AIDS und HTLV-III in der Bundesrepublik Deutschland: Stand

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Klinische
Wochenschrift
Klin Wochenschr (1985) 63 : 385-388
© Springer-Verlag 1985
Editorial
AIDS und HTLV-III in der Bundesrepublik Deutschland:
Stand Februar 1985
R. Hehlmann 1, V. Erfle 2, G. Hunsmann 3 und R. Kurth 4
t Medizinische Poliklinik, Universit~it Mfinchen
2 Abteilung ffir Pathologic, GSF Neuherberg
3 Primatenzentrum, G6ttingen
4 Paul Ehrlich Institut, Frankfurt/Main
Seroepidemiologische Untersuchungen auf Antik6rper gegen das wahrscheinliche AIDS-Virus
HTLV-III (oder LAV) bei AIDS-Patienten und
AIDS-Risikogruppen in der Bundesrepublik
Deutschland haben gezeigt, dab die Infektion mit
HTLV-III bereits wesentlich gr6gere Personenzahlen erfal3t hat, als dies aus klinischen Berichten
fiber AIDS oder LAS (Lymphadenopathiesyndrom) Ffille ersichtlich ist [1-11]. Wfihrend AIDS
anf/inglich auf die klassischen Risikogruppen (Homosexuelle, i.v.-Drogenabh/ingige, Bluter, Personen aus Haiti und Zentralafrika) beschr/inkt zu
sein schien, mehren sich inzwischen die Berichte,
dal3 die Infektion mit dem AIDS-Virus durch heterosexuelle Ubertragung und Bluttransfusionen
auch auf eine derzeit allerdings zahlenm/il3ig noch
begrenzte Gruppe yon Personen auBerhalb der ursprfinglichen Risikogruppen iibergreift [12-14].
Dat3 sich diese Entwicklung auch in der Bundesrepublik anbahnt, 1/il3t sich bei dem hohen Prozentsatz HTLV-III infizierter, (noch?) gesunder Personen bei uns in der Bundesrepublik und durch den
Nachweis HTLV-III infizierter Blutspender mehrerer deutscher Blutbanken absehen [7, 8]. Die kfirzlich in dieser Zeitschrift von Hunsmann et al. [8]
ver6ffentlichte seroepidemiologische Studie zur
Verbreitung von HTLV-IH in der Bundesrepublik
ist mit fiber 10000 analysierten Seren die zur Zeit
umfangreichste aul3erhalb der Vereinigten Staaten
und erlaubt als erste statistisch sinifikante Aussagen auch fiber die Dtu'chseuchung von Blutspendern mit HTLV-III. Die stetige Zunahme der
AIDS-F/ille in Deutschland seit ihrem ersten Auftreten 1982 (Ende 1984 waren bereits etwa
140 F/ille bekannt, davon etwa die H/ilfte verstorben) sowie das AusmaB tier Durchseuchung mit
HTLV-III deuten daraufhin, dal3 die Situation bei
uns ghnlich ist wie in vergleichbaren westeuropfii-
schen L/indern (Frankreich, Grol3britannien, Belgien, Schweiz, Schweden) und in etwa der Situation
in den Vereinigten Staaten vor 11/2-2 Jahren entspricht. Bis Ende 1982 waren in den Vereinigten
Staaten etwa 1 200 AIDS F/ille gemeldet, inzwischen sind es knapp 9000. Die Verdoppetungsrate
betrfigt in den Vereinigten Staaten zur Zeit etwa
10 Monate.
Durch die zum Teil mehrj/ihrige Krankheitsdauer entstehen Krankenhaus- und andere medizinische Versorgungskosten, die ffir das laufende
Jahr in den Vereinigten Staaten auf 500 Mill. [15]
bis 1 Milliarde US Dollar (J. Curran, pers6nliche
Mitteilung) gesch/itzt werden. Gegenfiber diesen
Zahlen und dem praktisch immer t6dlichen Krankheitsverlauf bei den racist jungen Patienten miissen
die Kosten von Screeningprogrammen ffir Risikogruppen und Blutspender als vergleichsweise preiswert angesehen werden.
U m eine kritische Beurteilung der Lage zu erm6glichen, seien die wichtigsten Fakten kurz dargestellt.
1. Das wahrscheinliche/itiologische Agens der
AIDS- und LAS-Erkrankungen ist ein T-lymphotropes Retrovirus, yon den Entdeckern HTLV-III
oder auch LAV genannt [16, 17]. Ffir die/itiologische Bedeutung dieses Virus spricht seine Epidemiologie (Verbreitung yon LAS, AIDS und
HTLV-III in den gleichen Personengruppen,
Nachweis von Antik6rpern und Isolierung von
HTLV-III aus einem hohen Prozentsatz der Patienten), seine Biologic (Zielzellen des Virus sind
die T4-Helfer Lymphozyten, wobei bestimmte Rezeptoren dieser Zellen Voraussetzung ffir die Infektion sind und die T4-Lymphozyten durch das Virus
in vitro zerst6rt werden) und die Analogie zu retrovirusinduzierten Immunmangelsyndromen in mehreren Tiersystemen (Katzen, Affen, Kaninchen).
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l~bertragungsversuche auf Schimpasen und andere
Affen, die seit einiger Zeit laufen, sind wegen der
unklaren Inkubationszeit noch nicht endgfiltig
wertbar [18].
Nach dem gegenwfirtigen Kenntnisstand ist
eine AIDS-Erkrankung ohne Infektion durch ein
Virus der HTLV-III/LAV Gruppe unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ffihrt nicht jede Infektion mit
HTLV-III notwendigerweise zu einer Erkrankung,
aber die Manifestationsrate nach einer Infektion
ist bisher unbekannt, weil noch keine Klarheit fiber
die L/inge der Inkubationszeit besteht. Diese kann
wahrscheinlich von wenigen Monaten bis zu mehreren Jahren betragen. Bisher lassen nur wenige
Einzelf/ille konkrete Rfickschlfisse zu. In den Vereinigten Staaten wird zur Zeit yon einer j/ihrlichen
Manifestationsrate yon etwa 2% (J. Curran, pers6nliche Mitteilung) bis etwa 6.9% ausgegangen
[19].
Der Ursprung von HTLV-III ist weiter ungekl/irt. Neben der zur Zeit favorisierten These, dag
dieses Virus in Zentralafrika endemisch war und
von dort/fiber Westindien die Vereinigten Staaten
und Europa erreicht hat, mug z.B. auch an die
M6glichkeit einer Trans-Spezies Infektion oder der
Bildung von Virusvarianten gedacht werden.
2. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand erfolgt
die Infektion ausschlieNich durch intensiven Gewebskontakt (sexueller Kontakt, Transfusionen).
Wahrscheinlich sind entweder gr6gere Mengen
yon infekti6sem Virus oder Virus-infizierte Zellen
ffir eine erfolgreiche Infektion erforderlich.
AIDS-Viren sind wie alle Retroviren gegenfiber
chemischen und physikalischen Einfl/issen sehr labil und bleiben daher extrazellul/ir wahrscheinlich
nur kurzfristig und unter besonders gfinstigen Bedingungen infekti6s. HTLV-III bzw. LAV wird
z.B. inaktiviert durch die fiblichen Desinfektionsmittel (1% Glutaraldehyd, 0,3% Formalin, 1% flPropionolacton u.a.) sowie auch durch kurzfristiges Erhitzen (15-30 rain) auf 56 ° [20].
Auger im Blut ist Virus auch im Speichel und
im Samen nachgewiesen worden [21-23]. Es ist jedoch bisher nicht erwiesen, ob HTLV-III durch
Speichel und Samen ohne gleichzeitig bestehenden
Gewebsdefekt beim Empf/inger fibertragen werden
kann.
Ffir infekti6ses Virus in K6rperausscheidungen
(Stuhl, Urin) gibt es bisher keine Hinweise. Trotzdem empfiehlt das Advisory Committee on Dangerous Pathogens (ACDP) in Grogbritannien [24],
alle Gewebe, K6rperflfissigkeiten und Exkreta infizierter Personen als potentiell infekti6s anzusehen.
Bisher ist aus dem Bereich des klinischen oder Laborpersonals nur ein Fall einer berufsbedingten In-
AIDS und HTLV-IIIin der BundesrepublikDeutschland
fektion mit HTLV-III bekannt geworden, der auf
einer Stichverletzung mit Mikroinjektion von Patientenblut beruhte [25, 26].
3. Die Erkennung einer HTLV-III Infektion bei
klinisch Gesunden ist m6glich durch die Verffigbarkeit serotogischer Tests. Als screening Test ffir
HTLV-III hat sich der verhfiltnismfiBig einfach
durchzuffihrende und sehr empfindliche ELISA
(enzyme linked immunosorbent assay) auf Antik6rper gegen HTLV-III durchgesetzt. Wegen
falsch positiver Resultate ist eine Best/itigung aller
positiven ELISA-Resultate durch mindestens eine
zweite unabh/ingige Methode erforderlich (Immunfluoreszenz, Immunperoxidase, Western blot
Analyse, Immunpr/izipitation u.a.). Bei negativem
Ausgang des Best/itigungstests wird das Resultat
vorl/iufig als negativ gewertet. Der Anteil falsch
negativer Resultate bei diesem Verfahren ist noch
unbekannt. Diese Untersuchungen werden zur Zeit
yon wissenschaftlichen Labors durchgeffihrt, da
kommerzielle Testkits noch nicht verffigbar sind.
Die Validit/it des Antik6rpernachweises als Infektionsbest/itigung ist durch Virusisolationen aus
einem hohen Prozentsatz seropositiver Personen
gesichert. Serologische Tests zum Nachweis von
Virusantigenen sind hingegen noch nicht ausgereift.
4. Mit Hilfe der serologischen Tests kann die
Durchseuchung der bekannten Risikogruppen sowie eventueller weiterer Risikogruppen (Polytransfundierte, Prostituierte) bestimmt und auch die
Ausbreitung der Infektion auf Kontaktpersonen
dieser Gruppen festgesteUt werden. Gesunde Antik6rper-positive Personen mfissen als potentiell
kontagi6s angesehen werden und stellen fiir die
weitere Ubertragung von HTLV-III, und damit
auch von AIDS, die gr6gte Gefahr dar, da durch
sie HTLV-III unbemerkt fibertragen wird. Neben
Mitgliedern der bekannten Risikogruppen kommen als gesunde Ubertrgger auch deren heterosexuelle Partner oder andere von diesen infizierte
Kontaktpersonen in Frage, wobei die Ubertragung
durch sexuellen Kontakt, Bluttransfusionen oder
Kontamination von Spenderpools ffir Blutprodukte erfolgen kann. Es ist anzunehmen, dag das
Virus auch nach einer/iberstandenen Infektion als
chromosomal integriertes Provirus im Organismus
weiter persistiert.
Angesichts dieser Sachlage mug davon ausgegangen werden, dag die Infektion unbemerkt weite
Bev61kerungskreise ergreifen kann, wenn es nicht
gelingt, die Ubertragungskette zu unterbrechen.
Dies kann geschehen durch Aufkl~irung der Risikogruppen, die zu einer Anderung der Verhaltensweisen f/ihrt (z.B. Verwendung yon Kondomen),
AIDS und HTLV-III in der Bundesrepubtik Deutschland
sowie durch systematisches Testen yon Blutspendern und Kontaktpersonen Infizierter.
5. Eine wirksame Immunprophylaxe erscheint
aus grundsfitzlichen Erwfigungen schwierig und ist
in absehbarer Zeit (z.B. innerhalb der n~ichsten drei
Jahre) nicht zu erwarten. Eine der Schwierigkeiten
kann die als Polymorphisrnus des Virus bezeichnete Variabilit/it der immunogenen Virushfille werden, deren Ausmag in immunologischer Hinsicht
allerdings noch nicht bekannt ist. Dadurch wfirde
fraglich, ob ein einheitlicher Impfstoff Schutz gegen alle Virusvarianten bietet.
6. Magnahmen zur Behandlung Erkrankter
sind weiterhin im wesentlichen symptomatisch.
Eine immunologische Restitution ist bislang nicht
m6glich. In den Finalstadien wird der Einsatz experimenteller Therapien versucht (z.B. Interferon,
Interleukin 2). Auch Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (Suramin, Ribavirin), zytotoxische Antik6rper oder die Knochenmarkstransplantation
werden diskutiert ([27,28] pers6nliche Mitteilungen). Die Schwierigkeiten einer Knochenmarkstransplantation liegen mit darin begriindet, dab neben T- und B-Lymphozyten sowohl Monozyten
und wahrscheinlich auch neuronale Zellen als Virusreservoire anzusehen sind: Aus Gehirnzellen
yon AIDS-Patienten mit Enzephalopathie wurden
Nukleins/iuren des AIDS-Virus isoliert [29]. In diesem Zusammenhang ist yon Interesse, dab die
kfirzlich bestimmte Basensequenz von HTLV-III
[30] Homologien zum Visna-Virus aufweist [31],
einem Retrovirus, das eine t6dliche Enzephalopathie bei Schafen hervorruft.
Die Tatsache, dab die Indentifizierung des/itiogischen Agens so schnell erfolgte, darf nicht darfiber hinwegt/iuschen, dab wit bei der Eindfimmung dieser Erkrankung vor gr6Bten wissenschaftlichen und organisatorischen Problemen stehen,
insbesondere da wir yon einer Erfolg versprechenden Vakzination noch weit entfernt sin& Beim gegenw/irtigen Stand der Erkenntnisse ist davon auszugehen, dab ohne energische Gegenmal3nahmen
(systematisches Testen yon Risikogruppen und
Blutspendern, Verwendung virusinaktivierter Gerinnungsfaktoren, Entwicklung geeigneter Richtlinien und Vorschriften im Rahmen der bestehenden
Seuchengesetze) die Ausbreimng der Infektion und
damit die Geffihrdung der Bev61kerung zunehmen.
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Prof. Dr. R. Hehlmann
Medizinische Poliklinik
Pettenkoferstr. 8 a
D-8000 Mfinchen 2
Bundesrepublik Deutschland
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