auferstehung. Das Zeichen für die Sündenvergebung
ist für die Alte Kirche die Taufe. Mit dem Taufbefehl des Auferstandenen wird darum das Evangelium schließen. Sündenvergebung ist die treibende Kraft hinter allem, was Jesus lehren und
(be-) wirken wird. Das Wort, das hier mit „erretten” wiedergegeben wird, kann auch „bewahren” bedeuten und wird in der EÜ2
mit „erlösen” wiedergegeben. Wer getauft wird zum Zeichen der
Umkehr, hält sich in Zukunft an die Worte Jesu und nimmt seine
Taten zum Vorbild. Für Sünden ist da kein Platz mehr. Sünde
ist nämlich in der Anschauung des Biblischen Judentums gleichbedeutend mit Ungerechtigkeit, also der bewussten Abkehr von
den Weisungen Gottes (und damit von Gott), für den Christen
zudem von Jesus und seinem Weg. „Erretten” macht deutlicher,
dass diese Abkehr ins Verderben führt (vgl. z.B. Ps 1), und dass
wir oft die Hilfe des Erlösers brauchen, um aus der Verstrickung
in das Böse herauszukommen.
Vers 22 + 23 Endet die Rede des Engels mit V.21 oder schließt sie das
Schriftzitat mit ein? Die Übersetzung des Names „Immanuel” ins
Griechische gibt uns den Hinweis, dass ersteres anzunehmen ist,
denn Josef hätte keine Übersetzung gebraucht. Der Verweis auf
die Überlieferung soll klar machen, dass nun erfüllt wird, was
damals angekündigt worden ist: Maria ist jene junge Frau oder
Jungfrau, von der der Prophet spricht. Folglich ist Jesus der verheißene „Immanuel”, der nun leiblich erfahrbar macht, dass Gott
noch immer an der Seite seines Volkes steht! Es wird nun aber
auch deutlich, dass die Empfängnis Jesu gar nicht anders als auf
diese Weise geschehen konnte, denn eine Empfängnis auf natürlichem Wege hätte bedeutet, dass Maria keine Jungfrau mehr
sein konnte. Doch nun ist die Verheißung Gottes wörtlich erfüllt!
Damit ist innerbiblisch geklärt, wofür in unseren Tagen Religi2
EÜ = Einheitsübersetzung
KAPITEL 2. MT 1,18-25: DIE UMSTÄNDE DER GEBURT JESU
32
onswissenschaftler das kulturelle Umfeld Israels bemühen.
Vers 24 + 25 Da Josef keinen Grund mehr hat, Maria aus der Verbindung
zu entlassen, vor allem aber, weil Gott selbst ihn dazu auffordert,
nimmt er die Schwangere zur Frau und erkennt damit faktisch
das Ungeborene als sein Kind an. So wird Jesus, der unmittelbare Sohn Gottes, durch Adoption zum Sohn Abrahams - die
Tradition ist erfüllt. Bis zur Geburt bleibt Maria Jungfrau, das
wird ausdrücklich betont und kann der zitierten Verheißung zufolge auch gar nicht anders sein. Soweit der biblische Befund,
bei dem es hier bleiben soll. Nur soviel: Die Glaubensaussage,
sie sei auch nach der Geburt Jungfrau geblieben, kann biologisch
verstanden werden, kann aber auch moralisch gemeint sein (ein
Hinweis, dass sie als vorbildliche Gläubige nicht gesündigt hat,
Sünde hier keineswegs sexuell verstanden).
Kapitel 3
Mt 2,1-23: Reaktionen auf Jesus:
Verehrung & Bekämpfung
(1) Als Jesus in den Tagen des Königs Herodes in Bethlehem <in> Judäa Der
geboren worden war, siehe: Magier aus dem Osten kamen herbei nach Je- Text
rusalem. (2) Sie sagten: „Wo ist der (neu-) geborene König der Juden? Wir
sahen nämlich seinen Stern aufgehen und kamen, ihm kniefällig zu huldigen!”
(3) Als Herodes <das> hörte, wurde er unruhig - und mit ihm ganz Jerusalem. (4) Er versammelte all die Hohepriester und Schriftgelehrten des Volkes
und erfragte von ihnen, wann der Christus geboren werden solle. (5) [Und]
sie sagten zu ihm: „In Bethlehem <in> Judäa, denn so steht es geschrieben
durch den Propheten: (6) Und du, Bethlehem <im> Lande Juda, bist keineswegs die Geringste unter den Hegemonien Judas. Aus dir wird nämlich
der Herrscher herauskommen, der mein Volk Israel weiden soll.” (7) Da rief
Herodes heimlich die Magier. Er erkundigte sich bei ihnen genau, wann der
Stern erschienen war, (8) und sandte sie nach Bethlehem. Er sprach: „Geht
und forscht gründlich nach dem Kind! Wenn ihr es findet, bringt mir die
Gute Nachricht. Auch ich will kommen und mich vor ihm niederwerfen!”
(9) Sie hörten den König und machten sich auf. Und siehe: Der Stern, den sie
hatten aufgehen sehen, ging vor ihnen her, bis er ankam. Er blieb über <dem
Ort> stehen, wo das Kind war. (10) Als sie den Stern sahen, freuten sie sich
33
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG34
überschwänglich. (11) Sie gingen in das Haus und sahen das Kind mit Maria,
seiner Mutter. Niederfallend huldigten sie ihm [kniefällig]. Sie öffneten ihre
Schätze und überreichten ihm ihre (Opfer-) Gaben: Gold und Olibanum und
Myrrhe. (12) Weil sie durch <einen> Traum die Weisung erhalten hatten,
nicht zu Herodes zurückzukehren, zogen sie über einen anderen Weg zurück
in ihr Land.
(13) Als sie aber fortgezogen waren, siehe: <der> Engel des HERRn erschien
dem Josef im Traum und sprach: „Steh auf! Nimm das Kind und seine Mutter
mit dir und flieh nach Ägypten! Bleibe dort, bis ich es dir sage! Denn Herodes
ist im Begriff, das Kind zu suchen, um es zu töten!” (14) Und er stand auf,
nahm bei Nacht das Kind und seine Mutter mit sich, und entwich nach
Ägypten. (15) Dort war er bis zum Ende <des> Herodes, damit das Wort
des HERRn durch den Propheten erfüllt sei, der sagt: Aus Ägypten habe ich
meinen Sohn gerufen!
(16) Damals wurde Herodes sehr zornig, als er sah, dass er von den Magiern betrogen worden war. Er sandte aus, alle Knaben in Bethlehem und
all seinen Grenzen zu töten, vom Zweijährigen an abwärts, gemäß der Zeit,
die er von den Magiern erfahren hatte. (17) Damals wurde das Wort durch
den Propheten Jeremia erfüllt, der sagt: (18) Schreien wurde in Rama gehört,
viel Weinen und Wehklagen: Rahel beweinte ihre Kinder; sie wollte sich nicht
trösten lassen, weil sie nicht <mehr> waren!
(19) Als aber Herodes gestorben war, siehe: <der> Engel des HERRn erschien in Ägypten dem Josef im Traum (20) und sprach: „Auf, nimm das Kind
und seine Mutter, und zieh in das Land Israel! Gestorben sind nämlich, die
dem Kind nach dem Leben trachteten!” (21) Und er stand auf, nahm das
Kind und seine Mutter und zog in das Land Israel. (22) Als er hörte, dass
Archelaos anstelle seines Vaters Herodes König Judäas war, bekam er aber
Angst, dorthin zu gehen. Weil er im Traum Weisung erhalten hatte, zog er
sich in das Gebiet von Galiläa zurück, (23) und als er in die Stadt Nazareth
kam, ließ er sich nieder. So wurde das Wort durch den Propheten erfüllt, der
sagt: Er wird Nazoräer heißen!
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG35
3.1
Die historisch-kritische Analyse
V.3
Hier fehlt in Handschrift D (5. Jh) das Wort „ganz” („...und mit Textkritik
ihm Jerusalem”). Die Auslassung verändert den Sinn der Aussage nicht, da sie aber nur in dieser einen Handschrift vorkommt,
scheint es sich um einen Schreib- oder Diktatfehler zu handeln.
V.4
Hier fehlt in den Handschriften D (5. Jh) und Г (10.Jh) „von ihnen” („... und erfragte, wann der Christus...”). Auch hier kann die
Lesart aufgrund ihrer Seltenheit und späten Datierung nicht die
ursrpüngliche sein und ist entweder ein Schreib- oder Diktatfehler oder will den Text leserlicher machen durch Streichung der an
und für sich überflüssigen näheren Bestimmung.
V.6
Hier gibt es folgende Lesarten:
1. „Und du, Bethlehem, <im> Lande Juda, ...”
2. „Und du, Bethlehem Judäas...”
3. „Und du, Bethlehem, <im> Lande der Judäer....”
Lesart 2 ist in der Handschrift D und in einigen syrischen Handschriften und in einer armenischen Handschrift des Kirchenvaters
Irenäus (seit 178 n.Chr. Bischof von Lyon) belegt. Lesart 3 findet
sich in einigen bohairischen Handschriften. Lesart 1 ist bei allen
anderen Textzeugen belegt. Keine der Lesarten gibt den Text bei
Mich 5,1 (LXX) wieder. So sind die Lesarten 2 und 3 aufgrund
ihrer geringen Bezeugung als nicht ursprünglich zu betrachten.
V.9
Hier sind folgende Lesarten überliefert:
1. „Er blieb über dem <Ort> stehen, wo das Kind war.”
2. „Er blieb über dem Kind stehen.”
Lesart 2 findet sich nur bei D und in italienischen Handschriften.
Lesart 1 ist bedeutend häufiger belegt und daher der einfacheren
Lesart 2 vorzuziehen.
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG36
V.11
Hier sind folgende Lesarten überliefert:
1. „...und fanden das Kind mit Maria, seiner Mutter”
2. „...und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter”
Lesart 1 findet sich nur bei einigen wenigen lateinischen Zeugen,
daher ist Lesart 2 zu bevorzugen.
V.13
Hier liest ein Textzeuge (B, 4. Jh.): „Als sie aber fortgezogen
waren in ihr Land”. Aufgrund des singulären Vorkommens kann
diese Lesart nicht die ursprüngliche sein. Sie geht vermutlich auf
den liturgischen Gebrauch zurück, der die Ereignisse nicht chronologisch darstellt.
V.15
Hier liest ein syrischer Zeuge: „... damit das Wort des HERRn
durch den Mund des Propheten Jesaja erfüllt sei”. Dies scheint
nur eine Verdeutlichung des Textes zu sein. Der schwierigere und
besser bezeugte Text ist vorzuziehen.
V.17
Hier liest D (5. Jh.): „... damit das Wort des HERRn durch den
Propheten Jeremia...“. Hier scheint eine Angleichung an die anderen Einleitungen zu den Zitaten dieses Abschnitts vorzuliegen.
Der kürzere und besser bezeugte Text ist vorzuziehen.
V.18
Hier liest die Mehrheit der Zeugen nach Jer 38,15 LXX: „... gehört, viel Totenklage und Weinen und Wehklagen...”. Die gute
Bezeugung spricht deutlich für diese Lesart. Andererseits könnte
es sich um eine Angleichung an Jer 38,15 handeln, die im Nachhinein vorgenommen wurde. Den Regeln entsprechend ist der kürzere und damit schwierigere Text vorzuziehen, da erfahrungsgemäß
eher etwas verdeutlichend oder wie hier korrigierend ergänzt als
weggelassen wird.
• Was ist die Aussage dieser Perikope?
• Mögliche alternative Übersetzungen müssen geprüft werden
Auffälligkeiten
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG37
• Warum erschrickt Herodes? Machen seine Gelehrten ihre Arbeit nicht?
• Warum ruft er die Magier heimlich (Vorbereitung zum Kindermord?)
• Wer sind diese Magier? Wie kommt es zu ihrer Deutung des Sterns?
Was hat es mit dem Stern auf sich? Gab es ihn wirklich oder ist die
Antwort anderer Natur?
• Die Träume der Magier und Josefs
• Warum fürchtet sich Josef vor Archelaos?
• ungewöhnlich: die Magier huldigen dem armen Schlucker in der Krippe
und gehorchen dem Gott der Hebräer
• Wie verhalten sich die Magier zu den Hirten bei Lk?
• Die Schrifterweise
• Wieso diese Gaben? Myrrhe, Gold und Olibanum?
• Wen und wo fragen die Magier nach dem neuen König?
• Sind Stern und Kindermord Entsprechungen zu Kreuz und Auferstehung?
• Spiegelt sich hier die Ablehnung vieler Juden und der Erfolg der Heidenmission?
• Was versteht man unter einem Nazoräer?
Kapitel 2 wirkt inhaltlich wie ein geschlossenes Ganzes. Die Geburt Jesu wird
in V.1 vorausgesetzt, die Perikope ist auch ohne die Weihnachtserzählung zu
verstehen, die Handlung baut intern auf dem vorhergehenden auf. So ist
die Flucht nach Ägypten ohne den Kindermord nicht zu verstehen und der
Kindermord nicht ohne den Besuch der Magier. Mit Johannes dem Täufer
beginnt in V.3,1 ein gänzlich neuer Abschnitt.
Literarkritik
(Kontextkritik)
Der Besuch der Weisen muss mit den nachfolgenden Erzählungen von der (Kohärenzkritik)
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG38
Flucht nach Ägypten, vom Kindermord und von der Rückkehr der Heiligen
Familie als Einheit gelesen werden, da zumindest die Szene mit Herodes den
Kindermord vorbereitet. Die Huldigung des Christuskindes und die Flucht
mit göttlicher Hilfe ist die Gegenszene zum Kindermord und betont dessen
Grausamkeit und Gottlosigkeit. Herodes ist das Gegenbild zu den Magiern
und der Heiligen Familie und wird ihnen gegenübergestellt.
Eine vorschriftliche Form der Perikope ist denkbar. Sie wird nur bei Mt über- Überliefert, scheint also in seiner Gemeinde oder Region überliefert zu sein. Die lieferungsMöglichkeit, der Evangelist habe sie gedichtet, um die unter „Gattungskritik” kritik
beschriebene Grunderfahrung darzustellen, besteht allerdings auch. Ebenso
die Möglichkeit, dass Jesus tatsächlich einige Zeit in Ägypten gelebt hat;
sie wird aber durch das Schriftzitat geschmälert, das anscheinend mit dieser
Erzählung als wahr dargestellt werden soll. Die weitere Analyse gibt einen
Aufschluss über diese Frage.
Die Schriftzitate lassen eine theologische Reflektion vermuten. Fast mutet es
an, die Geschichte werde um die Zitate herum erzählt, um zu zeigen, dass
Gottes Verheißungen nun verwirklicht werden. Wenn Jesus einige Zeit in
Ägypten gelebt hat, könnte sich die Erinnerung daran in seinem Familienund Freundeskreis gehalten haben und vielleicht schon vor dem Evangelisten verschriftlicht worden sein. Wenn es sich um eine bildliche Darstellung
einer nachösterlich-frühchristlichen Grunderfahrung handelt, ist eine vorevangelische Verschriftlichung für die Unterweisung denkbar.
Quellenund
Redaktionskritik
Der Text lässt sich folgendermaßen gliedern:
Formkritik
1. Der Besuch der Magier (VV. 1-12)
(a) Ausgangssituation: Die Suche der Magier (1-2)
(b) Reaktionen des Herodes (3-8)
i. Überprüfung der Heiligen Schriften (3-6) mit Schriftzitat
ii. Auftrag an die Magier (7-8)
(c) Die Magier finden das Kind und huldigen ihm (9-11)
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG39
(d) Auf göttlichen Befehl hin vollenden sie den Auftrag des Herodes
nicht (12)
2. Der Kindermord (VV. 13-23)
(a) Auf göttlichen Befehl hin: Flucht der Hl. Familie nach Ägypten
(13-15) mit Schriftzitat
(b) Der Kindermord zu Bethlehem (16-18) mit Schriftzitat
(c) Nach dem Tod des Herodes: Neubeginn der Hl. Familie in Nazareth (19-23) mit Schriftzitat
Insgesamt gibt es 4 Schriftzitate, nämlich in den Versen 6, 15, 18, 23.
Die Perikope scheint in legendarischer Form eine Grunderfahrung der frü- Gattungshen Kirche zu schildern, die sich wie ein roter Faden durch das Evangelium kritik
zieht: Das jüdische Volk lehnt Jesus ab und verfolgt ihn und seine Jünger,
obwohl ihm die Verheißungen zuerst gelten, während Heiden den HERRn in
Jesus verehren. Das zeigt sich im Hauptmann unterm Kreuz, der das Gegenbild zu den Hohepriestern ist, im Missionsbefehl des Auferstandenen und in
der Verfolgung der frühen Kirche durch die jüdischen Glaubensbrüder. Die
Perikope hätte dann den Sinn, die Gläubigen daran zu erinnern, dass „der
Knecht nicht über dem Herrn steht”(Mt 10, 24f.), dass die Ausweitung der
Mission auf die Heiden in Gottes Heilsplan liege, die Verfolgung durch die
Juden allerdings nur deren Engherzigkeit anzulasten sei. Da das bisherige
Gottesvolk aus Ägypten gerufen wurde und nun das neue auch, ist andererseits das Schicksal beider eng miteinander verknüpft. Möglicherweise verbirgt
sich hier eine Warnung, nicht so zu werden wie die Vertreter jüdischer Macht,
die anscheinend für das Wirken Gottes nicht mehr offen genug sind.
Möglicherweise will die Perikope aber auch schlicht die Frage beantworten,
wie Jesus, als Nachkomme Davids in Bethlehem geboren, in Nazareth aufwachsen konnte oder warum man ihn als „Nazoräer” bezeichnete.
Sehen wir uns an, was dieser Begriff und andere Punkte der Schriftstelle in Traditionsder biblischen Tradition bedeuten:
kritik
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG40
Nazoräer: In der Perikope wird dieser Begriff von „Nazareth” hergeleitet,
würde also etwa „Bewohner Nazareths” oder „Einer aus Nazareth” bedeuten. Die Heilige Schrift kennt aber vor allem eine andere Bedeutung. Mit Nazoräer wird ein Mensch bezeichnet, der das sogenannte
Nasiratsgelübde (Num 6,1-21) abgelegt hat. Die berühmtesten Nazoräer sind der Richter Simson und Paulus (der dies Gelübde nach seiner
Bekehrung ablegt). Mit dem Gelübde weiht sich der Mensch für eine
gewisse Zeit seinem Gott. Er darf als Zeichen dafür in dieser Zeit seine
Haare nicht schneiden, keinen Wein trinken oder Trauben essen und
sich unter keinen Umständen irgendwie verunreinigen. Weitere Opferleistungen sind dem Einzelnen überlassen, auch, für wie lange er sich
diesem Gelübde unterwirft. Nazoräern wurde für die Zeit ihrer Weihe
eine besondere Kraft zugeschrieben (s. die Legenden um Simson). Da
Jesus von Geburt an ein Gott geweihter Mensch ist und als Erwachsener
mit göttlicher Kraft wirkt, könnte dies mit der Bezeichnung „Nazoräer” ausgedrückt sein. Allerdings ist überliefert, dass er als „Fresser und
Säufer” galt, also Wein nicht unbedingt ablehnte.
Magier: Magoi sind persische Priesterwissenschaftler, die sich mit Astrologie, den Himmelskörpern, Kräuter- und Heilkunde, Wahrsagen, Orakeln, Beschwörungen von Geistern/Toten und Visionen auskannten.
Von ihnen leitet sich der Begriff Magier unserer Zeit ab. Sie sind die Gelehrten der großen antiken Kulturen in Persien, Chaldäa und Ägypten.
Dass ausgerechnet sie dem Christkind huldigen, ist ein Affront gegen
die jüdischen Gelehrten, die in dieser Erzählung neben den heidnischen
Weisen wie Knaben wirken. Beachtenswert ist, dass ausgerechnet die
im Alten Testament (Ex 22,17-19; Lev 19,26-31; 20,1-8.27; 26,1f.; Dtn
18,10-14; Jes 47,9-15) verbotenen magischen Künste, hier vor allem die
Astrologie, die Männer zum Heiland führen, siehe dazu auch weiter
unten.
Verfolgung - Errettung - Kindermord: Das Motiv ist in der Heiligen
Schrift nicht ganz unbekannt. Mose wurde bereits durch göttliche Fügung vom Kindermord Pharaos errettet und muss als Erwachsener vor
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG41
dem Unterdrücker fliehen, kehrt aber später als Befreier zurück. Gleiches gilt hier von Jesus. Das Schriftzitat deutet an, dass dieses Motiv
theologisch zu deuten ist, nicht aber in unserem Sinn als historisch, wie
besonders in esoterischen Kreisen behauptet wird, um die Wunderkräfte Jesu auf ägyptische Magie zurückzuführen. Jesus ist in der Sicht des
Evangelisten der, der ist wie Mose (Dtn 18,18).
4 Schrifterweise: Der Evangelist legt von Anfang an großen Wert darauf,
alles, was es über Jesus zu sagen gibt, im Zusammenhang mit der jüdischen und biblischen Tradition zu sehen (s. Stammaum) und zu deuten. In dieser Perikope geschieht das gehäuft. Es finden sich 4 explizite
Zitate und vier Anspielungen (zu dreien s. „Verfolgung - Errettung Kindermord” und „Stern”). Die vierte Anspielung findet sich in den
Gaben, die die Magier darbringen: Nach Ps 72,10 bringen die Könige
der Erde dem König von Israel als Vertreter des einen Gottes Gold
und Weihrauch als Opfergaben dar. Nach Jesaja 60,1-22 wandern ganze Völker zum Licht Gottes und bringen ihm kostbare Gaben wie Gold
und Weihrauch dar. In der Wanderung der drei Magier erfüllen sich diese Verheißungen, deswegen stehen sie in der späteren Tradition für die
verschiedenen Erdteile Afrika, Europa und den Vorderen und Mittleren
Orient.
• Das erste Zitat (V.6) ist dem Buch Micha (5,1) entnommen. In Micha
5,1-5 wird ein Messias angekündigt, der ursprünglich als Kriegerkönig
Israel von den Assyrern befreien und ein Reich des Friedens gründen
sollte.
• Das zweite Zitat (V.15) entstammt Hos 11,1 und bezieht sich ursprünglich auf das ganze Gottesvolk. In Hos 11 wird die große Liebe Gottes
zu diesem Volk besungen.
• Das dritte Zitat (V.18) findet sich in Jer 31,15. Ursprünglich beweint
Rahel ihre verschleppten Kinder, deren Rückkehr nach Jer 16-22 durch
den liebenden Gott ermöglicht und realisiert wird.
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG42
• Das vierte Zitat (V.23) aus Ri 13,5 bezieht sich ursprünglich auf den
Richter Simson, dessen Geburt verheißen wird. Zum Nasiratsgelübde
s.o.
Der Evangelist geht mit der hebräischen Bibel, die ihm offensichtlich
in einer griechischen Übersetzung vorliegt, aus heutiger Sicht insgesamt
sehr frei um, wenn er Ereignisse, die ihm aus dem Leben Jesu überliefert
sind, durch Gottesworte legitimiert.
Träume: Vgl. das zu Mt 1,18ff gesagte.
Stern: Dem priesterlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a) zufolge sind die
Sterne nichts weiter als Hilfsmittel zur Bestimmung von (Liturgischen)
Zeiten und zur Erhellung der Nacht. Sie sind im biblischen Denken
also ausdrücklich keine Götter oder Schicksalsmächte, auch wenn dieser
Schöpfungsbericht von den Traditionen der Nachbarvölker beeinflusst
ist. Sie sind von Gott geschaffen. Andererseits kann ein Stern aber auch
ein Bild sein, wie in der Weissagung Bileams, auf die der Evangelist
augenscheinlich anspielt (Num 24,17) und die er auf Jesus umdeutet.
Bileam selbst ist wie die drei Magier ein Heide und der verbotenen
Künste mächtig. Die Erzählung vom Stern geht möglicherweise zudem
auf die Vorstellung zurück, dass bei der Geburt eines Menschen ein
neuer Stern aufgeht, der beim Tod der Person wieder untergeht. Die
Vorstellung von Jesus als dem Morgenstern, der die neue Schöpfung
und das Gottesreich ankündigt, indem er von den Toten aufersteht,
fließt hier wohl ebenfalls ein oder ist zumindest von hier aus stark
beeinflusst. Der Stern, der den Magiern voranzieht, erinnert zudem an
die Feuersäule, die das Gottesvolk nach dem Exodus ins Heilige Land
führt und auf dem Weg beschützt.
3 Gaben: Gold, Olibanum (Weihrauchharz) und Myrrhe zeigen am deutlichsten den stark legendarischen und theologischen Charakter der Erzählung. Nach alter Deutung verweist das Gold auf den Königssohn aus
dem Stamm David, der Weihrauch auf den Gottessohn, die Myrrhe als
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG43
bitteres Heilkraut auf das Todesleiden und die heilende Sendung Jesu.
Zu den atl. Bezügen s.o.
Christus: siehe das auf Seite 12 gesagte. Hier ist aufgrund der Frage der
Magier wohl der endzeitliche (Heils-) König gemeint.
Engel des HERRn: siehe das auf Seite 26 gesagte.
Es wurde bereits vermutet, die Perikope spiegele die Erfahrung, dass Heiden
die Verheißungen annehmen und Jesus verehren, während viele seines eigenen
Volkes in ihm nicht den verheißenen Heiland entdecken. Zumindest scheint in
der Perikope das gespaltene Verhältnis zwischen Juden und Christen durch.
Die Erzählung selbst entstammt also einer Zeit, in der diese Auseinandersetzung noch tobte und für das Christentum noch die größte Gefahr vom
Judentum ausging. Sie muss somit vor oder unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalem und der Zerstreuung des Gottesvolkes im Jahr 70 n.Chr.
entstanden sein. Die Erinnerung an die Grausamkeit des Herodes ist noch
nicht verblasst und stützt diese Vermutung. Die reichhaltigen Anspielungen
auf Mose und die Propheten lassen erkennen, dass die Perikope zumindest in
einem Umfeld entstanden ist, dem die biblische Überlieferung vertraut war,
und sich an Menschen richtet, die auch die Anspielungen sofort erkennen
können.
Bestimmung
des
historischen
Ortes
An diesem Abschnitt lässt sich besonders gut erkennen, dass es sich nicht
um eine in unserem Sinn historische Erzählung handelt. Der Stern verweist
auf den Morgenstern Christus, der im Dunkel dieser Welt den Suchenden
den Weg weist. Nach einem entsprechenden Naturphänomen zu suchen um
den Geburtstermin Jesu zu bestimmen, ist folglich absurd. Die Magier sind
die ersten Heiden, die Christus anbeten - im Unterschied zu den jüdischen
Gelehrten: ein deutlicher Hinweis auf die Heidenmission und die spätere Entwicklung der Kirche. Nicht weniger deutlich die Absage an gewisse heidnische
Einflüsse: die Gestirne stehen ganz im Dienst des Schöpfers und sind Hinweise
auf sein Wirken.
Deutende
Zusammenfassung
Die antithetische Gegenüberstellung der gläubigen Heiden (Magier) und der
ungläubigen Juden (Herodes, Archelaos) scheint den Konflikt zwischen Juden
(Zsfssg
d.
Ergebnisse)
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG44
und Heiden zu spiegeln: jene lehnen Jesus mehrheitlich ab und bekämpfen
alle, die sind wie er, diese nehmen einen weiten Weg auf sich und schauen
ihn. Die endzeitliche Völkerwallfahrt hat begonnen. Herodes und sein Sohn
Archelaos waren für ihre Grausamkeit berühmt, die Erinnerung daran fließt
hier mit ein. Für den Kindermord gibt es keine historischen Belege, er scheint
eher zu begründen, warum die heilige Familie später in Nazareth lebt.
Die Perikope trifft nähere Aussagen über Jesus: Er steht unter dem besonderen Schutz Gottes und ist ihm geweiht (Nazoräer). Die Anbetung durch die
Magier betont diese enge Beziehung des Christus zum Schöpfer, als dessen
Abbild und Stellvertreter er verehrt wird. Er ist das Licht, das im Dunkeln
scheint und zugleich der neue Mose, der sein Volk in die Freiheit führt.
Der Text ist in seinen Aussagen sehr vielschichtig: Jesus ist der erwartete end- (Intention
zeitliche Heilskönig, der neue Mose, in besonders enger Beziehung zu Gott. des
Die Völkerwallfahrt hat begonnen. Das Los jener, die Christus ähnlich sind Textes)
(Christen), ist Verfolgung. Die Heidenmission wird legitimiert, die Erfahrung
des Bruchs mit dem ursprünglichen Gottesvolk im Glauben gedeutet. Und
schließlich wird äthiologisch erklärt, warum Jesus in Nazareth aufwächst und
nicht in Bethlehem. Da diese Aussage am Ende steht, die Erzählung auf sie
hinausläuft, scheint diese Äthiologie die eigentliche Intention des Textes zu
sein: Man nennt Jesus „Nazoräer”, weil er (auch in unserem Sinn historisch)
in Nazareth aufgewachsen ist. Wie es dazu kam, erzählt die Perikope.
Vers 1:
Der Vers ordnet die Ereignisse grob zeitlich ein. Herodes war Kö- Versweise
nig von Judäa in den Jahren 37-4 vor Christus. Aussenpolitisch Deuvon Rom abhängig, war er innenpolitisch selbständig. Herodes tung
war kein Jude sondern Idumäer, also eigentlich Heide. Sein Reich
hielt er mit diplomatischem Geschick und großer Gewalt zusammen, auch vor der Ermordung einiger seiner Söhne schreckte er
in diesem Zusammenhang nicht zurück (s. Stuttgarter Bibellexikon). Da in der Erzählung der Kindermord kurz nach der Geburt
Jesu angesiedelt ist (max zwei Jahre danach, vgl. V.16), wäre Jesus spätestens irgendwann zwischen 6 und 4 v.d.Z. geboren worden, je nach der Zeit, die zwischen dem Kindermord und dem Tod
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG45
des Herodes liegt. Dass die Magier von Osten kommen, lässt auf
Persien oder Chaldäa schließen, die nächsten östlichen Nachbarn
des römischen Imperiums. Vermutlich reisen sie nach Jerusalem,
weil die Stadt der Sitz des Königs war. Wie viele Magier sich auf
den Weg gemacht haben, lässt der Text offen.
Vers 2:
Dieser Vers klärt uns über den Grund für ihren Besuch auf. Zwei
Übersetzungen sind möglich, die entsprechend auch für V.9 gelten:
1. a) „... wir sahen seinen Stern im Osten und kamen...”
2. b) „... wir sahen seinen Stern aufgehen (wörtl.: im Aufgang)
und kamen...”
Sahen sie seinen Stern aufgehen, dann deutet das auf die Geburt hin (s.o. „Stern“). Sahen sie den bereits aufgegangenen Stern
im Osten, dann deutet das auf eine mächtige Persönlichkeit hin,
schließlich wäre ihnen der zusätzliche Stern sonst nicht aufgefallen. Da sie ausdrücklich dem neugeborenen König huldigen wollen, ist Übersetzung 2 vorzuziehen, dass sie ihm huldigen wollen,
zeigt aber, dass dieser Stern offenbar auf eine außergewöhnliche
Herrschergestalt hinweist.
Vers 3:
Erst dieser Vers deutet an, wen die Magier fragen und wo in Jerusalem sie nach dem Kind forschen: im Königspalast, anscheinend
bei Herodes selbst, in dem sie wohl den Vater vermuten. Herodes’
„Unruhe” ist verständlich. Der damalige Hörer und Leser konnte
sofort vermuten, dass er alles daran setzen würde, seine Macht
zu schützen (vgl. das zu V.1 gesagte). Dass „ganz Jerusalem” mit
ihm erschrak, ist wohl eine Übertreibung. Herodes war alles andere als beliebt.
Verse 4-6: Der Scharfsinn des Herodes, der sofort auf eine von JHWH gesandte Messiasgestalt schließt, ist beeindruckend. Da in der atl.
Tradition kein berechenbarer Zeitpunkt für das Erscheinen des
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG46
Messias genannt ist, haben die Schriftgelehrten und Hohepriester
offensichtlich nicht damit gerechnet, dass er in ihrer Zeit kommen
würde. Die Frage nach dem Geburtsort deutet bereits darauf hin,
was der Gewaltherrscher plant. Dabei wird die Prophetie Michas
neu verstanden: Der endzeitliche Kriegerkönig befreit sein Volk
von der aktuellen Fremdherrschaft durch das römische Imperium
und seine Vasallen - wie Herodes (s.o.). Auch für den jeweiligen
Hohepriester eine Gefahr, kollaborierte seine Familie doch mit
den Besatzern - wenn auch in guten Absichten für das Gottesvolk und seine Religion. Im Unterschied zu Herodes, der sein Volk
ausbeutet und sich steinerne Denkmäler setzt, wird der neugeborene Friedensfürst, Jesus, das tun, was die Aufgabe eines guten
Herrschers ist: „das Volk weiden”, ihm ein „guter Hirt” sein. Der
Messias kann als Nachfolger und Nachkomme Davids theologisch
nur aus der Davidsstadt Bethlehem stammen.
Verse 7-8: Nachdem der Ort herausgefunden ist, fehlt noch das ungefähre
Alter des Messias. Das erfragt der listige Herrscher bei den Magiern. Der Evangelist betont dabei ausdrücklich, dass diese Unterredung, deren Schluss er in V.8 zitiert, im Geheimen stattfand.
Der Grund für diese Heimlichtuerei bleibt offen. Vielleicht um zu
verhindern, dass jemand seine Absichten durchkreuzte. Herodes
macht die Magier sogar zu seinen Spionen. Die wörtliche Rede
in V.8. Lässt in beiden Sätzen mehrere Übersetzungen zu. Sehen
wir zunächst auf die Alternativen des ersten Teils:
1. „Geht und forscht gründlich nach dem Kind...”
2. „Geht und forscht gründlich in Bezug auf das Kind...”
Übersetzung 1 bezieht sich streng genommen auf den Aufenthaltsort, den Herodes für einen gezielten Schlag wissen muss. Alternative 2 meint alles, was über das Kind und seine Familie zu
erfahren ist. Diese Alternative würde bedeuten, dass Herodes vor
der „Beseitigung” des Kindes sicher gehen wolle, ob dieser Schritt
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG47
auch nötig sei. Da Herodes insgesamt negativ dargestellt wird
(wie übrigens später auch sein Sohn gleichen Namens), scheint
Übersetzung 1 die angemessenere zu sein. Zudem legt der folgende Satz diese Übersetzung nahe. Zu diesem Satz sind ebenfalls
zwei Übersetzungen möglich:
1. „... Wenn ihr es findet, bringt mir die Gute Nachricht!”
2. „... Wenn ihr es findet, evangelisiert mich!” (wörtlich)
Beide Alternativen bringen zum ersten Mal das Evangelium, wörtlich: die Gute Nachricht, ins Spiel. Herodes meint das natürlich in
einem anderen Sinn: Wenn er weiß, wo er das Kind findet, ist das
gut für seine Pläne. Dennoch: Es ist eine Frohe Botschaft, wenn
jemand zu Jesus findet und ihm huldigen kann. Ja, die Geburt
oder Menschwerdung selbst wird hier zum ersten Mal als Gute
Nachricht bezeichnet. Dass Herodes versichert, er wolle dem Kind
ebenfalls huldigen, soll wohl vor allem die Magier in Sicherheit
wiegen und verdeutlicht seine Hinterlist.
Vers 9:
Hier ist ein logischer Bruch in der Erzählung: Warum sind die
Magier dem Stern nicht von Anfang an bis zum Ziel gefolgt?
Vielleicht, weil sie es in Jerusalem vermuteten? Der geheimnisvolle Stern führt sie jedenfalls zu Jesus. Die Schöpfung steht im
Dienste Gottes und kann Menschen zum Heiland führen.
Vers 10:
Was an dem Stern versetzt die Magier in so große Freude? Dass
er endlich stehen geblieben ist? Das Wunder, dass er ihnen zum
Wegweiser wurde? Die Entsprechung zur Feuersäule, in der Gott
seinem Volk während der Wüstenwanderung vorangeht, eröffnet
sich nur dem, der mit der biblischen Überlieferung vertraut ist.
Ahnen sie, dass Gott selbst hier am Werk ist? Die Parallele zur
Feuersäule lässt die Frage aufkommen, ob der Evangelist in den
Magiern das neue Gottesvolk abgebildet sah, dem der Herr voran
geht, oder ob er zeigen wollte, dass wir frei werden, wenn wir an
Jesus glauben, oder ob er uns sagen will, dass Gott uns auf uns
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG48
angemessene Weise zu Jesus führt? All diese Deutungen sind ein
Grund zu großer Freude.
Vers 11:
Den höfischen Sitten entsprechend huldigen sie dem Kind wie
einem Gott. Die Geschenke sind zugleich Opfergaben, die Huldigung ein sakrales Geschehen. Der Text lässt auch diese Deutung
zu, und vieles vom antiken und mittelalterlichen Hofzeremoniell
ist im Laufe der Zeit in die Liturgie eingeflossen. Dem zufolge
gibt es zwei mögliche Übersetzungen, von denen erstere bevorzugt wurde, weil sie am ehesten beiden o.g. Aspekten gerecht
wird:
1. „... Niederfallend huldigten sie ihm [kniefällig]. Sie öffneten
ihre Schätze und überreichten ihm ihre (Opfer-) Gaben:...”
2. „...Niederfallend beteten sie ihn an. Sie öffneten ihre Schätze
und brachten ihm ihre (Opfer-) Gaben dar:...”
Die heidnischen Magier sind die ersten Menschen, die Jesus anbeten, wenn auch nach heidnischen Bräuchen. Darin kann eine
Spitze gegen radikale Gegner der Heidenmission liegen oder gegen solche Christen, die nicht-jüdische Einflüsse aus der JesusVerehrung ausschließen wollten. Die Göttlichkeit Jesu, schon im
Stern angedeutet, tritt hier bereits zutage. Als der von Gott gesandte und eingesetzte König Israels ist er zugleich Stellvertreter
dieses Gottes. Die Gottsohnschaft, die in der Erzählung von der
Geburt so elementar ist, wird zwar nicht explizit genannt, findet aber in der Verehrung durch die Heiden ihren Ausdruck. Im
Vergleich zum Stall bei Lk lebt die Heilige Familie in der mt Tradition in einem Haus und ist offenbar in Bethlehem beheimatet.
Die lk Tradition löst das Problem des Wohnortes Nazareth also
auf andere Weise als die mt Tradition.
Vers 12:
Wieder greift Gott durch einen Traum in die Ereignisse ein (wie
schon bei der Geburt Jesu). Für die Menschen in der Antike anscheinend keine unbekannte Art, mit höheren Wesen in Kontakt
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG49
zu treten, denn die Magier reagieren entsprechend auf den Traum.
Ob nur einer von ihnen die Weisung erhalten hat oder es sich gewissermaßen um einen kollektiven Traum handelt, bleibt offen
und ist letztlich unerheblich sowohl für den Fortgang der Ereignisse als auch für die Größe und Macht Gottes, die sich hier zeigt.
Wichtig ist, dass dieses Kind etwas ganz besonderes sein muss,
wenn der Herr der Geschichte so deutlich eingreift. Zugleich wird
literarisch der Grundstein gelegt für die Flucht, den Kindermord
und die Umsiedlung nach Nazareth.
Verse 13-15: Die Flucht der Heiligen Familie ist ebenfalls von Gott initiiert.
Die Gerechtigkeit Josefs zeigt sich auch hier (wie schon in der
vorhergehenden Perikope) in seinem Gehorsam - das gilt übrigens auch für die Magier! Die wörtliche Rede zeigt deutlich, dass
es sich jetzt um ein erzählerisches Element handelt. Gott hat
schon die Ermordung des Mose-Kindes verhindert, um sein Volk
in die Freiheit zu führen, nun geschieht gleiches erneut. Die Parallele zu Mose ist deutlich. Jedes mal lässt ein Herrscher, der um
seine Macht fürchtet, Kinder ermorden, jedes mal greift Gott ein.
Das Schriftzitat, das sich ursprünglich auf das ganze Gottesvolk
bezieht, kann zweifach verstanden werden: Entweder bezieht es
sich nur auf Jesus, oder es deutet bereits auf die Kirche hin, die
zwar verfolgt wird, aber zugleich unter einem besonderen Schutz
Gottes steht. Ägypten war zur Zeit des Herodes bereits römische
Provinz, Jesus wird also nur dem Machtbereich des Idumäers entzogen! Offen bleibt, warum sich die Heilige Familie nicht einfach
den Magiern anschließen durfte, was jedenfalls sicherer gewesen
wäre.
Verse 16-18: Der Kindermord in Bethlehem ist weder in der jüdischen noch
in der römischen Geschichtsschreibung dokumentiert. Es scheint
sich also um ein legendarisches Element zu handeln, dass die Parallele zwischen Jesus und Mose unterstreicht. Zugleich war ein
derart brutales Vorgehen dem Herodes offenbar zuzutrauen (s.o.).
KAPITEL 3. MT 2,1-23: REAKTIONEN AUF JESUS: VEREHRUNG & BEKÄMPFUNG50
Herodes, erbost über den „Verrat” der Magier, lässt kurzerhand
alle Kinder Bethlehems im entsprechenden Alter töten, um ganz
sicher zu gehen. Die Altersangabe liefert einen möglichen Hinweis auf das Geburtsjahr Jesu (s.o.), abhängig vom Abstand des
Kindermordes zum Tod des Herrschers.
Verse 19-21: Vers 19 liefert den ersten halbwegs konkreten historischen Hinweis mit der Erwähnung des Todes des Herodes. Dennoch bleibt
fraglich, ob Jesus erst seit dem Jahr 4 v.d.Z. in Nazareth gelebt hat. Die lk Überlieferung sieht Nazareth von Anfang an als
Wohnort Josefs und Mariens an. Die mitunter geäußerte Ansicht,
Jesus habe in Ägypten okkulte Praktiken erlernt, widerspricht
sowohl der Gerechtigkeit seiner Eltern (die sich hier abermals als
Gehorsam gegenüber den Weisungen Gottes zeigt), als auch der
Tatsache, dass die Heilige Familie offenbar nicht lange in Ägypten gelebt hat - es sei denn, man datiert die Geburt Jesu noch
weiter vor, was bedeuten würde, dass er bei seiner Kreuzigung
entschieden älter gewesen wäre als Mitte 30. Jesus selbst hat den
Gehorsam gegenüber Gott wahrscheinlich von seinen Eltern übernommen, wie viele seiner Lehren zeigen.
Verse 22-23: Aus Angst vor Archelaos und auf göttliche Weisung hin siedelt
die Familie im galiläischen Nazareth an. Archelaos, 4.v.d.Z. - 6
n.d.Z. Ethnarch von Judäa, galt als grausamer Tyrann und wurde schließlich wegen seiner Grausamkeit von den Römern nach
Gallien verbannt. Die Erinnerung an den Herrscher hat sich in
diesen wenigen Zeilen erhalten. Auch diesmal greift Gott schützend ein, damit der Messias in Ruhe aufwachsen kann. Nach der
Darstellung des Evangelisten zog die Heilige Familie also spätestens 6 n.d.Z. zurück in Heilige Land. Jesus wäre dann ca. 10 Jahre
alt gewesen. Da Lukas eine andere Tradition überliefert, scheint
die historische Einordnung zweitrangig. Die Frage, die hier beantwortet wird, ist, wieso der Messias, in Bethlehem geboren, als
Nazarener gilt.
Teil III
Mt 3,1-4,11: Die Zeit der
Vorbereitung
51
Kapitel 4
Mt 3,1-4,11: Umkehr und
Versuchung
(1) In jenen Tagen trat Johannes der Täufer auf und verkündigte in der Wüs- Der
te Judäas (2) [sagend]: „Kehrt um! Nahe <ist> nämlich die Königsherrschaft Text
der Himmel!” (3) Dieser nämlich ist der <, von dem das> Wort des Propheten Jesaja sagt: Eine Stimme rufend in der Wüste: „Bereitet den Weg <des>
HERRn, gerade macht die Pfade sein!” (4) Und er, [der] Johannes, hatte ein
Gewand aus Kamelhaaren und um die Hüften einen ledernen Gürtel. Seine
Nahrung waren Heuschrecken und wilder Honig.
(5) Damals kamen zu ihm hinaus Jerusalem und ganz Judäa und das ganze
Umland des Jordan. (6) [Und] sie ließen sich im Jordanfluß von ihm taufen,
ihre Sünden eingestehend.
(7) Als Johannes viele der Pharisäer und Sadduzäer zu seiner Taufe kommen
sah, sagte er zu ihnen: „Schlangenbrut! Wer hat euch gezeigt, dem kommenden Gericht zu entfliehen? (8) Bringt Frucht hervor, der Umkehr angemessen!
(9) Und wähnt nicht, <ihr könntet> bei euch sagen: ’Als Vater haben wir
Abraam’ - denn ich sage euch: [der] GOTT vermag aus diesen Steinen Kinder
Abraams entstehen zu lassen! (10) Die Axt ist bereits an die Wurzel der Bäume angelegt: Jeder Baum also, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen
und ins Feuer geworfen!
52
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
53
(11) Ich, ich taufe euch mit Wasser in die Umkehr hinein; der aber, der nach
mir kommt, ist stärker als ich - ich tauge nicht, ihm die Schuhe zu tragen!
Er wird euch mit heiligem Geist und Feuer taufen. (12) Die Worfschaufel in
seiner Hand, wird er seine Tenne reinigen und seinen Weizen in der Scheune
sammeln. <Die> Spreu aber wird er <in> unauslöschlichem Feuer verbrennen.”
(13) Damals kam [der] Jesus aus Galiläa an den Jordan zu [dem] Johannes,
um von ihm getauft zu werden. (14) [Der] Johannes aber hielt ihn ab und
sprach: „Ich, ich habe es nötig, von dir getauft zu werden - und du kommst
zu mir?” (15) Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Gestatte es <gerade>
jetzt, denn dies ist angemessen, <damit> wir die ganze Gerechtigkeit erfüllen
werden!” Da gestattete er ihm <die Taufe>. (16) <Kaum> getauft, stieg [der]
Jesus sofort aus dem Wasser, und siehe: die Himmel wurden ihm geöffnet,
und er sah GOTTes Geist herabsteigen - gleichsam <als> Taube - und zu sich
kommen. (17) Und siehe: <eine> Stimme aus den Himmeln sagte: „Dieser
ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe!”
(4,1) Damals wurde [der] Jesus vom Geist hinauf in die Wüste geführt, um
vom Verleumder auf die Probe gestellt zu werden. (2) Und er fastete vierzig
Tage und vierzig Nächte; danach hatte er Hunger. (3) Und der Verleumder
trat hinzu und sprach zu ihm: „Wenn du Sohn GOTTes bist, so befiehl diesen
Steinen, Brote zu werden!” (4) Er aber entgegnete [und sagte]: „Nicht allein
vom Brot lebt der Mensch, sondern von allen Worten, <die> herauskommen
aus GOTTes Mund!”
(5) Da nahm ihn der Verleumder mit in die Heilige Stadt, stellte ihn auf die
Spitze des Heiligtums (6) und sagte zu ihm: „Wenn du Sohn GOTTes bist, wirf
dich selbst (von hier) hinab. Denn es steht geschrieben: Seine Engel wird Er
deinetwegen beauftragen, und sie werden dich auf Händen in die Höhe heben,
damit dein Fuß nicht an <einen> Stein stößt!” (7) Sprach zu ihm [der] Jesus:
„Ferner steht geschrieben: Du sollst den HERRn, deinen GOTT, nicht auf
die Probe stellen!”
(8) Abermals nahm ihn der Verleumder mit auf <einen> sehr hohen Berg,
zeigte ihm alle Königreiche der Erde und deren Herrlichkeit (9) und sprach zu
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
54
ihm: „Dies alles werde ich dir geben, wenn du niederfällst und mich kniefällig
anbetest!” (10) Da sprach Jesus zu ihm: „Geh fort, hinter mich, Satan! Denn
es steht geschrieben: Den HERRn, deinen GOTT, sollst du kniefällig anbeten
und Ihm allein dienen!”
(11) Da verließ ihn der Verleumder, und siehe: Engel kamen hinzu und bedienten ihn.
4.1
Die historisch-kritische Exegese
V.3
Hier fehlt bei einem syrischen Zeugen der erste Vers des Schriftzitats („Eine Stimme rufend in der Wüste:”), bei einem anderen syrischen und einem altlateinischen Zeugen dagegen der letzte Vers
des Schriftzitats („Gerade macht die Pfade sein!”) Diese Auslassungen sind, da sie so selten auftauchen, als nicht ursprünglich
anzusehen. Da jeweils ein ganzer Satz fehlt, ist ein Abschreibfehler auszuschließen. Möglicherweise wollte der Schreiber das Zitat
au den wesentlichen Teil beschränken und sah in dem einen Fall
den letzten Satz als unnötige Doppelung an und im anderen Fall
die Einleitung als irrelevant, da das Zitat auf den in der Wüste
wirkenden Täufer bezogen ist.
V.7
lesen Origenes (2./3.Jh), 01 (4.Jh), 03 (3.Jh), 28 (9.Jh) und die
sahidische und mittelägyptische Überlieferung: „Als Johannes die
vielen Sadduzäer und Pharisäer zur Taufe kommen sah...”. Die
Mehrheit der Zeugen liest den Satz jedoch „... zu seiner Taufe...”. Möglicherweise handelt es sich um Schreibfehler, das häufige Vorkommen der anderen Lesart spricht eher für eine bewusste
Auslassung, da die Formulierung „seine Taufe” die Vermutung
aufkommen lässt, es habe noch andere Täufer gegeben, die vielleicht auch noch auf den Messias hingewiesen hätten, oder die
Täufertaufe stehe gleichberechtigt neben der christlichen Taufe.
Die schwierigere und besser bezeugte Lesart ist vorzuziehen.
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
55
V.16
lesen verschiedene italienische Handschriften, D (5.Jh.) und VulgataHandschriften „... er sah Gottes Geist aus dem Himmel herabsteigen”. In allen anderen Handschriften fehlt der Zusatz „aus dem
Himmel”, er ist also als Ergänzung anzusehen.
V.17
lesen einigen Handschriften „Eine Stimme aus dem Himmel sagte
zu ihm...”. Der logische Fehler zur wörtlichen Rede lässt diese Lesart als die falsche erscheinen, zumal in den anderen Handschriften
der Zusatz „zu ihm” fehlt. Wenige Handschriften lesen „Du bist
mein geliebter Sohn”. Da es sich um nur drei Handschriften handelt, ist auch diese Lesart aufgrund des seltenen Vorkommens zu
verwerfen.
V.4,4
lesen einige Zeugen „... sondern von jedem Wort Gottes”. Das
seltene Auftreten dieser Lesart lässt vermuten, dass es sich nicht
um die ursprüngliche handelt. Die besser belegte Lesart orientiert sich in diesem Fall am ursprünglichen Text der LXX und ist
aufgrund der besseren Bezeugung vorzuziehen.
V.4,10
lesen viele Zeugen (Mehrheitszeuge, D (5.Jh.), L (9.Jh), Z (6.Jh),
syrische, sahidische und bohairische Handschriften und der Kirchenlehrer Justin (+ um 165)): „Geh fort, hinter mich.....”. Die
übrigen Zeugen lesen den Text jedoch ohne den Zusatz „hinter
mich”, der im Evangelium vor allem als Aufruf zur Nachfolge auftritt. Den Regeln zufolge ist die schwierigere Lesart der leichteren
im Zweifelsfall vorzuziehen, wie es auch hier geschieht.
• Wie ist in V.7 „seine Taufe” zu deuten?
• In V.11 (ερχομενος οπισvω μου) erinnert an das οπισvω μου (d.h. „hinter
mich, hinter mir her”), mit dem Jesus die Jünger zu Nachfolge ruft.
Bedeutet das hier, er sei ein Jünger des Täufers gewesen? Wie stehen
Jesus und Johannes zueinander?
• Der Aufruf zur Umkehr entspricht dem Jesu
Aufälligkeiten
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
56
• Weshalb wurde die Bußpredigt zusammenfassend wiedergegeben?
• Weshalb wird der Täufer vergleichsweise genau beschrieben?
• Beachte den Bezug zu Abraham (Stammbaum!): Erwählung? Heidenmission?
• Der Schluß der Predigt erinnert sehr an entsprechende Gleichnisse Jesu
• Jesus lässt sich taufen. Warum?
• Was hat es mit der Weigerung des Täufers auf sich?
• Was meint Jesus mit dem Wort von der Gerechtigkeit, die durch die
Taufe Jesu erfüllt werden muss?
• Taube und Heiliger Geist
• Jesus wird öffentlich als Sohn Gottes proklamiert (es handelt sich also
nicht um eine Vision o.ä.)
• Was hat es mit diesen 3 Versuchungen auf sich? Prüfen sie die Gottessohnschaft?
• Sehen wir an Jesus exemplarisch, was es heißt, dem Herrn in der Wüste
den Weg zu bereiten?
Mit V.3,1 beginnt ein neuer Erzählabschnitt, erkennbar an der Wendung „in
jenen Tagen” ”. Protagonist und Handlungsort verändern sich. Inhaltlich liegt
zwischen dem Umzug der Heiligen Familie nach Nazareth und dem Auftreten
des Täufers eine zeitliche Differenz von augenscheinlich mehreren Jahrzehnten (vgl. V.13). In V.4,12 beginnt das öffentliche Auftreten Jesu ausdrücklich
mit dem Ende des Wirkens des Täufers, die Wüste wird verlassen, ein Schnitt
ist als gerechtfertigt.
Literarkritik
(Kontextkritik)
Der vorliegende Abschnitt besteht aus vier Teilen: an die Einführung des Täu- (Kohärenzfer werden mit dem dreimaligen „damals“ (V.3,5.13, V.4,1) drei Episoden an- kritik)
geschlossen, die inhaltlich durch den Themenkreis Umkehr-Taufe-Versuchung
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
57
und durch den gleich bleibenden Ort der Wüste locker miteinander verbunden sind: die Umkehr und Taufe der vielen (incl. Bußpredigt), die Taufe Jesu
im Mittelteil und die Versuchungen Jesu. Im ersten Teil ist Johannes im Mittelpunkt, im zweiten Johannes und Jesus, im dritten Jesus. Inhaltlich gibt
auch dieser Text eine Antwort auf die Frage, wer Jesus ist.
Der Befund bei den anderen Evangelisten lässt für die Täufertradition eine Übervorschriftliche Überlieferung vermuten. Während Markus sehr knapp bleibt, lieferungsfindet sich die Predigt des Täufers weit ausführlicher bei Lukas. Bei Johannes kritik
ist er vor allem der, der Jesus ankündigt. Johannes überliefert aber auch, dass
der Täufer Johannes seinen Jüngern als Messias galt, und vermutlich nicht
nur ihnen. Da ihre Gemeinschaft auch nach seinem gewaltsamen Tod lange
Zeit neben der christlichen Kirche weiter bestand, ist eine zunächst mündliche und später schriftliche Überlieferung seines Wirkens sehr wahrscheinlich.
Die Taufe wird nur von Matthäus, Markus und Lukas überliefert, bei Johannes zumindest angedeutet und vorausgesetzt. Bei Mk beschränkt sich die
Darstellung auf 2 Verse, ebenso bei Lk, der an die Taufe einen Stammbaum
anfügt. Die Überlieferung, dass Jesus sich taufen ließ, ist also gesamtchristlich, der Disput zwischen ihm und Johannes ist entweder Überlieferung der
mt Gemeinde(n) oder mt Bildung. Die Versuchungen werden nur von Matthäus, Markus und Lukas geschildert, bei Mk bleibt es bei der Notiz, dass
Jesus in Versuchung geführt wurde. Lukas berichtet von den gleichen Versuchungen, allerdings in anderer Reihenfolge, es scheint sich also um eine
Überlieferung zu handeln, die nicht in allen christlichen Gemeinden so detailliert bekannt war. Mt und Lk scheinen hier aber auf eine gemeinsame
mündliche oder schriftliche Tradition zurückzugreifen. Gesamtchristlich ist
die Überlieferung, dass Jesus nach der Taufe in der Wüste in Versuchung
geführt wurde.
Eine erste Stufe der Verschriftlichung lässt sich aus der biblischen Überlieferung ableiten: sie findet sich bei Markus und umfasst in etwa im vorliegenden Abschnitt die Verse 3-5.11. Inhaltlich ist es die knappe Beschreibung des
Täufers als endzeitlichem Propheten, der die Menschen zur Umkehr aufruft
und auf Jesus hinweist, und ihn tauft, bevor Jesus in der Wüste in Versu-
Quellenund
Redaktionskritik
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
58
chung geführt wird. Irgendwann scheint in einigen Gegenden (Lk und Mt)
eine Zusammenfassung der Johanneischen Verkündigung hinzugekommen zu
sein, vermutlich dort, wo Johannes-Jünger und Jesus-Jünger coexistierten
und schließlich verschmolzen. In diesen Gegenden scheint auch die Versuchung Jesu ausgeschmückt worden zu sein. Zu dem Disput zwischen Jesus
und Johannes s.o. Auch scheint sich in einigen Gegenden eine ausführlichere
Darstellung der Versuchung gebildet oder erhalten zu haben.
Der vorliegende Abschnitt lässt sich wie folgt gliedern:
1. Einleitung (VV.1-4): Vorstellung des Täufers mit Schrifterweis V.3
2. Teil 1: Das Wirken des Täufers (VV.5-12), erstes „damals”
(a) Wirkung seines Auftretens (5-6)
(b) Predigt des Täufers (7-12)
i. Endzeitliche Ermahnung der Sadduzäer und Pharisäer (7-10)
ii. Ankündigung des Messias, der in naher Zukunft als Retter
und Richter kommen wird (11-12)
3. Teil 2: Die Taufe Jesu (VV.13-17), zweites „damals”
(a) Ankunft Jesu (13)
(b) Disput über seine Bitte um Taufe (14-15)
(c) Herabkunft des Geistes und Proklamation als Gottessohn (16-17)
4. Teil 3: Die Versuchungen (VV.1-11), drittes „damals”
(a) Ausgangssituation (1-2)
(b) Hunger als erste Prüfung der Gottsohnschaft (3-4) mit Schriftzitat
V.4
(c) falsches Gottvertrauen als zweite Prüfung der Gottsohnschaft (57) mit zwei Schriftzitaten V.6.7
Formkritik
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
59
(d) Glaubensabfall aufgrund von Machtstreben als dritte Prüfung der
Gottsohnschaft (8-10) mit indirektem Schriftverweis V.10
(e) Rückzug Satans (11)
Im ersten Teil (V.1-6.11-12) wird Johannes eingeführt. Es scheint auf einer Gattungshistorischen Erinnerung seines Wirkens zu basieren und christlich gedeutet kritik
worden zu sein. Die Predigt des Täufers scheint eine Vorlage für christliche
Verkündigung zu sein, die eine jüdische Hörerschaft vor Augen hat und zugleich die Heidenmission begründet (V.9). Zumindest scheint sich auch hier
die Auseinandersetzung mit dem Judentum zu spiegeln. Insgesamt handelt
es sich um den Grundzug frühchristlicher Verkündigung: Was ist zu tun angesichts des nahen Weltgerichts und der Ankunft Jesu?
Im Disput Jesu mit dem Täufer wird eine Antwort auf die Frage gegeben,
warum Jesus sich taufen lässt. Sie trägt weisheitlich-belehrenden Charakter
und wird sich historisch kaum so zugetragen haben. Die Schilderung der
Herabkunft des Heiligen Geistes und der Proklamation trifft eine theologische
Aussage über das Wesen der christlichen Taufe und Jesu.
Die Erzählung von den Versuchungen ist so kunstvoll aufgebaut, dass auch
hier die Vermutung naheliegt, die Intention sei eine belehrende.
Folgende inhaltliche Kenntnisse werden vorausgesetzt:
Jesaja Zitat (Jes 40,3 LXX): Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.
Redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, dass ihr Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist; denn sie hat die
volle Strafe erlitten von der Hand des Herrn für all ihre Sünden. Eine
Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut
in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich
heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben. Dann offenbart sich die
Herrlichkeit des Herrn, alle Sterblichen werden sie sehen. Ja, der Mund
des Herrn hat gesprochen. Eine Stimme sagte: Verkünde! Ich fragte:
Was soll ich verkünden? Alles Sterbliche ist wie das Gras, und all seine Schönheit ist wie die Blume auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die
Traditionskritik
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
60
Blume verwelkt, wenn der Atem des Herrn darüberweht. Wahrhaftig,
Gras ist das Volk. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, doch das
Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit. Steig auf einen hohen Berg,
Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem,
du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den
Städten in Juda: Seht, da ist euer Gott. Seht, Gott der Herr, kommt
mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Seht, er bringt seinen Siegespreis mit: Alle, die er gewonnen hat, gehen vor ihm her. Wie ein Hirt
führt er seine Herde zur Weide, er sammelt sie mit starker Hand. Die
Lämmer trägt er auf dem Arm, die Mutterschafe führt er behutsam
(Jes 40,1-11). Der Zusammenhang, in dem die Worte stehen, die Mt,
Lk und Mk auf den Täufer beziehen, ist eindeutig: Wie die Stimme in
der Wüste Gottes machtvolles und befreiendes und alles veränderndes
Kommen ankündigt, so auch Johannes. Jesus ist der Herr, der Gute
Hirt, auf den verwiesen wird. Die frühen Christen, die ihre Bibel kannten, haben diesen Zusammenhang mitgehört, wenn die zitierte Stelle
auf jene Ereignisse am Jordan hin gedeutet wurden. Die Menschen, die
Jesus als Siegespreis voran gehen, sind alle, die umkehren und sich als
Zeichen dafür taufen lassen. Anders als die Szene, die Mt beschreibt,
atmet der Jesaja-Text allerdings pure Freude.
Schriftzitate in der Versuchungsszene:
• Dtn 8,3: Durch Hunger hat er dich gefügig gemacht und hat dich dann
mit dem Manna gespeist, das du nicht kanntest und das auch deine
Väter nicht kannten. Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch
nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was
der Mund des Herrn spricht. Mit diesen Worten leitet Mose eine Ermahnung ein, auch im Reichtum nicht zu vergessen, dass das Leben
und alles Gute darin von Gott kommt, dass auf ihn mehr Verlass ist,
als auf Reichtum und Wohlstand.
• Ps 91: Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des
Allmächtigen, der sagt zum Herrn: „Du bist für mich Zuflucht und Burg,
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
61
mein Gott, dem ich vertraue.“ Er rettet dich aus der Schlinge des Jägers
und aus allem Verderben. Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter
seinen Schwingen findest du Zuflucht, Schild und Schutz ist dir seine
Treue. Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten,
noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im
Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag. Fallen auch
tausend zu deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es
doch dich nicht treffen. Ja, du wirst es sehen mit eigenen Augen, wirst
zuschauen, wie den Frevlern vergolten wird. Denn der Herr ist deine
Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt. Dir begegnet
kein Unheil, kein Unglück naht deinem Zelt. Denn er befiehlt seinen
Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf
ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt; du schreitest
über Löwen und Nattern, trittst auf Löwen und Drachen. „Weil er an
mir hängt, will ich ihn retten; ich will ihn schützen, denn er kennt
meinen Namen. Wenn er mich anruft, dann will ich ihn erhören. Ich
bin bei ihm in der Not, befreie ihn und bringe ihn zu Ehren. Ich sättige
ihn mit langem Leben und lasse ihn schauen mein Heil.“ Ein Psalm,
der großes Vertrauen in den Beistand Gottes ausdrückt, weil dieser
Beistand durch Gott selbst zugesagt ist.
• Dtn 6,16-18: Ihr sollt den Herrn, euren Gott, nicht auf die Probe stellen,
wie ihr ihn bei Massa auf die Probe gestellt habt. Ihr sollt auf die
Gebote des Herrn, eures Gottes, genau achten, auf seine Satzungen und
Gesetze, auf die er dich verpflichtet hat. Du sollst tun, was in seinen
Augen richtig und gut ist. Dann wird es dir gut gehen, und du kannst
in das prächtige Land, das der Herr deinen Vätern mit einem Schwur
versprochen hat, hineinziehen und es in Besitz nehmen. Auch in dieser
Stelle wird mit Verweis auf ein Ereignis während der Wüstenwanderung
das Volk ermahnt, nicht zu vergessen, wer es in die Freiheit geführt hat
und wessen Weisung und Satzung diese Freiheit garantiert. Diesen Gott
in Versuchung zu führen heißt, sich gegen ihn aufzulehnen.
• Der Schriftverweis in V.10 ist eher allgemeiner Natur und bezieht sich
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
62
z.B. auf die Zehn Gebote und ist zudem in den bisherigen Schriftverweisen Jesu enthalten.
Königsherrschaft der Himmel oder „Königreich der Himmel” oder „Reich
Gottes” ist eine schwer zu definierende Größe. Jesus nähert sich ihr im
weiteren Verlauf seiner Verkündigung in vielen Gleichnissen und Zeichen. Gott ist der König, sein Wort, seine Weisung, überliefert durch
Mose und die Propheten und nicht zuletzt Jesus, garantieren ein Leben
in Freiheit und Würde und in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott, so
wie es zu Beginn im Paradies war. Dazu gehört, dass Tod, Krankheit,
Armut und Unrecht, Krieg und Hass und Gewalt keine bestimmenden
Größen mehr sind. Gott allein hat alles in der Hand. Diese Gottesherrschaft am Ende der Zeit hat nach christlichem Verständnis mit Jesus
begonnen, darum wird er im Evangelium als der endzeitliche Messias
gefeiert. Doch nicht jeder ist Teil dieses Himmelreiches: Nur, wer den
Willen des Vaters tut, gehört dazu, der Gerechte, wie etwa Josef und
Maria. Der Sünder, also der, der den Willen des Vaters nicht tut, hat
keinen Anteil am Gottesreich, wie Jesus später betonen wird und wie
auch schon die Drohrede des Johannes anklingen lässt.
Umkehr / Buße: Seit dem Bund ist Gottes Volk zu besonderer Treue aufgefordert; durch Begegnung mit anderen Völkern und deren Göttern
wird es zu Untreue und Abfall von Gott verführt. In der Heiligen Schrift
ergeht darum immer wieder der Ruf der Umkehr; sie wird vollzogen
durch bestimmte gemeinsame Bußübungen wie Fasten (1Sam 7,6; Joel
1,14), Weinen und Klagen, Tragen eines Bußgewandes (2Sam 12,16)
und Bestreuen des Hauptes mit Asche (Neh 9,1) verbunden mit Sündenbekenntnis (Lev 5,5) und formulierten Gebeten (Dan 9,4-19), wie
sie auch in den Bußpsalmen erhalten sind. Umkehr, die aus Demut
übernommen wird, befähigt die Menschen, die Barmherzigkeit Gottes
zu erlangen (2Sam 12). Die Bußpraxis erstarrte jedoch immer mehr
zu einem äußerlichen Formalismus. Die Propheten verkünden deshalb
eine neue Art der Umkehr, die im Herzen des Menschen geschehen
muss (Ez 11,19; 18,31). Nur diese Umkehr wird das Volk vor dem Tag
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
63
des Herrn bewahren; sie allein ist Voraussetzung einer Versöhnung mit
Gott (Jer 31,33; Ez 11,19). Der prophetische Ruf nach Umkehr wird im
NT zunächst vom Täufer aufgenommen. Umkehr ist notwendige Vorbereitung auf den kommenden Messias (Mt 3,7ff). Anruf Gottes und
Gehorsam des Menschen werden in der Umkehr zur Einheit. Nach der
Botschaft Jesu ist Umkehr Bedingung zum Eintritt ins Gottesreich. Sie
ist Vorbereitung auf die nicht berechenbare Wiederkunft des Herrn.
Umkehr ist immer bewusstes Hinwenden des Menschen zu Gott und
seinem Reich. Jesus wird später verschiedene Wege der Umkehr aufzeigen (z.B.Versöhnung, Reue und Schuldbekenntnis, Gebet, befolgen des
Gesetzes).
Auftreten des Täufers: Johannes wird als Asket beschrieben, der offenbar sehr bewusst auf die Tradition Elijas zugreift, der ebenfalls am
Jordan wirkte und ähnlich gekleidet war (2 Kön 1,8). Damit ist er der
Prophet, der am Ende der Zeiten wiederkommen soll (Mal 3,1.23-24;
Sir 48,10-12). Der Zusammenhang mit dem Jesaja-Zitat ist vor diesem
Hintergrund hergestellt. Die Taufe scheint an rituelle Waschungen im
Judentum und an die übliche Taufe von Proselyten anzulehnen, ist aber
zugleich äußeres Zeichen der Umkehr, der Hinwendung zu JHVH und
seinen Weisungen.
Pharisäer (zu unterscheiden v. der Priesterkaste der Sadduzäer) waren keine Priester; auf Grund ihrer Gesetzeskenntnis besaßen sie große Autorität bei den Ungebildeten und werden daher gelegentlich als Führer des
Proletariats bezeichnet. Ihre Bemühungen waren religiöser, nicht politischer Natur. Gegenüber dem Staat vertraten sie eine mittlere Linie
(anders die Zeloten). In ihrer Auslegung des atl. Gesetzes war die buchstabengetreue Erfüllung höchstes Ideal; die in der mündlichen Überlieferung entstandenen unzähligen Vorschriften hatten dieselbe Geltung
wie das schriftliche Gesetz. Im Unterschied zu den Sadduzäern vertraten die Pharisäer die Auferstehung der Toten und die Existenz der
Engelwelt. „Pharisäer und Schriftgelehrte” sind in den Evangelien meist
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
64
als Bezeichnung einer zusammengehörenden Gruppe zu finden1 .
Sadduzäer: Jüdische Gruppe zur Zeit Jesu, politisch orientiert, äußerst konservativ bzw. opportunistisch, getragen besonders von höher gestellten
Priestern und wohlhabenden Familien. Sie standen im Gegensatz zu den
Pharisäern. Sie ließen nur das geschriebene Gesetz (Mosebücher) gelten, nicht dessen zeitgemäße Auslegung durch mündliche Überlieferung.
Auch die Schriften der Propheten betrachteten sie nicht als maßgebend.
Sie leugneten die leibliche Auferstehung, ein Weiterleben nach dem Tod
und die Existenz v. Engeln. Ihre Denkweise und Lebenseinstellung waren weltoffen, dem Hellenismus zugewandt. Nach dem Fall Jerusalems
(70 n.C.) verschwand die Gruppe der Sadduzäer; das spätere Judentum
ist geprägt durch das Pharisäertum.
Sünde ist nach atl. Vorstellung die Abkehr von Gott und seinem Weg, also
etwas, das zunächst vom Menschen ausgeht. Die Versuchung zur Sünde
wird allerdings später übermenschlichen Mächten zugeschrieben. Sünde
verhindert daher die Vollendung des Menschen und der Schöpfung, wie
Gen 2-3 darstellen. Letzten Endes wurzelt Sünde im Unglauben oder
doch zumindest im Kleinglauben.
Versuchung2 : Das griechische Wort πειραζω, das hier benutzt wird (V.4,1.7),
bedeutet soviel wie: prüfen, versuchen, untersuchen, auf die Probe stellen. Gegenstand der Prüfung ist letztlich die Bundestreue (vgl. z. B.
Buch Hiob), unabhängig ob Gott versucht wird oder ein Glaubender.
Wird Gott versucht, ist das auf Seiten des Menschen ein Zeichen für
mangelnden Glauben und mangelndes Gottvertrauen. Dieses wird geprüft, wenn ein Mensch in Versuchung geführt wird, allerdings bleibt
biblisch offen, wer letzten Endes in Versuchung führt: mal ist es Satan
aus eigenem Antrieb, mal im Auftrag Gottes.
Teufel: Das griechische Wort διαβολος bedeutet soviel wie: Teufel, Verleumder, wörtlich „der durcheinander bringt/wirft”. Dabei ist diabolos als
1
Siehe Kleines Stuttgarter Bibellexikon.
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
65
griechische Übersetzung des hebräischen satan zu verstehen. Zusammenfassend ist Satan im Biblischen Denken ein (gefallener) Engelfürst,
der im Buch Hiob sogar zum Thronrat Gottes gehört, und den Glauben und die Treue des Menschen auf die Probe stellt – auch, indem er
göttliche Inspiration vorgaukelt. Entrinnen kann man seiner List nur
durch Umkehr, Buße und Gebet.
Taube: Sie taucht hier als Bild für den Heiligen Geist auf. In Mt 10,16 ist
sie Symbol für Arglosigkeit. Bei der Sintfluterzählung zeigt die Taube
mit dem Ölzweig im Schnabel das Ende der Sintflut an.
Heiliger Geist: Der Geist Gottes schwebt am 1. Schöpfungstag über dem
Wasser (Gen 1,2) und ist sogar das gestaltende Prinzip der Schöpfung
(Jdt 16,4, Weish 1,7). Lukas interpretiert daher die Taufe als eine Neuschöpfung. Der Geist wird auserwählten Menschen für die Zeit ihres
Wirkens geschenkt (Königen, Propheten, Richtern) als Ausdruck dafür, dass Gott durch diese Menschen wirkt.
Gerechtigkeit: Siehe das auf Seite 27 gesagte.
Im Mk beginnt mit dem Wirken des Täufers auch das Wirken Jesu. Die Taufe in die Umkehr hinein wurde zum Eintrittszeichen in die Kirche. Damit
wird ein zentrales Wesen der Jüngerschaft beschrieben: Umkehr zum Gesetz
Gottes und das Streben, im Sinne Jesu nach diesem Gesetz zu leben, damit
das Reich Gottes Wirklichkeit werden kann. Umkehr und Sündenbekenntnis
sind Voraussetzung für den Neubeginn mit Gott. Die Predigt des Täufers
spiegelt die Kritik seiner Bewegung und der Jesus-Jünger an Gruppen des
zeitgenössischen Judentums. Wieder schimmert die Spannung zwischen Juden und Christen hindurch. Zugleich spiegelt sich die Auseinandersetzung
mit der Johannes-Gefolgschaft, die nur die Taufe in die Umkehr hinein kannte, nicht aber ihre Vollendung in der Taufe mit dem Heiligen Geist, der dem
Täufling von Gott geschenkt wird. In den Versuchungen tritt Jesus als Sohn
Gottes in Erscheinung, zugleich wird deutlich, dass Versuchungen immer zu
Leben des Getauften gehören. Versuchung, Sündenbekenntnis und Umkehr
sind Grundelemente christlichen Lebens.
Bestimmung
des
historischen
Ortes
KAPITEL 4. MT 3,1-4,11: UMKEHR UND VERSUCHUNG
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Die Perikope ist also sowohl Erinnerung an den Anfang jesuanischen Wirkens
als auch Zusammenfassung christlicher Verkündigung. Sie könnte daher ursprünglich Bestandteil christlicher Vorbereitung auf die Taufe gewesen sein
als auch Teil der Verkündigung an Johannes-Jünger.
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