Shakespeare - Wiley-VCH

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Lernen Sie William Shakespeare kennen
In diesem Kapitel
▶ William Shakespeare, Wahrheit und Dichtung
▶ Ein Blick auf Shakespeares Stücke als Unterhaltung, nicht als Literatur
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V
or etwa 400 Jahren machte ein Schauspieler aus der Kleinstadt in den Theatern von London Karriere. Seine Stücke waren populär, und er verdiente sich seinen Anteil an Ruhm
und Geld. Aber dass er als einer der größten Meister der englischen Literatur Unsterblichkeit
erlangen würde, das vermuteten weder er noch seine Kollegen. Schließlich schrieb er ja keine
Literatur, sondern nur »Pop«-Unterhaltung. William Shakespeare tat nur seine Arbeit – als
Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller und als Teilhaber einer erfolgreichen Theatertruppe.
Abbildung 1.1: William Shakespeare – ein Holzschnitt aus der First Folio,
der ersten Sammlung seiner Werke, die im Druck erschien
Es zeigte sich, dass Shakespeare seinen Job gut machte. Wirklich gut. So gut, dass er das
Drama total veränderte und dass wir seine Stücke – 400 Jahre später – immer noch zu den
besten zählen, die je geschrieben wurden. Shakespeare ist außerdem der überhaupt am meisten in Forschung und Lehre behandelte Stückeschreiber. Ein Buch nach dem anderen hat
sein Leben und sein Geistesleben analysiert und darüber hinaus wahrscheinlich noch eine
ganze Menge anderer Dinge, die Sie absolut nicht interessieren werden.
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Shakespeare für Dummies
Es macht riesigen Spaß, Shakespeares Stücke zu sehen, zu lesen und auch sie aufzuführen.
Manchmal geht der Spaß über der pedantischen Analyse Shakespeares und seiner Stücke verloren. Aber lassen Sie’s sich nicht durch die Akademiker vermiesen. Sehen Sie seine Stücke
mal aus einer anderen Perspektive: Vergessen Sie die Analyse, und konzentrieren Sie sich
stattdessen darauf, Spaß zu haben.
Das Hollywood von dazumal
Es ist dunkel. Der Mörder sitzt unvorsichtigerweise mit dem Rücken zur Tür. Der Held
kommt vorbei und sieht den Mörder – das ist seine Chance, den ruchlosen und widernatürlichen Mord an seinem Vater zu rächen. Während der Held sich anschleicht, hält das Publikum
den Atem an und wartet darauf, was als Nächstes geschehen wird. Wird sich der Mörder umdrehen? Wird dem Helden seine Rache gelingen?
Ist das eine Szene aus dem neuesten Hollywood-Thriller?
Junge und Mädchen stammen aus verschiedenen Familien, zwischen ihnen liegen Welten. Er
ist dazu bestimmt, zu führen, sie, zu folgen. Ihr Vater verbietet ihr, sich mit ihrem Geliebten
zu treffen, aber das ist schon in Ordnung, denn schließlich wird der sowieso verrückt. In seinem Wahnsinn tötet er ihren Vater, was nun sie in den Wahnsinn treibt und schließlich zum
Selbstmord. Ihr Bruder kommt aus Frankreich zurück und verlangt Gerechtigkeit.
Ist das aus einer Seifenoper?
Die Antwort auf beide Fragen lautet »Ja«. Aber die Szenen stammen auch aus einem Stück,
das vor 400 Jahren geschrieben wurde – Hamlet, Prince of Denmark. Die Geschichte eines
jungen Mannes (natürlich heißt er Hamlet) und einiger wahrhaftig verrückter Vorkommnisse
in Dänemark. Über das Stück können Sie mehr in Kapitel 15 lesen.
Shakespeares Stücke sind voller Liebender und Recken, Helden und Bösewichte, es gibt sogar
eine böse Stiefmutter – alles Zutaten für den Kassenschlager. Seine Stücke wurden zu seiner
Zeit schnell zu Rennern, und sie sind seither immer populär geblieben.
Shakespeare: Der Mensch
William Shakespeare wuchs in dem kleinen Ort Stratford auf, an den Ufern des Avon. Aber darüber hinaus wissen wir nicht viel über seine ersten Jahre. Wir wissen nicht einmal, wann er
geboren wurde – nur, dass er am 26. April 1564 getauft wurde. Wahrscheinlich war er ein paar
Tage vorher geboren worden. Heute nehmen wir der Einfachheit halber an, dass er am 23.
April geboren wurde. Und zwar aus dem etwas makabren Grund, dass er im Jahr 1616 an diesem Tag starb.
William war das dritte von acht Kindern seines Vaters John Shakespeare und seiner Mutter
Mary Arden. Drei seiner Geschwister starben im Kindesalter – ein allzu normales Schicksal zu
jener Zeit. Über Williams Kindheit wissen wir nahezu gar nichts, aber wir wissen, dass er im
November 1582 die um acht Jahre ältere Anne Hathaway heiratete. Ihr gemeinsames Kind
Susanna tauften sie am 26. Mai 1583. Rechnen können Sie selbst.
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Anne bekam später Zwillinge, ein Mädchen namens Judith und einen Jungen namens Hamnet. Beide wurden nach Freunden der Familie genannt. Danach verschwindet William wieder
aus den Geschichtsbüchern. Lebte er weiter in Stratford? Zog er nach London? Wir wissen es
einfach nicht. Alles, was wir wissen, ist, dass er sieben Jahre später, im Jahr 1592, in London
auftauchte, wo er als Schauspieler und Stückeschreiber lebte. E-Mail hatte man noch nicht
erfunden, und so war London der Ort, wo sich jeder aufstrebende Stückeschreiber aufhalten
musste – denn dort waren die Theater. Er war erfolgreich genug, um die Aufmerksamkeit und
den Zorn eines konkurrierenden Dramatikers, Robert Greene, auf sich zu lenken, der Shakespeare eine »dahergelaufene Krähe (an upstart crow)« nannte.
Aber nicht alle waren so neidisch auf Shakespeares Erfolg. Die meisten seiner Zeitgenossen
erkannten sein Genie. In einem Gedicht, das der First Folio, der ersten gedruckten Sammlung
von Shakespeares Werken (im Folioformat), vorangestellt wurde, schrieb Ben Jonson, selbst
ein anerkannter Dramatiker:
Thou art a Monument without a tomb,
And art alive still while thy Book doth live,
And we have wits to read, and praise to give.
...
He was not of an age, but for all time!
(Du bist ein Denkmal ohne Gruft, und bist lebendig, solange dieses Buch noch lebt,
und wir den Verstand haben, lesen und loben zu können. ... Er gehörte nicht einer Zeit
an, sondern ist ewig!)
Schauspielen, schreiben und Regie führen reichte dazu aus, die Rechnungen zu bezahlen.
Aber damals wie heute sammelte sich der Reichtum bei dem an, der etwas zu sagen hatte.
Shakespeare verdiente nicht viel Geld damit, Stücke zu schreiben. Vielmehr verdiente er an
seinem Anteil der Karteneinnahmen. Er war Teilhaber einer Schauspieltruppe und des Theaters, in dem diese Truppe aufführte: des Globe Theatre.
Shakespeares Stücke im Globe Theatre waren so populär, dass er ein reicher Mann wurde.
Pflichtbewusst schickte Shakespeare Geld nach Stratford, aber über sein Verhältnis zu seiner
Familie wissen wir nur wenig.
Er kaufte eines der größten Häuser in Stratford, wo er und seine Familie schließlich lebten,
bis seine Töchter heirateten und auszogen. Er investierte in Immobilien um Stratford herum.
Er erwarb sich sogar hohe Ehren in Gestalt eines Wappens. Nicht schlecht für den Sohn eines
Handschuhmachers.
Hamnet starb im Kindesalter, aber Shakespeares Töchter wurden groß und bekamen selber
Kinder (Judiths Kinder starben früh). Susannas einziges Kind, Elizabeth, war die letzte Nachfahrin Shakespeares.
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Shakespeare für Dummies
Shakespeare: Der Mythos
Da wir so wenig über die wahre Geschichte William Shakespeares wissen, sind eine Menge Geschichten um sein Leben entstanden. Der hartnäckigste Mythos ist der, dass Shakespeare die
unter seinem Namen verfassten Stücke nicht selbst geschrieben habe. Ein anderes interessantes Märchen besagt, dass Shakespeare an der King James Bible mitarbeitete.
Wo ist der echte William Shakespeare?
Es gibt einige Leute, die behaupten, dass Shakespeare seine Stücke nicht wirklich selbst geschrieben habe. Stattdessen, so sagen sie, habe irgendjemand anderes die Stücke verfasst, und
diese mysteriöse Person wollte oder musste anonym bleiben. Niemand kann diese Behauptungen beweisen, und verschiedene Leute schlagen verschiedene mysteriöse Kandidaten für den
»wirklichen« William Shakespeare vor. Die meisten ihrer Argumente sind sich aber ähnlich:
✔ Shakespeares Bildung war nicht besonders umfassend. Somit hätte er keine so ausge-
zeichnete Beherrschung des Englischen haben können. Deshalb muss jemand mit einer
höheren Bildung seine Stücke geschrieben haben.
✔ Shakespeare kam nicht herum und hatte nichts von der Welt gesehen. Somit hätte er
keine Stücke schreiben können, in denen so unterschiedliche Orte wie Ägypten, Syrakus
und Italien vorkommen.
✔ Shakespeare konnte kaum Fremdsprachen. Somit hätte er keine Stücke schreiben können, die Passagen in Latein und Französisch enthalten.
✔ Die Stücke malen oft vertrauliche Details aus dem Leben von Königen und Königinnen
aus – eine Welt, von der der »bürgerliche« Shakespeare nichts wissen konnte.
Die meistgenannten Anwärter auf Shakespeares Thron sind Francis Bacon, Edward de Vere,
der 17. Earl of Oxford, und Christopher Marlowe – obwohl die vollständige Liste der Kandidaten recht lang ist und unter anderem so abwegige Namen enthält wie den von Königin Elizabeth I. und von Anne Hathaway, Shakespeares Frau. Sehen Sie sich doch mal eben einige der
Fakten an.
Der Earl of Oxford starb im Jahr 1604. Einige der besten Stücke Shakespeares wurden aber
erst danach geschrieben. The Tempest etwa schrieb Shakespeare erst 1611. Um dieses Problem zu erklären, müssen Sie schon mit einigen verschlungenen Ausführungen aufwarten.
Christopher Marlowe war ebenfalls ein ausgezeichneter Stückeschreiber. Aber er wurde schon
1593 getötet, noch bevor Shakespeare die meisten seiner Stücke geschrieben hatte. Wenn Sie
nicht glauben wollen, dass der Earl of Oxford die Stücke geschrieben hat, dann können Sie
auch Marlowe nicht als Autor anerkennen.
Es bleibt Francis Bacon übrig, der ein Vielschreiber war. Sein Stil unterscheidet sich von dem
Shakespeares, und es gibt keinerlei Anlass, zu glauben, dass er irgendwelche Stücke unter
dem Pseudonym »Shakespeare« geschrieben hätte.
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Berücksichtigen Sie noch folgende Fakten. Wir kennen nicht alle Einzelheiten von Shakespeares Leben, doch ist es in der Tat unwahrscheinlich, dass er jemals Italien besucht hat, das
den Hintergrund für viele seiner Stücke abgibt. Deshalb hat er auch niemals die mitten im
Landesinneren gelegene Stadt Mailand gesehen, und er hat nie erfahren, welchen Fehler er
beging, als er Prosperos Zeilen schrieb, in denen er beschreibt, wie dieser und seine Tochter
Miranda eines Nachts entführt wurden:
... they hurried us aboard a bark,
Bore us some leagues to sea; where they prepared
A rotten carcass of a butt, not rigg’d,
Nor tackle, sail, nor mast; the very rats
Instinctively have quit it: there they hoist us,
To cry to th’ sea that roar’d to us; to sigh
To th’ winds, whose pity, sighing back again,
Did us but loving wrong. (The Tempest 1.2.144-51)
... sie verschleppten uns auf eine Barke
Und dann einige Meilen auf die See.
Dort nahmen sie ein faulendes Aas von Waschtrog,
Kein Takelwerk, kein Mast, kein Segel mehr,
Die Ratten selbst hatten es schon verlassen;
Drin setzten sie uns aus, dass wir der See
Die uns umbrüllte, unsre Leiden klagten,
Den Winden, deren Mitleid uns umseufzte,
Und die uns liebend wehtaten. (Fried, III, 577-78)
Mailand ist weit entfernt von der See, von einem großen Fluss oder von irgendeinem Ort, an
dem eine Barke anlegen könnte. Aber das hat Shakespeare nicht gestört. Er wusste, dass die
Poesie des Augenblicks wichtiger war als eine genaue Wiedergabe der geografischen Details.
In ähnlicher Weise wäre es einem gebildeten Gentleman durchaus bekannt, dass Kirchenglocken eine Erfindung des Mittelalters waren. Trotzdem lässt Shakespeare im alten Rom Glocken erklingen.
No funeral rite, nor man in mourning weed,
No mournful bell shall ring her burial. (Titus Andronicus, 5.3.195-96)
[Tamora] soll weder Grab noch Totenklage haben,
Und keine Trauerglocke soll ihr läuten. (Fried, I, 149)
Shakespeares Stücke sind gespickt mit solchen Ungenauigkeiten. Diese kleinen Patzer beeinträchtigen die Stücke aber nicht, und wahrscheinlich fallen Ihnen die meisten gar nicht erst
auf. Aber sie enthüllen einen Autor, dem die Universitätsbildung abgeht. Um es anders auszudrücken, sie teilen uns mit, dass William Shakespeare und nicht etwa Francis Bacon oder der
Earl of Oxford diese Stücke schrieb. Einige wenige Leute wird man niemals davon überzeugen
können, dass William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon die ihm zugeschriebenen Stücke
verfasste. Aber schließlich gibt es auch Leute, die glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.
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Shakespeare für Dummies
Wenn es bewiesene Sache wäre, dass tausend Affen, die willkürlich mit Federn herumkratzten, zufällig die Werke Shakespeares hervorgebracht hätten, dann wäre das ein Wunder. Aber
auch ein solches Wunder könnte die Qualität der Stücke in keiner Weise beeinträchtigen.
Nach wie vor wären es Meisterwerke der Literatur und der Unterhaltung. Wenn Sie sich in
Ihrem Theatersessel zurechtsetzen und in King Henry V die Armeen Frankreichs und Englands über die Bühne marschieren sehen, dann können Sie sich an den Figuren und der Spannung erfeuen, aber auch an dem sicheren Wissen darum, dass William Shakespeare, der Barde
aus Stratford-upon-Avon, das literarische Genie war, das seine eigenen Stücke verfasste.
Shakespeare als Bibelexperte?
Shakespeare war ein Meister der englischen Sprache – keine Frage. König James I. ordnete an,
dass eine neue Version der Bibel in der englischen Alltagssprache geschrieben werde, auf dass
ein jeder sie lesen und verstehen könne. Irgendwie hat jemand diese beiden Tatsachen durcheinandergebracht und kam zu der bemerkenswerten Schlussfolgerung, dass Shakespeare an
der King James Bible beteiligt gewesen sein müsse.
Dieses abwegige Gerücht lohnt fast nicht, sich die Zeit zu nehmen, es zu widerlegen. Dennoch
hält es sich hier und da ganz hartnäckig. Heute halten wir Shakespeare für einen Meister der
englischen Sprache, aber zu seiner Zeit war er nichts weiter als ein Schauspieler und ein Stückeschreiber. Seien Sie versichert, dass König Jakob bei keinem Entertainer anfragte, ob er
ihm bei seinem heiligen Werke helfen werde – ganz egal wie berühmt der auch sein mochte.
Unterhaltung für die Masse
Shakespeare hatte sowieso keine Zeit, dabei zu helfen, die Bibel zu übersetzen. Er war vollauf
damit beschäftigt, einige seiner besten Stücke zu schreiben: Othello, King Lear, Macbeth, The
Tempest und andere mehr. Shakespeare und andere Entertainer hatten im England der frühen Neuzeit eine ganz bestimmte Aufgabe: die Massen zu unterhalten. Es gab kein Kino, kein
Fernsehen, keinen Fußball. Wenn man reich genug war, dann konnte man sich Home Entertainment leisten und Musiker, Schauspieler, Tänzer und Fechter (Vorläufer des modernen
Fechtsports) in sein Haus holen. Für jeden anderen aber galt es, sich sein Entertainment woanders zu suchen: In London war das Theater eine der favorisierten Optionen.
Wenn Sie heute mit Ihren Freunden was losmachen wollen, dann könnten Sie erst mal ins
Kino gehen und dann in eine Bar oder eine Disco. Vor 400 Jahren hätten Sie vielleicht erst ein
Stück gesehen und wären dann zu einer nahegelegenen Kneipe gegangen. Selbst das Theater
war zu dieser Zeit eine noch relativ moderne Erfindung. Fahrende Entertainer besuchten die
Städte und die Kneipen, um zu musizieren und Tänze oder Theaterstücke aufzuführen. Aber
die besten Stücke sah man nur in London. London war nach heutigen Gesichtspunkten eine
Kleinstadt (Londons Bevölkerung ist heute etwa sechzigmal so groß wie zu Shakespeares
Zeit), aber es war immerhin groß genug, um einen jungen Stückeschreiber zum Star zu machen und ihn in die Unsterblichkeit zu katapultieren.
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Shakespeare fügte in verschiedene seiner Stücke fahrende Schauspieler und
Laien ein. Die Handwerker in A Midsummer Night’s Dream und die Schauspieler
in Hamlet sind die bekanntesten, aber der Anfang von The Taming of the Shrew
zeigt am deutlichsten die fahrenden Schauspieler. Sie kommen in ein Gasthaus
und führen dort das Stück The Taming of the Shrew auf. (Eine vollständige Zusammenfassung dieses spritzigen Stücks können Sie in Kapitel 13 nachlesen.)
Obwohl sich die Äußerlichkeiten geändert haben, heute haben wir zum Beispiel
Glühbirnen und Glühwein, ändern sich die Menschen nicht so schnell. Uns gefällt es immer noch, eine gute Show zu sehen, ein Glas Bier zu trinken und mit
Freunden zusammen zu sein. Das war es, was Shakespeares Stücke damals boten,
und das bieten sie auch heute noch.
Manchmal fällt es schwer, zu glauben, dass ein Stück, das vor vier Jahrhunderten
geschrieben wurde, immer noch unterhaltsam sein kann. Wenn Sie es nicht glauben, dann sehen Sie sich einmal Baz Luhrmanns Version von Romeo and Juliet
an, mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes in den Hauptrollen. Der moderne
Hintergrund, der ohrenzerreißende Soundtrack, der Schnellfeuer-Dialog und
Shakespeares Worte verschmelzen in diesem Hochgeschwindigkeits- und Actionfilm. Wenn Sie aus dem Kino kommen (oder den DVD-Player ausschalten), kann
es sein, dass Sie gar nicht gemerkt haben, dass Sie Shakespeares Stück gesehen
und Shakespeares Worte gehört haben. Wer behauptet, dass Shakespeare langweilig sein müsse?
Op de schäl Sick (Auf der falschen Seite des Flusses)
Im Westen haben wir seit Langem eine etwas seltsame Haltung gegenüber Entertainern. Einerseits waren und sind einige unserer größten Berühmtheiten Entertainer – von Richard
Burbage zu Shakespeares Zeiten bis hin zu den populären Stars von Film, Bühne und Fernsehen des heutigen Tages. Andererseits hatte das Entertainment Business schon immer auch
eine Schattenseite.
Gehen Sie mal an einer Supermarktkasse vorbei, und Sie werden sehen, dass die Öffentlichkeit scheinbar nie genug Klatsch über unsere Stars bekommen kann. Ihr Leben und Lieben
macht Schlagzeilen, und ihre Fans wollen immer mehr – aber auch nicht zu viel. Es macht
Spaß, den Lifestyle der Reichen und der Berühmten zu beobachten und darüber zu lesen.
Vielleicht stellen Sie sich ja sogar vor, selbst so zu leben. Aber dann bricht die Realität ein –
die Scheidungen, die Affären und die Skandale. Ganz bestimmt würden Sie nicht wollen, dass
Ihr Kind einen Star heiratet und an die berüchtigte Hollywood-Szene gerät. Die Glitterwelt
des Entertainments ist doch eher etwas, das man aus der Ferne bewundert.
Zu Shakespeares Zeit war das nicht viel anders. Die Theater waren verrufen und aus London
verbannt. Das konnte allerdings die Schauspieler nicht aufhalten – sie bauten ihre Theater
einfach außerhalb der Stadt. Shakespeares Theater, das Globe Theatre, befand sich im Süden
der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses in Southwark (ausgesprochen »Satherk«). Das
war der Rotlichtbezirk Londons, von Prostituierten und Scharlatanen bevölkert – und von
Schauspielern. In dem törichten Versuch, die »Sittenlosigkeit« der Schauspieler und des
Schauspielens einzugrenzen, verboten die Stadtväter Frauen sogar die Bühne. Diese Ein-
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schränkung führte dazu, dass Knaben die Frauenrollen spielten, eine Tatsache, die sich
Shakespeare oft zunutze machte, indem er die weiblichen Charaktere sich als Knaben verkleiden ließ. Lesen Sie mehr über Knaben, die Mädchen spielten, die Knaben spielten, in Kapitel 8.
Das Globe Theatre
Lange war uns nicht viel über Shakespeares Theater bekannt. Historiker hatten es geschafft,
hier und da einige Bruchstücke der Erkenntnis zusammenzufügen, um daraufhin fundierte
Vermutungen über Aussehen und Gebrauch der elisabethanischen Bühne anzustellen. Die berühmteste Beschreibung des Globe Theatre hat Shakespeare selbst gegeben. Im Prolog zu
King Henry V erzählt er uns von dem runden Theater, das das Globe war, wenn er fragt:
... may we cram
Within this wooden O the very casques [helmets]
That did affright the air at Agincourt? (Prologue. 12-14)
... hielte
Dies runde O aus Holz auch nur die Helme,
Die dort bei Agincourt die Luft erschreckten? (Fried, II, 131)
Als 1989 Bauarbeiter zufällig den Standort des ersten Globe Theatre entdeckten, war plötzlich
alles anders. (Es waren insgesamt zwei Globe Theatre gebaut worden. Shakespeare benutzte
das Erste der beiden, das 1613 abgebrannt war. Am gleichen Ort errichtete man bald darauf
ein neues Theater, das man mehrere Jahrzehnte benutzte, bis es 1644 in einem Anfall puritanischer Eiferei niedergerissen wurde.)
Special Effects
Es ist doch zu schade, dass Shakespeare keine Videokamera hatte. Einige Inszenierungen
arbeiteten mit spektakulären Special Effects, aber alles, was wir dazu haben, sind Worte
auf Papier. Wir haben keine Ahnung, was das Publikum sah, aber es muss großartig gewesen sein. In Cymbeline beispielsweise kam Jupiter nicht zu Fuß auf die Bühne wie ein gewöhnlicher Sterblicher, sondern er schwebte von einem Boden über der Bühne herab.
Selbstverständlich nannte man diesen Boden oft den »Himmel (heavens)«. Eine Falltür
auf der Bühne öffnete sich zur »Hölle (hell)«. Nach Shakespeares Bühnenanweisungen
nahm Jupiter seinen Auftritt mithilfe einer ausgefeilten Maschinerie und Special Effects:
Jupiter descends in thunder and lightning, sitting upon an eagle: he throws a
thunderbolt. The Ghosts fall on their knees. (Cymbeline 5.4.93)
Jupiter fährt mit Blitz und Donner nieder. Er sitzt auf einem Adler und schleudert
einen Donnerkeil. Die Gespenster fallen auf die Knie. (Fried, III, 482)
Bühnenanweisungen dieser Art sind in Shakespeares Stücken ungewöhnlich. Die meisten
teilen uns einfach nur mit, wann ein Charakter auftritt oder von der Bühne abgeht. Einige wenige Stücke haben ausführlichere Bühnenanweisungen, die uns eine ganze Menge
über die zu Shakespeares Zeiten verwendeten Special Effects verraten.
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Wir wissen, dass gelegentlich Hunde auf der Bühne auftraten. In The Two Gentlemen of
Verona beispielsweise stiehlt Launce mit seinem Hund Crab die Show. Größere Tiere
waren etwas schwieriger in der Handhabung. Wenn Diomedes in Troilus and Cressida seinem Diener sagt, »Go, go, my servant, take thou Troilus’ horse« (5.5.1) – »Geh, Diener,
nimm des Troilus schönes Tier« (Fried, II, 532), dann hatte er wohl kein echtes Pferd auf
der Bühne. In King Henry V sagt der Prolog, »Think, when we talk of horses, that you see
them« (26) – »Wenn wir von Pferden reden, denkt, ihr seht sie« (Fried, II, 131).
Das interessanteste Tier ist dagegen das in The Winter’s Tale erwähnte. Antigonus findet
sein vorzeitiges Ende bei der Bühnenanweisung »Exit, pursued by a bear« – »Er flieht,
verfolgt von einem Bären«. Shakespeares Publikum wusste, wie echte Bären aussahen,
denn unweit des Globe Theatre konnte man der Bärenhatz zusehen. Einen Schauspieler
im Bärenkostüm hätte man darum wohl kaum akzeptiert. Der Schauspieler, der Antigonus spielte, ist deshalb möglicherweise von einem echten Bären verfolgt worden. Das ist
doch was für jeden Lebenslauf.
Archäologen stürzten sich wie Geier auf den Schauplatz, doch das moderne London ist nicht
gerade der günstigste Ort für archäologische Ausgrabungen. Vor allem deshalb, weil über den
Grundmauern des Globe ein Gebäude steht, was die Forschung ziemlich erschwert. Moderne
Technologie erlaubt es uns, die Grundmauern aus der Entfernung zu untersuchen, und ein
neues Globe Theatre erhob sich nicht weit von dem Original. Das neue Theater wurde 1997
eröffnet und wurde sehr schnell zu einer bedeutenden Touristenattraktion. Wenn Sie mehr
über dieses Top-Ten-Theater für Shakespeares Stücke herausfinden möchten, dann sehen Sie
sich Kapitel 19 an.
Das runde Freilichttheater – das »runde O aus Holz (wooden O)« – hatte einen Durchmesser
von etwa 30 Metern (100 ft). Die Abmessungen der Bühne betrugen etwa 15 mal 7 Meter (50
mal 25 ft), und sie sprang bis ins Publikum vor, sodass die Schauspieler auf drei Seiten Zuschauer hatten. Direkt um die Bühne herum standen Zuschauer, um das Stück zu sehen, und
die Zuschauer, die auf der Erde (im Parkett) standen, die sogenannten Gründlinge (groundlings), zahlten am wenigsten. Gegen einen Aufpreis konnte man einen der Sitzplätze in den
Galerien bekommen, die die Wände des Theaters bildeten. Besondere Logenplätze kosteten
noch mehr. In das erste Globe Theatre passten ungefähr 3.000 Zuschauer – das ist viel mehr,
als heute in den meisten Theatern üblich ist.
Ohne künstliches Licht war es nötig, dass die Stücke draußen und bei Tageslicht aufgeführt
wurden. Wir wissen nicht, wie Bühnenbild und Kostüme aussahen, aber die Bühnendekoration war wohl recht einfach. Ein Schauspieler trug vielleicht einen verzierten Stuhl auf die
Bühne, der dann als Thron herzuhalten hatte, aber das war dann auch schon alles, womit man
etwa den Hof König Henrys VI. andeutete. Es gab keine Pausen oder andere Unterbrechungen,
während derer die Bühnenarbeiter das Bühnenbild hätten umbauen können. Stattdessen ging
die eine Szene nahtlos in die nächste über. Für die Kostüme gab man allerdings eine Menge
Geld aus. Das lässt sich anhand der Rechnungsbücher belegen, die wir heute noch besitzen.
Schließlich war es wichtig, dass der König aussah wie ein König.
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Shakespeare für Dummies
Wer Romeo and Juliet gelesen hat, weiß, dass es über der Hauptbühne einen Balkon gab.
Unter dem Balkon befand sich ein kleiner, durch einen Vorhang abgeschirmter Raum, den
man für solche Entdeckungen benutzte wie etwa die »Statue« Hermiones in The Winter’s
Tale. (Zu einer Beschreibung der Statuen-Szene siehe Kapitel 13.)
Das Blackfriars Theatre
Das Globe war nicht das einzige Theater, das Shakespeare benutzte. Das Blackfriars war ein
geschlossenes Theater, kleiner als das Globe, und der Eintritt war sehr viel teurer. Möglicherweise war diese Exklusivität der Grund dafür, dass die Stadtväter so nahe der Stadtmitte ein
Theater zuließen. Shakespeare begann, das Blackfriars um 1608 herum zu benutzen. Das war
recht spät in seiner Karriere, aber das neue Theater war offenbar wichtig. Er kaufte in der
Nähe ein Haus, und hier lebte er wahrscheinlich, wenn er sich in London aufhielt.
Die Schauspieler benutzten das Globe im Sommer und zogen für den Rest des Jahres ins
Blackfriars – wenn sich das Wetter für Freilichtaufführungen nicht günstig zeigte. Über das
Blackfriars wissen wir noch weniger als über das Globe. Aber die Bühne war wohl noch etwas
kleiner als die des Globe, möglicherweise nur etwa neun mal sechs Meter (30 mal 20 ft) groß.
Um sich die Abmessungen der shakespearschen Bühne ganz zu vergegenwärtigen, probieren Sie dieses Experiment: Wenn Sie das nächste Mal in einem Theater oder Kino sind, dann versuchen Sie doch mal, etwa 9 Meter (30 ft oder etwa
10 große Schritte) entlang der Bühnenkante abzuschreiten. (In den meisten Theatern wird man Sie nicht auf die Bühne lassen, aber Sie können immerhin vor der
Bühne auf- und abgehen – wenn Ihnen der ein oder andere befremdete Blick
nichts ausmacht.) Die Tiefe von 6 Metern (20 ft) können Sie sich visuell vorstellen. In einem professionellen Theater wird die Bühne vor Ihnen wahrscheinlich
größer sein, in manchen Fällen sogar sehr viel größer. In Schulen und kleinen
Theatern wird oft eine Fläche benutzt, die der, die Shakespeare in seinen Theatern zur Verfügung hatte, ähnlich sein dürfte. Shakespeare und seinen Mitschauspielern ist es gelungen, eine ganze Menge Theater auf einer so kleinen Fläche
unterzubringen.
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