Erdbeersysteme – Über Humankommunikation und soziotechnische

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GESTÖRTE MEDIEN/ DISTURBING MEDIA, HRSG. E. SCHÜTTPELZ, A. KÜMMEL, FINK VERLAG 2003
F
Georg Trogemann
Erdbeersysteme –
Über Humankommunikation und soziotechnische Interfaces
0. Anknüpfung
De Ruiter1 stellt zurecht fest, dass die Shannon/Weaversche Informationstheorie als technisches
Kommunikationsmodell im Hinblick auf die Humankommunikation eine Reihe von Schwächen
aufweist. Im Zentrum seines Beitrags steht der Vorschlag, Kommunikation aus der Sicht des
Empfängers einer Nachricht zu definieren: ”Communication is any behavior of a sender that results in
changes in the mind of a receiver.” Das Modell, das De Ruiters auf dieser Basis entwickelt, hat
verschiedene Vorteile (einheitliche Beschreibung der Zu- und Abnahme von Entropie, Definition und
Quantifizierung von Störung, etc.) und sollte sich deshalb bei der Modellierung der
Humankommunikation als sehr fruchtbar erweisen.
Der vorliegende Kommentar greift den Perspektivwechsel in de Ruiters Modell auf und versucht, die
Bedeutung des Standpunktes aus dem heraus ein Kommunikationsmodell entwickelt wird, allgemeiner
zu beleuchten. Auch wenn de Ruiters Modell Kommunikation aus der Perspektive des Empfängers
beschreibt, liegt insgesamt eine externe Modellierung vor. Die Objektivität der Beschreibung wird
dadurch sicher gestellt, dass der die Kommunikation beschreibende Beobachter nicht selbst Teil des
Kommunikationsprozesses ist. So werden zum Beispiel wichtige Modellparameter (relevant
propositions und subjective probabilities) wie im Shannonschen Kommunikationsmodell global
definiert. Im folgenden werden verschiedene aus der Literatur bekannte Versuche, Kommunikation zu
formalisieren,
aus systemtheoretischer Sicht vorgestellt. Hierzu erfolgt eine Unterteilung der
Kommunikation
in
die
Bereiche technische Kommunikation, Humankommunikation
und
soziotechnische Kommunikation. Im Hinblick auf Interface-Fragestellungen in der Mensch-MaschineKommunikation werden schließlich Erdbeersysteme vorgestellt, die als offene soziotechnische
Systeme ihr Verhalten erst in Wechselwirkung mit dem Benutzer entfalten. Die Erdbeere als einzige
Frucht, die ihre Kerne nach außen trägt, dient als Sinnbild für Systeme, die – ganz im Gegensatz zur
Humankommunikation – in der Lage sind, ihr Inneres offen zu legen und ihre Benutzer dazu einladen,
den Kern des Systems, d.h. seine Identität im Gebrauch zu verändern.
1
Jan Peter de Ruiter, A quantitative model of `Störung´, im vorliegenden Band.
1
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1. Technische Kommunikation
Nach Claude E. Shannon besteht das grundlegende Problem der technischen Kommunikation darin,
an einer Stelle genau oder zumindest approximativ eine Nachricht wiederzugeben, die an einer
anderen Stelle ausgewählt wurde. Insbesondere sind die semantischen Aspekte der Kommunikation
für das von Shannon betrachtete Problem und dessen Lösung nicht von Bedeutung.
”The fundamental problem of communication is that of reproducing at one point either exactly or
approximately a message selected at another point. Frequently the messages have meaning; that is
they refer to or are correlated according to some system with certain physical or conceptual entities.
These semantic aspects of communication are irrelevant to the engineering problem.”2
Das ursprünglich auf rein technische Applikationen abzielende Shannonsche Kommunikationsmodell
wurde später in vielerlei Hinsicht erweitert und als allgemeine Definition von Kommunikation
verwendet. Die erste erweiterte Interpretation der Shannonschen Theorie stammt von Warren Weaver
und erschien im Jahr 1949, bereits ein Jahr nach Shannons Publikation der mathematischen Theorie
der Kommunikation:
”The word communication will be used here in a very broad sense to include all of the procedures by
which one mind may affect another. This, of course, involves not only written and oral speech, but also
music, the pictorial arts, the theatre, the ballet, and in fact all human behavior. In some connections it
may be desirable to use a still broader definition of communication, namely, one which include the
procedures by means of which one mechanism (say automatic equipment to track an airplane and to
compute its probable future positions) affects another mechanism (say a guided missile chasing the
airplane).”3
Die umfassende Erweiterung des Anwendungs- und Interpretationsbereiches der Shannonschen
Informationstheorie ist bis heute eine Quelle für Überbewertungen und Missdeutungen. In Kenntnis
der ursprünglichen Absicht der Shannonschen Theorie, scheint es umso wichtiger, sich einige
Voraussetzungen und Beschränkungen des Modells – aus heutiger Sicht – genau vor Augen zu
führen:
-
Objektivität der Beschreibung
Kommunikation wird im Shannonschen Informationsmodell extern durch einen Beobachter
(Konstrukteur) modelliert. Objektivität wird sichergestellt, indem der Beobachter sich nicht selbst in
seine Beobachtung einbezieht. Das Modell befolgt damit die strikte Forderung der Kybernetik erster
Ordnung: ”Die Eigenschaften des Beobachters dürfen nicht in die Beschreibung seiner
Beobachtungen eingehen.”4 Der Beobachter ist nicht Teil der Kommunikation und auch nicht von der
gleichen Struktur wie die Partizipienten der Kommunikation, d.h. die technischen Subsysteme. Sender
und Empfänger sind technische Einheiten, die nichts von Ihrer Funktion als Sender und Empfänger
2
Shannon, Weaver, The Mathematical Theory of Communication, S. 31.
Ebd. S. 3.
4
von Foerster, Kybernetik der Kybernetik, S. 88.
3
2
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wissen, sie besitzen selbst kein Modell des Kommunikationsgeschehens. Die Reflektion des Vorgangs
als Kommunikationsprozess findet ausschließlich in der Vorstellung des Konstrukteurs statt.
-
Externe Übereinkunft über Syntax, Semantik und Pragmatik
Sender und Empfänger verwenden eine von außen aufgeprägte gemeinsame Syntax, es besteht
globale Einigkeit über das verwendete Vokabular. Es können beim Sender keine Zeichen auftreten
oder gar erfunden werden, die beim Empfänger nicht bekannt wären und umgekehrt. Der einzige Ort
der Unsicherheit ist die auf den Übertragungskanal wirkende Störung. Wenn die Kommunikation
funktionieren soll, d.h. die Nachrichten auch noch für denjenigen der sie verwendet (dem Interpreten
außerhalb des technischen Kommunikationssystems) sinnvoll sein sollen, müssen darüber hinaus
gemeinsame oder zumindest überlappende Bereiche von Semantik und Pragmatik zwischen den
Kommunikationspartnern gewährleistet sein. Semantik und Pragmatik werden jedoch nicht explizit
modelliert.
-
Ausblendung des nachrichtenerzeugenden Prozesses und des Adressaten
Der Sender kann die Versendung von Nachrichten nicht verweigern, genauso wenig hat der
Empfänger die Möglichkeit, den Empfang von Nachrichten abzulehnen. Als Codier- und
Decodierautomaten sind sie komplementäre Prozesse, der Empfänger dreht den Codierprozess des
Senders lediglich um. Die Nachrichtenquelle stellt einen Vorrat an Zeichen zur Verfügung, aus dem
die zu übertragenden Zeichen ausgewählt sind. Der Zeichen erzeugende Prozess, der die zu
übertragenden Nachrichten generiert und darüber entscheidet, was übertragen wird,
beziehungsweise, dass überhaupt etwas übertragen werden soll, wird in diesem Modell nicht wirklich
thematisiert, ebensowenig der Adressat der Nachricht. Nachrichtenquelle und Nachrichtenziel im
Shannonschen Modell können als statistisch-semiotische Einheiten diese Funktion eines Modells der
Kommunikationspartner nicht annähernd erfüllen.
-
Vollständige Determinierung von Außen
Das mathematische Modell der Kommunikation dient dazu, reale technische Kommunikationssysteme
zu entwickeln und zu verbessern. Das technische System (Objekt) unterliegt dabei vollständig der
Kontrolle des Ingenieurs (Subjekt). Des gesamte Apparat ist so konstruiert, dass er in allen
entscheidenden Merkmalen von außen steuer- und veränderbar ist, d.h. nicht nur sein beobachtbares
Verhalten während des Betriebs ist von außen aufgeprägt, auch alle im System automatisch
ablaufenden Prozesse sind durch den Konstrukteur festgelegt und selbst Modifikationen der
automatisierten Prozesse werden von außen gesteuert. Die Identität des Systems wird nicht nur
extern beschrieben (analysiert), sondern auch extern determiniert (synthetisiert).
3
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Abb. 1: Der externe Beobachter der technischen Kommunikation
In Abbildung 1 ist das Dreiecksverhältnis zwischen Subjekt (Ingenieur), Objekt (technisches System)
und Modell (Shannonsches Kommunikationsmodell) skizziert. Im Zentrum steht das technische
System. Zur Lösung des Ingenieurproblems, dem Bau und der Verbesserung realer technischer
Einheiten zur Übertragung von Nachrichten, wird das zugrunde liegende technische System
informationstheoretisch modelliert. Modelle werden aber immer von jemanden für einen bestimmten
Zweck hergestellt und sind somit pragmatische Einheiten. Im Fall der technischen Kommunikation
dient eine externe Beschreibung des Kommunikationsvorgangs dazu, effizientere Codierungen zu
finden und leistungsfähigere Übertragungssysteme zu bauen. Die Identität des Systems (bestehend
aus Sender, Kanal und Empfänger) wird außerhalb des System geplant und festgelegt. Das Verhalten
des Sender-Empfänger-Systems ist vollständig als kausal determinierter Ursache-WirkungsZusammenhang erklärbar.
4
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2. Humankommunikation
Der englische Philosoph H. Paul Grice hatte bereit Ende der sechziger Jahre darauf aufmerksam
gemacht, dass die Machtverhältnisse zwischen Sender und Empfänger in der Humankommunikation
ganz anders gelagert sind als in der technischen Kommunikation.5 Wenn auf beiden Seiten des
Kommunikationskanals nicht technische Systeme agieren, sondern Menschen, dann zeigt sich – im
Gegensatz
zu
den
Vorstellungen
zur
Zeit
der
Formulierung
der
mathematischen
Kommunikationstheorie – dass die Prinzipien der Humankommunikation nicht auf der Basis des
Shannonschen Modells verstanden werden können. Es gibt insbesondere keinen für beide
Kommunikationspartner verbindlichen Code, der von außen festgelegt und den Teilnehmern
aufgeprägt wäre. Dem Empfänger ist es somit gar nicht möglich, die Zeichen des Senders geduldig zu
akzeptieren und gemäß des gemeinsamen Codes zu interpretieren, er muss ein eigenes
Interpretationsmodell entwickeln, das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht deckungsgleich mit dem
Modell des Senders sein wird. Solange man davon ausgeht, dass beide Kommunikationspartner am
gelingen und der Fortsetzung der Kommunikation interessiert sind, folgt sogar eine noch weiter
reichende Konsequenz. Wenn es für den Sender bedeutsam ist, welche Wirkung er beim Empfänger
hinterlässt, wird er bemüht sein, Signale zu senden, die zu positiven Einschätzungen auf der Seite des
Empfängers führen. Das Kommunikationsverhalten des menschlichen Senders steht damit unter dem
heimlichen
Diktat
des
Empfängers.
Das
verlangt
vom
Sender
die
Fähigkeit,
die
Interpretationsprozesse des Empfängers zu antizipieren. Vom Empfänger verlangt es die Fähigkeit,
während des Empfangs feedback-Signale zur Steuerung des Senders zu generieren. Beide
Kommunikationspartner agieren zwar alternierend in der Sprecher- und der Hörerrolle, sind aber
immer simultan Sender und Empfänger.
Abb. 2: Interne Beobachter in der Humankommunikation
5
Zitiert nach Frey, Die Macht des Bildes, S. 74.
5
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In Abbildung 2 ist die Situation der Humankommunikation skizziert. Der Kommunikationsprozess ist
nicht mehr extern modelliert sondern intern. Sender und Empfänger sind gleichzeitig Beobachter und
Teilnehmer der Kommunikation. Der Kommunikationsprozess wird von beiden Teilnehmern
unterschiedlich reflektiert und gesteuert. Als notwendige Voraussetzung für Bewusstsein gilt zum
Beispiel das Vorhandensein eines Modells von sich selbst, d.h. Teilnehmer A besitzt ein Modell A* von
sich selbst. Die Reflektion der Teilnehmer kann aber auch komplexer sein und wird in der Regel die
Modellierung
des
Kommunikationspartners
oder
des
gesamten
stattfindenden
Kommunikationsgeschehens, also auch des Kontextes der Kommunikation beinhalten. Nur auf der
Basis derartiger Modelle ist es möglich, das Verhalten des Kommunikationspartners zu antizipieren
und die Kommunikation entsprechend zu steuern. Entscheidend ist die Fähigkeit der
Kommunikationspartner derartige Modellierungen vorzunehmen und sie dynamisch während des
Kommunikationsverlaufs zu modifizieren und anzupassen. Die Wechselwirkungen zwischen den
Kommunikationsteilnehmern folgen dabei nicht einem strikten Ursache-Wirkungs-Prinzip. Langfristig
können wir eine gekoppelte Veränderung der inneren Strukturen der Kommunikationspartner,
gewissermaßen eine gemeinsame Trift der Systeme beobachten. Entscheidend ist, dass die
Veränderung des anderen Kommunikationsteilnehmers nicht gezielt gesteuert werden kann, jedes
Subsystem kontrolliert seine eigene Veränderung. Um anzudeuten, dass die Identität der beteiligten
Kommunikationspartner sich durch die Kommunikation verändert, wird in Abbildung 2 die
Wechselwirkung zwischen den Komponenten nicht als Kanal modelliert, sondern in Anlehnung an die
Autopoiese-Theorie als Perturbation oder Störung.
Systemtheoretisch betrachtet haben wir es – im Gegensatz zur technischen Kommunikation – nicht
mehr mit einem kybernetischen System erster Ordnung zu tun, sondern mit Systemen zweiter
Ordnung. Das Kommunikationssystem wird nicht mehr von einem externen Beobachter modelliert,
sondern von einem internen. Der Beobachter ist zugleich Modellierer und Teilnehmer der
Kommunikation, er ist von der gleichen Struktur wie die Komponenten der Kommunikation. Heinz von
Foerster führt die Kybernetik zweiter Ordnung wie folgt ein:
”Ich schlage vor, die Kybernetik von beobachteten Systemen als Kybernetik erster Ordnung zu
betrachten; die Kybernetik zweiter Ordnung ist dagegen die Kybernetik von beobachtenden
Systemen. Dies stimmt mit einer Formulierung von Gordon Pask überein. Auch er unterscheidet zwei
Ordnungen der Analyse. Eine, durch die der Beobachter in das System eindringt, indem er den Zweck
des Systems festsetzt. Nennen wir dies eine Festsetzung erster Ordnung. Bei einer Festsetzung
zweiter Ordnung begibt sich der Beobachter in das System, indem er sein eigenes Ziel festsetzt. Aus
diesem Grund dürfte klar sein, dass soziale Kybernetik eine Kybernetik zweiter Ordnung – eine
Kybernetik der Kybernetik – sein sollte, damit der Beobachter, der sich in das System einbezieht,
seine eigenen Ziele bestimmt: er ist autonom.”6
Die allgemeine Systemtheorie – die Kybernetik wollen wir hier vereinfacht als Vorläufer betrachten –
beschäftigt sich unter anderem mit Systemen (Autopoietischen Systeme) die nicht auf der Basis
kausaler Input-Output-Relationen beschrieben werden können, sondern vielmehr mit ihrer Umgebung
6
von Foerster, Kybernetik der Kybernetik, S. 89.
6
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und/oder anderen Systemen strukturell gekoppelt sind. Autopoietische Systeme7 erzeugen ständig
selbst ihre eigenen Verhaltensmöglichkeiten, dabei sind sie operationell und informationell
geschlossen. Das System entscheidet selbst, wie es auf seinen Input reagiert.8 Das Verhältnis
zwischen Eingabe und Systemverhalten wird als kontingent bezeichnet, d.h. es ist weder unabhängig
von der Eingabe, noch ist es durch die Eingabe determiniert. Operationell und informationell
geschlossene Systeme werden nicht von außen gesteuert. Ob sie ihr Verhalten aufgrund von äußeren
Störungen ändern oder nicht, wird systemintern bestimmt. Für technische Kommunikationsprozesse,
etwa für die Mensch-Maschine-Kommunikation, konnte die Theorie bisher noch nicht fruchtbar
gemacht werden, da keine tragfähigen Formalisierungen existieren.9
Ein bedeutender Versuch das interne Modell der Humankommunikation auf technische
Kommunikationsprozesse zu übertragen wird von Kaplan und Steels unternommen.10,
11
Sie führen
Experimente durch, in denen visuell basierte und miteinander im Wechselwirkung stehende Roboter
ohne vorhergehende Festlegung im Design des Programms, oder durch menschliche Intervention,
eine eigene Ontologie begründen und ein gemeinsames Lexikon entwickeln. Insbesondere
untersuchen Steels und Kaplan die notwendigen und hinreichenden Voraussetzungen für das
autonome entstehen gemeinsamer Vokabulare in Roboter Populationen durch einen sich
selbstorganisierten Prozess. Auch wenn die Roboter nicht in letzter Konsequenz als autopoietische,
also informationell und organisatorisch geschlossene Einheiten aufgefasst werden können, so ist der
Ansatz nicht der externen Modellierung aus Abschnitt 1 zuzurechnen, sondern vielmehr der internen
Modellierung der Kommunikation, vergleichbar mit der Humankommunikation. Die Roboter sind
gleichzeitig Beobachter und Teilnehmer der Kommunikation. Das gemeinsame Vokabular wird nicht
von außen aufgeprägt, sondern evolviert im Kommunikationsprozess, Kommunikation erzeugt neue
Kommunikationsmöglichkeiten. Die Teilnehmer sind gezwungen eigene Interpretationen des
Geschehens zu entwickeln. Missverständnisse und Missdeutungen sind keine Störungen im Sinne
technischer Übertragungsfehler, sondern systemimmanent. Hypothesen können sich als unhaltbar
erweisen.
3. Soziotechnische Systeme
Soziotechnische Systeme sind Ganzheiten, die aus dem Zusammenspiel von technischen und
sozialen Komponenten hervorgehen. Systemtheoretisch gesehen entstehen sie durch die Kopplung
von autopoietischen Systemen mit technischen Systemen. So können zum Beispiel InterfaceTheorien, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die Kommunikation von Mensch und Maschine zu
7
Siehe zum Beispiel Maturana, Varela, Der Baum der Erkenntnis.
Man spricht bei autopoietischen Systemen im Grunde nicht mehr von Input im üblichen Sinn. Die
Systeme nehmen keine Informationen aus ihrer Umgebung auf, sondern konstruieren sie
systemintern.
9
Der Versuch Varelas, autopoietische Systeme zu formalisieren (siehe Varela, A calculus for selfreference), greift zu kurz und konnte sich auch nicht durchsetzen.
10
Wray, The Transition to Language.
11
Dean, Proceedings of IJCAI 9.
8
7
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untersuchen, als soziotechnische Modelle aufgefasst werden. In Zusammenhang mit
informationsverarbeitenden Systemen wurde der Begriff des soziotechnischen Systems erstmal von
Mumford12 verwendet. Mumford zielt darauf ab, dass soziale und technische Aspekte beim Entwurf
solcher Systeme gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Der Begriff des soziotechnischen
Systems setzt voraus, dass es wesentliche Unterschiede zwischen sozialen und technischen
Systemen gibt. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Systemtheorie ist diese Forderung nicht
selbstverständlich. Wie bereits der Titel des Buches von Norbert Wiener (Kybernetik – Regelung und
Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine) nahelegt, gehen systemtheoretische
Ansätze gerade von einer Strukturgleichheit von technischen, lebenden und sozialen Systemen aus.
Die Stärke der Systemtheorie besteht ja gerade darin, zu zeigen, dass die Identität eines Systems
nicht durch seine materielle Beschaffenheit bestimmt wird, sondern durch seine Organisation, d.h.
durch die Relationen, die zwischen den Bestandteilen des Systems bestehen und den
Wechselwirkungen mit seiner Umgebung.
Im Zusammenhang mit informationsverarbeitenden Systemen und Interface-Fragestellungen kann
beobachtet werden, dass Softwaresysteme oft nicht für den Zweck und in der Art und Weise
verwendet werden, für die sie ursprünglich geplant waren. Der Zweck und der Umgang mit dem
System verändert sich durch seine Benutzung; die Funktionalität des Systems evolviert, zumindest
teilweise, in der Arbeitspraxis.13 Der traditionelle Software-Lebenszyklus basiert im groben auf den
drei Phasen: 1. Problemanalyse, 2. Systementwurf und Implementierung und 3. Anwendung. Lin und
Cornford schlagen eine andere Reihenfolge für die Entwicklung soziotechnischer Systeme vor:
” [...] we pursue a rather different and contrasting model, one which sees information systems come
about based on 1) the use of technologies, 2) reflection on and refinement of use, and 3) reflection on
the significance of use. The sequence is use, design, analysis. That is, technical systems are put to
use first; specific patterns of usage emerge and social phenomena revolving around the systems are
noted, the technical system and the social structures then adapt and change.”14
Lin und Cornford fordern bei der Entwicklung von Informationssystemen einen Wechsel der
Fokussierung vom pre-use design hin zum in-use design. Es kann dann aber nicht länger darum
gehen, die nötigen Veränderungen des Systems vorherzusehen und sie bereits während des Entwurfs
zu berücksichtigen, sondern vielmehr darum, das System offen zu halten und den emergenten
Wandel des System zu unterstützen.
12
In G. Bjerknes, P. Ehn, and M. Kyng (eds.): Computers and Democracy: A Scandinavian Challenge,
Aldershot, United Kingdom: Avebury 1987
13
Zum Beispiel können Suchmaschinen für das World Wide Web durch den rasanten quantitativen
Zuwachs des Netzes zur Rechtschreibeüberprüfung und als Lexikon verwendet werden. Diese
Funktion emergiert im Rahmen der Arbeitspraxis und wurde nicht von den Entwicklern der
Suchmaschinen geplant.
14
Lin and Cornford, Sociotechnical Perspectives on Emergence Phenomena.
8
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4. Erdbeersysteme
Interface-Theorien, die versuchen die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine zu optimieren,
stützen sich häufig auf ergonomische Untersuchungen, KI-Ansätze oder Software Engineering
Methoden. Während im Bereich Software Engineering verstärkt versucht wird, durch sogenannte
benutzerzentrierte Softwareentwicklung, d.h. durch konsequente Einbindung
der Nutzer in den
Designprozess, zu leistungsfähigeren und benutzerfreundlichen Systemen zu kommen, geht der KIAnsatz davon aus, dass die Kommunikationsprobleme mit dem Computer gelöst sind, sobald die
Maschinen Intelligenz besitzen. Als Kommunikationsvorbild für den KI-Ansatz dient die
Humankommunikation. Diese Interface-Ansätze sind nicht geeignet, die Entwicklung offener
Informationssysteme wie Lin und Cornford sie fordern zu unterstützen.
Derzeitige Interface-Entwicklungen gehen einerseits von strikten zeitlichen Trennungen zwischen
Entwurf und Nutzung aus – pre-use design –, andererseits auch von personellen Trennungen.
Während traditionell – etwa im Handwerk – der Nutzer des Werkzeugs immer auch für seine
Weiterentwicklung zuständig war, sind heute Herstellung und Anwendung von Werkzeugen viel
stärker getrennt, vor allem im Bereich der Soft- und Hardware. Der Systementwickler ist in der Regel
nicht der spätere Nutzer, zumindest aber sind nicht alle Nutzer gleichzeitig Entwickler. Dem Anwender
ist nur die Oberfläche des Systems zugänglich, der darunter liegende Kern, der diese Oberfläche
erzeugt, wird dem Benutzer vorenthalten. Es ist in unseren Softwaresystemen nicht vorgesehen und
auch nicht möglich, die Identität des Systems, d.h. seine Funktionalität und die Art und Weise des
Gebrauchs, in und durch die Benutzung zu verändern. Andererseits ist das Verhalten gegenwärtiger
Softwaresysteme – und technischer Systeme allgemein – vollständig von außen kontrolliert. Die
Kontrolle erfolgt aber auf unterschiedlichen Ebenen des Systems:
1. In der Anwendung wird das System auf der Basis des Interfaces durch den Benutzer von außen
gesteuert.
2. Das Interface und die Bereiche in denen das System selbständig Aufgaben ausführt (z.B.
automatische Durchführung komplexer Operationen), werden durch den Systementwickler von außen
festgelegt.
3. Die Veränderung der Selbststeuerung, also die Weiterentwicklung des Systems, ist – sofern
überhaupt vorgesehen – ebenfalls von außen bestimmt. Zum Beispiel sind Lernverfahren, die eine
Adaption des Systems während des Betriebs erlauben, wieder extern aufgeprägt.
Da Computersysteme von außen determiniert sind, können die Methoden der klassischen externen
Modellierung, wie sie in Abschnitt 1 skizziert sind, eingesetzt werden. Gleichzeitig wird für viele
Anwendungsbereiche die Frage immer wichtiger, wie die Benutzer des Systems, also die inneren
Beobachter, noch während der Betriebs stärker auf die Identität der Systeme einwirken können.15 Es
müssen dafür also innere Modellbildungen, wie sie im Rahmen der Kybernetik zweiter Ordnung
15
Zum Beispiel im Design, siehe dazu Trogemann, Augmenting Human Creativity.
9
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entwickelt werden, hinzukommen. Derzeit zieht sich ein Bruch durch die drei Stufen der externen
Determinierung von Informationssystemen. Während der Benutzer auf Interface-Ebene mit dem
System interagiert, die vornehmlich an der Wahrnehmung orientiert ist, erfolgt die
Programmentwicklung auf textueller Basis, sie ist kognitionsorientiert. Die Systeme sind zudem auch
nicht dafür entworfen, ihre innere Struktur offen zu legen oder gar zur Veränderung anzubieten. Der
Kern des Systems und seine Oberfläche sind strikt getrennt.16 Wir brauchen aber gerade emergente
Systeme, die ihre Identität durch die Benutzung verändern. Systeme, die diese Fähigkeit besitzen,
wollen wir im folgenden Erdbeersyteme nennen. Die Erdbeere ist die einzige Frucht, die ihre Kerne
nach außen trägt und sie nicht durch die Oberfläche abschirmt und sie unsichtbar werden lässt.
In Abbildung 3 ist die Kommunikation mit Erdbeersystemen, d.h. soziotechnischen Systemen die ihren
Kern zur Veränderung anbieten, skizziert. In gewisser Weise kann man sich Erdbeersysteme als
umgestülpte Gefäße vorstellen. Sie tragen ihr Inneres nach Außen und zeichnen sich dadurch aus,
dass sie den Benutzer dazu auffordern, ihren Charakter durch die Benutzung zu verändern. Die
Interaktion mit dem System ist nicht eine Kommunikation an der Oberfläche des Systems, sondern
immer Kommunikation mit dem Kern des Systems. Es gibt nichts, das dem Benutzer verborgen
bleiben muss. Erdbeersysteme sind keine autopoietischen Systeme, die Veränderung der Identität
des Systems erfolgt nicht selbstgesteuert, sondern unterliegt der Kontrolle des Benutzers. Der
Benutzer ist die autopoietische Komponente des Gesamtsystems, er reflektiert den Ablauf und
kontrolliert den Identitätswechsel des technischen Systems. Reflektion auf der Seite des
Erdbeersystems ist zwar nicht ausgeschlossen, zum Beispiel können durch systemseitige
Beobachtung des Ablaufgeschehens Vorschläge für Systemveränderungen gemacht werden, sie ist
aber nicht notwendig. Im Zentrum dieser Systeme steht nicht die Übertragung menschlicher Intelligenz
auf die Maschine, also KI-Komponenten, sondern die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems aus
Mensch und Maschine. Diese Ganzheit enthält es ja bereits natürliche KI-Komponenten, diese sollen
vor allem richtig in Szene gesetzt werden. Die Verbindung zwischen Erdbeersystem und Mensch ist
langfristig angelegt. Erdbeersysteme sind die Voraussetzung für persönliche Systeme, die zu
zunächst wenig Funktionalität besitzen, deren Struktur dafür aber offen und entwicklungsfähig ist. Erst
in der Benutzung entfaltet sich das eigentliche System, es entwickelt seine Identität und ist nur noch
von innen, d.h. durch den persönlichen Benutzer zu bedienen und von ihm zu verstehen.
16
Sowohl Open Source Bestrebungen als auch die Vorgehensweise einiger Softwareanbieter,
Entwicklungsumgebungen (etwa auf Plugin-Ebene) für ihre Software anzubieten und den Kern des
Systems offen zu legen sind zwar Schritte die zeigen, dass die Notwendigkeit der Weiterentwicklung
von Systemen durch den Anwender erkannt wurde und ernst genommen wird, die angebotenen
Konzepte sind jedoch nach wie vor in den klassischen Entwicklungsmethoden und Softwarestrukturen
verhaftet.
10
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Abb. 3: Erdbeersysteme
Literatur
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Maturana, Humberto, Varela, Francisco, Der Baum der Erkenntnis, München 1990.
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Varela, Francisco J.: A calculus for self-reference, in: International Journal of General Systems, 1975,
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Trogemann, Georg: Augmenting Human Creativity – Virtuelle Realitäten als Design-Aufgabe, in:
Bente, Gary, Krämer, Nicole und Petersen, Anita (Hg.): Virtuelle Realitäten, Reihe Internet und
Psychologie: Neue Medien in der Psychologie, Hogrefe-Verlag, Göttingen 2002, S. 275-297
11
GESTÖRTE MEDIEN/ DISTURBING MEDIA, HRSG. E. SCHÜTTPELZ, A. KÜMMEL, FINK VERLAG 2003
Steels, Luc and Kaplan, Frédéric, et. al.: Crucial factors in the origins of word-meaning, in: Wray, A.,
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[http://www.csl.sony.fr/downloads/papers/2001/steels-crucial-2001.pdf]
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[http://www.csl.sony.fr/downloads/papers/1999/ijcai99.pdf]
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