Mecklenburg-Vorpommern Zentralabitur 2010

Werbung
Mecklenburg-Vorpommern
Zentralabitur 2010
Evangelische Religion
Grundkurs
Aufgaben
Abitur 2010 Evangelische Religion GK
Seite 2
Hinweise für den Schüler
Aufgabenwahl:
Ihnen werden zwei Prüfungsarbeiten vorgelegt (Block I und Block II).
Wählen Sie einen Block aus und bearbeiten Sie diesen.
Bearbeitungszeit: Die Bearbeitungszeit beträgt 240 Minuten.
Zusätzlich werden 20 Minuten Einlesezeit für die Wahl des
Prüfungsblocks gewährt.
Hinweis:
In den Quellen wird teilweise die alte Rechtschreibung angewendet.
Hilfsmittel:
Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung
Bibel
Sonstiges:
Alle Prüfungsunterlagen sind geschlossen zurückzugeben. Entwürfe zur
Reinschrift können ergänzend zur Bewertung nur herangezogen werden,
wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa ¾
des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs umfasst.
Abitur 2010 Evangelische Religion GK
Seite 3
Block I
Thema:
Biblische und außerbiblische Jesusdeutungen und
Bilder
Textgrundlage: Elisabeth Moltmann-Wedel, Renate Kirchhoff (Hg.), Christologie
Im Lebensbezug, Valeria Ferrari Schiefer, Der Schwarze
Christus und die Symbolik des Baumes in der theologischen
Reflexion der Béatrice Kimpa Vita (1684-1706) (Kongo),
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, S. 163, 170-174
Aufgaben:
1. Skizzieren Sie die Person Kimpa Vita und ihren christologischen Ansatz auf
der Basis des vorliegenden Textes.
2. Vergleichen Sie den theologischen Ansatz Kimpa Vitas mit dem Ihnen
bekannten biblisch-christlichen Jesusbild. Gehen Sie dabei auch auf das
Verhältnis von historischem Jesus und verkündigtem Christus ein.
3. „Afrika wurde zur »neuen Heimat Christi gemacht“. Diskutieren Sie unter
Berücksichtigung dieser Aussage die „Notwendigkeit eines inkulturierten1
Christentums in Afrika“ und verdeutlichen Sie Chancen und Gefahren, die sich
aus dieser Jesus-Deutung ergeben könnten.
Gewichtung der Aufgaben:
1
2 : 4 : 4
Inkulturation: Kirche/Glaube/Christentum existieren heute in verschiedenen Kulturen. Sie sind nicht an eine
einzige Kultur gebunden, aber sie müssen jeweils in einer bestimmten Kultur existieren. Inkulturation meint den
Prozess, durch den das christliche Leben und die christliche Botschaft in eine bestimmte Kultur integriert werden.
Abitur 2010 Evangelische Religion GK
5
10
15
20
25
30
35
40
45
Seite 4
„Béatrice Kimpa Vita (1684 – 1706), eine politisch und religiös anerkannte
Persönlichkeit, schaffte es, in einer Zeit, in der die kongolesische Gesellschaft durch
die portugiesische Invasion und durch ein von den Missionaren importiertes
Christentum zerrüttet war, den Menschen Sicherheit zu geben. Aufgrund ihres
politischen und religiösen Engagements wurde sie mit einem ihrer Anhänger
öffentlich verbrannt. Valeria Ferrari Schiefer zeichnet die Christologie von Béatrice
Kimpa Vita nach.
[...]
Die Forderung der kongolesischen Bevölkerung nach eigenen schwarzen Heiligen ist
keine grundsätzliche Abneigung gegenüber dem Christentum, sondern belegte
vielmehr das Bedürfnis und die Bemühung, die »neue« Religion auf dem eigenen
kulturellen und religiösen Hintergrund zu verstehen und in die eigenen religiösen
Ausdrucksformen zu integrieren. Diese Zeichen wurden von den Missionaren nicht
wahrgenommen oder falsch interpretiert. Es gab aber nicht nur keine schwarzen
Heiligen, sondern auch Maria und ihr Sohn Jesus Christus waren weiß wie die
Europäer. Eine Religion, die die Herzen der Menschen nicht berührt, kann aber keine
Wurzeln schlagen. Ein Christus, der weiß und auf der Seite der weißen Unterdrücker
und Ausbeuter steht, kann keine befreiende Gestalt darstellen und noch weniger als
Sohn Gottes erkannt und anerkannt werden. Béatrice Kimpa Vita sieht diesen
Zusammenhang und erkennt die Notwendigkeit, die neue Religion afrikanisch zu
verwurzeln. Da sie sowohl eine nganga, d.h. eine Lehrerin und Heilerin war, die in
die afrikanische Religion eingeführt worden war, als auch eine Christin, die die
Religion und die Sprache der Missionare kannte, versuchte sie nicht nur die Heiligen
zu afrikanisieren, sondern auch in Jesus Christus den Enkel einer Sklavin zu sehen.
Mit anderen Worten wird bei Béatrice Kimpa Vita »Christus selbst« als Sohn einer
schwarzen Frau »in den Gliedern seines Leibes Afrikaner«, denn in Afrika kann
jemand nur in die Gesellschaft integriert werden, wenn er oder sie in
verwandtschaftlicher Beziehung zu einer Familie steht [...]
So stellt Béatrice Kimpa Vita Jesus Christus in einem afrikanischen
Beziehungsgeflecht vor: Er stammt aus dem Kongo, er ist der Sohn einer
afrikanischen Mutter, der Tochter einer Sklavin, Bethlehem ist in San Salvador,
Nazaret in Sundi. Diese Eingliederung Jesu und Marias in die Genealogie einer
afrikanischen Sklavenfamilie musste auf sehr fruchtbaren Boden gefallen sein und
bewirkte eine große Offenheit der Menschen für das Christentum, was den Erfolg der
Béatrice Kimpa Vita begründete... Bei den Missionaren musste sich dies angesichts
ihres Menschenbildes, nach dem Schwarze mit Tieren verglichen und die
afrikanische Kultur als grob und niedrig abgetan wurden, dagegen regelrecht wie
eine Blasphemie anhören. [...]
Es ist vielleicht heute aufgrund der zeitlichen Distanz leichter, auf dem Hintergrund
der lang andauernden Diskussion über die Notwendigkeit eines inkulturierten
Christentums in Afrika und vor allem im Bewusstsein, dass auch das europäische
Christentum ein bereits inkulturiertes ist, das Anliegen der Béatrice Kimpa Vita und
ihrer Bewegung zu verstehen. Die damaligen Missionare dagegen konnten den
Versuch der schwarzen Bevölkerung, sich das Christentum anzueignen, nicht
verstehen. Indem Béatrice Kimpa Vita Bethlehem und Nazaret im Kongo situierte
und zwar in San Salvador und in Sundi, an den zentralen politischen und religiösen
Orten des damaligen kongolesischen Reiches, wurde Afrika zur »neuen Heimat
Christi« gemacht, und Afrikaner konnten Jesus Christus als einen der Ihren
erkennen, eines der Hauptanliegen auch der heutigen afrikanischen Christologie.
Außerdem übersetzte sie das Evangelium in seiner Kernaussage, indem sie Jesus
Abitur 2010 Evangelische Religion GK
50
55
60
65
70
75
Seite 5
Christus nicht aus einer aristokratischen Familie stammen ließ, sondern die Madonna
mit der Tochter einer Sklavin identifizierte. Obwohl Béatrice Kimpa Vita selber aus
einer einheimischen aristokratischen Familie stammte, sah sie das Leiden der
Menschen und die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfuhr, und war solidarisch mit den
Unterdrückten. Deshalb war für sie Maria unter den geschundenen Menschen zu
finden, und Jesus Christus, ihr Sohn, wurde im Leiden der versklavten Bevölkerung
angesiedelt, die von den weißen Europäern gedemütigt, misshandelt und verkauft
wurde, eine Christologie, die durchaus mit einem heutigen befreiungstheologischen
Anliegen zu vergleichen ist, das Jesus Christus auf dem Hintergrund des
gekreuzigten Volkes interpretiert. Auch die Niedrigkeit Marias als Tochter einer
Sklavin war mit dem Zustand der Niedrigkeit der vielen kongolesischen Menschen,
denen aufgrund der Sklaverei ein unerträgliches Leid aufgebürdet wurde,
vergleichbar. Zugleich wurde den Menschen dadurch Hoffnung vermittelt, dass Gott
sich gerade Marias als Tochter einer Sklavin angenommen hatte. Indem die Herkunft
des göttlichen Sohnes aus derseIben sozialen Schicht abgeleitet wurde, in der sich
die unterdrückten Kongolesen gegenüber den Europäern befanden, wurde die
Solidarität Marias und Jesu Christi in besonderer Weise hervorgehoben. Damit war
aber auch ein emanzipatorischer Hoffnungsimpuls verbunden, aus dieser
unterdrückenden Situation mit Hilfe eines solidarischen Gottes herauszukommen,
eines Gottes nämlich, der sich der niedrigen Töchter und Söhne der Sklavinnen und
Sklaven annimmt, sie erhört und erhöht, die weißen Unterdrücker dagegen
entmachtet.
Betont wurde vor allem auch, dass sowohl die Madonna und somit Jesus Christus
und der Heilige Franziskus aus dem Stamm der Schwarzen hervorgegangen sind.
Was für die Missionare sicher einen Skandal bedeutete, ist als Suche nach einer
afrikanisch-christlichen Identität zu interpretieren. Wenn Jesus Christus, Maria und
die Heiligen auch schwarz sind, bedeutete dies, das Göttliche im eigenen
Lebenskontext einzubinden, umgekehrt aber auch, sich vom Göttlichen
angenommen zu wissen. Wenn der Sohn Gottes, seine Mutter und der heilige
Franziskus schwarz sind, zeigte dies, dass Gott die Schwarzen liebt und sich für ihre
Befreiung einsetzt. [...]
Abitur 2010 Evangelische Religion GK
Seite 6
Block II
Thema:
Das gesellschaftlich bedingte Ethos/Recht
Textgrundlage: Textgrundlage: Jörg Zink, Der Raum der Freiheit - die Grenzen der
Freiheit, in: Was Protestantisch ist, hg. v. Friedrich Schorlemmer, Verlag
Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008, S. 240- 242
Aufgaben:
1. Geben Sie die Kernaussagen des Textes knapp und mit eigenen Worten wieder.
2. Erarbeiten Sie die ethische Position Jörg Zinks und zeigen Sie, inwieweit er sich
mit seiner Auffassung zur „Freiheit des Menschen“ auf die Bibel berufen kann.
Setzen Sie sich anschließend mit dem Ansatz der Argumentation und den
Schlussfolgerungen des Verfassers auseinander.
3. Entwickeln Sie eine Vision von einer Gesellschaft, in der das Anliegen von Jörg
Zink verwirklicht wird.
Gewichtung der Aufgaben: 2 : 5 : 3
Abitur 2010 Evangelische Religion GK
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
Seite 7
Die Freiheit des Menschen von Zwang und Bevormundung, die Freiheit, seinem Gewissen zu
folgen, und das Risiko, seine Lebensversuche selbst zu tragen, sind eine Frucht des
christlichen Glaubens. Es kann nicht Aufgabe von Christen sein, Freiheit einzugrenzen, es sei
denn, der Wille Gottes stehe in offenkundigem Widerspruch zu dem, was der Mensch in
seiner Freiheit will.
Eine der großen Errungenschaften der Neuzeit ist die Freiheit der Wissenschaft, die Freiheit
des Forschens, des Nachdenkens, des Experimentierens, des Prüfens und des Anwendens. Wir
denken nicht gering von dieser Freiheit, die der Suche nach Wahrheit und nach Wirklichkeit
eine Kraft gegeben hat, die in der Welt nicht ihresgleichen hat. Aber wir stehen an einem
Punkt, an dem dieses kostbare Gut verloren geht. [...]
"Was der Mensch kann, darf er noch lange nicht." Das ist einer der wichtigsten Sätze für eine
christliche Ethik im Rahmen von Wissenschaft, Forschung und Technik, und es ist Zeit,
klarzustellen, dass ein Mensch, der diesen Satz anzweifelt, der also den Anspruch erhebt, alles
zu dürfen, was er kann, kriminell ist.
In keinem Zusammenhang, weder im Straßenverkehr noch im Familienleben, darf irgendein
Mensch alles tun, was er kann. Das Misstrauen der Wissenschaft gegenüber mag unbequem
sein. Es ist gleichwohl begründet. Denn sie kann zum Schaden oder zum Nutzen der
Menschheit wirken. Woher aber soll das Vertrauen kommen, dass sie zum Nutzen wirke? So
viel Verantwortungsbereitschaft, wie von einem heutigen Biologen verlangt wäre, hat der
Mensch noch nie aufgebracht. Woher soll er sie plötzlich nehmen? So viel Demut, so viel
Uneigennützigkeit, wie zum Überleben der Menschheit heute nötig ist, war noch nie
gefordert. Woher sollen sie kommen?
Es geht heute energisch um den Schutz des Menschen vor dem, was der Mensch kann. Es
geht um den Schutz aller übrigen Lebewesen vor dem, was der Mensch meint tun zu dürfen,
und wir werden eine Wissenschaft, die dies nicht begreift, an die Zügel nehmen müssen.
Denn das kann mittlerweile als erwiesen gelten, dass die wissenschaftliche Vernunft nicht in
der Lage ist, das Leben auf diesem Erdball zu verantworten. Dazu ist der Wissenschaft
insgesamt der Begriff der Verantwortung zu fremd. Dazu ist zudem die Vernunft des
Menschen zu kurz geraten. [...]
Denke ich aber an Kinder und Enkel, so sehe ich eine Generation heranwachsen, deren
Mehrheit zu gehorsamen Verbrauchern erzogen ist und deren Minderheit allenfalls mit der
verzweifelten, maschinenstürmenden Feindseligkeit reagieren wird, aus der man Terroristen,
Extremisten, Weltflüchtlinge oder friedlichstenfalls Träumer und Utopisten macht.
Terrorismus gegen die Mediengesellschaft als psychische Notwehr, das könnte ein Merkmal
der Zukunft sein, die uns nach dem Ende einer überschaubaren demokratischen Gesellschaft
erwartet.
Im Grunde ist die ganze Medientechnologie ein Paradebeispiel für die hoffnungslose
Spannung zwischen gesellschaftlicher Vernunft und wirtschaftlicher Pression. Und wenn das
Ganze noch durchgesetzt werden soll unter dem Motto: "Der Bürger ist mündig. Wir können
ihm diese Möglichkeit der Information nicht vorenthalten“, dann haben wir wieder ein
Paradebeispiel für den Missbrauch demokratischer Redewendungen unter der heimlichen
Diktatur der Wirtschaft.
Eins ist sicher: Der Glaube an Gott, den Schöpfer, muss heute bezahlt werden mit der
Unterordnung der Wirtschaft unter die Politik, mit der Zurückstufung der Wirtschaft auf ihre
begrenzte Funktion. Was wir brauchen, ist eine freie Politik, nicht eine Wirtschaft, die sich
zum Herrn der Politik macht. Was wir brauchen, ist die Mitsprache des Bürgers und die
Unabhängigkeit des Politikers, das Notwendige und das Gerechte zu tun.
Dies kostet der Glaube an Gott, den Schöpfer, auf alle Fälle: die Willkür der freien Wirtschaft
gegenüber dem Staat und gegenüber dem Bürger. Das kostet er, auch wenn dies bedeutet,
dass wir an die Grenzen unseres Reichtums gelangen.
Abitur 2010 Evangelische Religion GK
55
60
65
Seite 8
Was soll denn künftig als Fortschritt gelten? Expansion zu immer größeren Strukturen ist kein
Fortschritt mehr. Ausbeutung endlicher Vorräte ist kein Fortschritt. Einen Fortschritt könnte
man hingegen im Wachsen des kritischen Bewusstseins unter den Bürgern erblicken. Einen
Fortschritt könnte man es nennen, vermöchten wir in Zukunft wirtschaftliche und soziale
Minderungen in Kauf zu nehmen und dadurch langfristig den Fortbestand eines lebenswerten
Lebens der Menschen auf diesem Erdball zu erreichen. [ ...]
Insgesamt ist dem Ausdehnungs- und Wachstumsdrang der Wirtschaft künftig bewusster
Widerstand entgegenzusetzen: Wir werden weniger verbrauchen. Wir werden nicht alles tun,
was wir tun können. Wir werden nicht alles aus der Erde holen, was darin ist. Wir werden auf
die Steigerung von landwirtschaftlichen Erträgen verzichten, wenn sie nur durch Ausrottung
von Tierarten und Vergiftung des Bodens erreichbar sind. Wir werden uns künftig nicht mehr
für berechtigt halten, großtechnische und großwirtschaftliche Entwicklungen voranzutreiben,
wenn sie an anderen Stellen in der Welt Ausbeutung und Zerstörung bedeuten. Wir werden
weniger Energie verbrauchen. Wir werden wieder fragen, womit und wofür wir eigentlich
leben, und werden dem Haben und Besitzen geringeren Rang einräumen als bisher. Wir
werden den Sinn unseres Lebens nicht wie bisher in Erfolg und Leistung, sondern im Sein
suchen, in der Einbettung in das Ganze der Kreatur, in verantwortlichem Mitwirken im
großen Zusammenhang, im Mitdenken und Mitempfinden. Sein heißt Sein mit anderen.
Herunterladen