abschlussbericht

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WENDEPUNKT e.V.
Außenstelle Hamburg
Max-Brauer-Allee 40,
22765 Hamburg
Fon: 0 40/70 29 87 61
[email protected]
ABSCHLUSSBERICHT
zum
Hamburger Modellprojekt
für sexuell auffällige Minderjährige
2007 bis 2010*
vorgelegt von
Ingrid Kohlschmitt und Bernd Priebe
*vom Hamburger Senat bewilligt unter der Bezeichnung: „Modellprojekt für jugendliche Sexual(straf-)Täter“
unter der Drucksachennummer 18/5307
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
2
DANKSAGUNG
Für die Chance, an einem solchen Modell mitzuwirken und aktiv Einfluss auf die Entwicklung von Präventionsstrukturen für sexuell auffällige Minderjährige zu nehmen, für die
partnerschaftliche Zusammenarbeit der Projektbeteiligten und die tatkräftige Unterstützung des gesamten Netzwerks wollen wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken:
•
bei den politischen Gremien, die ein solches Modell ermöglicht haben
•
bei der Stadt Hamburg / Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz. Hier allen voran bei der Staatsrätin Dr. Angelika Kempfert, beim
Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe (FS2), Dr. Wolfgang Hammer,
bei der Leiterin der Abteilung Jugenddelinquenz (FS24), Christa Töwe und
allen weiteren Beteiligten in der Behörde
•
bei allen projektbegleitenden Mitarbeiterinnen des Familieninterventionsteams,
stellvertretend sei hier Kerstin Haedge genannt
•
bei Prof. Dr. Peer Briken und seinem Team im Institut für Sexualforschung am
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
•
bei der Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung,
namentlich Dr. Christian Böhm und Bianka Petri.
•
bei Susanne Engel und ihren Kolleg/innen von REBUS (Regionale Beratungs- und
Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde)
•
bei allen Teilnehmenden von NEXUS (Netzwerk Hamburger Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen)
•
und natürlich bei allen Teilnehmern/innen des modellbegleitenden Arbeitskreises
Wir sehen einer weiteren produktiven Zusammenarbeit mit Ihnen allen, auch über den
Modellzeitraum hinaus, mit Freude entgegen.
Das Team von WENDEPUNKT,
im September 2010
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
3
INHALT
1
Vorstellung des WENDEPUNKT
5
2
Vorstellung des Modellprojektes
7
3
Unsere Aufgaben im Modellprojekt
10
3.1.
Die Säulen unserer Arbeit
10
3.2.
Unser Team
13
4
Begriffserklärungen
14
5
Die fallabhängige Arbeit: Vorstellung unseres Angebotes
und Erkenntnisse
16
5.1.
Enge Kooperation zwischen Familieninterventionsteam und WENDEPUNKT
eröffnet verschiedene Zugangswege zum Hilfesystem
16
5.2.
Der niedrigschwellige Zugang im WENDEPUNKT hat sich bewährt!
18
5.2.1.
Fallzahlenentwicklung
18
5.2.2.
Unsere Zugangswege
19
5.2.3.
Zunehmend erreichen uns Fällen aus den Opferberatungsstellen
20
Uns erreichen unterschiedliche Fallanfragen
21
Alter, Migrationshintergrund, Kognitive Beeinträchtigung
21
5.3.
5.3.1.
5.3.2.
Tätertypologie und Deliktbereiche
23
5.3.3.
Fallbeispiele und Beratungsanliegen
25
Verteilung unserer Interventionsmaßnahmen
30
5.3.4.
5.4.
5.4.1.
Die Finanzierung der Fallbearbeitung erfolgt aus verschiedenen Budgets
31
Finanzierung aus Mitteln des Modellprojektes
31
5.4.2.
Finanzierung aus Mitteln der Erziehungshilfe
31
5.4.3.
Finanzierung aus Mitteln der Justizbehörde
31
Rückfallprophylaxe in stationären Angeboten als Annexleistung
32
5.5.
5.4.4.
Die Arbeit mit sexuell auffälligen Minderjährigen erfordert eine spezifische
Herangehensweise
33
5.6.
Unklar formulierte Aufträge und Therapieweisungen stellen ein Problem dar
38
5.7.
Sondierung, Diagnostik und Rückfallprognostik sind unverzichtbar
39
5.7.1.
Sondierung (Vorklärung des Hilfebedarfs)
39
5.7.2.
Instrumente zur Risikoabschätzung und Therapieplanung
40
5.7.3.
Instrumente zur Rückfallprognostik: Unsere Einbindung ins ERASOR-Programm
41
5.7.4.
Instrumente zur (unspezifischen) psychologischen Diagnostik
41
Interventionen für Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten brauchen
Standards und müssen differenziert konzipiert sein
42
42
5.8.
5.9.
5.8.1.
Unsere Standards
5.8.2.
Das Konzept der Ambulanten Rückfallprophylaxe (ARP): Indikationen und Inhalte
45
5.8.3.
Kognitiv Beeinträchtigte brauchen ein eigenes Konzept
49
5.8.4.
Rückfallprophylaxe für Unter-14-Jährige in stationären Einrichtungen
52
5.8.5.
Normenverdeutlichende Gespräche
54
5.8.6.
Sexualpädagogische Beratung als niedrigschwelliges Angebot
56
5.8.7.
Elternarbeit ist unverzichtbar
58
Sekundärprävention ist doch nötig, denn sexuelle Übergriffe mit mehreren
Beteiligten nehmen zu
59
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
4
6
Die fallunabhängige Arbeit: Vorstellung unseres Angebotes und Erkenntnisse
61
6.1.
Eine effiziente Arbeit mit sexuell auffälligen Minderjährigen braucht tragfähige Kooperationsstrukturen
61
6.1.1.
Das UKE evaluiert die Entwicklung der Kooperationsbezüge
61
6.1.2.
Der das Modell begleitende Arbeitskreis
61
6.1.3.
Vernetzung mit dem Arbeitskreis NEXUS
63
6.1.4.
Vernetzung mit der Schulbehörde
63
Mitarbeit im DGfPI
64
6.2.
6.1.5.
Fallunabhängige Fachberatungen tragen zur Erweiterung von Handlungskompetenzen und damit zur Prävention bei
65
6.3.
Neben Grundlagenvermittlung müssen Fortbildungen und Fachgespräche
flexibel auf unterschiedliche Anliegen reagieren
65
6.3.1.
Fortbildungsanlässe und Zielgruppen
66
6.3.2.
Fortbildungskonzepte
68
6.3.3.
Auswertung und Rückmeldungen
84
Standards zum Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen müssen
erarbeitet werden
85
6.4.1.
Leitfaden Schulbehörde
85
6.4.2.
Grundlegende Empfehlungen zum FDXUmgang mit sexuellen Übergriffen durch
Kinder und Jugendliche in Einrichtungen
85
6.4.3.
Leitfragenkatalog für Einrichtungen, die direkt m. Kindern u. Jugendlichen arbeiten
87
6.4.4.
Leitfragenkatalog für Einrichtungen, die beratend o. intervenierend mit Kindern
und Jugendlichen arbeiten
89
6.4.
6.5.
Öffentlichkeitsarbeit ist unverzichtbar
91
6.5.1.
Flyer
91
6.5.2.
Veranstaltungen und Tagungen
92
7
Qualitätsentwicklung und -sicherung
94
7.1.
Konzepte müssen beständig überprüft und weiter entwickelt werden
94
7.2.
Kollegiale Beratung und Supervision
94
7.2.
Fortbildung der Teammitglieder und Teilnahme an Fachdiskussionen
95
Ausblick
Die Arbeit wird fortgesetzt –„ Hamburger Beratungsstelle für
sexuell auffällige Minderjährige und junge Erwachsene“
96
Anhang
A1 Leitfaden Gewaltprävention: Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen unter Schülerinnen und Schülern – Hg. in
Kooperation mit Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde), Vertreterinnen von NEXUS
A2 Zeitschrift für Sexualforschung; 2008, 21, Georg Thieme Verlag, Stuttgart-New York, S. 249-268
Bernd Priebe: Rückfallprophylaxe bei jungen Sexualstraftätern: Erfahrungen aus der Ambulanten Arbeit mit sexuell
grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen
A3 Beitrag Bernd Priebe zur Fachtagung „Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugendliche“ vom 12.-14.02.2009 im
UKE, Hamburg. Die Arbeit des WENDEPUNKT im „Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige“ – Säulen
der Ambulanten Rückfallprophylaxe
A4 Zeitschrift für Soziale Strafrechtspflege Schleswig – Holstein, Sonderausgabe 2008, Bernd Priebe: Vernetzung,
Standards, Herausforderungen in der Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen in Schleswig-Holstein
A5 J. Tetens/S. Friedrichs Hg. Umgang mit Konflikten und Gewalt an der Schnittstelle zwischen Psychologie, Pädagogik und Soziale Arbeit, 2009, Lulu Enterprises, Inc., Morrisville, S. 63 ff: Bernd Priebe: Arbeit mit sexuelle grenzverletzenden Minderjährigen
A6 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Stellungnahme des Senats zu dem Ersuchen der Bürgerschaft vom
22./23. Juni 2005 (Drucksache 18/5307) „Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch minderjährige Täter“
97
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
5
1.
VORSTELLUNG WENDEPUNKT
„Gewalt beginnt nicht da, wo Messer gezückt und Fäuste geballt werden. Gewalt
beginnt da, wo Menschen kleingemacht, eingemacht und ausgelacht werden, wo
man ihnen Räume und Träume nimmt und ihre Gefühle missbraucht. Kurz: da,
wo die Suche nach dem großen Glück zum Dauer-Frust und Trauer-Spiel wird
und jeder sehen muss, wo er bleibt." von Günter Jankowiak
Der WENDEPUNKT E.V. wurde 1993 gegründet und hat seinerzeit vom Kreistag in Pinneberg
die Trägerschaft für die seit 1991 existierende kreisweit tätige Beratungsstelle gegen den
sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen übertragen bekommen. Er ist als gemeinnützig anerkannt und unter anderem Mitglied im Paritätischen.
Zur Zeit arbeiten - überwiegend in Teilzeitarbeitsverhältnissen - 20 festangestellte psychosoziale/pädagogische Fachkräfte, drei Verwaltungsmitarbeiterinnen sowie insgesamt
sechs Honorarmitarbeiter/innen in seinen Einrichtungen und Projekten.
Unser Motto lautet:
Respektvoll und gewaltfrei in Erziehung, Partnerschaft und Sexualität
Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien in Krisen, nach Traumatisierung und Gewalt
Unsere Angebote werden in erster Linie über den Kreis Pinneberg, das Land SchleswigHolstein, den Hamburger Senat und über verschiedene Kommunen finanziert. Darüber
hinaus erhalten wir beispielsweise Mittel von der Aktion Mensch, vom Kinderhilfswerk
oder von der Unfallkasse Nord. Und nicht zuletzt erreichen uns Spenden in nicht unerheblicher Höhe.
Unsere Arbeit richtet sich zum einen an Mädchen, Jungen und Jugendliche sowie an deren Bezugspersonen; zum anderen stehen wir insbesondere psychosozialen und pädagogischen Fachkräften für Fachberatung, Krisenintervention und Fortbildung zur Verfügung.
Überblick Tätigkeitsbereiche
seit 1991
Hauptstelle in Elmshorn
Außenstellen in
Quickborn, Schenefeld,
Hamburg
23 festangestellte
Mitarbeitende,
6 Honorarkräfte
ca. 600 Wochenstunden
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
6
•
Der WENDEPUNKT ist eine gewaltpräventive Einrichtung, wobei Prävention für uns
heißt:
-
einen Beitrag dazu zu leisten, dass Kinder und Jugendliche aufwachsen können, ohne Gewalterfahrungen machen zu müssen
-
bereits vorhandene Gewalterfahrungen aufzudecken und den Schutz vor weiteren Gewalthandlungen zu veranlassen
-
Folgeerscheinungen möglichst zu verhindern oder zumindest gering zu halten.
•
Der WENDEPUNKT hat Ende der 90er Jahre begonnen, sein Angebot auf Kinder und
Jugendliche mit sexuell auffälligem Verhalten auszudehnen und seine Ambulante
Rückfallprophylaxe entwickelt. Dieser Arbeitsbereich stellt für uns originäre Gewaltprävention dar, denn frühzeitige, kompetente und nachhaltige Intervention
kann das Manifestieren von übergriffigem Verhalten verhindern. Der WENDEPUNKT
verfügt heute über ein ausdifferenziertes Interventions- und Fortbildungsrepertoire.
•
Er unterstützt tatkräftig Bemühungen, die rechtlichen und psychosozialen Hilfen
gegen die häusliche Gewalt möglichst wirkungsvoll weiter zu entwickeln. Häusliche
Gewalt richtet sich mehrheitliche gegen Frauen, wobei die Mädchen und Jungen,
die in diesen Familien leben, von dieser Gewalt auf vielfältige Weise mit betroffen
sind. Sie erleben hilflos die Misshandlung der Mutter mit und werden dadurch häufig selbst schwer geschädigt. Sie sind dabei oft gleichzeitig auch am eigenen Leib
von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch betroffen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
7
2.
VORSTELLUNG DES MODELLPROJEKTES
Die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg hatte im Juni 2005 den Senat ersucht, ein Modellprojekt zur besseren Koordination der Hilfesysteme und anderer staatlicher Institutionen einzurichten, das der Erfassung der Täter und Opfer sexueller Übergriffe sowie die Diagnostik und Behandlung bzw. Therapie der minderjährigen Täter optimiert“. Der Senat hat in seiner Stellungnahme zu diesem Ersuchen eine umfangreiche
Projektkonzeption vorgelegt (s. Anlage 7). Sie stellt die Grundlage für das Modellprojekt
dar, das inzwischen abgeschlossen wurde und dessen Inhalte und Ergebnisse in diesem
Bericht vorgestellt werden.
Das Modellprojekt startete im Juni 2007 und lief über einen Zeitraum von drei Jahren. Es
setzte an drei verschiedenen Punkten an und bezog drei Einrichtungen ein, die eng miteinander kooperiert haben:
•
Der Erstkontakt, insbesondere von Seiten der Jugendämter, sollte neu strukturiert
werden. Hintergrund dafür ist die Erfahrung, dass sexuelle Grenzverletzungen die
häufig unvorbereiteten Systeme überfordern. Das betrifft oft nicht nur das soziale
und pädagogische Umfeld des mutmaßlichen Täters, sondern auch die hinzugezogenen Fachkräfte der Allgemeinen Sozialen Dienste. In der Regel gibt es auch dort
wenig Praxis im Umgang mit Minderjährigen mit sexuell auffälligem Verhalten.
Entsprechend groß ist die Unsicherheit, wenn es um die Entwicklung und Verfügung angemessener Hilfen geht.
Für das Hamburger Modellprojekt für minderjährige Sexual(straf-)Täter
(dieser Ursprungstitel wurde relativ schnell nach Projektbeginn geändert) ist in
diesem Bereich das Familieninterventionsteam (FIT) Ansprechpartner gewesen.
Das FIT ist die überregionale Jugendamtsabteilung in Hamburg, die sich um Jugendliche mit besonders problematischen Hintergründen kümmert. Voraussetzung
für die Anbindung an das FIT ist normalerweise eine Strafanzeige, dies wurde für
die Zeit des Modellprojektes teilweise ausgesetzt. Im Vorfeld und zu Beginn der
Modelllaufzeit wurden das zuständige Landeskriminalamt, die Staatsanwaltschaften und die zuständigen Stellen in den regionalen Polizeikommissariaten informiert.
Im FIT selber sollte dann vor allem das Case-Management übernommen sowie die
Ersteinschätzung von Hilfebedarfen für die Kinder und Jugendlichen optimiert werden. Dafür wurde vom Institut für Sexualforschung an der Uniklinik Eppendorf ein
Testinstrumentarium zur Verfügung gestellt, über das es möglichst schnell und
niedrigschwellig möglich wurde, zu einer Einschätzung von Tatschwere und Hilfebedarf zu gelangen.
An dieser Stelle soll schon einmal eine - aus unserer Sicht wichtige Erkenntnis vorweggenommen werden: Für die erfolgreiche Arbeit im Modellprojekt war eine
strukturelle Veränderung besonders wesentlich: Nur wenige, in die Thematik
„Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten“ gut eingearbeitete und fortgebildete Kolleg/innen im FIT haben die Fälle aus dem Projekt bearbeitet. Sie haben
sich auch aktiv in die Vernetzungsgremien des Modellprojektes eingebracht. Diese
Kolleginnen standen im regelmäßigen Fachaustausch mit den Mitarbeiter/innen
des WENDEPUNKT.
•
Die Aufgaben des WENDEPUNKT im Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige
Minderjährige lassen sich unter den folgenden Überschriften zusammenfassen:
−
Aktiver Opferschutz durch eine rechtzeitige Intervention:
Information und Krisenberatung für Eltern, Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen sollte aufgebaut werden, damit eine angemessene Reaktion eingeleitet
werden kann. Dabei geht es z. B. um die räumliche Trennung von Opfer
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
8
und Täter, Begleitung von Eltern und Lehrkräften und pädagogische Interventionen in betroffenen Gruppen.
−
Prävention von sexueller Gewalt durch Verhindern von „Täterkarrieren“:
Die neuere Forschung zeigt, dass die meisten erwachsenen Sexualstraftäter schon eine lange einschlägige Vorgeschichte hinter sich haben, ohne
dass sie eine kompetente Reaktion darauf erfahren hätten. Der WENDEPUNKT
hat im Modellprojekt versucht dazu beitragen, dass sexuell übergriffige
Minderjährige möglichst frühzeitig eine angemessene Reaktion auf ihr Verhalten erleben. Dazu gehörte u. a. ein niedrigschwelliges Angebot zur
Diagnostik und Beratung.
−
Effizienterer Einsatz der vorhandenen Fachstellen und Fachkompetenz
durch eine bessere Vernetzung:
Es gab und gibt in Hamburg an vielen Stellen Fachwissen zur Thematik sexueller Übergriffe. Der WENDEPUNKT hat u. a. einen Arbeitskreis als Schnittstelle initiiert, um das Know-how zu bündeln, gemeinsame Handlungskonzepte zu entwickeln, fachliche Kooperation zu stärken und das Wissen über
die verschiedenen Angebote in den Einrichtungen zu verbessern.
−
Erarbeiten von verbindlichen Kriterien im Umgang mit der Thematik „Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten“
Leitfäden sind für Einrichtungen wichtig, um in Krisensituationen vor dem
Hintergrund einer klaren Verantwortungsstruktur fachlich angemessen und
kompetent reagieren zu können. Über Leitfäden hinaus unterstützen wir
Einrichtungen mit Fachberatung und Fortbildung auf der Grundlage jeweils
zugeschnittener Konzepte.
−
Sensibilisierung von (Fach)Öffentlichkeit
Dem Themenbereich „Sexuelle Gewalt“ wird möglichst ausgewichen oder er
löst hochemotional geführte Debatten aus. Vor allem über Fortbildungen
und Fachgespräche wollten wir zu einer Versachlichung und zur Erweiterung von Wissen und Handlungskompetenzen beitragen.
−
Interne Weiterbildung und fachlicher Austausch der beteiligten Institutionen und Einrichtungen.
Auf verschiedenen Wegen und Ebenen haben wir daran mitgewirkt, Qualitätskriterien für die Arbeit mit sexuell auffälligen Minderjährigen weiterzuentwickeln.
•
Der dritte Aufgabenteil
des Modellprojekts
wurde durch das
Institut für Sexualforschung an der
nik Eppendorf (IFS)
abgedeckt. Das IFS
sollte das Projekt
senschaftlich begleiten
und beispielsweise die
passenden
mente für den
kontakt mit sexuell
grenzverletzenden
Minderjährigen
sammenstellen. Die
zweite umfangreichere
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
9
Arbeitsaufgabe bestand in der Evaluation der Daten, die über die Testung beim
FIT und beim WENDPUNKT zurückliefen. Evaluiert wurden zusätzlich die Vernetzungsstrukturen in Hamburg und der begleitende Arbeitskreis. Der Abschlussbericht des UKE wird dort gesondert erstellt.
Während der gesamten Laufzeit von Juli 2007 bis Juni 2010 hat eine interne Steuerungsgruppe getagt. Sie hatte die Aufgabe
•
die Kooperationsprozesse zwischen den Modellprojektpartnern zu optimieren
•
den Informationsfluss zwischen allen Projektbeteiligten und der verantwortlichen
Behörde zu gewährleisten
•
gegebenenfalls zeitnah auf Entwicklungen zu reagieren
•
sich in der Auswahl und im Einsatz von Instrumenten zur Diagnostik und Gefährdungseinschätzung abzustimmen.
In der Steuerungsgruppe saßen Vertreter/innen der beteiligten Projektpartner (Familieninterventionsteam, Institut für Sexualforschung am UKE und WENDEPUNKT) sowie eine
Vertreterin der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz.
Das Modellprojekt war mit einem Etat von 80.000 € pro Jahr ausgestattet. Damit konnten
ca. 46 Std./Wo an Fachkräften finanziert werden. Hinzu kommen Ressourcen für die
Verwaltung.
Datenschutzrechtliche Belange wurden zu Beginn in enger Abstimmung mit dem Hamburger Datenschutzbeauftragten geklärt.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
10
3.
UNSERE AUFGABEN IM MODELLPROJEKT
3.1.
DIE SÄULEN UNSERER ARBEIT
Die Beratungsstelle des WENDEPUNKT hatte im Rahmen des Hamburger Modellprojektes für
sexuell auffällige Minderjährige fallabhängige und fallunabhängige Aufgaben zu bearbeiten.
Fallabhängige Aufgaben
Die Forschungsbeiträge zur Rückfallwahrscheinlichkeit bei der Gruppe der Minderjährigen
mit sexuell auffälligem Verhalten kommen zwar zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen,
Konsens ist jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass aus dieser Gruppe heraus wieder
Sexualstraftaten verübt werden, deutlich größer ist als in der übrigen Population. Die
Prävention weiterer Straftaten , die einem effektiven Opferschutz gleichkommt, erfordert
daher eine frühzeitige Intervention und eine nachhaltig wirksame Arbeit mit den Tätern.
Zu den fallabhängigen Aufgaben gehören die folgenden Arbeitsbereiche:
Arbeitsbereiche
Fallabhängige Aufgaben - Intervention
Fachberatung
Sondierung
Beratung von
Angehörigen
v.a. für Einrichtungen der
Jugendhilfe
und für Schulen
Bearbeitung
von Verdachtsfällen
des sozialen
Umfeldes
In Einzelfällen:
Diagnostik im
Vorfeld von
HzE
Niedrigschwellige
Interventionen
Nach Verfügung durch
FIT oder den ASD:
Durchführen von sozialtherapeutischen
Maßnahmen zur Ambulanten Rückfallprophylaxe (ARP) –
auch für intelligenzgeminderte Jugendliche
Beratung von
Minderjährigen mit sexuell auffälligem Verhalten
z.B.
Sex.päd.
Interventionen
Normen
verdeutl
deutlichende
Gespräche
Unterrichtsprojekte
im Einzelsetting
im Gruppensetting
Achtung: Wird nicht
aus dem Zuschuss für
das Modellprojekt sondern aus HzE -Mitteln
finanziert
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
11
Im Rahmen des Modellprojektes bedeutete Intervention in erster Linie niedrigschwellige
Beratung vor allem in Krisenfällen. Für den Bereich der konkreten Fallarbeit, die Krisenintervention und die Fachberatung stand allerdings nur der kleinere Teil des Projektzuschusses zur Verfügung.
Ziel dieser Säule der Arbeit im Modellprojekt war eine möglichst zeitnahe Intervention
nach sexuell auffälligem Verhalten durch Minderjährige. Es erfolgten Interventionen, bei
denen die Aussagen der Opfer ernst genommen werden und trotzdem ruhig und besonnen agiert wird, ohne dass es zu Stigmatisierungen der Tatverdächtigen kommt. Gleichzeitig dürfen die Interventionen nicht zur Bagatellisierung und Skandalisierung führen.
Für sinnvolle Reaktionen im Hinblick auf die Tatverdächtigen braucht es eine spezialisierte Diagnostik sowie angemessene und möglichst niedrigschwellige Angebote für die sexuell grenzverletzenden Minderjährigen. Ein weiteres Ziel für unsere Fallarbeit war ein
ausdifferenziertes Angebot für spezifische Auffälligkeiten.
Fallunabhängige Aufgaben
Zu den fallunabhängigen Aufgaben gehören die folgenden Aufgabenbereiche:
Arbeitsbereiche
Fallunabhängige Aufgaben – Aufbau und Entwicklung
Leitung des
Entwicklung von
Entwicklung von
Entwicklung von
modell-
Kooperationsstrukturen
Qualitätsstandards
FortbildungsKonzepten
Entwicklung von
Konzepten und
Verfahren zur
Intervention und
Prävention
Koordination und
Durchführung
von
projekt-
sowie
begleitenden
Arbeitskreises
Öffentlichkeitsarbeit
Fortbildungen
Selbstverständlich gab es schon vor Beginn des Hamburger Modellprojektes im Sommer
2007 verschiedene Einrichtungen und Ansätze in und um Hamburg, die sich mit sexuell
grenzverletzenden Minderjährigen auseinandergesetzt haben. Eine formulierte Aufgabe
des Projektes bestand in der Zusammenführung verstreuter Ansätze, um diese durch
Vernetzung effizienter zu gestalten und gleichzeitig die Lücken in der Versorgung zu erkennen.
Der erste Schritt zur Vernetzung war die Evaluation der vorhandenen Angebote für sexuell delinquente Jugendliche in Hamburg. (s. hierzu Begleitevaluation durch das UKE).
Diese bestehenden Angebote sollten durch Kooperation fallbeteiligter Einrichtungen optimiert werden. Dazu gehörte beispielsweise auch die Vernetzung innerhalb verschiedener
Teilbereiche wie z. B. Schule. Andere Aufgabenfelder, in denen Vernetzung angebracht
erschien, sind in der Arbeit mit Jugendlichen mit Behinderungen oder in der spezialisierten Arbeit mit Tatverdächtigen, die einen Migrationshintergrund aufweisen, zu finden.
Trotz aller fachlich bedingten Abgrenzungen ist eine Kooperation mit Beratungseinrichtungen für Opfer sexueller Gewalt eines unserer Ziele, um eine „Mehrspurenhilfe“ installieren zu können.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
12
Integriert in dieses Aufgabenfeld ist die Information und Fortbildung von pädagogischen
Fachkräften verschiedener Arbeitsbereiche, die mit sexueller Grenzverletzung konfrontiert sind oder sein könnten.
Für diesen Arbeitsbereich haben wir uns eingangs folgende Ziele gesetzt:
•
Sensibilisierung für sexuelle Übergriffe durch Minderjährige.
•
Entwicklung von Kommunikationsfähigkeit im Hinblick auf ein
widerstandauslösendes und tabubesetztes Thema
•
Informationsvermittlung z.B. zu Formen sexueller Delinquenz Minderjähriger oder
zu Tätertypologien und -strategien
•
Informationsvermittlung zur „deliktorientierten Arbeit“ mit sexuell
grenzverletzenden Minderjährigen oder zur Arbeit im direktiven Rahmen
•
Für eine schnelle und sinnvolle Intervention benötigten wir Präventions- und
Interventionskonzepte, die auf die jeweiligen Einrichtungen zugeschnitten sind.
Ziel ist es, für die jeweilige Einrichtung oder Behörde passende Konzepte und
Verantwortlichkeiten zu entwickeln, die im Ernstfall Sorge tragen, dass kompetent
und zeitnah reagiert werden kann.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
13
3.2.
UNSER TEAM
Unser Team ist multiprofessionell zusammengesetzt:
Bernd Priebe, Projektleitung
MA Theologe, Sexualpädagoge, Therapeut für sexuell
misshandelnde Kinder und Jugendliche (DGgKV e.V.)
insg. 35 Std./Wo – davon ca. 24 Std./Wo im Modellprojekt
Uwe Ladleif
Dipl. Sozialpädagoge, Therapeut für sexuell misshandelnde
Kinder und Jugendliche (DGgKV e.V.)
insg. 39 Std./Wo – davon ca. 6 Std./Wo im Modellprojekt
Nicole Krampe
Dipl. Psychologin, Systemische Beraterin,
Systemische Therapeutin i.A.
insg. 29 Std./Wo – davon ca. 10 Std./Wo im Modellprojekt
………………………………………
Ingrid Kohlschmitt, Geschäftsführerin WENDEPUNKT e.V.
Dipl. Pädagogin
insg. 39 Std./Wo – davon ca. 6 Std./Wo im Modellprojekt
Hinzu kommen Ressourcen für die Verwaltung.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
14
4.
BEGRIFFSKLÄRUNGEN
Das Hamburger Modellprojekt trug anfangs den Namen „Modellprojekt für jugendliche
Sexual(straf-)Täter“. Aus folgenden Gründen wurde der Name kurz nach Modellstart und
nach ausführlicher Diskussion in der Steuerungsgruppe geändert:
Der Begriff „Straftäter“ ist nicht passend, denn mit ihm sind z. B. die Fälle, in denen strafunmündige Kinder beschuldigt werden, die nach einer rein rechtlichen
Definition nicht als Täter gelten können, nicht mit abgedeckt.
Gleichzeitig traf dieser Terminus selbst bei den Eltern, deren Kinder bereits eine
Anzeige erhalten hatten, auf große Vorbehalte und Abwehr und förderte entsprechend die Angst vor Stigmatisierung.
Der neue Name des Modellprojektes lautete dann „Hamburger Modellprojekt für sexuell
auffällige Minderjährige“.
Den Ausschlag für diese Bezeichnung gab die Überlegung, Eltern delinquenter Jugendlicher nicht allein schon durch den Namen des Modellprojektes eine zusätzliche Handhabe
in der Abwehr möglicher Interventionen zu geben. Mit ihm wurde der niedrigschwellige
Ansatz des Modells betont. Der Terminus „sexuell auffällige Minderjährige“ will eine Vorverurteilung des Jugendlichen vermeiden, indem er nicht mehr auf den sexuellen Übergriff fokussiert. Damit verbunden ist die Perspektive, die Kontaktaufnahme mit den Eltern
zu vereinfachen, die für den Verlauf und den Erfolg einer Intervention von entscheidender Bedeutung ist. Gleichzeitig ermöglicht es dieser Modelltitel aber auch, Anfragen zu
bearbeiten, die sich auf Fälle beziehen, die nicht von Gewalt oder Manipulation gekennzeichnet sind. Dazu gehören z. B. Fachberatungen für Einrichtungen, die sich darüber
informieren möchten, ob sich die Doktorspiele, die sie bei ihren Kindern beobachten, im
angemessenen Rahmen bewegen oder ob ein bestimmtes Verhalten bei älteren Jugendlichen eine Entwicklung hin zu paraphilem Verhalten befürchten lassen.
Aber auch die neu gewählte Projektbezeichnung birgt Schwierigkeiten in sich, denn sie
lässt große Interpretationsspielräume zu. Darüber hinaus eröffnet sie ggf. auch Tatleugnern die Möglichkeit, sich der Verantwortung zu entziehen.
Im WENDEPUNKT wurde im Anschluss an diese Diskussionen versucht, die sexuelle Übergriffigkeit der Jugendlichen mit einer Terminologie zu beschreiben, die auf der einen Seite die Menschen, die sich mit Beratungs- oder Therapiewünschen an die Beratungsstelle
wenden, nicht verschreckt, die aber trotzdem deutlich benennt, worum es sich bei den
Taten der Minderjährigen handelt.
•
Für die minderschweren Taten wurde der Terminus „sexuell missbräuchliche
Handlungen“ gewählt. Dazu zählen z. B. Tatgeschehen, in denen einmal oder nur
wenige Male ein jüngeres Opfer über der Kleidung berührt wurde.
•
Mit dem Begriff „sexuelle Grenzverletzung“ wurde versucht, den Sachverhalt deutlich aber nicht dramatisierend zu beschreiben. Zusätzlich ist in diesem Begriff
auch immer die Opferperspektive erkennbar. Sexuelle Grenzverletzung beschreibt
ein übergriffiges Verhalten, das einen eher abwertenden, gewalttätigen Charakter
hat. Das fängt mit sprachlichen Übergriffigkeiten an und kam in der Beratungsstellenpraxis hauptsächlich in Form von Berühren der Genitalien und sekundären
Geschlechtsmerkmalen vor.
•
Die Begriffe „sexuelle Nötigung“ und „Vergewaltigung“ umfassen die massiveren
und eindeutig strafrechtlich relevanten Formen der sexuellen Gewalt:
−
Unter sexueller Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB) sind sexuelle Handlungen gemeint, die gegen den Willen des Opfers mit Gewalt durchgesetzt werden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
15
−
Bei der Vergewaltigung (§ 177 Abs. 2 StGB) geht es zusätzlich um eine Penetration des Opfers, dabei kann es sich entgegen der landläufigen Meinung auch
um die Penetration mit einem Gegenstand handeln.
•
„Sexueller Missbrauch“ (§ 176 StGB) geht von einem Hierarchiegefälle aus, dieses
kann sich z. B. aus der Altersdifferenz, unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten,
psychische Abhängigkeiten, Gruppendynamiken oder auch sozialen und kulturellen
Unterschieden ergeben. Zu dieser Gruppe gehören auch Übergriffe, bei denen eine
Penetration stattgefunden hat oder die über einen längeren Zeitraum stattfanden,
bei denen also davon ausgegangen werden kann, dass der Schaden für das Opfer
größer ist.
Dieser Begriff ist unglücklich, weil er suggerieren könnte, es gäbe so etwas wie
richtigen Gebrauch. Andererseits ist Sexueller Missbrauch ein Terminus, dessen
Inhalt weitgehend geläufig ist. Wegen der Geläufigkeit wurde diese Begrifflichkeit
in der Fallerfassung des WENDEPUNKT übernommen.
•
Eine Gruppe, die wir im Bereich der missbräuchlichen Übergriffe gesondert beschreiben sind die „Inzesttaten“. Inzest meint den sexuellen Kontakt zu jüngeren
Geschwistern. Da in diesen Fällen die Tatszenarien fast immer sehr komplex sind
und es oft lange dauert, bis in den Familien die Dimension des Geschehenen wirklich realisiert wird und darüber hinaus die Bereitschaft, eine Anzeige zu erstatten,
eher als gering einzuschätzen ist, wird davon ausgegangen, dass gerade für diese
Tätergruppe ein niedrigschwelliger Zugang zu Beratung und Therapie wichtig ist.
•
Eine weitere Deliktgruppe, welche gesondert erfasst wurde, sind die „Gruppentaten“, die nach den Untersuchungen von Jutta Elz statistisch überproportional von
Jugendlichen begangen werden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
16
5. DIE FALLABHÄNGIGE ARBEIT: VORSTELLUNG UNSERES ANGEBOTES UND
ERKENNTNISSE
5.1.
DAS FAMILIENINTERVENTIONSTEAM UND DER WENDEPUNKT ARBEITEN
ENG ZUSAMMEN UND ERÖFFNEN VERSCHIEDENE ZUGANGSWEGE ZUM
HILFESYSTEM
Beide Einrichtungen sollten und wollten eng zusammenarbeiten. Für ihre Kooperation war
es ausgesprochen hilfreich, dass die Mitarbeiter/innen des FIT, die ausdrücklich dem Modellprojekt zugeordnet waren, über umfangreiche spezifische Kenntnisse verfügten – z.B.
im Hinblick auf Verantwortungsabwehrsyndrome oder auf die Notwendigkeit, im direktiven Rahmen zu arbeiten. Sie waren im Umgang mit diagnostischen Instrumenten geschult, mit geeigneten Gesprächsführungsstrategien ausgerüstet und konnten sich gleichermaßen empathisch und konfrontativ mit dem Thema auseinandersetzen.
Die Konzeption des Modellprojektes war in der Ausschreibung von der Behörde für Soziales und Gesundheit (BSG) auf ein über unterschiedliche Zugänge erreichbares Hilfeangebot angelegt.
•
•
Jugendliche, gegen die eine Strafanzeige wegen eines Sexualdeliktes vorliegt,
werden über die Polizei dem Familieninterventionsteam (FIT), einer Spezialabteilung des Hamburger Jugendamtes, gemeldet. Von dort aus werden erste standardisierte Interventionsschritte eingeleitet.
Alternativ können sich nach vermuteten oder aufgedeckten sexuellen Übergriffen
Einrichtungen wie Schulen, bezirkliche Jugendämter oder Beratungsstellen, aber
auch die Jugendlichen selbst oder deren Familien an den WENDEPUNKT wenden.
Zwischen dem FIT und WENDEPUNKT wurde Folgendes vereinbart:
•
•
•
•
•
Alle gemeldeten Fälle werden in die gemeinsame Fallbesprechung eingebracht,
wobei jeweils die Einrichtung, an die zuerst gemeldet wird, den Fall in die gemeinsame Fallbesprechung einbringt.
Ist der Fall ein HzE-Fall oder erfolgt eine Anzeige, übernimmt das FIT das Case
Management, ansonsten liegt das Case Management bei WENDEPUNKT. Ausnahmen
bilden HzE-Fälle, die vom ASD gemeldet werden, diese Fälle verbleiben beim ASD
(es sei denn der ASD gibt den Fall an das FIT ab oder es erfolgt eine Polizeimeldung) und WENDEPUNKT erhält das Case Management innerhalb des Projektes.
Wenn das Case Management eines Falles beim WENDEPUNKT liegt, führt WENDEPUNKT
die Diagnostik 1 (BARO, MSI-J, CFT 20) durch. Die Daten fließen über den Meldebogen anonymisiert in die Datenbank ein. Die Anonymisierung der Daten ist unbedingt erforderlich, um meldenden Institutionen und Personen Datenschutz zu
garantieren.
Danach entscheidet WENDEPUNKT (ggf. mit dem zuständigen ASD) über weitergehende Hilfen und notwendige Diagnostik.
Anfragen an WENDEPUNKT, die keine Diagnostik beinhalten (z.B. Fachberatung, Prävention etc.) fließen nicht in die Datenbank ein.
Die Vereinbarung zum ersten Punkt (gemeinsame Fallbesprechung) konnte aufgrund der
Vielzahl der Fälle nicht eingehalten werden. Fallanfragen, in denen keine diagnostische
oder therapeutische Intervention erforderlich war, konnten z. T. nicht in den Fallbesprechungen vorgestellt werden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
17
Verantwortungsstruktur der Fallarbeit in Modellprojekt
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
18
5.2.
DER NIEDRIGSCHWELLIGE ZUGANG IM WENDEPUNKT HAT SICH
BEWÄHRT!
Für die am Modellprojekt beteiligten Fachkräfte vom WENDEPUNKT war von Anfang an klar,
dass das besondere Profil eines freien Trägers gerade in der leichteren Zugänglichkeit der
Beratungsangebote liegen muss. Konkret bedeutete das, dass der WENDEPUNKT großen
Wert darauf gelegt hat, eine Beratungsstelle zu konzipieren, die auf der einen Seite möglichst niedrigschwellig funktioniert, andererseits aber auch verbindlich und angemessen
mit den Herausforderungen in der Arbeit mit jugendlichen sexuellen Grenzverletzern umzugehen weiß.
Niedrigschwelligkeit heißt in diesem Kontext z.B., dass es Ratsuchenden aus behördlichen
Einrichtungen, von freien Trägern oder aus dem sozialen Umfeld der sexuell grenzverletzenden Minderjährigen gleichermaßen möglich sein muss, sich anonym möglichst umfassend zu verschiedenen Themenkomplexen beraten zu lassen. Niedrigschwelligkeit bedeutet aus unserer Sicht aber auch, flexible Sprechzeiten vorzuhalten, kontinuierlich der
Stigmatisierung der Zielgruppe entgegen zu wirken und beständig an der Entwicklung
von Vernetzung zu arbeiten. Die Beratung und Intervention bei sexuellen Grenzverletzungen ist für die Betroffenen und deren soziales Umfeld dann ein wichtiges Anliegen,
wenn es konkrete Vorfälle gegeben hat. Im Alltag hingegen spielt diese Thematik für die
meisten Menschen keine große Rolle. Informationen über Angebote, die es rund um die
Thematik sexueller Übergriffe gibt, werden deshalb nicht zum aktiven Wissen großer Bevölkerungsgruppen gehören. Das bedeutet für die Zugänglichkeit von Beratung, dass sie
weniger in der Breite, als vielmehr qualitativ an entscheidenden Vernetzungspunkten
bekannt sein sollte. Dementsprechend gab es zu Beginn des Modellprojektes für folgende
Institutionen und Zusammenschlüsse Informationsveranstaltungen:
•
•
•
•
•
die Allgemeinen Sozialen Dienste der bezirklichen Jugendämter
die Jugendgerichtshilfe
die Jugendbeauftragten der Polizei
der Arbeitskreis der Opferberatungsstellen NEXUS (s. auch 5.2.3. und 6.1.3.)
verschiedene andere Arbeitskreise, Gremien und Institutionen aus den Bereichen
Gesundheitsförderung, Schule und Jugendhilfe.
5.2.1. Fallzahlenentwicklung
Die Frequenz der Nachfragen hat sich – wie erwartet – im Verlauf der Projektlaufzeit kontinuierlich gesteigert. Wichtig sind im Rückblick vor allem die guten Kontakte zur Schulbehörde, die z. B. die Zugänge zu Fach- und Beratungslehrerkreisen ermöglichte. Aber
auch der kontinuierliche Austausch mit den Opferberatungsstellen, die viele Fallanfragen
an die Beratungsstelle des WENDEPUNKT weitergeleitet haben, war bedeutsam. Über den
Zugangsweg der Opferberatungsstellen gab es im Laufe der Zeit auch vermehrt Kontakte
zu Eltern sexuell grenzverletzender Minderjähriger. Der niedrigschwellige Zugang spielt
speziell für Eltern, die von inzestuösen Übergriffen ihrer Kinder erfahren, eine wichtige
Rolle. Anders als bei anderen Formen der sexuellen Übergriffigkeit fehlt in vielen Familien, in denen es Inzest gegeben hat, die Bereitschaft, das Geschehene Außenstehenden
gegenüber zu thematisieren. Damit wird das Opfer alleine gelassen; aber auch dem
übergriffigen jungen Täter gegenüber werden keine Interventionsmaßnahmen ergriffen.
Im ersten Halbjahr des Modellprojektes gab es insgesamt nur sieben Fallanfragen. In den
ersten sechs Monaten des Jahres 2010 waren es bereits 42 Beratungsgesuche.
►Es ist also zu erkennen: Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich ein solches hochspezialisiertes Beratungs- und Interventionsangebot etablieren kann.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
19
Insgesamt wurden während der dreijährigen Laufzeit des Modellprojektes 162 Fälle an
den WENDEPUNKT herangetragen:
2007
2008
2009
1.07.–
31.12.
Fallanfragen insgesamt
7
2010
Gesamt
1.01.–
30.06.
44
69
42
162
2009
2010
Gesamt
5.2.2. Unsere Zugangswege
Die Fälle erreichten uns auf ganz unterschiedlichen Wegen:
2007
2008
1.07.–
31.12.
1.01.–
30.06.
Zugangswege
Fallanfragen durch Schule / Kita
3
8
18
14
43
Fallanfragen durch ASD / FIT
1
25*
13
6
45
davon 12
Diagnostik
für FIT
Fallanfragen durch JGH
1
3
7
-
11
Fallanfragen durch Eltern etc.
-
3
12
4
19
Fallanfragen durch stationäre oder ambulante Einrichtungen
1
5
15
11
32
Fallanfragen durch andere (z.B. Beratungsstellen)
1
4
7
12
162
* Diese sehr hohe Anzahl an Fallanfrage erklärt sich dadurch, dass der WENDEPUNKT in
2008 wegen eines Engpasses im FIT vorübergehend die diagnostischen Aufgaben dieser
Einrichtung übernommen hat.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
20
5.2.3. Zunehmend erreichen uns Fälle aus den Opferberatungsstellen
Von Beginn an war es den Mitarbeiter/innen des Modellprojektes ein wichtiges Anliegen,
einen guten Kontakt zu den Opferberatungsstellen herzustellen. Historisch gesehen ist
das keine Selbstverständlichkeit! Die Opferberatungsstellen, die z. T. aus einem feministischen Kontext heraus entstanden sind, standen der Arbeit mit Tätern aus verschiedenen
Gründen skeptisch gegenüber. Neben pragmatischen Befürchtungen, wie z. B. der Angst,
dass Mittel für Beratung und Therapie der Täter und Tatverdächtigen und deren sozialem
Umfeld aus der Opferberatung abgezogen werden könnten, gibt oder gab es sicherlich
auch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber diesem Arbeitsfeld. Die Mitarbeiter/innen der
Opferberatungsstellen sind tagtäglich mit den Konsequenzen von sexueller Übergriffigkeit
für ihre überwiegend weiblichen Klientinnen konfrontiert. Zwangsläufig ist es schwierig,
in einem solchen Arbeitskontext so etwas wie Wertschätzung oder auch nur einen differenzierten Blick auf den einzelnen Täter zu entwickeln.
Der WENDEPUNKT hat seinen Ursprung in der Beratung von Opfern sexueller Gewalt. Aus
dieser Erfahrung heraus ist der Ansatz der Ambulanten Rückfallprophylaxe ganz bewusst
als ein Programm entwickelt worden, das sich in seiner Zielrichtung auch dem direkten
Opferschutz verpflichtet fühlt. In der Praxis bedeutet dies, dass in unseren Fachberatungen die Frage nach dem Schutz und der Sicherheit des Opfers von zentraler Bedeutung
ist.
Rückfallprophylaxe versteht sich darüber hinaus auch grundsätzlich als Intervention, die
weitere Opfer vermeiden helfen will.
Vor diesem Hintergrund ist es aber ebenso wichtig, die sexuell grenzverletzenden Jugendlichen für sich zu sehen - als Menschen, deren Übergriffigkeit sehr oft Zeichen individuell nicht gelingender Lebensentwürfe oder zum Teil auch als Folge eigener traumatischer Erlebnisse sein kann. Die Herausforderung besteht darin, diesen Jugendlichen zu
vermitteln, dass sie als Menschen akzeptiert und wertgeschätzt, ihre Taten aber verurteilt
werden und sie sich den Konsequenzen stellen müssen.
Dieser Haltung ist für Fachkräfte, die in ihrem Alltag mit den Konsequenzen und dem
Leid, das aus sexuell übergriffigem Handeln entsteht, konfrontiert sind, schwer einnehmbar. Im Modellprojekt zeigte sich, dass es aber durchaus die Bereitschaft gibt, die unterschiedlichen Haltungen von Opfer- und Täterarbeit nebeneinander bestehen zu lassen
und mit dem gemeinsamen Ziel, durch Aufklärung, Prävention und Therapie das Ausmaß
und die Folgen sexuell grenzverletzenden Handelns möglichst zu begrenzen, in einen
Austausch zu gehen.
Umgesetzt wird dieses Interesse an Austausch und Kooperation zum Beispiel in gemeinsamen Fortbildungen für therapeutische und pädagogische Fachkräfte, in denen Fragen
von unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet werden können. Ein differenzierter Blick
macht dann z. B. klar, dass die Notwendigkeit einer Anzeige nach einer Tat aus Sicht von
Opfer- und Täterberatung ganz unterschiedlich eingeschätzt werden kann - ohne dass es
dabei um richtig oder falsch geht.
Über die Teilnahme am Nexuskreis, über gemeinsam angebotene Fortbildungen aber
auch über die Einbindung der Opferberatungsstellen in den das Modellprojekt begleitenden Arbeitskreis ist ein kontinuierlicher Kontakt zu den Kolleginnen aus den Opferberatungsstellen entwickelt worden. Dies führte zu vermehrter Vermittlung von Ratsuchenden
an den WENDEPUNKT.
Häufig nehmen die Beratungsstellen / Opferberatungsstellen nicht direkt Kontakt mit
dem WENDEPUNKT auf, sondern sie verweisen im Zuge ihrer eigenen Beratungen an uns,
so dass dann der direkte Zugangsweg z.B. über die Eltern hergestellt wird. Die folgende
Übersicht zeigt Fälle, die entsprechend bereits unter 5.2.1. erfasst wurden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
21
2007
2008
2009
1.07.–
31.12.
2010
Gesamt
1.01.–
30.06.
Fallverweisungen
Fallverweisungen durch andere Einrichtungen (z.B. Beratungsstellen, Opferberatungsstellen)
1
6
17
12
36
Die zunehmend enger werdende Zusammenarbeit mit den Opferberatungsstellen war
insofern besonders erfreulich, als gerade darüber Kontakt von Personen zu uns aufgenommen wurde, bei denen es zumindest Befürchtungen geben könnte, dass sie unter
anderen Vorzeichen gar keine Beratung in Anspruch genommen hätten. Ein Beispiel dafür
sind Fälle von Übergriffen innerhalb von Familien. Inzest löst innerhalb eines Familiensystems fast regelhaft heftige Konflikte aus, die kaum oder nicht lösbar erscheinen. Die Gefahr besteht dann häufig, dass Übergriffe bagatellisiert oder geleugnet werden – mit der
Folge, dass weder dem Opfer Unterstützung noch dem übergriffigen Jugendlichen eine
therapeutische Intervention angeboten wird.
5.3.
UNS ERREICHEN UNTERSCHIEDLICHE FALLANFRAGEN
5.3.1. Alter, Migrationshintergrund, kognitive Beeinträchtigung
Alter
In der überwiegenden Zahl der Anfragen ging es um (mutmaßliche) Täter im Jugendalter,
innerhalb einer Altersspanne zwischen fünf und 18 Jahren. Das Durchschnittsalter der
sexuell devianten Jungen, wegen derer der WENDEPUNKT e. V. kontaktiert wurde, lag relativ konstant zwischen 13,3 und 13,8 Jahren.
2007
2008
2009
1.07.–
31.12.
2010
1.01.–
30.06.
Alter
Altersspanne
Altersdurchschnitt
12 - 18
5 - 18
6 - 18
9 - 18
13,8
13,3
13,7
13,8
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
22
Migrationshintergrund
Der Anteil der Jungen mit Migrationshintergrund an der Gesamtzahl unserer Klienten entspricht knapp 30 % und damit nicht dem Anteil, den diese Klientel an der Gesamtpopulation in Deutschland hat.
2007
2008
2009
1.07.–
31.12.
Migrationshintergrund
3
2010
Gesamt
1.01.–
30.06.
15
18
12
48
Insgesamt gibt es in der Bevölkerung und auch bei den Fällen, die nach einer Strafanzeige beim FIT gemeldet werden, einen deutlich größeren Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Etwa 45% aller Kinder und Jugendlichen Hamburgs im Alter von 6 bis
18 Jahre haben laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes 2005 einen Migrationshintergrund.
Wir erklären uns diesen Umstand derzeit folgendermaßen:
•
Möglicherweise ist unser Beratungsangebot noch nicht so niedrigschwellig, dass es
die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund genauso erreicht wie andere.
•
Im Kontakt vor allem mit Eltern mit Migrationshintergrund erleben wir häufig eine
noch größere Skepsis und Angst gegenüber Interventionen von außen als in den
übrigen Familien. Es ist noch nicht geglückt, bspw. über Kolleg/innen mit Migrationshintergrund diese Schwelle zu überwinden.
•
Für Einrichtungen aus der Jugendhilfe und für Schulen stellt die Auseinandersetzung mit dem Thema „Sexuelle Übergriffe durch Jugendliche“ ohnehin eine hohe
Herausforderung dar, die nicht immer dazu führt, dass daran stringent gearbeitet
wird. Das Thema löst regelmäßig Widerstände, Abwehrreaktionen, Verunsicherung, Angst und Überforderungsempfinden aus.
Diese Reaktionen und Gefühle werden möglicherweise noch einmal potenziert,
wenn zusätzlich migrationsbezogene Fragen beantwortet werden sollen. Die Gefahr, in einem solchen Fall weder konsequent noch fachlich angemessen zu reagieren, sondern Verantwortung zu delegieren oder Beobachtungen auszublenden,
ist nicht unerheblich.
Uns sind selbstverständlich auch Fälle bekannt, in denen genau gegenteilig reagiert wird und wegen eine Migrationshintergrundes vorschnell, vorurteilsgeleitet
und damit ebenso unangemessen gehandelt wird.
•
Möglicherweise sind die proportional geringen Fallzahlen auch damit zu erklären,
dass wir in einigen der Fälle, in denen wir den/die Jugendlichen gar nicht direkt
kennen lernen, auch nicht erfahren, ob ein Migrationshintergrund vorliegt. Aus
dieser Hypothese werden wir zukünftig die Konsequenz ziehen, regelmäßig danach
zu fragen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
23
Kognitive Beeinträchtigung
Der Anteil der Fallanfragen im Zusammenhang mit kognitiv beeinträchtigten Kindern und
Jugendlichen (IQ unter 80) ist dagegen deutlich höher (27 %) als deren Anteil in der Gesamtbevölkerung.
2007
2008
2009
1.07.–
31.12.
Kognitive Beeinträchtigung
2
2010
Gesamt
1.01.–
30.06.
10
20
12
44
Mögliche Erklärungsansätze dafür könnten sein:
•
Diese Jugendlichen sind häufig sehr viel engmaschiger in ein professionelles Erziehungsumfeld eingebunden, welches sich im Ernstfall auch eher Unterstützung
durch Beratung von außen sucht.
•
Gerade diese Personengruppe (und zum Teil auch ihr soziales Umfeld) sind eher
nicht in der Lage, ihr grenzverletzendes Verhalten so zu vertuschen oder zu bagatellisieren, dass es zu keinen Interventionen kommt
•
Sexualerziehung, Aufklärung und angemessene Orte zum Ausprobieren fehlen für
diese Jugendlichen noch häufiger als für die anderen.
5.3.2. Tätertypologie und Deliktbereiche
Zunächst unterscheiden wir zwischen den beiden folgenden Kategorien
Hands off und Hands on
•
•
Der Begriff Hands Off - Delikte meint Übergriffe, die ohne körperlichen Kontakt
auskommen. Dazu gehören bspw. verbale sexuelle Gewalt und Exhibitionismus.
Hands On - Delikte können von Berührungen bis hin zu Penetrationen reichen.
Mit diesen Kategorien wird jedoch nicht erfasst, welche Bedeutung der Übergriff für das
Opfer hatte. Sie lassen auch nicht erkennen, inwieweit Gewalt eingesetzt oder Manipulation ausgeübt wurde.
Tätertypologie
Eine klar abgegrenzte Tätertypologie ist im Bereich der minderjährigen Täter nur eingeschränkt möglich – vor allem deswegen, weil sich Kinder und Jugendliche naturgemäß
noch stark in der Entwicklung und somit erst in der Ausbildung von bestimmten Verhaltens-, Denk- und Gefühlsmustern befinden. Von festgelegter Täterpersönlichkeit kann
also noch keine Rede sein.
Dennoch unterscheiden wir – auch vor dem Hintergrund des ASAP, der zu unseren diagnostischen Instrumenten gehört (vgl. 5.7.2.), - zwischen zwei Gruppen:
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
24
Rapist und Abuser
•
•
Für den sexuellen Übergriff unter Einsatz von Gewalt wird der Täter als ‚Rapist‘
beschrieben und erhält im Rahmen der Diagnostik und Rückfallprognostik - neben
dem allgemeinen - einen entsprechenden deliktbezogenen Fragebogensatz.
Der Täter, dessen Vorgehen eher manipulativ ist und der hierarchisches Gefälle
ausnutzt, bekommt den zu ergänzenden ‚Abuser‘ Fragebogensatz aus dem ASAP.
Diese Unterscheidung ist selbstverständlich zunächst eher grober Natur und gerade auch
im Hinblick auf eventuelle Stigmatisierungen nur für den internen Gebrauch bestimmt.
Tatsächlich lassen sich beide Tätertypen aufgrund der Ergebnisse des ASAP jedoch recht
gut voneinander differenzieren.
Grenzfälle
Darüber hinaus werden im WENDEPUNKT Grenzfälle vorgestellt, in denen den Fallanfragenden nicht klar ist, ob es sich um Doktorspiele, pubertäres Ausprobierverhalten, leichte
sexuelle Grenzverletzungen oder um sexuelle Gewalt handelt.
Solche Fälle, in denen es klar nur um Doktorspiele oder Ausprobierverhalten geht, werden in der folgenden Übersicht zu den Deliktbereichen nicht erfasst.
Deliktbereiche
Deliktbereiche, die den Jugendlichen vorgeworfen werden
2007
2008
2009
1.07.–
31.12.
2010
1.01.–
30.06.
Gesamt
Tätertypus „Abuser“
(manipulativ, nutzt Hierarchien aus)
Sexueller Missbrauch
Hands
on Delikte
Hands
off Delikte
3
5
5
13
Sexuell missbräuchliche Handlungen
1
6
12
10
29
Inzest
1
-
5
4
10
1
3
2
6
1
1
2
4
Konsum und Verteilung von Pornografie
Exhibitionisten
62
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
25
Gesamt
Tätertypus „Rapist“
(Einsatz von Gewalt)
„Sexuelle Grenzverletzung“
4
18
23
18
63
1
1
16
4
22
2
4
2
8
-
6
3
9
6
14
13
33
(minder schwer)
Hands
on Delikte
Nötigung
Vergewaltigung
Nötigung / Vergewaltigung als
Gruppendelikt
Hands
off Delikte
Verbale sexuelle Gewalt
135
N = 162 Mehrfachnennungen möglich, weil einzelnen Klienten mehrere Delikte vorgeworfen werden.
Von den insgesamt 162 Fallanfragen gehörten in die ‚Rapist‘ Kategorie 135, davon 96 im
Bereich „sexuelle Grenzverletzung“ sowie „verbale sexuelle Gewalt“, 22 in den Bereich
der Nötigung und gegen acht Klienten richtetet sich der massive Vorwurf der Vergewaltigung. Die neun Nachfragen, in denen es sich um Gruppendelikte, vorwiegend um so genannten „Gang Bang“, handelte, sind Teil dieser Kategorie. Fallanfragen mit diesem Inhalt gab es erst ab Mitte 2009 (vgl. auch 5.9.).
Klar abgrenzbar als „Sexueller Missbrauch“ oder „Sexuell missbräuchliche Handlung“
waren 42 Übergriffe, die in den Beratungen thematisiert wurden. Zu dieser Zahl sind die
zehn Inzestfälle hinzuzuzählen.
Wegen des Konsums oder der Weiterverbreitung von Kinderpornographie, vorwiegend
über das Internet, gab es darüber hinaus sechs Beratungsanliegen.
5.3.3. Fallbeispiele und Beratungsanliegen
Im Folgenden sollen exemplarisch Fallanfragen vorgestellt werden, wobei zunächst
grundsätzlich festzustellen ist, dass sich an uns direkt in erster Linie solche Anfragen
richten, in denen (noch) keine Strafanzeige vorliegt.
Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die anfragende Person/Einrichtung nur in Ausnahmefällen eine sozialtherapeutische oder sexualpädagogische Hilfe für einen oder mehrere Jugendliche anregt. In vielen Fällen werden erste Sondierungen, Bewertungen, Unterstützung des Umfeldes, Fachberatungen zum Umgang mit spezifischen Fragen et. gewünscht.
Wenn uns beispielsweise eine Schulleitung anfragt, weil mehrere Schüler ihrer Schule
sexuelle Gewalt gegen eine Schülerin ausgeübt hat, so kann die Intervention, die von uns
erwartet wird, ganz unterschiedlicher Natur sein:
•
Möglicherweise gibt es – bei strafmündigen Schülern – bereits eine Strafanzeige,
oder die Schüler sind der Schule verwiesen worden, oder sie sind vielleicht sogar
stationär in einer Einrichtung untergebracht, aber mit dem Rest der Klasse muss
an deren Fragen und Verunsicherungen gearbeitet werden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
26
•
•
•
•
•
•
Möglicherweise gab es Schüler/innen, die den Übergriff zwar mitbekommen haben, die aber – aus ganz unterschiedlichen Gründen – nicht eingeschritten sind
und geholfen haben. Diese Schüler/innen machen sich vielleicht Vorwürfe oder mit
ihnen muss gearbeitet werden, damit sie zukünftig Opferempathie entwickeln
können.
Möglicherweise wünscht das Kollegium eine Beratung/Fortbildung zu der Frage, ob
und wie solche Übergriffe zukünftig verhindert werden können oder wie sie mit
dem Opfer umgehen sollen.
Möglicherweise wünschen die Mädchen der Klasse Unterstützung, um sich ggf. vor
entsprechenden Übergriffen schützen zu können – eine solche Anfrage würden wir
weiterleiten.
Möglicherweise brauchen Eltern Unterstützung bei der Verarbeitung des Vorfalles.
Möglicherweise soll über das FIT (nach einer Strafanzeige), das Jugendamt (ohne
Strafanzeige) eine Ambulante Rückfallprophylaxe eingeleitet werden und wir werden als entsprechende Interventionsstelle angesprochen.
Möglicherweise wollen die Eltern eines oder mehrerer Täter, dass ihr Sohn sich einer entsprechenden Rückfallprophylaxe stellt. In einem solchen Fall würden wir an
das entsprechende FIT /Jugendamt verweisen und die Einleitung eines Hilfeplanverfahrens anregen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
27
Beispiel für Fallanfrage
Fallanfragende/r
Anliegen des/der Fallanfragenden
Interventionsmaßnahme des
WENDEPUNKT
Weitere Interventionsmaßnahmen
Ein 14- Jähriger hat seine fünf Jahre jüngere Halbschwester
über ein halbes Jahr regelmäßig an den Genitalien berührt
und sie mit Drohungen und Versprechungen dazu gebracht,
nichts davon zu erzählen. Das Mädchen offenbarte sich
zuerst dem Stiefvater, der die Vorwürfe jedoch nicht
ernstnahm. Ein zweites Mal erzählte sie ihrer Mutter von
dem Verhalten des Bruders. Die Frau ist selber durch sexuelle Gewalt traumatisiert. Diese wendete sich an eine
Opferberatungsstelle, die wiederum an den WENDEPUNKT
verweist.
Mutter/ Eltern
● Die Familie wieder „funktionsfähig“ machen
Krisenintervention in der Familie
Unterbringung in einer
spezialisierten WG
● Schutz der Tochter sicherstellen
Diagnostik / Gefährdungseinschätzung
Familientherapie
● Einschätzung der Rückfallgefahr
● Hilfe für den Sohn
Einschalten von FIT
Beratung der Eltern
Ambulante Rückfallprophylaxe
(ARP)
Opferberatungsstelle
unterstützt Mutter im
Umgang mit der Tochter
Tochter will keine
eigene Hilfe.
Nach Gesprächen mit der Mutter, dem Sohn und anderen
Familienangehörigen wird mit der Mutter vereinbart, das
Familieninterventionsteam einzuschalten und dort das Fallmanagement übernehmen zu lassen. Eine Strafanzeige
gegen ihren Sohn kommt für die Mutter keinesfalls in Frage.
Die Beratungslehrerin einer Gesamtschule ruft beim WENDEPUNKT an, weil in einer 7.Klasse mehrere Jungen die Mädchen immer wieder bedrängten und auch an den Brüsten
und dem Gesäß betatschten. Mit Drohungen produzierten
sie ein Klima, in dem sich die Mädchen nicht trauten, etwas
über die Übergriffe zu erzählen. Schließlich platzte es während des geschlechtsgetrennten Sexualkundeunterrichtes
doch aus einem Mädchen heraus. Die Eltern der betroffenen
Mädchen erstatteten keine Anzeige. Von der Beratungsstelle für Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung wird die ratsuchende Lehrerin an den WENDEPUNKT
weitervermittelt.
Lehrerin
● Klärung des Sachverhaltes
Fachberatung des Kollegiums
● Auseinandersetzung mit Verunsicherung im Kollegium
Mit den Mitläufern werden
„normenverdeutlichende Gespräche“ geführt.
● Eltern überzeugen, dass Söhne
Unterstützung brauchen/dass
kein Kavaliersdelikt vorliegt.
● Unterstützung im Umgang mit
der Klasse; der Schülerin, die
aufgedeckt hatte, wird illoyales
Verhalten vorgeworfen.
Gespräche mit den Eltern der
Mitläufer
Sekundärpräventives Unterrichtsprojekt in der Klasse
nach Einschalten von FIT : ARP
für den hauptsächlich übergriffigen Jungen
Die Schule erteilt dem
Anführer der Gruppe
einen Schulverweis.
FIT verfügt Rückfallprophylaxe.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
28
Beispiel für Fallanfrage
Fallanfragende/r
Anliegen des/der Fallanfragenden
Interventionsmaßnahme des
WENDEPUNKT
Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes hat die Aufgabe, einen
möglicherweise sexuell grenzverletzenden Jugendlichen
stationär unterzubringen. Sie meldet sich beim WENDE-
Jugendamt
● Es soll eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen werden.
Diagnostik/ Rückfallprognostik
In einer JVA wird eine Gruppe von inhaftierten jungen Sexualstraftätern sozialtherapeutisch durch den WENDEPUNKT begleitet. Ein Insasse hat seine Haftstrafe verbüßt
und soll entlassen werden. Er befürchtet in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, wenn er ohne Hilfe in seine alte
Umgebung zurückkommt. Er bittet um Unterstützung.
JVA
● Nachsorge nach JVA- Aufenthalt/Stabilisierung und Reintegration in den Alltag
sozialtherapeutische Begleitung
– finanziert über Justizbehörde
Ein 17-Jähriger wendet sich an die Beratungsstelle. Er beschreibt pädophile Interessen und konsumiert intensiv
(kinder-)pornografische Darstellungen. Er leidet unter seinem Verhalten und will sich besser unter Kontrolle bekommen. Er will keinesfalls einen Antrag auf HzE beim Jugendamt stellen.
17-Jähriger
● Opferschutz
Sozialtherapeutische Begleitung im Rahmen der pauschalen Zuwendung.
PUNKT, weil sie Schwierigkeiten hat, eine Wohngruppe zu
finden, die einen Jungen mit dieser Problematik aufnimmt.
Inhaftierter
● Jugendlicher will alternative
Verhaltensweisen trainieren
Weitere Interventionsmaßnahmen
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
29
Beispiele für Fallanfragen
Fallanfragende/r
Anliegen des/der Fallanfragenden
Interventionsmaßnahme des
WENDEPUNKT
Zwei 14-jährige Mädchen berichten in einem Jugendhaus,
dass sie bei einer Party waren und gegen Morgen weitgehend entkleidet in der Wohnung des Gastgebers aufgewacht sind. Sie geben zu, Alkohol getrunken zu haben und
können sich kaum daran erinnern, was am Abend zuvor
geschehen war. Sie befürchten, K-O Tropfen bekommen zu
haben. Ihnen tut alles weh. Die Eltern sollen nicht wissen,
dass sie bei einer Party waren.
Jugendhausmitarbeiter
● Klärung des Sachverhaltes
Fachberatung
● Mädchen sollen unterstützt
werden.
Verweis auf Rechtsmedizin
In einer Grundschule kommt es zu sexuellen Handlungen
unter Kindern. Unklar ist, ob es sich um Übergriffe oder um
Neugierde und Doktorspiele geht. Einige Eltern sind sehr
aufgeregt.
Lehrerin
● Mitarbeiter/innen wollen sicherer im Umgang mit dem Thema
„Sexuelle Übergriffe unter Gleichaltrigen“ werden.
Eltern
Fortbildung der Mitarbeiter/innen
● Klärung des Sachverhaltes
Beratung des Kollegiums
● Verunsicherung der Lehrkräfte
soll abgebaut werden.
Beratung der Eltern
● Eltern sollen beruhigt werden.
Ein 13- jähriger Schüler mit unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten, der in einer Wohngruppe lebt, ist verschiedene Male mit sexuellen Übergriffen gegenüber Mitbewohnern auffällig geworden. Die ersten Übergriffe, bei
denen er versuchte, gleichaltrigen aber vor allem jüngeren
Mitbewohnern an die Genitalien zu greifen, wurden von den
Mitarbeiter/innen der Wohngruppe zunächst nicht wirklich
ernst genommen.
An einem Nachmittag wird er in dem Zimmer eines neunjährigen Jungen mit heruntergelassener Hose erwischt. Der
Neunjährige erzählt, dass der Ältere ihn dazu aufgefordert
habe, seinen Penis in den Mund zu nehmen.
Pädagogische
Leitung der
Wohngruppe
● Thema „Sexualität“ soll aus
Tabuzone herausgeholt; blinde
Flecken sollen bearbeitet werden.
● Opferschutz: Der Junge soll
seine Übergriffe einstellen.
Weitere Interventionsmaßnahmen
Fachberatung zur Vorbereitung
auf eintägigen Teamtag
Sexualpädagogische Fortbildung der Mitarbeiter/innen
Unterstützung bei der Bearbeitung eines Konzeptes zum Umgang mit sexuellen Übergriffen
innerhalb der Einrichtung
Sexualpädagogische Beratung
des Jugendlichen
Sexualpädagogische
Einrichtung führt Elternabend zum Thema
„Psychosexuelle Entwicklung von Kindern“
durch
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
30
5.3.4. Verteilung unserer Interventionsmaßnahmen
Der folgende Überblick verdeutlicht, welche Interventionsmaßnahmen von Seiten des
WENDEPUNKT ergriffen wurden. Die jeweilige Maßnahme umfasst i.d.R. mehrere Gespräche
bzw. Sitzungen.
Unsere Interventionsmaßnahmen
2007
2008
2009
1.07.–
31.12.
(Telefonische) Erstberatung, z.B. zur Klärung des Sachverhaltes oder zur ersten Informationsvermittlung bspw. im Hinblick auf Möglichkeiten des Opferschutzes
7
2010
1.01.–
30.06.
44
„Niedrigschwellige“ Maßnahmen
69
Gesamt
42
162
Gesamt: 217
Elterngespräche
-
3
12
4
19
Fachberatungen - z.T. mehrere Beratungsgespräche in verschiedenen Settings
6
68
62
27
163
10
8
18
4
2
17
Sekundärpräventive (Unterrichts-) Projekte
mit Jugendlichen
Informations-/Fortbildungsangebote
in Kollegien / Teams nach einem
aktuellen Vorfall
1
10
(Sozial-)Therapeutische Interventionen
Achtung: Über HzE Mittel finanziert!
Gesamt: 54
1
13
13
6
33
-
3
2
2
7
Sozialtherapeutische Begleitung
im Rahmen des Modellprojektes, ohne
Verfügung durch das Jugendamt
2
3
1
Sexualpädagogische Beratungen
z.T. in Kleingruppen
-
1
2
2
5
6
4
10
Ambulante Rückfallprophylaxe (ARP) z.T.
inkl. Diagnostik
• Davon ARP für kognitiv Beeinträchtigte (U 80)
Normenverdeutlichende Gespräche
z.T. in Kleingruppen
Maßnahmen zur Diagnostik - unabhängig
von einer ARP durchgeführt
6
Gesamt: 14
Achtung: Über HzE Mittel finanziert!
13
13
1
2
Diagnostik
Diagnostik ohne Verfügung, d.h. aus Modellmitteln finanziert
1
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
31
5.4.
DIE FINANZIERUNG DER FALLBEARBEITUNG ERFOLGT AUS
VERSCHIEDENEN BUDGETS
Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit sexuell auffälligem Verhalten wird in Hamburg aus verschiedenen „Töpfen“ finanziert:
5.4.1. Finanzierung aus Mitteln des Modellprojektes
Die dem Modellprojekt zur Verfügung stehenden Mittel wurden – wie unter Punkt 3. bereits ausgeführt – sowohl der Bearbeitung niedrigschwelliger Fälle als auch der Erledigung fallunabhängigen Aufgaben zugeführt. Da ein wesentliches Ziel des Modellprojektes
u.a. darin bestand, Standards für eine Ambulante Rückfallprophylaxe zu erarbeiten, fallunabhängige Fachberatungen zu ermöglichen, Kooperationsbezüge (weiter-)zu entwickeln sowie Fortbildungsmaßnahmen zu konzipieren und umzusetzen, ist der weitaus
größere Teil des Zuschusses diesem Bereich zugute gekommen.
Dennoch wollten wir eine Fallbearbeitung unabhängig von der Zuweisung durch das FIT
ermöglichen. Beim FIT „landen“ i.d.R. nur Fälle, in denen bereits eine Strafanzeige erfolgt
ist. Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit sexuell auffälligem Verhalten kann
jedoch – aus ganz unterschiedlichen Gründen - nicht immer eine polizeiliche Ermittlung
zur Voraussetzung für eine Beratungsaufnahme gemacht werden.
Vor diesem Hintergrund sind wir auch in 117 Fallanfragen - unabhängig von einer Finanzierung durch das FIT/Jugendamt aus Erziehungshilfemitteln nach dem SGB VIII - beratend tätig geworden. (vgl. 5.3.4.)
5.4.2. Finanzierung aus Mitteln der Erziehungshilfe
Es ist hoheitliche Aufgabe des Jugendamtes, nach Beantragung durch die Sorgeberechtigten und einem entsprechenden Hilfeplanverfahren ggf. Hilfen zur Erziehung zur Verfügung zu stellen. Hierzu stehen verschiedene Maßnahmen nach dem SGB VIII zur Verfügung. Wir haben für unsere Ambulante Rückfallprophylaxe sowie für diagnostische Maßnahmen entsprechende Leistungsbeschreibungen vorgelegt und die Kosten für eine Fachleistungsstunde vereinbart. Darüber wurde die Grundlage geschaffen, dass Maßnahmen
zur Ambulanten Rückfallprophylaxe durch den öffentlichen Träger der Jugendhilfe verfügt
werden können.
5.4.3 Finanzierung aus Mitteln der Justizbehörde
Justizvollzugsanstalt (JVA)
Einige Zeit nach Modellstart ist die Justizbehörde Hamburg mit dem Ziel auf uns zugekommen, eine sozialtherapeutische Maßnahme für den „Geschlossenen Strafvollzug“ zu
konzipieren und gemeinsam mit der dort tätigen sozialpädagogischen Fachkraft durchzuführen. Auch hier wurde eine Leistungsbeschreibung vorgelegt und eine entsprechende
Finanzierung vereinbart. Daraus folgt, dass auch hier die sozialtherapeutische Intervention nicht aus Modellmitteln finanziert wurde.
Zwischenzeitlich wurde zusätzlich eine sozialtherapeutische Nachsorge für Jugendliche
und junge Erwachsene vereinbart, die nach längerer Inhaftierung entlassenen werden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
32
„Pilotvereinbarung“ mit der Justizbehörde
In Ergänzung zur forensischen Versorgung von zu Freiheitsstrafen verurteilten Sexualstraftätern beim Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Sexualforschung
und Forensische Psychiatrie, hat die Hamburger Justizbehörde mit dem WENDEPUNKT eine
Pilotvereinbarung geschlossen. Sie zielt darauf ab, die speziellen Kenntnisse des WENDEPUNKT zur Betreuung junger oder intelligenzgeminderter Sexualstraftäter zu nutzen, aber
auch neue Kapazitäten für die Behandlung sonstiger Verurteilter zu erschließen, die wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach §§ 174 bis 180 oder § 182
StGB zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung gemäß § 56 StGB verurteilt wurden. Auch
soll ein Therapieangebot für Personen bereitgehalten werden, die wegen einer Straftat
nach §§ 183, 184b StGB verurteilt wurden. Auch für diesen Aufgabenbereich wurde eine
zusätzliche, modellprojektunabhängige Finanzierung vereinbart.
5.4.4. Rückfallprophylaxe in stationären Angeboten als Annexleistung
Wir haben inzwischen mit verschiedenen Trägern stationärer Angebote für Kinder und
Jugendliche mit sexuell auffälligem Verhalten eine Kooperation vereinbart. Vor diesem
Hintergrund bieten wir innerhalb der jeweiligen Einrichtungen oder auch in unseren Räumen sozialtherapeutische Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe an, die die Träger als Annexleistungen mit ihren Kostenträgern abrechnen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
33
5.5.
DIE ARBEIT MIT SEXUELL AUFFÄLLIGEN MINDERJÄHRIGEN BRAUCHT
EINE SPEZIFISCHE HERANGEHENSWEISE
Die Ambulante Rückfallprophylaxe (ARP) orientiert sich in ihrer kognitiv–behavioralen
Ausrichtung an vergleichbaren Programmen im europäischen Ausland, wie beispielsweise
an der Methode „Dauerhafte Veränderung“ aus den Niederlanden (Hendriks und Bullens
1998; Nowara und Pierschke 2005).
Grundlagen und Herausforderungen des deliktorientierten Ansatzes
in der Täterarbeit
Ein Prinzip der ARP ist die, teils auch konfrontative, Auseinandersetzung mit dem Übergriff oder der sexuellen Auffälligkeit des Jugendlichen. Erfahrungsgemäß ist es für die
meisten Menschen nicht einfach, über die dunklen Seiten ihrer Sexualität zu sprechen.
Im Gegenteil, selbst für erste sexuelle Erfahrungen, die sich im Rahmen dessen bewegen, was in der Gesellschaft für Jugendliche als angemessen angesehen wird, fehlt die
Sprache aber auch die Gelegenheit, um darüber kommunizieren zu können. Dies gilt
nicht nur im Hinblick auf Erwachsene, die als Gegenüber in der Adoleszenz häufig nur
eine begrenzte Rolle spielen (können), sondern ebenso für die Gleichaltrigen, die nicht
darauf vorbereitet sind, das Thema Sexualität anders als mit markigen Sprüchen abzuhandeln. Jungen, die in der Adoleszenz erste Erfahrungen mit gelebter Sexualität machen, fehlen häufig die Voraussetzungen, ihre Bedürfnisse, Gefühle und Ängste angemessen zu thematisieren. Männlichen Jugendlichen schwebt oftmals ein Phantasiemodell
vom Sex vor (Zilbergeld 1994). Dies wird von den Bildern über Sexualität verstärkt, die
viele unserer Klienten schon sehr frühzeitig und unkontrolliert über die neuen Medien
konsumieren, die aber auch, in Form von pornographischen DVDs und Videos, in den
Familien oder der Peergruppe zirkulieren. Eine Aufarbeitung der teilweise extremen Bilder, die die Jungen meistens nicht mit einer real gelebten Sexualität abgleichen können,
findet weder in der Familie noch in der Schule statt. Ein Grund dafür kann der Umgang
mit dem Thema Sexualität in der Familie sein. Darüber hinaus findet an den Schulen Aufklärung oft nur in Form von Information über körperliche Vorgänge statt. Sexualpädagogik fristet in der Praxis und in der Lehre für pädagogische Fachkräfte immer noch ein
Schattendasein. Umso schwieriger wird es für die Jungen, über ihre Sexualität zu reden,
wenn sie in diesem Bereich bereits negativ auffällig geworden sind.
•
Kooperation des Helfersystems
Die Dynamik in Fällen von sexuellen Grenzverletzungen, macht es nötig, dass alle Beteiligten im Helfersystem kooperieren. Für eine effektive Behandlung der Jugendlichen gilt
es zu verhindern, dass sich die oftmals vorhandenen Leugnungs- und Bagatellisierungstendenzen im Helfersystem etablieren können. Dazu sind eine enge Zusammenarbeit und
eine möglichst große Transparenz (unter Wahrung des Datenschutzes) die besten Voraussetzungen. Zusätzlich ist eine Rollenklärung vorab im Helfersystem notwendig.
Jungen, die sexuelle Übergriffe begangen haben, befinden sich gerade nach Aufdeckung
der Tat häufig selbst in einer großen seelischen Notlage. Darauf muss geachtet und sie
müssen entsprechend begleitet werden. Insgesamt sind ihre Übergriffe aber auch als
Symptom ihrer eigenen Probleme, Nöte und Konflikte zu verstehen. Kein Junge, dem es
gut geht, der sich geliebt, geborgen, verstanden und wertgeschätzt fühlt, der sich
selbstwirksam, stolz und erfolgreich erlebt, der Freunde und andere ihn erfüllende Beziehungen hat, wird mit Macht und auf Kosten anderer seine sexuellen Bedürfnisse an Kleineren oder Unterlegenen ausleben.
Eine deliktorientierte Ambulante Rückfallprophylaxe ist für die übergriffigen Jungen eine
hohe Herausforderung. Über viele Monate immer wieder und immer detaillierter darüber
sprechen zu müssen, was sie am liebsten so schnell wie möglich aus ihrem Leben aus-
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
34
blenden würden, kann sehr belastend für sie sein. Sie müssen Verantwortung auch den
anderen in der Gruppe gegenüber für ihre Tat übernehmen, sich mit ihren Ängsten, ihrer
Scham und ihren anderen unangenehmen Gefühlen, Gedanken, Fantasien und Erinnerungen konfrontieren. All das kann diese Jungen in einem hohen Maße verunsichern. Daher ist es Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung, dass sie sich in dieser Zeit in
einem stabilen und verlässlichen sozialen Umfeld befinden, das ihnen Orientierung, Perspektive und ein notwendiges Maß an Sicherheit bietet. Möglicherweise kann es auch während der Behandlung zu vermehrt auftretenden Konflikten mit dem Jungen kommen, die
dann entsprechend begleitet werden sollten.
•
Direktiver Rahmen
Kindliche und jugendliche sexuelle Missbraucher kommen nicht von sich aus in die Behandlung. Sie brauchen einen lückenlosen und dauerhaften direktiven Rahmen für die
Behandlungsaufnahme und -durchführung. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie die
Behandlung gar nicht erst aufnehmen oder frühzeitig wieder abbrechen. Bei ausbleibender Intervention besteht aber das Risiko weiterer Übergriffe und damit die Entstehung
von Täterkarrieren. Der Grundsatz von Freiwilligkeit und Mitwirkungsbereitschaft in der
öffentlichen Jugendhilfe stößt in diesem Kontext an seine Grenze.
Der erforderliche direktive Rahmen kann bei strafmündigen Tätern i.d.R. über jugendgerichtliche Weisungen hergestellt werden. Dabei hat der/die Jugendliche die Wahl, sich auf
eine Behandlung einzulassen oder das Risiko einzugehen, möglicherweise eine Strafe
verbüßen zu müssen. Bei strafmündigen Jugendlichen mit sexuell grenzverletzendem
Verhalten, die ohne Anzeige freiwillig oder auf Druck der Eltern in die Behandlung gehen,
kann der verbindliche Rahmen sichergestellt werden, indem mit dem Jungen vereinbart
wird, dass er eine Selbstanzeige schriftlich formuliert und beispielsweise im Jugendamt
hinterlegt. Sollte er vorzeitig das Programm abbrechen, wird diese Anzeige an die Strafverfolgungsorgane weitergeleitet.
Bei strafunmündigen Sexualtätern ist der direktive Rahmen ungleich schwerer herzustellen. Kooperierende Eltern können dafür sorgen, dass ihr Kind regelmäßig in die Behandlung kommt, dennoch kann es sinnvoll sein, mit ihnen zu vereinbaren, dass bei einem
vorzeitigen Abbruch das zuständige Jugendamt informiert wird und sie mit familiengerichtlichen Konsequenzen rechnen müssen. Auch ist die Anrufung des Familiengerichts
über das Jugendamt bei nicht-kooperierenden Eltern manchmal ein Weg, um eine Zusammenarbeit zu erreichen. Wenn ihr Kind die sexuelle Grenzverletzung leugnet und die
Eltern diese Leugnung wie oben beschrieben verstärken, ist eine erfolgreiche Behandlung
selbst bei Fremdunterbringung nicht wahrscheinlich.
Minderjährige mit sexuell grenzverletzendem Verhalten haben oft starke Verleugnungstendenzen
•
aus Scham
•
aus Angst vor der Reaktion des sozialen Umfeldes auf ihre Tat
•
aus Angst vor Stigmatisierung und sozialer Isolation
•
aus Angst vor weiterer Strafverfolgung bzw. anderen disziplinarischen Konsequenzen
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
35
Bei Delikten durch strafmündige Sexualtäter ist die Tatermittlung Sache der Strafverfolgungsbehörden. Bei den Unter-14-Jährigen kommen das Jugendamt oder der WENDEPUNKT schnell in die Ermittlerrolle. Es besteht die Gefahr, dass das Helfersystem der
Leugnung des jungen Tatverdächtigten aus Unkenntnis der Verleugnungsstrategien erliegt und es zu Spaltungen im System kommt, die die Errichtung eines verbindlichen Behandlungskontextes verunmöglicht. Bei minderjährigen leugnenden Tatverdächtigten ist
dies im Zweifelsfall nur durch eine gutachterliche Abklärung der Glaubwürdigkeit des Opfers aufzulösen.
Aus dem direktiven Rahmen entstehen für die Rückfallprophylaxe verschiedene
Spannungsfelder:
•
Extrinsische – Intrinsische Motivation: Gerade weil sich die Jungen nicht freiwillig
in die Beratung begeben, ist es entscheidend, sie möglichst in den ersten Sitzungen erfahren zu lassen, dass sie von dem Prozess, in den sie sich begeben mussten, persönlich profitieren können. Ziel ist es, dass sie sich möglichst schnell innerlich auf den Therapieprozess einlassen. Die Jungen, die mit großen Ängsten
und Scham zu uns kommen, erfahren, dass ihre Taten offen benannt werden können, dies aber nicht mit einer Abwertung oder Verurteilung ihrer Person einhergeht.
•
Konfrontation – therapeutische Beziehung: Beide Faktoren sind wichtige Bestandteile der Arbeit mit sexuell übergriffigen Jungen. Beides den Klienten in einem
ausgeglichenen Verhältnis zu vermitteln, ist eine Voraussetzung dafür, dass sie
sich, wie oben beschrieben, einlassen können. Empathisches und kongruentes
Auftreten gegenüber den Jungen, ohne die Tat aus den Augen zu verlieren und
sich in der Dynamik der Beziehung zu den Jungen nicht von deren Bagatellisierungswünschen einnehmen zu lassen, sind Bedingungen, die die Balance zwischen
Konfrontation und therapeutischer Beziehung gelingen lassen. Selbstverständlich
ist es ebenso zu vermeiden, die Jungen zu manipulieren.
•
Wertschätzung – Bewertung: Für die Jungen und für den Erfolg ihres Therapieprozesses ist immer wieder die Trennung zwischen der Verurteilung der Tat durch die
Mitarbeiter des WENDEPUNKT und deren Verhalten gegenüber dem Jungen entscheidend. Das Selbstwertgefühl der Jungen ist, wenn ihr Übergriff bekannt und
evtl. sanktioniert wurde, oftmals auf einem Tiefpunkt. Reaktionen der Umwelt,
Schamgefühle und das eigene Unrechtsbewusstsein übertragen sich auf ihr
Selbstbild. Der wertschätzende Umgang soll ihnen vermitteln, dass sie nicht generell in ihrer Umwelt mit Ablehnung rechnen müssen.
•
Tataufarbeitung – Traumaverarbeitung: Viele sexuell übergriffige Jungen haben
selber schwere Traumatisierungen erfahren. Häufig sind sie Opfer oder Zeugen
von häuslicher Gewalt und/ oder sexueller Gewalt geworden. Sie brauchen einen
geschützten Rahmen insbesondere, wenn sie noch jünger sind oder die Traumatisierung noch anhält. In solchen Fällen ist der deliktorientierte Ansatz – zumindest
in bestimmten Phasen der Aufarbeitung – nicht angebracht. Auf der anderen Seite
besteht die Gefahr, dass die Jugendlichen ihr eigenes „Opfer-sein“ dazu nutzen,
sich nicht mit ihren Täteranteilen auseinander zu setzen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
36
•
ProAktivität – Opferschutz: Jugendliche sollen die Erfahrung machen, dass der
Therapeut auf ihrer Seite steht und sich für ihre Belange, Nöte und Bedürfnisse
interessiert. Die proaktive Zuwendung soll die Jugendlichen darin unterstützen
und es ihnen erleichtern, sozial angemessene Verhaltensweisen zu entwickeln. Es
ist nicht klar, ob sich bei Jungen, die sich zu den Sitzungen nur unter Zwang quälen und sich als Objekt von negativen Projektionen erleben, die Prognosen bezüglich ihrer Rückfälligkeit verschlechtern. Zumindest für erwachsene Täter trifft das
nicht zu. Diese Haltung kann sich aber auf das soziale Umfeld übertragen und
damit die weitere Teilnahme der Jungen in Frage stellen. Gleichzeitig muss dafür
gesorgt werden, dass von ihnen keine weitere Gefahr ausgeht. Mit allen Beteiligten müssen ausreichende Sicherheitsmaßnahmen vereinbart und deren Einhaltung
regelmäßig kontrolliert werden.
•
Vertrauen – Kontrolle: In der Arbeit mit Tätern reicht das Vertrauen in die Aufrichtigkeit des Klienten nicht aus. Das gilt insbesondere für sexuell übergriffige oder
auffällige Jugendliche, die oft sehr geübt darin sind, ihr Gefühl, ihre Fantasien und
ihre Taten zu verbergen. Damit sich die Jungen nicht hintergangen fühlen, muss
darauf geachtet werden, dass alle Kontrollschritte transparent werden. Eindrücke
von Außen, also von den Eltern, aus der Wohngruppe oder auch von Lehrkräften
können im Prozess auch dazu dienen, die Eigen- mit Fremdwahrnehmungen abzugleichen
Notwendige Rahmenbedingungen
Die therapeutischen und/oder pädagogischen Interventionen im Rahmen der Ambulanten
Rückfallprophylaxe können ihr Potenzial an Wirksamkeit dann besonders gut entfalten,
wenn sie zwischen allen Beteiligten abgestimmt werden. Um ein Setting für die sexuell
grenzverletzenden Jugendlichen herstellen zu können, bedarf es zunächst der Planung
eines mit den entsprechenden Institutionen und den Eltern des Jugendlichen abgestimmten Vorgehens. Wenn diese nicht zu einer einheitlichen Strategie und Einschätzung des
Falles gelangen, wird der betreffende Junge die Lücken im Helfer-/Familiensystem nutzen, um sich nicht in Behandlung begeben zu müssen bzw. die Behandlung abzubrechen.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass der Jugendliche keine Notwendigkeit sieht, sich
auf den therapeutischen Prozess einzulassen.
Folgende Rahmenbedingungen sind deshalb notwendig:
•
Verbindlicher Rahmen
Es besteht ein für den Jungen verbindlicher Rahmen über die gesamte Therapiezeit,
der ihn verpflichtet, die Behandlung aufzunehmen und bis zum Ende zu durchlaufen.
Dieser kann bei strafmündigen Tätern hergestellt sein durch:
o Gerichtsurteil mit Weisung zur Teilnahme an einer ambulanten deliktorientierten Therapie
o Ankündigung einer Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung einer solchen
Therapieweisung
o Eine schriftlich formulierte und beim Jugendamt hinterlegte Selbstanzeige des
Jungen, die - wie vorher mit dem Jungen vereinbart - bei vorzeitigem Abbruch
an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet wird
o Die Vereinbarung mit kooperierenden Sorgeberechtigten, dass sie dafür verantwortlich sind, dass der sexuell übergriffige Junge regelmäßig und bis zum
Ende der Behandlung/Beratung zu den vereinbarten Sitzungen kommt. Sollte
er vorzeitig abbrechen, wird das Jugendamt informiert und sie müssten z. B.
mit familienrechtlichen Konsequenzen rechnen
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
37
Bei strafunmündigen Tätern kann er hergestellt werden durch:
o
o
o
Die Vereinbarung mit kooperierenden Sorgeberechtigten, dass sie dafür verantwortlich sind, dass der sexuell übergriffige Junge regelmäßig und bis zum
Ende der Behandlung zu den vereinbarten Sitzungen kommt. Sollte er vorzeitig abbrechen, wird das Jugendamt informiert und sie müssen mit familienrechtlichen Konsequenzen rechnen
Anrufung des Familiengerichts durch das Jugendamt zur Herstellung einer
Therapieweisung, sollten die Sorgeberechtigten sich einer Behandlung des
Jungen verweigern
Die Finanzierung der kompletten Maßnahme ist gewährleistet.
Darüber hinaus muss der
Umgang mit Rückfällen und Abbrüchen
geregelt sein. Wiederholungstaten vor, während oder auch nach der Jugendhilfemaßnahme können nie vollständig ausgeschlossen werden. Das gleiche gilt für Abbrüche.
Die Aufdeckung, die Konfrontation mit der Tat und die Teilnahme am Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe verschärfen u.U. zeitweilig noch die Krise des Minderjährigen. Entsprechend ist ein professioneller, differenziert bewertender Umgang mit Rückfällen integraler Bestandteil des Programms. Rückfälle, Abbrüche und Krisen bringen es mit
sich, dass die Ziele und Mittel der Jugendhilfemaßnahme auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden müssen. Daraus folgt:
•
•
•
•
•
Rückfälle führen in der Regel aber nicht zwingend zum Abbruch der Maßnahme.
Sie sind immer Anlass zur sofortigen Information der Erziehungsberechtigten sowie ggf. anderer Bezugspersonen aber auch der Opfer bzw. der für diese Sorge
tragenden Personen wie z. B. der Fachkräfte im Jugendamt.
Externe Sicherungsmaßnahmen müssen überprüft werden und die Hilfegestaltung
muss ggf. umgesteuert werden.
Rückfälle bieten Anlass, Notfallpläne neu aufzustellen und vorausgegangene
Warnsignale neu zu bearbeiten.
Unter Umständen ist der Minderjährige von einer Selbstanzeige zu überzeugen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
38
5.6.
UNKLAR FORMULIERTE AUFTRÄGE UND THERAPIEWEISUNGEN STELLEN
EIN PROBLEM DAR!
Wie schon mehrfach betont sind für die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und
Jugendlichen angemessene Rahmenbedingungen von großer Bedeutung. Im Rahmen
juristischer Verfahren kommt es allerdings immer wieder zu unklaren oder unzureichend
formulierten Weisungen der Gerichte. Jugendliche oder junge Heranwachsende werden
z.B. mit der Weisung im WENDEPUNKT vorstellig, „sexualtherapeutisch“ über 2 – 5 Sitzungen an die Beratungsstelle angebunden zu werden.
Für uns ergeben sich mit diesen Weisungen mehrere Probleme:
•
In einer solch kurzen Zeitspanne kann nicht einmal eine ausführliche Anamnese
oder eine fundierte Therapieplanung erfolgen.
•
Darüber hinaus ist auch häufig die Finanzierung unklar. Wenn der Klient unter 18
ist, ist es in den meisten Fällen möglich, sich mit dem zuständigen Jugendamt
über den konkreten Verlauf einer Intervention zu verständigen. In diesem Szenario wäre auch das Jugendamt über sein Budget für ‚Hilfen zur Erziehung‘ Kostenträger der Maßnahme. Voraussetzung sind jedoch Mitarbeitende des Amtes, die
nachvollziehen, dass eine Rückfallprophylaxe nicht in einem derartig kurzen Zeitraum greifen kann und dementsprechend auch mehr kostet.
•
Weitaus schwieriger sind die Fälle, in denen es um Heranwachsende (also junge
Menschen im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, die ebenfalls noch unter das Jugendstrafrecht fallen können) geht. Theoretisch bestünde zwar die Möglichkeit,
dass die Klienten selber einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung stellen. Diese Anträge sind jedoch selten erfolgreich.
•
In Hamburg gibt es inzwischen eine Pilotvereinbarung mit der Justizbehörde, in
der auch die Finanzierung der Ambulanten Rückfallprophylaxe für Heranwachsende geklärt ist. Allerdings gab es dennoch im Verlauf des Modellprojektes einige
Fälle, in denen sich entweder kein Kostenträger für diese Klientel fand oder Zusagen nicht eingehalten wurden. Auch mit der aktuellen Regelung bleibt es schwierig
z. B. für solche Jugendliche, bei denen das Verfahren ausgesetzt wird, mit der
Auflage sich um therapeutische Unterstützung zu kümmern. Für diese Jugendliche
können wir derzeit keine Intervention anbieten.
Die Vorstellung, nach einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung könne eine
„Sexualtherapie“ mit nur wenigen Sitzungen wirklich hilfreich sein, macht vor allem deutlich, dass es noch viel Aufklärungs- und Informationsbedarf gibt. Uns sind dabei drei Aspekte wichtig:
•
Es braucht eine spezialisierte Intervention für sexuell grenzverletzende Jugendliche und Heranwachsende. Sexual- oder Psychotherapie gehen davon aus, dass
der Klient freiwillig in die Therapie kommt - dies ist in unserer Arbeit eher die
Ausnahme.
•
Um eine angemessene deliktspezifische Intervention gewähren zu können, ist die
Festlegung auf wenige Sitzungen kontraproduktiv. Die gewünschte Prävention
weiterer Sexualstraftaten kostet Geld.
•
In den Weisungen spiegelt sich unseres Erachtens oftmals auch eine Fehleinschätzung der Tatschwere oder der Störung des Täters wider. Es ist inzwischen beispielsweise bekannt, dass das Konsumieren von Kinderpornographie ein relativ
harter Indikator für pädophile Neigungen ist. Dennoch wird dieses Verhalten häufig als nicht ausreichend bewertet.
Was also weiterhin aussteht, ist eine bessere Fortbildung von Jugendrichter/innen und
der Staatsanwaltschaft.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
39
5.7.
SONDIERUNG, DIAGNOSTIK UND RÜCKFALLPROGNOSTIK SIND
UNVERZICHTBAR
5.7.1. Sondierung (Vorklärung des Hilfebedarfes)
Maßnahmen zur Sondierung sind insbesondere im Vorfeld einer Entscheidung für eine
Hilfe zur Erziehung nach SGB VIII notwendig. Häufig sind Eltern erst nach einer „erfolgreichen“ Sondierung bereit, einen entsprechenden Antrag zu stellen.
In diesem Zusammenhang werden folgende Leistungen erbracht:
•
Es wird zunächst nach festgelegten Kriterien abgeklärt, inwieweit das sexuelle
Verhalten des Minderjährigen tatsächlich den unter Punkt 5.5. genannten Indikationen entspricht oder ob es als „normales“ und dem Alter angemessenes Verhalten bewertet werden kann. Dabei arbeiten die Mitarbeiter des WENDEPUNKT mit unterschiedlichen Kooperationspartnern zusammen. Es werden Informationen bezogen auf das Delikt, weitere Auffälligkeiten und die Ressourcen des Minderjährigen
gesammelt.
•
Die Erwartungen und Aufträge der unterschiedlichen Akteure des Helfersystems
werden abgestimmt.
•
Mit den Sorgeberechtigten werden Informationsgespräche geführt, die das Ziel
verfolgen, das Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe als Chance und als
Ausweg aus der Krise annehmen zu können. Sie werden darüber informiert, welche Folgen die Aufnahme in das Programm für sie selbst und für ihr Kind hat
(Teilnahme an Elterngesprächen, Einhaltung des direktiven Rahmens usw.)
•
Der Minderjährige soll motiviert werden, das Programm anzunehmen und über die
Folgen einer möglichen Ablehnung sowie über Alternativen zur Teilnahme am
Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe informiert werden.
•
Eine externe Kontrolle durch die Sorgeberechtigten und/oder durch Institutionen
wird etabliert.
Bevor ein Minderjähriger mit sexuell grenzverletzendem Verhalten in das Rückfallprophylaxe-Programm aufgenommen werden kann, sollte unbedingt eine ausreichende Diagnostik erstellt werden. Sie ist einerseits Basis für die Risikoabschätzung und andererseits für
die Behandlungsplanung. Denn: Auch wenn es sich bei der Ambulanten Rückfallprophylaxe um ein strukturiertes Vorgehen handelt, sind die Maßnahmeziele für jeden einzelnen
Jugendlichen ausdifferenziert und können sehr unterschiedlich sein – dafür bedarf es eingangs eines umfassenden Screenings. Auch muss abgeschätzt werden, ob der Junge in
einer ambulanten Maßnahme angemessen behandelt werden kann, oder ob aufgrund
seiner Auffälligkeiten und erhöhter Rückfallgefahr eine stationäre eventuell psychiatrische
Aufnahme und Therapie notwendig sind.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
40
5.7.2. Instrumente zur Risikoabschätzung und zur Therapieplanung
Anhand folgender Instrumente kann gleich zu Beginn der Behandlung eine Einschätzung
des möglichen Risikos für weitere sexuelle Übergriffe vorgenommen werden:
•
BARO (Basis Raads Onderzoek)
Erfasst mit standardisiertem, halbstrukturiertem Interview Basisdaten, psychische Störungen oder Auffälligkeiten und mögliche Risikofaktoren
(D. Gutschner, Th.A.H. Doreleijers, 2007; IFB Bern)
o
•
S-BARO
o
•
CFT 20 (Culture Fair Intelligence Test)
o
•
Grundintelligenztest / (Rudolf H. Weiß; 4. Aufl. 1997, Hogrefe Göttingen,
Bern, Toronto, Seattle)
SPS-J (Screening psychischer Störungen für Jugendliche)
o
•
Sexualmodul zum Screeninginstrument BARO
(Van Wijk, Doreleijers, Bullens & Gutschner ; 2007; IFB Bern)
Erfassung psychischer Störungen / (Petra Hampel, Franz Petermann; 2005;
Huber Göttingen, Toronto, Seattle; Deutschsprachige Adaption des Reynolds Adolscent Adjustment Screening Inventory von William M. Reynolds)
MSI-J (Multiphasic Sex Inventory für Jugendliche)
o Messung psychosexueller Merkmale und Auffälligkeiten
(Thomas Gruber, Stefan Waschlewski und Günther Deegener, 2003; Hogrefe, Göttingen, Bern, Toronto, Seattle)
Zur Therapieplanung setzt der WENDEPUNKT außerdem folgende Instrumente regelhaft ein:
•
ASAP (Adolescent Sexual Abuser Project) / (Beckett R., Gerhold, C.K.E. & Brown,
2002; Übersetzung und deutsche Bearbeitung: Matthias Schmelzle und Monika
Egli-Alge)
ASAP erfasst Persönlichkeitsmerkmale und deliktbezogene Informationen. Es handelt sich hierbei um eine Zusammenstellung von Fragebögen, die eine systematische und standardisierte Beurteilung von Jugendlichen, die sexuelle Übergriffe begangen haben, ermöglichen sollen. Das Beurteilungsprotokoll des ASAP soll bei
der ersten Einschätzung der Klienten helfen und spezielle Problemzonen identifizieren. Das ASAP ist in englischsprachigen und skandinavischen Ländern in der
Arbeit mit jugendlichen Tätern sehr weit verbreitet und gut erprobt. Der WENDEPUNKT schickt die anonymisierten Daten aus diesen Fragebögen an das Kantonsspital Thurgau und nimmt damit an einem Programm teil, das Effekte der Arbeit mit
jugendlichen Sexualstraftätern untersucht und gleichzeitig mehr Erfahrungen und
Daten über diese Tätergruppe sammelt, um zukünftig die Einschätzung des Rückfallrisikos noch zu verbessern.
•
ERASOR (Estimate of Risk of Adolescent Sexual Offense Recidivism) / (James R.
Worling, Ph.D. Tracey Curwen, M.A. Übersetzung und deutsche Bearbeitung: Matthias Schmelzle; 2003)
Zur Risikoeinschätzung bezüglich des Rückfallrisikos
Diese beiden Tests (ASAP und ERASOR) werden auch am Ende der ambulanten Rückfallprophylaxe noch einmal durchgeführt
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
41
5.7.3. Instrumente zur Rückfallprognostik: Unsere Einbindung ins ERASORProgramm
Seit einigen Jahren ist die Forschung im Hinblick auf die Klientel der Minderjährigen mit
sexuell auffälligem Verhalten dabei, Risikofaktoren zu identifizieren, die für die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Übergriffs bedeutsam sind. Darauf aufbauend ist das Beurteilungsinstrument
•
ERASOR (Estimate of Risk of Adolescent Sexual Offense Recidivism) von James R.
Worling, Ph.D. Tracey Curwen, M.A
entwickelt worden, das von Mathias Schmelzle auf Deutsch übersetzt und als „Skala zur
Einschätzung des Rückfallrisikos bei jugendlichen Sexualstraftätern“ vorgelegt wurde.
Der WENDEPUNKT ist 2003 in das ERASOR–Programm aufgenommen und kann sich entsprechend der Skala als Instrument zur Beurteilung des Wiederholungsrisikos bedienen.
In diesem Programm werden 25 Risikofaktoren in fünf Kategorien eingeteilt:
•
•
•
•
•
Sexuelle Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen
Vorgeschichte sexueller Übergriffe (Straftaten)
Psychosoziale Faktoren
Funktionsniveau der Familie / Umgebung
Behandlung
Aufgrund der Exploration dieser und evtl. fallspezifischer zusätzlicher Faktoren ist die
Einschätzung des Rückfallrisikos in verschiedene Risikogruppen möglich. Auf der Grundlage der Ergebnisse können dann weitere Maßnahmen wie z.B. ein Sicherheitsplan für
den Jugendlichen erstellt werden, um die größtmögliche Sicherheit für ihn selbst und potenzielle Opfer zu erreichen. Bei Fällen von sexuellen Übergriffen innerhalb der Familie
stellt diese Sicherheitsplanung alle Beteiligten vor eine besondere Herausforderung, die
in einigen Fällen ohne Herausnahme des übergriffigen Jugendlichen nicht zu bewerkstelligen ist.
5.7.4. Instrumente zur (unspezifischen) psychologischen Diagnostik
Um einen Eindruck über die kognitive Leistungsfähigkeit zu erhalten, wird regelhaft vor
Beginn der Behandlung ein Intelligenztest durchgeführt. Da es sich bei diesem Instrument um ein non-verbales Verfahren handelt, ist es besonders auch für Jugendliche mit
Migrationshintergrund oder Jugendliche mit sprachlichen Schwierigkeiten geeignet.
•
CFT 20 (Culture Fair Intelligence Test)
Grundintelligenztest / (Rudolf H. Weiß; 4. Aufl. 1997, Hogrefe Göttingen, Bern,
Toronto, Seattle)
Um Hinweise auf psychopathologische Störungen bei sexuell grenzverletzenden Kindern
und Jugendlichen möglichst frühzeitig zu erkennen, wurde das folgende Screeningverfahren eingesetzt:
•
SPS-J (Screening psychischer Störungen für Jugendliche)
Erfassung psychischer Störungen / (Petra Hampel, Franz Petermann; 2005; Huber
Göttingen, Toronto, Seattle; Deutschsprachige Adaption des Reynolds Adolscent
Adjustment Screening Inventory von William M. Reynolds)
Gab es in dieser Hinsicht Auffälligkeiten, bestand die Möglichkeit, die Klienten zu einer umfassenderen Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Eppendorf unterzubringen.
Diese Möglichkeit wurde während des Modellprojektes ausschließlich über den Zugangsweg des
Familieninterventionteams genutzt, weil dort die meisten Kinder und Jugendlichen gemeldet und
dementsprechend auch der Eingangstestung unterzogen wurden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
42
5.8.
INTERVENTIONEN BRAUCHEN STANDARDS UND MÜSSEN DELIKTSOWIE ZIELGRUPPENADÄQUAT KONZIPIERT SEIN
5.8.1. Unsere Standards
Therapeutische Arbeit mit Sexualstraftätern ist nicht zu vergleichen mit einer „klassischen“ Psychotherapie“. Im Folgenden werden die Standards, die unserer Arbeit zugrunde liegen, vorgestellt.
•
Unsere Arbeit mit Sexualstraftätern orientiert sich in ihrer kognitiv–behavioralen Ausrichtung an vergleichbaren Programmen im europäischen Ausland
Zentrale Merkmale sind:
o Gelingende Balance zwischen Konfrontation und therapeutischer Beziehung
o Gelingende Balance zwischen Vertrauen und Kontrolle
o Direktiver Rahmen: Behandlungsaufnahme auch dann, wenn zunächst vorwiegend
eine extrinsische Motivation vorliegt; es muss jedoch im Therapieverlauf gelingen,
diese in eine intrinsische umzuwandeln, der Klient muss erkennen, dass er von
der Behandlung profitiert.
o Gelingende Balance zwischen Bewertung der Tat(en) und wertschätzendem Umgang mit dem Klienten
o Wie in anderen therapeutischen Settings gilt grundsätzlich, dass Inhalte der Therapie nicht an Dritte weiter kommuniziert werden. Dieses Prinzip kann aber in Hinsicht auf Kontroll- und Sicherheitsplanung - für den Klienten transparent - eingeschränkt werden.
•
Wir verfolgen in unserer therapeutischen Arbeit folgende inhaltliche Schwerpunkte:
o
o
o
o
o
o
o
o
o
Entwicklung von Therapiemotivation
Aufgabe der Tatverleugnung und Eingestehen der Schuld
Übernahme der Verantwortung für die Tat
Bearbeitung kognitiver Verzerrungen und Einstellungen sowie des Deliktszenarios
Förderung der Opferempathie
Erlernen und Einüben sozialer Fähigkeiten
Sensibilisierung des Minderjährigen für seine devianten sexuellen Erregungszustände
Schulung der Eigenwahrnehmung
Differenzierte Ausarbeitung und Internalisierung von individuellen Mechanismen
zur Kontrolle und Unterbrechung der Deliktdynamik
•
Vor der Behandlung ist eine differenzierte Diagnostik notwendig.
•
Oberste Priorität hat der Opferschutz
Die Opfer müssen schnellstmöglich vor weiteren Übergriffen, Einschüchterungen und
anderweitigen Bedrohungen durch den minderjährigen Täter geschützt werden, um
erneute Traumatisierungen zu verhindern. Bei innerfamilialem Missbrauch ist das
i.d.R. nur durch gesicherte räumliche Trennung zwischen Opfer und Täter unter vorrangiger Berücksichtigung der Opferinteressen zu erreichen. Dies gilt analog auch bei
Übergriffen in stationären Einrichtungen. Bei Übergriffen im Nahbereich des Jungen
darf es maximal beaufsichtigte Kontakte zwischen Opfer und Täter geben, wenn dies
dem Wohl des Opfers dient.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
43
•
Möglichst zeitnahe Intervention: Die Krise als Chance nutzen
Die Intervention sollte sobald als möglich nach Bekanntwerden der Übergriffe im
Rahmen des Projektes stattfinden, da…
o
o
o
•
die Jungen und deren Sorgeberechtigte in der Krise eher motiviert sind, sich auf
Gespräche einzulassen
sich lang andauernde Leugnungen verfestigen und später nur sehr schwer/gar
nicht mehr aufgelöst werden können
übergriffige Jungen bei Bekanntwerden ihrer Tat/en selbst möglicherweise in einer
starken Krise sind, in der sie Unterstützung brauchen.
Wir halten ein proaktives Vorgehen für unverzichtbar
Sexuell übergriffige Kinder, Jugendliche und deren Sorgeberechtigten kommen häufig
nicht von allein und bitten um Unterstützung, daher handelt es sich bei der Ambulanten Rückfallprophylaxe in der Regel um kein rein freiwilliges Angebot. Vielmehr ist
häufig aufsuchende Arbeit vonnöten. Ein verbindlich verpflichtender Rahmen muss
notfalls mit Druck evtl. sogar über ein Jugend-/ Familiengericht hergestellt werden.
Bei ausbleibender Intervention besteht die Gefahr von:
o
o
o
•
weiteren Übergriffen
Entstehung und Verfestigung von Täterkarrieren
Störung der Entwicklung in sozialer, psychosexueller und gesundheitlicher
Hinsicht.
Ein frühzeitiges Hinzuziehen von notwendigen Kooperationspartnern/innen ist
unverzichtbar
Dies gilt insbesondere für solche Einrichtungen, die die Opfer der Minderjährigen mit
sexuell auffälligem Verhalten betreuen (Opferschutzeinrichtungen). Darüber hinaus ist
eine Vernetzung mit anderen Einrichtungen der Jugendhilfe – und ggf. der Sozial- und
Gesundheitshilfe – unverzichtbar. Informationen müssen ausgetauscht werden zur
o
o
o
o
Abklärung des Hilfebedarfs
Konfrontation des minderjährigen Täters mit seiner Bezugsperson
Diagnostik und Einschätzung des Rückfallrisikos
Planung des weiteren Vorgehens.
Datenschutzrechtliche Bestimmungen werden eingehalten.
•
Die Fachkräfte im WENDEPUNKT sind bereit, ihre Beratungsarbeit im Zwangskontext zu
erbringen und – wenn nötig – mit direktiven Methoden zu arbeiten.
•
Das frühzeitige Herstellen eines verpflichtenden Rahmens ist unbedingt notwendig
Er besteht für den Jungen über die gesamte Behandlungszeit und verpflichtet ihn, die
Behandlung aufzunehmen und bis zum Ende zu durchlaufen. (siehe 5.5.)
•
Es muss ein Vertrag zwischen Therapeut/in und Klienten geschlossen werden
Für den Erfolg einer Therapie sind mitbestimmend die regelmäßige Teilnahme, die zufrieden stellende Mitarbeit des Täters und das Einhalten von Vereinbarungen, weshalb
ein Vertrag über Aufnahmebedingungen, Verlauf und Inhalt der Therapiestunden zwischen Klient und der Beratungsstelle geschlossen wird.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
44
•
Der WENDEPUNKT vertritt einen geschlechtsbezogenen, interkulturellen Ansatz
Das heißt, dass sowohl der Blick auf die Konstruktion der Geschlechtsidentität als
auch die Sensibilität in Bezug auf den kulturellen Hintergrund als Querschnittsaufgaben wahrgenommen werden. In der Praxis bedeutet das, dass Jungen und Mädchen
von einem/einer Mitarbeiter/in ihres eigenen Geschlechts beraten werden können,
dass vor allem aber die Fragen, inwieweit Gender und kulturelle Herkunft in Bezug
auf die Tat stehen, immer mitgedacht und verhandelt werden.
•
Die Intervention ist niedrigschwellig konzipiert
Ein direkter Zugang zum WENDEPUNKT ist möglich, er muss nicht über das FIT hergestellt werden. Entsprechend ist geeignete Öffentlichkeitsarbeit unverzichtbar. Für Berufstätige werden Beratungsangebote (z.B. am späten Nachmittag) gemacht. Eine
Kontaktaufnahme ist auch über das Internet möglich. In Notfällen und anderen dringenden Fällen erhalten Ratsuchende möglichst umgehend einen ersten Gesprächstermin bzw. eine Krisenintervention. Die Beratung erfolgt vertraulich, anonyme Beratung ist möglich. Beratungen sind kostenlos, Spenden werden jedoch gerne entgegengenommen.
•
Eltern erhalten parallel ein Beratungsangebot
Flankierend zur Arbeit mit dem minderjährigen Sexual(straf-)täter erhalten dessen Eltern/Bezugspersonen kontinuierlich ein Beratungsangebot. Ziel ist eine kontinuierliche
Information über den Programmverlauf, ggf. eine Verbesserung ihrer Erziehungsfähigkeit und eine möglichst konstruktive Koordination aller Akteure.
•
Zur zufriedenstellenden Bearbeitung der oben genannten Therapieinhalte benötigen
wir in der Regel einen Mindestzeitraum von etwa eineinhalb Jahren. Andere, niedrigschwellige Maßnahmen umfassen erheblich kürzere Zeiträume.
•
Regelmäßige Evaluation der ambulanten Behandlung ist notwendig und wird angestrebt
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
45
5.8.2. Das neun-stufige ARP-Konzept: Indikationen und Inhalte
Indikationen auf Seiten des minderjährigen Täters
Das Hilfeangebot ist geeignet wenn der Minderjährige eine oder mehrere der folgenden Taten begangen hat:
•
•
•
•
Sexueller Missbrauch von Kindern / §§ 176, 176a 2. und 3. StGB
Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung / §§ 177 – 178 STGB
Beischlaf zwischen Verwandten / § 173 StGB
Sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger / § 179 StGB
sowie sonstige Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, z.B.
•
•
Exhibitionistische Handlungen / § 183 StGB
Verbreitung und Besitz kinder- und gewaltpornographischer Schriften / § 184 ff StGB
Dabei ist es unerheblich, ob der Täter schuldfähig oder strafmündig ist.
Hinzu kommt, dass
•
•
•
•
•
•
•
eine ambulante Behandlung Erfolg versprechend ist und dieses im Rahmen einer spezifischen Diagnostik oder im Hinblick auf die Deliktspezifik, den Lebenskontext und das Persönlichkeitsbild des Minderjährigen geklärt werden
kann
die sexuellen Grenzverletzungen zum Schutz der Opfer unterbunden werden
konnten und eine Wiederholungsgefahr gegenwärtig nicht als sehr hoch eingeschätzt wird
die Tat nicht massiv geleugnet und zumindest in Teilen eingeräumt wird
der Minderjährige zumindest teilweise die Verantwortung für die Tat auf sich
nimmt
der Minderjährige nicht selbst aktuell Opfer von Misshandlung oder Missbrauch
ist
der Minderjährige aufgrund seiner psychischen Konstitution therapiefähig ist
und nicht unter primär zu behandelnden Störungen und Beeinträchtigungen
leide, so dass die Behandlung im WENDEPUNKT nachzuordnen ist oder sich erübrigt
der Minderjährige im Falle einer Gruppenbehandlung ausreichend gruppenfähig ist.
Indikationen auf Seiten des Umfeldes
Das Hilfeangebot ist geeignet, wenn
•
•
die Sorgeberechtigten und das professionelle Helfersystem zur aktiven Mitarbeit im Rahmen der Ambulanten Rückfallprophylaxe bereit sind
die Sorgeberechtigten und das professionelle Helfersystem bereit sind, an der
Aufrechterhaltung des verpflichtenden Rahmens mitzuwirken.
Indikationen auf Seiten der Justiz
Das Hilfeangebot ist geeignet, wenn
•
•
•
eine Tat vorliegt, die nach den o.g. Paragraphen des StGB als Sexualdelikt zu
bewerten oder bei Kindern oder jüngeren Jugendlichen durch die Diagnostik
und eine ausführliche Anamnese sexuell auffälliges Verhalten evident ist
das Gericht durch Urteil dem minderjährigen Täter eine Weisung erteilt hat
eine Einstellung des Verfahrens oder ein Urteil mit der Weisung der Teilnahme
an dem Programm verknüpft wird.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
46
Indikationen auf Seiten des Jugendamtes
Das Hilfeangebot ist geeignet, wenn
•
die öffentliche Jugendhilfe die Maßnahme unterstützt (Jugendhilferahmen)
•
ein Hilfeplan aufgestellt wurde, der die Teilnahme des Minderjährigen an einem Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe im WENDEPUNKT vorsieht
•
ggf. eine Weisung nach dem JGG oder ein Urteil mit entsprechender Weisung
vorliegt.
Insbesondere die standardisierte Diagnostikinstrumente ASAP und ERASOR geben dann
Aufschluss darüber, ob der Jugendliche an der umfangreichen, etwa 1,5 Jahre dauernden
Rückfallprophylaxe (im Einzel- oder Gruppensetting) teilnehmen sollte oder ob eine andere Maßnahme (z.B. stationäre Unterbringung) indiziert ist.
Die Ambulante Rückfallprophylaxe in ihrer ursprünglichen Form umfasst neun Stufen und
setzt eine gewisse kognitive Leistungsfähigkeit, d.h. IQ über 80 und ein Mindestalter von
12 Jahren voraus.
Sollte der betreffende Jugendliche noch zu jung für das Behandlungsprogramm sein, gibt
es die Möglichkeit einer sexualpädagogischen Beratung, die von ihrer Dauer wesentlich
kürzer ist. Hauptsächliche Inhalte der Beratung sind dann eine altersangemessene sexuelle Aufklärung, Gefühlsarbeit und die Akzeptanz von Grenzen in allgemeiner und in
sexueller Hinsicht. Sofern der Jugendliche eine kognitive Einschränkung in Form einer
Lern- oder geistigen Behinderung aufweist, gibt es die Möglichkeit der Teilnahme an einer
modifizierten Form der Ambulanten Rückfallprophylaxe, welche im Folgenden unter Pkt.
5.8.3. vorgestellt wird.
Die durchgeführte Diagnostik kann aber auch hervorbringen, dass z.B. eine stationäre
Unterbringung in einer hochspezialisierten Einrichtung für den betreffenden Jugendlichen
angezeigt ist.
Die Ambulante Rückfallprophylaxe ist ein teilstrukturiertes Programm mit verschiedenen
festen deliktorientierten Themenblöcken, die jeder Junge mindestens einmal durchläuft.
Sie orientiert sich in ihrer kognitiv–behavioralen Ausrichtung an vergleichbaren Programmen im europäischen Ausland, wie beispielsweise an der Methode „Dauerhafte Veränderung“ aus den Niederlanden.
Das neunstufige Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe (ARP)
Das Programm, das möglichst im Gruppensetting angeboten werden sollte, gliedert sich
in die folgenden neun Stufen:
1. Stufe: Eingangsouting: Klares Benennen der Tat vor der Gruppe
Zunächst stellt der Jugendliche den Grund dar, warum er in die Gruppe gekommen ist und benennt, was er lernen und erreichen will. Im Rahmen dieses Outings
muss er über sein Delikt sprechen. Auf diese Weise wird für ihn sofort deutlich,
dass es darum geht, Dinge beim Namen zu nennen, anstatt sie zu vertuschen
oder zu verharmlosen.
Er muss also Verantwortung für seine Tat, aber auch für seine persönlichen Ziele
übernehmen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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2. Stufe: Aufdecken der Folgen für den Täter
Der Teilnehmer erarbeitet alle Konsequenzen der Tat, wie etwa den Abbruch von
Beziehungen zu Freunden und Verwandten, die Angst vor Aufdeckung u. v. a. m..
Die negativen Folgen werden in einer Bilanz den Vorteilen, die der Missbrauch bedeutet hat, gegenübergestellt und bewertet. Die immensen Nachteile der Tat sollen für die Zukunft eng an die erlebte Lust, die Machtgefühle und Stärke während
des Übergriffes gekoppelt werden und diese so negativ belegen.
3. Stufe: Detailliertes Aufdecken der Tat - Deliktszenario
Der Teilnehmer muss detailliert vor der Gruppe über seinen Missbrauch sprechen,
wesentliche Details werden rekonstruiert. Dazu zählen auch Fragen nach der Aufdeckung der Tat oder nach den Schweigegeboten, die der Junge erwirkt hat. Die
anderen Teilnehmer erhalten die Möglichkeit gezielt nachzufragen und die Leitung
konfrontiert ihn, wenn nötig, mit Informationen aus anderen Quellen. In diesem
Schritt soll die Verleugnung schrittweise überwunden und Verantwortung für die
Tat übernommen werden. Für das ganze Programm ist es entscheidend, dass, neben der Klarheit, mit der an den Taten gearbeitet wird, die Jugendlichen ein Klima
von Wertschätzung und Offenheit erfahren.
4. Stufe: Analyse der Missbrauchskette
Mit verschiedenen Methoden werden in dieser Stufe die Ereignisse, die Fantasien,
die inneren Rechtfertigungen, und die Gefühle rekonstruiert, die der Tat vorausgegangen sind. Jungen haben aufgrund ihrer Sozialisation wenig Zugang zu ihren
inneren Prozessen haben, dies gilt häufig noch viel stärker für die Gruppe der
minderjährigen Täter. Deshalb erhält der Teilnehmer in dieser Gruppenphase viel
Raum, um mit unterschiedlichen Übungen seine Gedanken und Gefühle wahrnehmen zu können und zu lernen, diese in der Gruppe zu kommunizieren. Der Jugendliche soll erkennen, dass er seinen Missbrauch nicht quasi schicksalhaft begangen hat, sondern dass er bestimmte Vorbedingungen, die er beeinflussen
konnte, genutzt hat, um den sexuellen Übergriff durchzuführen. Damit steigt die
Selbstverantwortung - aber der Jugendliche erfährt auch seine Selbstwirksamkeit.
Gleichzeitig erhält er Anhaltspunkte darüber, wie er zukünftig frühzeitig riskante
Situationen beenden kann, denn er hat seine individuellen Auslösefaktoren und
Risikomomente identifiziert.
5. Stufe: (Opfer)Empathie
Das Gruppensetting wird zunächst dazu genutzt, mit Hilfe unterschiedlicher Methoden Einfühlungsvermögen bezüglich der anderen Teilnehmenden zu trainieren.
In einem zweiten Schritt geht es um Empathie gegenüber den Opfern sexueller
Gewalt allgemein, um dann die jeweiligen Opfer in den Fokus zu bekommen. Der
Jugendliche lernt zu erkennen, welche Folgen sein Verhalten für andere Menschen
hat, um die Konsequenzen seines Handelns frühzeitig mit einbeziehen zu können.
Jungen mit pädosexuellen Präferenzen zeigen nicht selten ein hohes Maß an Empathie in dem Sinne, dass sie sich in einige der Bedürfnisse ihrer Opfer einfühlen,
diese dann befriedigen, um sie anschließend dann für ihre sexuellen Interessen zu
instrumentalisieren und zu manipulieren. Bei Jugendlichen mit entsprechender
Präferenz geht es bei diesem Programmschritt dann darum, seine verzerrten Einstellungen in Bezug auf sein(e) Opfer und dessen/deren Sexualität aufzudecken
und zu korrigieren.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
48
6. Stufe: Auseinandersetzen mit Geschlechterrollen und Sexualität, Aufklärung von
Verzerrungen, kulturelle Verschiedenheiten.
Viele Jugendliche haben ein fatales Halb- und Fehlwissen in Bezug auf Sexualität,
das sich z. T. auch in ihrem übergriffigen Handeln widerspiegelt. Unterstützt werden diese kognitiven Verzerrungen oftmals durch den starken Konsum von Pornographie. Gerade in Zeiten des Internets werden Jugendliche mit Praktiken und
Bildern konfrontiert, die in keinem Verhältnis zu der von ihnen bereits gelebten
Sexualität stehen. Mit verschiedenen Methoden der Sexualpädagogik, der Verhaltenstherapie, mit Rollenspielen u.a.m. wird an realistischen und angemessenen
Einstellungen und Verhaltensweisen gearbeitet. Die Zielsetzung ist, dass der Jugendliche zu einer selbst bestimmten, sozial verträglichen Form von Sexualität
und Beziehungsfähigkeit findet. Wenn möglich soll sie eine Reflexion von Geschlechterrollen beinhalten. Ein Schritt in Richtung dieser reflektierenden Haltung
ist die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und kulturellen Quellen der
eigenen Bilder und Vorstellungen.
7. Stufe: Erarbeiten von Verhaltensalternativen zum Missbrauch
Die in der vierten Stufe erarbeitete Missbrauchskette dient in diesem Teil des
Programms dazu, den bereits identifizierten Risikofaktoren auf situativer, emotionaler, kognitiver und Verhaltensebene durch angemessene Alternativen entgegenzusteuern. Je nach individueller Problemstellung wird an der Gefühlssteuerung
und der Impulskontrolle oder auch an Frustrationstoleranz, Konfliktlöse- und
Durchsetzungsfähigkeit mit probaten Mitteln gearbeitet. Jeder Junge reflektiert,
wie er sich zukünftig in Risikolagen verhalten kann und Entsprechendes wird mit
ihm eingeübt.
8. Stufe: Verantwortungsübernahme
Eine wichtige Methode in dieser Phase ist das Schreiben eines Briefes an das/die
Opfer. In diesem Brief, der nicht abgeschickt wird, schildert der Jugendliche, aus
welchen Situationen, Gefühlen und Fantasien heraus die Tat begangen wurde und
welche Folgen sie für ihn hatte. Er beschreibt den individuellen Prozess, den er in
der Gruppe gemacht hat, insbesondere im Hinblick darauf, wie er sich zukünftig in
ähnlichen Situationen verhalten werde. Weitere Punkte, die in dem Brief angesprochen werden, sind der Blick auf die Folgen für das Opfer und evtl. auch eine Bitte um Vergebung oder Verzeihung. Das Schreiben dieses Briefes nimmt oft viel
Zeit in Anspruch, vor allem, weil die übrigen Teilnehmer der Gruppe intensiv an
der Diskussion über die Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit beteiligt sind. Weitere
Schritte der Verantwortungsübernahme sind in dieser Phase möglich.
9. Stufe: Verabschiedung
Zum Abschluss wird der gesamte Prozess des Täters mit der Leitung und in der
Gruppe reflektiert. Der Jugendliche berichtet über die von ihm gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen und zieht Bilanz, welches seiner eigenständig im Behandlungsvertrag formulierten Ziele er erreicht hat. Die Gruppe und die Leitung
geben ihm Rückmeldung darüber, wie sie seine Fortschritte und seinen Erfolg einschätzen. Es folgt eine auf den Jugendlichen persönlich zugeschnittene Verabschiedung von der Leitung und den übrigen Teilnehmern.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
49
In Einzelfällen kann von der Teilnahme an einem Gruppenangebot abgesehen werden
und zwar vor allem dann, wenn ein Jugendlicher aufgrund seines antisozialen Verhaltens
und seiner eingeschränkten Beziehungsfähigkeit nicht in die Gruppe zu integrieren ist
und somit die Arbeit in der Gruppe behindern würde.
Auch eine große Altersabweichung vom Durchschnittsalter der Gruppenteilnehmer kann
ein Grund dafür sein, dass eine Einzelbehandlung vorgezogen wird.
5.8.3. Kognitiv Beeinträchtigte brauchen ein eigenes Konzept
Besonders diese Klientel weist in ihrer sexuellen Entwicklung Defizite auf, welche häufig
zu altersunangemessenem Sozialverhalten führen. Aus unserer Sicht spielen vor allem
die beiden folgenden Aspekte eine maßgebliche Rolle zur Erklärung dieses Verhaltens:
•
Kognitiv beeinträchtige Jugendliche erleben häufig eine unzureichende
sexualpädagogische Aufklärung in der Schule, durch die Eltern oder andere
Bezugspersonen (z.B. in Lebensgemeinschaften).
•
Die kognitiv und emotional verzögerte Entwicklung der Jugendlichen kann dazu
führen, dass deren sexuelle Entwicklung nicht wahrgenommen oder sogar negiert
wird.
Ist ein Jugendlicher aufgrund seiner kognitiven Beeinträchtigung nicht in der Lage an
dem neun-stufigen Behandlungsprogramm teilzunehmen, gibt es ein daran angelehntes
Programm mit insgesamt sieben Stufen. Berücksichtigt werden hier verstärkt die spezifischen Bedürfnisse, Aufnahme- und Lernkapazitäten dieser Klientel. Dies impliziert ein
langsameres Vorgehen bei der Vermittlung der Inhalte, eine häufigere Wiederholung der
Themen und das Ansprechen mehrerer Lernkanäle (visuell, auditiv und kinästhetisch),
um die Jugendlichen in ihren individuellen Aufnahmemöglichkeiten zu erreichen.
Auch hier wird die Teilnahme an einer Gruppe angestrebt, aber auch die Behandlung im
Einzelsetting ist möglich.
Vorbedingungen für die Behandlung
Zu Beginn der Behandlung steht das Eingangsouting des Jugendlichen. Das Eingeständnis, einen sexuellen Übergriff begangen zu haben, ist für die weitere Arbeit mit den Jugendlichen unabdingbar. Befindet sich der Jugendliche in der Phase der Leugnung oder
erfährt er durch sein Umfeld eine starke Bagatellisierung seiner Tat, ist die Zusammenarbeit stark erschwert oder sogar unmöglich.
Die Einbeziehung des sozialen Umfeldes (Familie, Lebensgemeinschaften) ist daher für
die Arbeit mit dem Jugendlichen von besonderer Bedeutung. Dies impliziert vorbereitende und begleitende Gespräche mit den Eltern oder Bezugspersonen der jeweiligen Institutionen.
Behandlungssetting
Die Arbeit mit den Jugendlichen verläuft entweder im Einzel- oder Gruppensetting. Sofern
sich nicht genügend Teilnehmer für eine Gruppe finden - wichtig hierfür ist eine ähnliche
Altersstruktur und möglichst geringe Unterschiede in der Deliktschwere - findet die Behandlung in Form von Einzelgesprächen statt.
In einer Gruppe stehen maximal vier Jugendliche unter einer gemischtgeschlechtlichen
Leitung von erfahrenen Tätertherapeuten. Um für die Jugendlichen eine klar strukturierte
und für sie bekannte Lernsituation zu schaffen, ist das Gruppensetting dem einer Schulklasse sehr ähnlich. Jeder Jugendliche sitzt an einem eigenen Tisch und erhält verschiedene Arbeitsmaterialien. Nach jeder abgeschlossenen Behandlungsstufe werden schriftliche Kurzarbeiten geschrieben, der Abschluss wird durch ein Diplom honoriert.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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Sowohl in der Einzel- als auch Gruppenbehandlung, kommen die Jugendlichen einmal die
Woche für 60 Minuten, über einen Zeitraum von ca. 18 Monaten. Die Einbindung des sozialen Umfeldes erfolgt, nach individueller Absprache, in regelmäßigen Abständen.
Inhalte der Behandlung (sieben Stufen)
Die kognitiv beeinträchtigten Jugendlichen durchlaufen in der Ambulanten Rückfallprophylaxe insgesamt sieben Behandlungsstufen, die aufeinander aufgebaut sind. (Bei
durchschnittlich intelligenten Jugendlichen sind es neun Stufen)
1. Stufe: Gefühle und Sexualität
-
Welche Grundgefühle besitzen wir (Wut, Scham, Liebe, Trauer etc.)?
-
Wie unterscheiden sich diese Gefühle voneinander?
-
Woran erkennen wir diese Gefühle bei anderen, und wie äußern
sich diese bei uns selbst?
-
Was sind sexuelle Gefühle? Wie äußern sich sexuelle Gefühle?
-
Was ist sexuelles Verhalten und nicht-sexuelles Verhalten?
-
Wann sind Berührungen sexuell?
-
Aufklärungsfilme
Hintergrund: In dieser Arbeitsstufe sollen die allgemeine emotionale Entwicklung und
insbesondere die Empathiefähigkeit der Jugendlichen vorangetrieben werden. Die
Teilnehmer erlernen verschiedene Gefühle bei anderen zu erkennen, um soziale Situationen besser einschätzen und sich adäquat verhalten zu können.
2. Stufe: Grenzen und Regeln in der Sexualität
-
Was sind sexuelle Grenzen und Regeln?
-
Wofür sind diese Regeln da?
-
Der rote und grüne Bereich sexuellen Verhaltens?
-
Wann war ich im rotem Bereich, d.h. welche Grenzen habe ich verletzt?
-
Welche Stoppschilder gibt es im sexuellen Verhalten und wie erkenne ich diese?
Hintergrund: Eine klar strukturierte Einteilung von sexuellen Verhaltensweisen in erlaubte (grüne) und unerlaubte (rote) Bereiche hilft den Jugendlichen, diese zu verinnerlichen und auf evtl. kritische Situationen anzuwenden. So lernen sie anhand von
sexuellen Regeln, mit wem, wann und wo sie ihre Sexualität leben dürfen. Diese Regeln werden mehrfach in der gesamten Behandlungszeit wiederholt und eingeübt.
3. Stufe: Mein Weg zum sexuellen Missbrauch
-
Gedanken und Phantasien über den Missbrauch
-
Welche internen Hemmungen für den sexuellen Missbrauch gibt es?
-
Welche externen Hemmungen für den sexuellen Missbrauch gibt es?
-
Wie habe ich den Widerstand des Opfers überwunden?
-
Wie bin ich durch diese vier Stufen gegangen? Wie habe ich das angestellt?
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
51
Hintergrund: Diese Arbeitsstufe erfordert von den Teilnehmern eine erneute und vertiefte Auseinandersetzung mit ihren sexuellen Übergriffen. Je nach kognitiver Leistungsfähigkeit werden die Stufen vereinfacht bzw. zusammengefasst. Die Jugendlichen sollen verstehen lernen, wie sie bei ihren Taten vorgegangen sind, wie es ihnen
gelungen ist eigene Bedenken aus dem Weg zu räumen, andere Personen zu täuschen, und warum es in vielen Fällen nicht bei einem sexuellen Übergriff geblieben
ist.
4. Stufe: Folgen meines Missbrauchs für mich und andere
-
Was habe ich seit meinem Übergriff verloren? Wie hat sich mein Leben seitdem
verändert?
-
Vor- und Nachteile meines Übergriffs
-
Wer ist noch von den Folgen meines Missbrauchs betroffen?
-
Wie hat sich das Opfer vor, während und nach dem Missbrauch gefühlt?
Hintergrund: In dieser Einheit werden verstärkt die persönlichen und sozialen Nachteile des Übergriffes (z.B. immenses Schamgefühl, evtl. Schulwechsel, Wohnwechsel
in Lebensgemeinschaft) den geringen Vorteilen (z.B. Lust- und Machtgewinn) gegenübergestellt. Weiterhin wird das Einfühlungsvermögen in das Opfer gefördert, und die
Folgeschäden, die das Opfer durch den Übergriff erlitten hat, werden verdeutlicht.
5. Stufe: Kontrollplan: So kann ich mich kontrollieren!
-
Welche Risikosituationen bestehen für mich?
-
Welche Regeln helfen mir, mit meinem Verhalten im „grünen Bereich“ zu bleiben?
-
Wer kann mir helfen, mein Verhalten im „grünen Bereich“ zu behalten?
Hintergrund: Ein erster Kontrollplan wird bereits zu Beginn der Behandlung des Jugendlichen zusammen mit Eltern bzw. Betreuern und anderen involvierten Personen
erstellt. Dabei gilt es die möglichen Risikosituationen für einen erneuten Übergriff herauszubilden und spezifische Maßnahmen dagegen aufzustellen. Der Plan wird nun in
dieser Phase der Behandlung überarbeitet.
6. Stufe: Soziale und persönliche Fähigkeiten: Was kann ich gut?
-
Wie funktionieren zwischenmenschliche Beziehungen?
-
Wie bin ich bisher mit anderen Menschen umgegangen? Was hat sich jetzt verändert?
-
Was möchte ich an mir verändern?
-
Wie können diese Veränderungen mir helfen, mein sexuelles Verhalten zu kontrollieren?
Hintergrund: In der vorletzten Stufe sollen noch einmal verstärkt auch die vorhandenen und neu erworbenen Stärken des Jugendlichen im Umgang mit anderen Personen
herausgestellt werden. Der Fokus liegt hierbei auch auf den persönlichen Veränderungen während des Behandlungszeitraumes, die dazu beitragen sollen, einen weiteren sexuellen Übergriff zu verhindern.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
52
7. Stufe: Rückfallprognose und Abschluss
Vor der Entlassung des Jungen aus dem Programm wird erneut sein Rückfallrisiko mit
Hilfe des ERASOR - der im Abschnitt 5.7.3. dargestellt wurde - eingeschätzt. Daraus
ergeben sich sowohl Anhaltspunkte, inwiefern er das Programm erfolgreich durchlaufen hat als auch Hinweise auf einen möglichen weiteren Hilfebedarf, der dann mit den
Erziehungsberechtigten und dem Jugendamt besprochen werden und in die weitere
Hilfeplanung eingehen kann. Weitere Veränderung lassen sich über eine Wiederholung der ASAP Testung (vgl.5.7.2.) darstellen. Mithilfe dieses Instrumentes lassen
sich vor allem die persönlich gesteckten Ziele, wie z. B. Stärkung des Selbstbewusstseins oder Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen, überprüfen.
Zum Abschluss wird der gesamte therapeutische Prozess mit der Leitung und in der
Gruppe reflektiert. Der Jugendliche berichtet über die von ihm gewonnenen Einsichten
und Erkenntnisse und zieht Bilanz, welche seiner eigenständig im Behandlungsvertrag
formulierten Ziele er erreicht hat. Es folgt eine auf den Jugendlichen persönlich zugeschnittene Verabschiedung von der Leitung und den übrigen Teilnehmern.
5.8.4. Rückfallprophylaxe für Unter-14-Jährige in stationären Einrichtungen
Die im Folgenden skizzierte stationäre Gruppentherapie orientiert sich an unserem neunstufigen Rückfallprophylaxeprogramm (vgl. 5.8.2.), das hier nicht noch einmal vorgestellt
wird. Vielmehr konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Besonderheiten:
•
Stationäre Unterbringungen und
•
die Klienten sind unter 14 Jahre alt.
Therapievertrag
Nach einem ersten Kennenlernen, der Diagnostikphase und vor Beginn des eigentlichen
Behandlungsprogramms schließen die Bewohner mit den beiden Therapeuten/in, einer
gemischt geschlechtlichen Leitung, einen verpflichtenden Behandlungsvertrag ab. Dieser
umfasst allgemeine Gruppenregeln (z.B. Pünktlichkeit, aktive Teilnahme, Respekt vor den
Teilnehmern und Leitern der Gruppe, Verschwiegenheit bzgl. der besprochenen Inhalte
etc.). Weiterhin werden darin, zusammen mit den Teilnehmern, persönliche Ziele für die
Behandlung formuliert. Diese Ziele orientieren sich an der Biographie und Persönlichkeit
des jeweiligen Gruppenteilnehmers. Bestimmte Ziele, wie die Vermeidung von Rückfällen
werden von den Therapeuten vorgegeben.
Mit diesem Behandlungsvertrag sollen die Jungen in einem ersten Schritt Verantwortung
für ihr Handeln übernehmen und lernen, dass sie selbst aktiv an der Gestaltung von Zielen und der Therapie mitarbeiten können und müssen. Des Weiteren dient er als strukturgebender Rahmen, auf den die Teilnehmer immer wieder hingewiesen werden können,
sollte es im Laufe der Behandlung z.B. zu Verweigerung der aktiven Teilnahme kommen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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Behandlungsinhalte und -rahmen
Die stationäre Gruppentherapie für unter 14 Jährige sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche ist angelehnt an das unter Punkt 5.8.2. beschriebene neun-stufige Behandlungsprogramm der Ambulanten Rückfallprophylaxe. Da sich dieses Programm in der
Originalversion vor allem auf Jugendliche ab 14 Jahren bezieht, ist die Behandlung den
Entwicklungsständen, Lernkapazitäten und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen
unter 14 Jahren anzupassen. Somit wird ein größerer Fokus auf grundlegende pädagogische Inhalte wie z.B. der Gefühlsarbeit (Welche Gefühle gibt es? Woran erkenne ich diese
Gefühle bei mir und anderen? Was ist der Unterschied zu sexuellen Gefühlen?) und damit
einer allgemeinen emotionalen Entwicklung sowie Empathiefähigkeit gelegt. Auch bedarf
die Auseinandersetzung der Kinder und Jugendlichen mit ihren sexuellen Übergriffen einer vorausgehenden altersangemessenen Sexualaufklärung mit Hilfe verschiedener Medien.
Bei der Gruppe handelt es sich um eine halboffene Gruppe, so dass neue Jungen in die
laufende Gruppe aufgenommen werden können und Jungen, die das komplette Programm erfolgreich durchlaufen haben, dies verlassen können.
Die Dauer der Gruppentherapie liegt bei ca. 1,5 bis zwei Jahren. Dieser Zeitrahmen kann
aber individuell auch abweichen. Die Gruppe kommt einmal in der Woche für zwei Stunden zusammen. Sollte es sich herausstellen, dass ein Kind bzw. Jugendlicher nicht gruppenfähig ist, z.B. aufgrund einer stark abweichenden kognitiven Leistungsfähigkeit, werden mit dem Betreffenden Einzelgespräche durchgeführt. Auch alle anderen Gruppenteilnehmer haben nach individuellem Bedarf die Möglichkeit Einzeltermine bei einem der
beiden Therapeuten wahrzunehmen. Der formale Ablauf der Gruppensitzungen ist weitgehend festgelegt: Die Jungen sind in einer Eingangsrunde dazu aufgefordert, von ihrer
letzten Woche zu berichten. Dabei sollen neben alltäglichen Begebenheiten auch evtl.
kritische Situationen beleuchtet werden. Berichtet ein Gruppenteilnehmer z.B. von Gedanken, Phantasien oder Träumen an einen sexuellen Übergriff, wird dies von den Therapeuten aufgenommen und mit der Gruppe besprochen. Nach der Eingangsrunde folgen,
je nach Dynamik in der Gruppe und dem Stand der Jungen, unterschiedliche Themen und
Methoden. Zuletzt berichten die Teilnehmer in der Abschlussrunde von ihrem subjektiven
Erleben der Gruppensitzung. Bei Bedarf gibt es eine Pause, welche optimalerweise an das
für die Teilnehmer bekannte Schulzeitsystem angepasst ist und nach 45 Minuten stattfindet.
Therapieende
Voraussetzung für das Therapieende ist, dass das Durchlaufen der gesamten Behandlungsinhalte und eine positive Einschätzung des Rückfallrisikos. Diese Einschätzung wird
von den Therapeuten zusammen mit den Betreuern des Jungen vorgenommen. Hierfür
wird erneut der ERASOR (siehe Abschnitt 5.7.3.) herangezogen. Darüber hinaus wird ein
möglicher weiterer Hilfebedarf geprüft, der dann mit den Erziehungsberechtigten und
dem Jugendamt besprochen wird.
Der Junge hat vor seiner Verabschiedung aus der Gruppe, in Stufe 9 des Behandlungsprogramms, die Aufgabe von den von ihm gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen zu
berichten. Er sollte Strategien benennen können, die ihn an einem Rückfall hindern und
sich gegebenenfalls (das Einverständnis des Opfers vorausgesetzt) bei diesem entschuldigt haben.
Abschlussbericht
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Einbindung des sozialen Umfeldes
Eltern
Besonders wichtig für eine erfolgreiche Arbeit mit sexuell übergriffigen Kindern und Jugendlichen ist die Zusammenarbeit mit und die Unterstützung durch die Eltern. Vermitteln die Eltern ihrem Kind den Eindruck nicht mit der Therapie einverstanden zu sein oder
deren Notwendigkeit nicht einzusehen, kann dies die Arbeit mit den Jungen erheblich
erschweren. Somit ist es unabdingbar, auf die Ängste, Befürchtungen und mögliche Abwehr der Eltern einzugehen. Wie auch mit den Gruppenteilnehmern sollten zusammen
mit den Eltern Ziele für die persönliche Entwicklung ihres Kind und die Rückfallprävention
formuliert werden. Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Therapeuten, Eltern und
Betreuern der Wohngruppe kann eine Verlaufskontrolle der Behandlung gewährleistet
werden und möglicherweise kritischen Entwicklungen des Kindes bzw. Jugendlichen mit
einer gemeinsamen Verantwortlichkeit begegnet werden. Diese prozessorientierte Zusammenarbeit aller Beteiligten bringt eine Ausweitung der Kompetenzen im Bereich Umgang mit Sexualität und sexuellen Übergriffen und verhilft zu einer sicheren Haltung gegenüber dem Kind bzw. Jugendlichen. Die Gespräche mit den Eltern finden ca. alle zwei
Monate statt, nach Bedarf auch häufiger.
Jugendamt
Gemeinsam mit dem zuständigem Jugendamt und der stationären Einrichtung wird zu
Beginn der Maßnahme ein individueller Behandlungsplan für das sexuell übergriffige Kind
bzw. den Jugendlichen erarbeitet. Eine wichtige Grundlage hierfür ist die vorausgehende
Diagnostik, durchgeführt durch die Therapeuten. In regelmäßigen, alle drei Monate stattfindenden Kontrollplangesprächen tauschen sich alle Institutionen, die in den Fall involviert sind, über die Entwicklung des Jungen und die momentane Risikoeinschätzung aus.
Schule
Eine enge Kooperation mit der jeweiligen Schule des Jungen ist besonders für die Sicherheitsplanung und somit für den Opferschutz erheblich. Dabei wird in persönlichen Gespräch mit dem/der Klassenlehrer/in und der Schulleitung ein Plan erstellt, der mögliche
kritische Situationen in der Schule und auf dem Schulweg aufgreift und geeignete Maßnahmen dagegen enthält. Weiterhin stehen die Therapeuten jederzeit für Fragen und
Anliegen seitens der Schule zur Verfügung.
5.8.5. Normenverdeutlichende Gespräche
Die am wenigsten aufwendige Interventionsebene nach sexuellen Grenzverletzungen, die
durch unsere Beratungsstelle während des Modells angeboten wurde, ist die der „Normenverdeutlichende Gespräche“.
Es handelt sich hierbei um ein einmaliges – ggf. auch um mehrmalige – Treffen mit einem Jugendlichen, dem in seiner Schule eine minderschwere Regelverletzung vorgeworfen wurde. Entweder ist der Sachverhalt nicht genau zu klären und die Schule scheut sich
deshalb weitere Maßnahmen einzuleiten, wie Einschaltung des Jugendamtes oder eine
Anzeige; oder es wird davon ausgegangen, dass die sexuelle Grenzverletzung nicht so
massiv war und deren Ursachen eher im Bereich des adoleszenten Ausprobierverhaltens
zu suchen sind.
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Der WENDEPUNKT ist aus folgenden Gründen prädestiniert, eine solche Intervention vorzunehmen:
•
Seine Mitarbeiter/innen verfügen über sexualpädagogische Kompetenzen und
können deshalb offen über Sexualität und über sexuelle Grenzverletzungen reden.
•
Sie haben gleichzeitig langjährige Erfahrung mit der Aufgabe, den Jugendlichen
mit der vorgeworfenen Tat zu konfrontieren und ihm trotzdem wertschätzend entgegenzutreten.
•
Sie können ihn über mögliche (auch rechtliche) Konsequenzen informieren, die
dann zu erwarten sind, wenn sich sein Fehlverhalten nicht ändert.
Zu Beginn des Modellprojektes erschien es zunächst nicht unbedingt naheliegend, sexuell
übergriffigen Jugendlichen und deren sozialem Umfeld eine derart niedrigschwellige
Interventionsmaßnahme anzubieten. Sie birgt das Risiko, dass der Jugendliche den Eindruck gewinnen kann, keine Verantwortung für seine Taten übernehmen zu müssen.
Die Nachfrage nach dieser Interventionsmöglichkeit kam vor allem aus den Schulen. In
den Beratungen mit den jeweiligen Lehrkräften wurde deutlich, dass gerade bei als nicht
gravierend eingeschätzten sexuellen Grenzverletzungen oder in sehr unklaren Situationen die Alternative zu einem normenverdeutlichenden Gespräch im schlechtesten Falle
das Nichtverhalten der Einrichtung ist.
In folgenden Situationen wurde der Wunsch an den WENDEPUNKT herangetragen, ein derartiges Gespräch zu führen:
•
Verbale sexuelle Grenzverletzungen innerhalb einer Klasse oder eines Jahrganges.
Betroffen von diesen Übergriffen waren ausschließlich Mädchen, genauso wie es
sich bei den Grenzverletzern nur um Jungen handelte.
•
Sexuelle Grenzverletzungen von Jungen gegenüber Mädchen der Klasse oder der
Schule - z. B. in Form von Berührungen der sekundären Geschlechtsorgane, denen die Mädchen entweder nicht zugestimmt oder die sie sogar eindeutig abgewehrt hatten.
Sobald im Rahmen der Fachberatung(en) der Eindruck entstand, dass die Übergriffigkeit
sich keineswegs auf niedrigem Niveau bewegte, wurde immer in die Richtung beraten,
weitere Schritte in Form von Einschaltung behördlicher Stellen und/oder Anzeige zu gehen. War dies nicht der Fall oder blieb es bei dem Wunsch nach einem oder mehreren
normenverdeutlichenden Gesprächen, wurden diese durch die Mitarbeiter/innen des
WENDEPUNKT durchgeführt.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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5.8.6. Sexualpädagogische Beratung als niedrigschwelliges Angebot
Zielgruppen
Zielgruppen dieses bewusst niedrigschwelligen Angebotes sind:
•
Sexuell auffällige Kinder und jüngere Jugendliche
Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche mit sexuellen Auffälligkeiten
oder übergriffigem Verhalten,
•
-
deren Verhalten offensichtlich in ungenügender Aufklärung durch Eltern, Schule etc. begründet ist,
-
deren Übergriffe oder Auffälligkeiten sich in einem minderschweren Bereich
bewegen,
-
oder deren Verhalten mit einem kindlichen oder adoleszenten Ausprobierverhalten erklärt werden kann.
Sexuell auffällige Kinder und Jugendliche mit kognitiven
Beeinträchtigungen
Kinder und Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen oder auch Entwicklungsverzögerungen haben oft über Elternhaus, Betreuungseinrichtung und Schule
keinen adäquaten Zugang zu Informationen über Sexualität und häufig auch wenig Spielraum, eigene Erfahrung in der Interaktion mit anderen auf diesem Feld zu
sammeln. Ansonsten gelten für diese Zielgruppen die gleichen Punkte wie für die
o.g. Zielgruppe.
Falls es zu unterschiedlichen Einschätzungen über das Gefährdungspotenzial, das
von diesen Kindern und Jugendlichen ausgeht, kommt, ist es möglich und notwendig, entsprechende diagnostische Instrumente einzusetzen.
Diese Entscheidung erfolgt in Kooperation der Mitarbeiter/innen vom Jugendamt
und vom WENDEPUNKT.
• Eltern von sexuell auffälligen Kindern und Jugendlichen
Allgemein haben viele Eltern Ängste und Schwierigkeiten vor und mit dem Thema
Sexualität und Aufklärung. Kommt ein auffälliges Verhalten ihres Kindes dazu,
führt die Verunsicherung im schlechtesten Fall zu einem Nichtverhalten.
Insbesondere gilt dies
-
für Eltern mit Migrationshintergrund, die wenig Zugang zu der herrschenden
Mehrheitskultur haben
-
für Eltern mit geistig und/oder körperlich behinderten Kindern
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Sexualpädagogische Angebote für Kinder und Jugendliche
Für die ersten beiden Zielgruppen bietet der WENDEPUNKT – je nach Bedarf – verschiedene
Module an. Was im Einzelnen angemessen erscheint, kann z.B. auf einer Erziehungskonferenz oder in Fallbesprechungen mit dem FIT abgestimmt werden. Alle Angebote können
in Kleingruppen oder in Einzelarbeit durchgeführt werden.
•
•
•
Modul Sexualpädagogik / Aufklärung
o
Funktion der Geschlechtsorgane, Fortpflanzung, (ggf. Verhütung)
o
Angemessene Sprache über Sexualität
o
Aufklärung von Verzerrungen hinsichtlich Sexualität (Pornografie)
o
Reflexion und Verbalisieren von Gefühlen
Modul Geschlechterverhältnis
o
Reflexion über die vorhandenen Bilder zum eigenen Geschlecht
o
Erwartungen an und Bilder über das andere Geschlecht
o
Aufklärung über Verzerrungen hinsichtlich der Geschlechterbilder
o
Kennenlernen von alternativen Verhaltensalternativen
Modul Grenzen kennenlernen und verstehen
o
Eigene Grenzen kennenlernen und austesten
o
Grenzen anderer verstehen und akzeptieren
o
(Un-)krrekte Anmache
Für alle Angebote gilt, dass die Kinder und Jugendlichen sich mit ihrem eigenen grenzverletzenden oder auffälligen Verhalten auseinandersetzen müssen.
Angebote für Eltern
Die Eltern sollen lernen, sich mit dem Verhalten ihres Kindes vorurteilsfrei auseinanderzusetzen, angemessen auf dieses zu reagieren und ihnen altersgemäße Anregungen geben zu können.
Ängste vor der Auseinandersetzung mit der Sexualität der Kinder, eigene Grenzen und
Möglichkeiten werden thematisiert. Das Ziel ist, dass die Eltern befähigt werden, in ihrer
Familie an einer Atmosphäre mitzuwirken, in der Sexualität nicht tabuisiert wird. Dazu
gehört, dass auch die Grenzen entsprechend deutlich benannt werden können.
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5.8.7. Elternarbeit ist unverzichtbar!
An dieser Stelle soll noch einmal betont werden: Es ist in allen Fällen und bei allen anstehenden (sozialtherapeutischen) Interventionsmaßnahmen maßgeblich, möglichst früh
Kontakt mit den Eltern der grenzverletzenden Jugendlichen zu haben. Eltern, deren Kinder sexuelle Grenzverletzungen begangen haben, sind fast immer in einer außerordentlichen psychischen Belastungssituation. Im Erstkontakt soll versucht werden, gemeinsam
mit ihnen Orientierung in der oftmals als chaotisch empfundenen Situation zu finden. Die
Eltern sind häufig geschockt von den Vorwürfen gegen ihre Kinder. Damit dies nicht dazu
führt, dass entweder die Kinder abgelehnt oder die Taten negiert werden, sollen sie darin
bestärkt werden, zu unterscheiden zwischen der ablehnenswerten Tat und dem Kind oder
Jugendlichen, der immer noch ein Anrecht auf die Zuneigung und Liebe seines sozialen
Umfeldes hat.
Insbesondere in Inzestfällen befinden sich die Eltern in einer großen Zerreißprobe zwischen den verschiedenen Polen in ihrer Familie. Sie befinden sich in einer schwer belasteten Situation und haben oft eigenen Beratungsbedarf.
Eltern von sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen haben aber auch ein Anrecht darauf zu erfahren, welche Möglichkeiten der Hilfe es für ihre Kinder gibt.
Ein guter Kontakt zu ihnen ist für eine gelingende Intervention zwingend notwendig. Den
Eltern muss vermittelt werden, dass ihr Kind Hilfe braucht und dass die Auseinandersetzung mit der Tat nicht bedeutet, dass ihr Kind als Täter stigmatisiert werden soll. Im Gegenteil: Wenn die Jugendlichen die Möglichkeit haben, sich mit ihrem Übergriff auseinanderzusetzen und Verantwortung dafür zu übernehmen, steigen die Chancen für eine gesunde Entwicklung. In diesem Prozess benötigen die Jugendlichen die Unterstützung ihrer
Eltern.
Gelingt es, den Eltern diese Gedanken im Erstkontakt zu vermitteln, ist ein ganz wichtiger Schritt für eine gelungene Intervention getan. Die Eltern unterstützen eine deliktorientierte Therapie und begreifen diese als Möglichkeit für ihre Kinder, aus deren Täterverhalten auszusteigen. Mit ihnen werden das Vorgehen in der Therapie und die Entwicklung des Jungen sowohl im Rahmen der Behandlung, als auch außerhalb in seinem sozialen Umfeld besprochen. Weiterhin wird thematisiert, mit welchen Maßnahmen und möglicherweise veränderten Einstellungen und verändertem Erziehungsverhalten sie die Entwicklung des Jungen positiv unterstützen können.
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5.9.
SEKUNDÄRPRÄVENTION IST DOCH NÖTIG, DENN SEXUELLE ÜBERGRIFFE
MIT MEHREREN BETEILIGTEN NEHMEN ZU!
In den Vorüberlegungen zum Modellprojekt spielten von unserer Seite sekundärpräventive Interventionen in den Peers von sexuell grenzverletzenden Minderjährigen und den
der davon betroffenen Opfer zunächst keine Rolle. Vielmehr gab es zunächst die Grundannahme, dass Fortbildungsangebote, Beratungen des sozialen Umfeldes sowie diagnostische und therapeutische Interventionsmaßnahmen ein ausreichendes Angebot darstellten, um auf Vorfälle zu reagieren.
Im letzten Modelljahr gab es jedoch häufiger Anfragen von Schulen, in denen es zu
Übergriffen unter (meist) Gleichaltrigen gekommen war. Nach Übergriffen, die von Tätern
oder Zuschauern in Bildern oder Filmen dokumentiert wurden, und nach Gruppentaten,
über deren Ablauf manchmal ganze Jahrgänge informiert waren, meldeten sich die Schulen – in Rücksprache mit der Schulbehörde - mit dem dringenden Wunsch, Projekte für
die betroffenen Klassen durchzuführen. Die Ratsuchenden hatten sich damit auseinanderzusetzen, dass die begangenen Übergriffe - aus unterschiedlichen Gründen - zentrales
Thema in den betroffenen Klassen oder Jahrgängen war.
Eine rein sexualpädagogische Intervention, die auf Freiwilligkeit und zumindest teilweise
auf die eigene Themenauswahl der Schüler/innen setzt, wäre aus unserer Sicht in einer
solchen Situation nicht ausreichend gewesen. Deshalb haben wir unsere Kompetenz aus
der Arbeit mit sexuellen Grenzverletzern für die Arbeit mit den Jungen eingebracht. Für
die Intervention bezüglich der Mädchen kooperierten wir mit Hamburger Opferberatungsstellen.
Anfragen aus Schulen nach sexuellen Übergriffen unter Gleichaltrigen
Wenn mehrere Jugendliche sexuelle Handlungen an einem Mädchen vollziehen, sprechen
wir von sogenanntem Gang Bang. Häufig ist das betroffene Mädchen alkoholisiert oder es
macht aus Gruppenzwang zunächst mit. Wenn es dann versucht, aus dem Geschehen
auszusteigen, wird der Widerstand nicht wahrgenommen. Gang Bang ist für männliche
Jugendliche eine Spielart der Sexualität, die die meisten aus dem Internet kennen, Bei
den entsprechenden Filmen, die auf den Pornowebsites konsumiert werden können,
nehmen die Frauen in der Regel freiwillig am Gruppensex teil, der Umgang mit diesen
Frauen ist aber in der Regel brutal und abwertend. In Gesprächen über Sexualpraktiken
haben Jungen in den therapeutischen Gruppen des WENDEPUNKT immer wieder geäußert,
dass Mädchen, die an solchen Praktiken teilnehmen, für sie als Beziehungspartnerinnen
nicht in Frage kämen. Die Jungen gehen z. T, sogar soweit, dass sie es auch ablehnen
würden, Mädchen, die sich auf spezielle Sexualtechniken einlassen, zu küssen, weil diese
schmutzig seien.
Anfragen infolge digitaler Erfassung von sexuellen Übergriffen
Sexuelle Grenzverletzungen werden auch dann zum vieldiskutierten Thema in der Peer,
wenn der Übergriff mit dem Handy oder einer Kamera gefilmt und danach über bluetooth
weitergegeben oder im Internet gepostet wurde. Auch bei diesen Übergriffen spielt häufig
Alkohol eine Rolle und häufig sind mehrere Personen tatbeteiligt.
Sowohl die Tatsache, dass mehrere Jugendliche beteiligt waren als auch die „Dokumentation“ auf einem Datenträger können dazu führen, dass z. B. in einer Klasse viele Jugendliche über den Übergriff Bescheid wissen. Das Anliegen des Opferschutzes geht in einem
solchen Setting unter, in dem das betroffene Mädchen real oder auch nur imaginiert immer wieder mit Reaktionen auf die traumatische Situation konfrontiert wird.
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Oftmals gehen die Jugendlichen, die beispielsweise den Übergriff auf einen Handyfilm
gesehen haben, davon aus, dass das Opfer selbst eine Mitschuld trägt, weil sie sich auf
eine solche Situation eingelassen hat. Häufig zeigen gerade Mädchen wenig Solidarität
gegenüber der Betroffenen. Die Einschätzung der männlichen Klassenmitglieder ist entweder vergleichbar oder sie stehen unter dem Druck, sich den übergriffigen Jungen gegenüber solidarisch zu verhalten. Immerhin stehen ja in solchen Fällen fast immer mehrere Aussagen gegen die Schilderung des Opfers.
Ein rein sexualpädagogischer Ansatz würde in dieser Situation ins Leere laufen. Das
Grundprinzip der Sexualpädagogik ist die Freiwilligkeit, sowohl im Hinblick auf die Teilnahme, wie auch hinsichtlich der gewählten Themen. Ein Sexualpädagoge/eine Sexualpädagogin steht auch immer vor der Herausforderung, möglichst wenig an Wertung in
das Gruppengeschehen einfließen zu lassen und trotzdem eine deutliche Haltung zu bestimmten Themen (sexuelle Übergriffe, sexuelle Orientierung etc.) zu transportieren.
Eine Intervention nach einer sexuellen Grenzverletzung in einer Klasse, die diesem Übergriff zumindest ambivalent gegenüber steht, braucht eine andere pädagogische Ausgangssituation. Während einer solchen Intervention muss den Jugendlichen ganz deutlich
klar gemacht werden, dass es eindeutige Definitionen bezüglich sexuell grenzverletzenden Verhaltens gibt, auf die gegebenenfalls auch juristische Schritte folgen. Eine Konfrontation alleine wird die Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erreichen, neben dem erhobenen ‚Zeigefinger’ bedarf es trotzdem eines Klimas der Wertschätzung, in
der sich die Jugendlichen trauen, ihre Sicht der Dinge zu schildern. Die Kompetenz für
diese Gratwanderung bringen die Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT aus ihren Erfahrungen in der Gruppenarbeit in der ARP mit.
Deshalb wurde im Laufe des Modellprojektes ein Angebot installiert, das sich vor allem an
Schulen richtet. Gemeinsam mit Kolleginnen aus Opferberatungsstellen werden seit dem
letzten Jahr Projekte für diese besondere Problemstellung angeboten.
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6.
DIE FALLUNABHÄNGIGE ARBEIT: VORSTELLUNG UNSERES ANGEBOTES
UND ERKENNTNISSE
6.1.
EINE EFFIZIENTE ARBEIT MIT SEXUELL AUFFÄLLIGEN MINDERJÄHRIGEN
BRAUCHT TRAGFÄHIGE KOOPERATIONSSTRUKTUREN
6.1.1. Das UKE evaluiert die Entwicklung der Kooperationsbezüge
Die Ergebnisse der Evaluation liegen im Institut für Sexualforschung an der Uniklinik Eppendorf (IFS) vor und sind dort abrufbar.
6.1.2. Der das Modellprojekt begleitende Arbeitskreis
Das „Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige“ wurde alle zwei Monate von einem Arbeitskreis begleitet. Für die Teilnahme an diesen AK wurden Vertreterinnen und Vertreter von Behörden und freien Trägern angefragt.
Zusammensetzung
Zum Teilnehmerkreis gehörten neben den Kooperationspartnern im Modellprojekt Vertreter und Vertreterinnen
•
der bezirklichen Allgemeinen Sozialen Dienste
•
von REBUS, den regionalen Beratungsstellen der Schulbehörde
•
der Beratungsstelle für Gewaltprävention
•
der Kinder- und Jugendpsychiatrien
•
der Jugendgerichtshilfe
•
des zuständigen Landeskriminalamtes
•
der Jugendstaatsanwaltschaft
•
von (Opfer-) Beratungsstellen
•
von Jugendhilfeträgern (stationär)
•
der Psychotherapeutenkammer
Zielsetzung
Ziel war es, vorhandene Angebote zu vernetzen, mögliche Lücken in der Arbeit mit übergriffigen Jugendlichen aufzudecken und den beteiligten Personen und Einrichtungen ein
Forum zu bieten, in dem sie eigene Erfahrungen weitergegeben und von denen anderer
partizipieren können.
Abschlussbericht
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Bearbeitete Themen
Die Themen im Arbeitskreis ergaben sich z. T. aus aktuellen Diskursen, aus Beobachtungen und Erfahrungen im Modell, aus Anregungen der Teilnehmenden oder aus Vorgaben
der Kooperationspartner im Modellprojekt. Für die inhaltliche Vorbereitung war mit Ausnahme der Einladung von externen Referent/innen der WENDEPUNKT zuständig. Zu den
bearbeiteten Themenschwerpunkten gehörten u. a.
•
die Kooperation zwischen verschiedenen Einrichtungen und Behörden,
mit dem Ziel, effektivere Interventionsstrukturen zu schaffen
•
die Schnittstelle zu den Kinder- und Jugendpsychiatrien im Hinblick auf weitere
Diagnostik bei solchen Kindern und Jugendlichen, bei denen -, neben der sexuellen Auffälligkeit - auch eine psycho-pathologische Problematik vermutet wird
•
die Spezifika in der Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten sexuell auffälligen Minderjährigen
•
Unterschiede in den Perspektiven aus Sicht der Opfer bzw. Täterarbeit - insbesondere auch die Frage, ob und wann eine Anzeige sinnvoll und notwendig erscheint
•
rechtliche Fragen; hier profitierten die beteiligten Nichtjurist/innen von der Kompetenz der Staatsanwaltschaft und der Jugendgerichtshilfe
•
spezialisierte stationäre Angebote für sexuell übergriffige Minderjährige
Rückmeldung der Teilnehmenden
Die Teilnahme der meisten angefragten Einrichtungen war sehr verlässlich. Aus den
Feedbackbögen, die das UKE regelmäßig nach dem Arbeitskreis verteilte, war zu ersehen,
dass die Teilnehmer/innen den Kreis überwiegend positiv bewerteten und nach Anfangsschwierigkeiten mit manchmal wechselnden Vertreter/innen aus den Einrichtungen der
Grad an Bekanntheit der übrigen Anwesenden stetig zunahm und auf hohem Niveau verweilte. Auch die überwiegend vom WENDEPUNKT vorbereiteten thematischen Schwerpunkte
(s.o.) stießen auf ein durchweg positives Echo. Im Moment liegt uns die endgültige Auswertung der Evaluationsbögen des UKE noch nicht vor. Wie gehen jedoch davon aus,
dass die erstrebten Ziele (Vernetzung, Erfassung von Versorgunglücken und interne Fortbildung) in diesem Gremium weitgehend erreicht werden konnten. Dafür spricht auch,
dass sich beim letzten offiziellen Treffen des Arbeitskreises alle Teilnehmenden für eine
Weiterführung desselben aussprachen.
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6.1.3. Vernetzung mit dem Arbeitskreis NEXUS
Seit etlichen Jahren gibt es in Hamburg einen Verbund von Opferberatungsstellen. Verschiedene Träger haben sich unter dem Dach von NEXUS zusammengefunden, um vorhandene Angebote und Spezialisierungen besser koordinieren zu können. Vom WENDEPUNKT aus bestanden schon vor dem Modellprojekt Kontakte zu diesem Kreis, die sich z.
B. in Form von gemeinsamen Fortbildungen niederschlugen.
Zu Beginn des Modellprojektes war es dem WENDEPUNKT wichtig, auch diese Vernetzung
zu intensivieren. (vgl. auch 5.2.3.). Ziel war es, Schnittstellen zu untersuchen sowie eine
besser Fallkoordination und Krisenintervention zu gewährleisten, um weitere Verletzungen und Übergriffe zu vermeiden. Dazu waren und sind u.a. tragfähige persönliche Kontakte und abgesprochene Verfahren hilfreich.
Die Kolleginnen der in NEXUS organisierten Beratungsstellen wurden zum modellprojektbegleitenden Arbeitskreis eingeladen und nahmen an diesem regelmäßig teil. In diesem
Rahmen konnten immer wieder Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert
werden. Hierzu zählte bspw. die nach der Anzeigepflicht von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.
Erfreulicherweise wurde eine WENDEPUNKT-Mitarbeiterin ebenfalls zur Teilnahme am
NEXUS-Kreis eingeladen und konnte so regelmäßig an den Fachdiskussionen teilnehmen.
6.1.4. Vernetzung mit der Schulbehörde
In Kooperation mit der Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger
Schulbehörde), Vertreterinnen von NEXUS und dem WENDEPUNKT wurde für die Hamburger Schulen eine Handlungsanweisung entwickelt. Ziel war es, den Lehrkräften, die sich
mit Anfragen an uns oder andere Beratungseinrichtungen wenden, verbindliche Handlungspfade aufzeigen zu können. Zu diesem Zweck wurde eine Broschüre erarbeitet, in
der über sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen informiert und eine konkrete
Interventionskette vorgestellt wird. Das Case Management wird von der Beratungsstelle
für Gewaltprävention übernommen. Von dort aus wird auch die Koordinierung der verschiedenen Hilfsangebote übernommen.
Darüber hinaus wurden in den beteiligten Einrichtungen Zuständigkeiten für das Problem
der sexuell auffälligen Minderjährigen festgelegt. Damit ist die Gefahr gebannt, dass in
der ohnehin oft als überfordernd erlebten Situation nach sexueller Grenzverletzung, die
Beratungssuchenden nicht mit unterschiedlichen Kontaktinformationen von einer Beratungsstelle zur nächsten geschickt werden. Trotz dieser Erfolge steht die Vernetzung
noch am Anfang und entsprechend trifft sich der oben erwähnte Kooperationskreis in
größeren Abständen, um in Fallbesprechungen die installierten Maßnahmen zu überprüfen. Zur Zeit wird die Broschüre, die Anfang 2009 an den Schulen verteilt wurde, überarbeitet und um Informationen zu spezifischen Aspekten der Arbeit mit Opfern und Tätern
ergänzt.
Ein Ergebnis dieser aus unserer Sicht gelungenen Kooperation ist sicherlich auch das zunehmende Verweisen von Seiten der Hamburger Schulen an die Beratungsstelle des
WENDEPUNKT.
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6.1.5. Mitarbeit in der DGfPI
Die Beratungsstelle des WENDEPUNKT in Hamburg, die im Rahmen des Modellprojektes
entstanden ist, stand und steht vor ähnlichen Fragestellungen wie vergleichbare Einrichtungen in anderen Teilen der Bundesrepublik. Für unsere Arbeit war es deshalb nahe liegend, den Austausch mit anderen ambulanten Beratungsstellen und spezialisierten Einrichtungen zu suchen. Die regelmäßig einmal pro Jahr stattfindenden Werkstattgespräche
der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) bieten hierfür einen
Ort. Die DGfPI ist 2009 aus der Verschmelzung zweier Vereine entstanden, die sich schon
lange mit dem Thema „Sexuelle Grenzverletzungen“ beschäftigten. Einer der beiden
Gründungsvereine (Deutsche Gesellschaft gegen Kindesmissbrauch und Vernachlässigung) hat als erster Verband in Deutschland spezielle berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungen für die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen angeboten. Parallel dazu wurden seinerzeit die Werkstatttreffen initiiert, um für die Praktiker/innen eine Plattform zum Austausch und zur Weiterbildung zu schaffen. Der WENDEPUNKT hat sich an diesen Treffen von Beginn an beteiligt.
Für das Jahr 2009 wurde das Werkstatttreffen in Hamburg vom WENDEPUNKT ausgerichtet,
d.h. seine Mitarbeiter/innen haben die organisatorische und inhaltliche Vorbereitung
weitgehend übernommen. Während der Werkstatttreffen finden inhaltlich fortlaufende
Arbeitsgruppen statt, ergänzend zu diesen war es uns bei dem Treffen in Hamburg wichtig, das Modellprojekt vorzustellen. Darüber hinaus haben wir die Arbeit mit Jugendlichen
mit Migrationshintergrund zum Schwerpunktthema gemacht. Für eine Beratungsstelle in
einer Metropole wie Hamburg, in der es einen sehr großen Anteil von Kindern und Jugendlichen gibt, deren Wurzeln in anderen Kulturen liegen, ist die Auseinandersetzung
mit interkulturellen Fragen eine Erfahrung, die wir auch in andere Fachkreise einbringen
können und möchten.
Daneben haben wir das Werkstatttreffen dazu genutzt, für eine norddeutsche Vernetzung
von Fachkräften in der praktischen Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen zu werben. Seit einiger Zeit gibt es schon ähnliche Netzwerke in West- und
Ostdeutschland. Ziel der Vernetzung ist es zum einen, unter dem Dach der DGfPI spezialisierte Angebote für Kinder und Jugendliche mit sexuell auffälligem Verhalten bekannt zu
machen, damit Hilfen schnell und unbürokratisch abgefragt werden können. Darüber hinaus ermöglichen die Treffen Austausch, Vorstellung neuer Angebote und Konzepte, kollegiale Fortbildung und im Einzelfall auch Fallbesprechungen.
Die Resonanz auf unser Angebot war so erfreulich, dass der WENDEPUNKT im Februar 2010
zum ersten norddeutschen Vernetzungstreffen in seine Hauptstelle in Elmshorn einladen
konnte – hier gibt es einen ausreichend großen Raum. Seitdem haben zwei weitere Treffen stattgefunden. Sie hatten die inhaltlichen Schwerpunkte: Therapeutische Herausforderungen und Pornographie.
Teilnehmende an den Treffen sind Vertreter/innen stationärer Facheinrichtungen aus
Hamburg und Schleswig-Holstein, spezialisierte Beratungsstellen aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen und Niedersachsen, aber auch Mitarbeiter/innen aus Jugendämtern
und Justizvollzugsanstalten. Das Netzwerk trifft sich derzeit dreimal im Jahr in Elmshorn
oder Hamburg.
Abschlussbericht
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6.2.
FALLUNABHÄNGIGE FACHBERATUNGEN TRAGEN ZUR ERWEITERUNG
VON HANDLUNGSKOMPETENZEN UND ZUR PRÄVENTION BEI
Ein Teil der vom WENDEPUNKT während des Modellprojektes durchgeführten Fachberatungen wurden nicht durch vorgehende sexuelle Übergriffe initiiert.
Häufig gehen diese Anfragen auf Mitarbeiter/innen zurück, die in irgendeiner Weise mit
der Thematik konfrontiert worden sind und/ oder die sich in der pädagogischen Verantwortung fühlen, in ihrer Einrichtung Notfallkonzepte und präventive Maßnahmen zu etablieren.
Eine andere Motivation kann die Erkenntnis auf Leitungsebene sein, dass Schutz vor und
Prävention von sexueller Gewalt zu einem umfassenden Qualitätsmanagement gehört.
In der Regel fanden diese Fachberatungen mit einem kleineren Kreis von Kolleg/innen
aus der Einrichtung statt. Sie verfolgten das Ziel, einen möglichst „Sicheren Ort“ für das
eigene Klientel zu schaffen. Vor diesem Hintergrund wurde reflektiert, welche Maßnahmen bspw. bereits zur Sensibilisierung und Enttabuisierung, zum Beschwerdemanagement und zur Partizipation der Kinder und Jugendlichen ergriffen wurden und wo es noch
Lücken gebe. Gemeinsam wurde geklärt, ob die Mitarbeiter/innen und die Einrichtung
insgesamt Standards zu diesen Fragen und eine bewusste Haltung zu den Bereichen „Sexualität“ und „Sexuelle Übergriffe“ transportieren. Verdeutlicht wurde, dass dann, wenn
etwa eine Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität tabuisiert wird und die eigene
Haltung unklar bleibt, an die Adresse der Jugendlichen die Botschaft transportiert wird:
Hier können Fragen, Ängste aber auch konkrete Übergriffe nicht verbalisiert werden.
In einem solchen Fall wurde gemeinsam mit den Beratungssuchenden überlegt, welche
Möglichkeiten es gebe, z. B. über Fortbildungen für eine Verbesserung der Situation zu
sorgen.
6.3.
NEBEN GRUNDLAGENVERMITTLUNG MÜSSEN FORTBILDUNGEN UND
FACHGESPRÄCHE SEHR FLEXIBEL AUF UNTERSCHIEDLICHE
ANLIEGEN REAGIEREN
Ein wesentliches Aufgabenfeld des WENDEPUNKT im Modellprojekt waren die Information
und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften verschiedener Arbeitsbereiche, die mit
sexueller Grenzverletzung konfrontiert sind oder sein könnten.
Folgende Erkenntnisse konnten gewonnen werden:
•
Fortbildungsinhalte hängen von den jeweiligen Bedürfnissen, Informationsständen
und Interessen der anfragenden Einrichtungen ab – aber auch von den Rahmenbedingungen, die zur Verfügung stehen.
•
Sexualität gehört immer noch zu den Themen, zu denen es in wenigen Einrichtungen eine offene Kommunikationskultur gibt. Sie wird ausgeblendet, negativ bewertet und tabuisiert. (Dieser Sachverhalt ist deshalb vor allem bemerkenswert,
weil dieser Bereich für Kinder und insbesondere für Jugendliche von großer Bedeutung ist.) Es fehlt an Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich Sexualpädagogik. Damit fehlt eine Grundlage, um auch sexuelle Grenzverletzungen thematisieren zu können.
•
Generell ist festzustellen, dass die Sensibilität dem Problem der sexuellen Gewalt
gegenüber und die Handlungskompetenzen im Umgang mit Verdachtsmomenten
in vielen Einrichtungen noch erweitert werden müssen.
Abschlussbericht
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•
Häufig gibt es keine Ansätze zum Umgang mit sexuellen Übergriffen innerhalb einer Einrichtung; Konzepte für Interventionen und zur Prävention sexueller Übergriffe fehlen.
•
Es bestehen erhebliche Informationsdefizite zum Beispiel zu folgenden Fragen
6.3.1.
o
Formen sexueller Delinquenz Minderjähriger
o
Bewertung sexuell auffälligen Verhaltens: Wo fängt übergriffiges Verhalten
an, bis wohin sind sexuelle Handlungen tolerierbar? Wer entscheidet diese
Frage?
o
Tätertypen und Täterstrategien
o
Grundzüge und Rahmenbedingungen „Deliktorientierter Arbeit“ mit sexuell
grenzverletzenden Minderjährigen
o
Sekundärpräventive Ansätze
Fortbildungsanlässe und Zielgruppen
Fortbildungen zum Thema „Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten“ wurden vor
unterschiedlichen Hintergründen angefragt und von unterschiedlichen Zielgruppen in
Anspruch genommen.
Fortbildungsanlässe
•
Es hat einen Verdachtsfall oder auch einen Vorfall in einer Einrichtung gegeben,
der große Verunsicherung ausgelöst hat.
Anmerkung: Vor diesem Hintergrund werden die weitaus meisten Fortbildungswünsche an uns herangetragen.
•
Die Berichterstattung in den Medien – in aller Regel zu einem Aufsehen erregenden Vorfall – wirft Fragen zum Umgang mit dem Thema auf.
•
Es findet eine einrichtungsweite Debatte zur Qualitätsentwicklung statt, in deren
Zusammenhang auch Standards zum Umgang mit unserer Thematik entwickelt
werden sollen.
•
(Leitende) Mitarbeiter/innen wollen sich intensiv mit der Frage beschäftigen,
wie sie einen „Sichern Ort“ für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen
schaffen können.
•
Pädagogische Fachkräfte wollen mehr über Tätertypologien und –strategien erfahren, um frühzeitig und kompetent auf Hinweise reagieren zu können.
•
Fortbildungen werden (regelmäßig) offen ausgeschrieben und können von einem
heterogen zusammengesetzten Publikum gebucht und besucht werden. (s. die in
Kooperation mit der Opferberatungsstelle Allerleirauh regelmäßig angebotene und
auf großen Zuspruch stoßende Fortbildung „Sie hatte doch einen kurzen Rock an
und wollte das auch so“ oder das bereits mehrfach angebotene Seminar im Rahmen der Sommeruni).
Zielgruppen für Fortbildungen im Modellkontext waren in aller Regel Professionelle.
Abschlussbericht
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Zielgruppen
•
Lehrkräfte
•
Mitarbeiter/innen aus (stationären) Jugendhilfeeinrichtungen
•
Mitarbeiter/innen aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe
•
Mitarbeiter/innen aus psychosozialen Beratungsstellen
Die folgende Zielgruppe wurde zwar angesprochen, unser Angebot fand jedoch weniger
Resonanz, als wir gehofft hatten:
•
Mitarbeiter/innen aus der offenen Jugendarbeit
Noch nicht gezielt angesprochen haben wir bspw.
•
(Ehrenamtliche) Mitarbeiter/innen aus der verbandlichen Jugendarbeit.
Die jeweiligen Fortbildungsinhalte können dem folgenden Abschnitt entnommen werden.
Abschlussbericht
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6.3.2. Fortbildungskonzepte
Fortbildungstyp 1 (eintägig)
„Sie hatte doch einen kurzen Rock an und wollte das so!“
Diese Veranstaltung wurde gemeinsam mit der Beratungsstelle Allerleirauh konzipiert
und regelmäßig während des Modellprojektes in Kooperation mit Kolleginnen dieser Beratungsstelle durchgeführt. Besonderheit dieser Fortbildung ist es, dass gleichzeitig die
Perspektive von „Opfer-“ und „Täterseite“ aufgezeigt wird. Die Fortbildung richtet sich an
Fachkräfte und Multiplikator/innen aus den Bereichen Schule und Jugendhilfe. Sie soll
dabei unterstützen, die erarbeiteten Inhalte in den jeweiligen Einrichtungen umsetzen.
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
9:00
Vorstellen der Inhalte und des
Ablaufes
Soziometrie/ Ab
durch die Mitte
(thematisch langsam
steigern)
alle
Kennenlernen
Hilfsmittel
Heranführen an die Thematiken
Sexualität und sexuelle Übergriffe
9:20
Klärung, welche Erwartungen es
in der Gruppe an die Fortbildung
gibt
Vorstellungsrunde
plus eigene Erwartungen
alle
9:40
Abfragen von Bildern und Meinungen zum Thema Sexualität
und sexueller Übergriffigkeit
„Thesenampel“ zu
Sexualität und sexuellen Übergriffen
alle
10:00
Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendliche aus der
Perspektive der Betroffenen
Vortrag und Diskussion
alle
Notebook und
Beamer, Powerpoint Präsentation
Input:
Flipchart
• Definitionen
• Unterscheidung kindliche und
erwachsene Sexualität
• Rechtliche Grundlagen
• Besondere Situation für die
Opfer jugendlicher Täter
• Arbeit einer Beratungsstelle
für Opfer sexueller Gewalt
10:45
PAUSE
11:00
Warm-up
Hennenrennen
alle
Stofftiere
11.10
Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen aus der
Perspektive der sexuell grenzverletzenden Minderjährigen
Vortrag und Diskussion
alle
Notebook und
Beamer, Powerpoint Präsentation
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
69
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
Input:
• Minderjährige Täter
• Tatverhalten
• Täterstrategien
12:30
MITTAGSPAUSE
13:30
Warm-up
Klatsch Spiel
alle
13:40
Aufzeigen von möglichen Handlungsoptionen und präventiven
Maßnahmen in Schulen und
Jugendhilfeeinrichtungen
Vortrag und Diskussion
alle
Notebook und
Beamer, Powerpoint Präsentation
Anhand eigener oder fiktiver
Fälle werden Fortbildungsinhalte
auf die eigene Praxis übertragen
Die Ergebnisse werden festgehalten
Fallarbeit in vier
Gruppen
Kleingruppen
vorbereitete
Fallvignetten
Flipchart Bögen und Stifte
15:50
Präsentation der Kleingruppenergebnisse
Diskussion
alle
16.30
Feedback und Ausblick
Abschlussrunde
Input:
• Interventionsmöglichkeiten
• Vorstellung eines Handlungsleitfadens
14:50
Plenum
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
70
Fortbildungstyp 2: (vierstündig)
Umgang mit sexuellen Übergriffen in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe
In dieses Fortbildungskonzept fließt die Erfahrung ein, dass der Bedarf nach Fortbildung
in Wohngruppen fast immer direkte Folge von sexuellen Übergriffen in der Einrichtung
ist. Deshalb wird versucht, dem Aufarbeiten und der Reflexion der gemachten Erfahrungen Raum zu geben.
Oftmals fehlen den Einrichtungen allerdings die zeitlichen Ressourcen, sich so ausführlich
mit dem Thema zu beschäftigen, wie dies aus Sicht der Prävention weiterer Übergriffe
wünschenswert wäre. Aus diesem Grund beschränkt sich das Konzept zeitlich auf einen
Vormittag, verbunden mit der ausdrücklichen Option, später einzelne Aspekte zu vertiefen. Fortbildungsangebote, die sich zeitlich versetzt anschließen können, finden sich bei
den Vertiefungsmodulen.
Zeit
Ziel
09:00
Begrüßung
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
alle
Programm auf
Flipchart
Vorstellung der Teamer und
des Programmablaufes
09:20
Einstieg in das Thema „Sexualität“ und spielerische Auseinandersetzung z.B. mit den
folgenden Fragen:
•
Wie geht es mir angesichts
der Auseinandersetzung
mit diesem Thema?
•
Wer arbeitet zusammen?
•
Ist Sexualität ein Thema in
Wohngruppe? (oft/gar
nicht)
•
Wie wird mit diesem Thema umgegangen?
•
Wie gehe ich persönlich mit
dem Thema um?
Spiel „Ab durch die
Mitte“
alle
09:30
Erwartungen der TN abklären
Abfrage
alle
Flipchart
09:45
Erste Begriffsklärungen:
Abfrage auf Karteikarten
einzeln
Karteikarten
•
Was sind sexuelle Übergriffe für mich? Wo fangen sie
an?
•
Welche Bilder habe ich
dazu in meinem Kopf?
•
Welche Gefahren sehe ich?
(Bagatellisierung und
Skandalisierung von sexuellen Grenzverletzungen
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
71
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
09:55
Input
Vortrag
alle
Beamer, Laptop,
Powerpoint Präsentation
Diskussion und
Reflexion
Kleingruppen
Flipchart-Bögen,
Stiftes
•
Definitionen
•
Reaktionen auf sexuelle
Übergriffe
10:25
Pause
10:45
Erfahrungen aus dem Gruppenalltag bearbeiten und auswerten
•
Bewertung des sexuell
auffälligen Verhaltens
•
Bewertung der bisherigen
Reaktionen in der Einrichtung
•
Bewertung der Kooperationserfahrungen
11:15
Vorstellung der einzelnen Fälle
im Plenum
Präsentation
alle
11:40
Input:
Vorstellung eines Handlungsleitfaden
alle
•
Mögliche angemessene
Handlungs- und Interventionsoptionen aufzeigen
12:10
Feedback zur Fortbildung
Was fehlt… ?
alle
12:20
Abschluss
Abschlussrunde
alle
Beamer, Laptop,
Powerpoint Präsentation
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
72
Fortbildungstyp 3 (eintägig)
Umgang mit sexuellen Übergriffen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe
Aufgrund der steigenden Anfrage aus dem Bereich der Behindertenhilfe, wurde das Konzept für Einrichtungen der stationären Jugendhilfe modifiziert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass kognitiv beeinträchtigte Kinder und Jugendliche vergleichbares Interesse und ebenso eine vergleichbare, wenngleich auch oft ein wenig verzögerte, psychosexuelle Entwicklung haben wie andere Kinder und Jugendliche. Der Unterschied liegt eher im Blick und der Bewertung des Umfeldes hinsichtlich ihrer ersten
sexuellen Entwicklungsschritte. Andere Fragen stellen sich im Hinblick auf selbstverantwortliche Verhütung oder auf den Wunsch, eigene Kinder zu bekommen und damit Eltern
zu werden.
Zeit
Ziel
09:00
Begrüßung
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
alle
Programm auf
Flipchart
Vorstellung der Teamer und
des Programmablaufes
09:20
Einstieg in das Thema Sexualität und spielerische Auseinandersetzung z.B. mit den folgenden Fragen:
•
Wie geht es mir angesichts
der Auseinandersetzung
mit diesem Thema?
•
Wer arbeitet zusammen?
•
Ist Sexualität ein Thema in
Wohngruppe/Einrichtung?
(oft/gar nicht)
•
Wie wird mit diesem Thema
umgegangen?
•
Gibt es Unterschiede zu
Einrichtungen der ambulanten Jugendhilfe?
•
Wie gehe ich persönlich mit
dem Thema um?
Spiel „Ab durch die
Mitte“
alle
Soziometrische Übung
09:35
Erwartungen der TN abklären
Abfrage
alle
Flipchart
09:50
Erste Begriffsklärungen:
Abfrage auf Karteikarten
einzeln
Karteikarten
•
Was sind sexuelle Übergriffe für mich? Wo fangen sie
an?
•
Welche Bilder habe ich
dazu in meinem Kopf?
•
Welche Gefahren sehe ich?
(Bagatellisierung und
Skandalisierung von sexuellen Grenzverletzungen
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
73
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
Vortrag
alle
Beamer, Laptop, Powerpoint Präsentation
– besonders bei kognitiv
Beeinträchtigten)
10:00
Input
•
Definitionen
•
Reaktionen auf sexuelle
Übergriffe
10:25
Pause
10:40
Warm Up
Spiel „Hennenrennen“
alle
Zwei Kuscheltiere
10:50
Auseinandersetzung mit folgenden Fragen:
Murmelgruppen
wechselnde
Kleingruppen
Flipchart und
Stifte
Präsentation und Diskussion
Plenum
•
Sexualität und Behinderung: Wie ist die Haltung
der Einrichtung dazu?
•
Ist es ok, wenn geistig
Behinderte Sexualität leben
wie alle anderen?
•
An welchen Punkten gibt es
Auseinandersetzungs- und
ggf. Handlungsbedarf?
11:35
Austausch
12:15
Mittagspause
13:15
Warm Up und Methodenvorstellung
Grabbelsack
Grabbelsack
13:30
Input
Gespräch
Vorbereitete
Fallvignetten
Kognitiv beeinträchtigte Jugendliche als „Täter“
14:15
Erfahrungen aus dem Gruppenalltag bearbeiten und auswerten
•
Bewertung des sexuell auffälligen Verhaltens
•
Bewertung der bisherigen
Reaktionen in der Einrichtung
Diskussion
Kleingruppen
Präsentation und Diskussion
alle
Spiel „Obstsalat“
alle
Bewertung der Kooperationserfahrungen
14:45
Vorstellung der einzelnen Fälle
im Plenum
15:00
PAUSE
15:15
Warm Up
Flipchartbögen,
Stifte
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
74
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
15:25
Input:
Vorstellung eines Handlungsleitfaden
alle
Beamer, Laptop, Powerpoint
Präsentation
Mögliche angemessene Handlungs- und Interventionsoptionen aufzeigen
15:55
Übertragung des Handlungsleitfadens auf die eigene Einrichtung
Kleingruppenarbeit,
danach Kurzvorstellung
im Plenum
Kleingruppe
16:30
Feedback und Abschluss
Was fehlt…?
alle
vorbereiteter
Bogen
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
75
Fortbildungstyp 4 (eintägig)
Sommeruni, Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen
Teil 1 14:00 – 17:30 Uhr
Die „Sommeruni“ - Veranstaltungen richten sich an Studierende aus den Fachbereichen
Psychologie und Pädagogik. Ziel ist es, ihnen verschiedene Praxisbereiche vorstellen zu
können. Der WENDEPUNKT beteiligt sich daran, weil erfahrungsgemäß Sexualität und sexuelle Übergriffe als Themenfelder in den Studiengängen kaum auftauchen und sich über
diese Veranstaltungen z. B. die Möglichkeit ergibt, Studierende dabei zu unterstützen
sich dieser Thematik auch in ihren späteren Arbeitsfeldern zu stellen.
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
14:00
Vorstellen Referent, Arbeit
des WENDEPUNKT und des
Fortbildungsablaufes
Vortrag
alle
Powerpoint
Präsentation
14.10
Vorstellungs-/ Erwartungsrunde
Soziometrie:
alle
Flipchart
alle
Fragen /
Klangschale
•
14:30
14:50
Mit welcher Motivation
sind die Teilnehmer/innen in die Fortbildung gekommen und
welche Erfahrungen haben sie?
Input und Anleitung zur
Selbstreflexion
•
Das Thema Sexualität
in der Arbeit mit Jugendlichen
•
TN sollen einen eigenen
Eindruck davon gewinnen, wie schwierig es
gerade für Jugendliche
ist, über das Thema
Sexualität zu kommunizieren.
•
Reflexion der eigenen
Erfahrungen in der Adoleszenz
•
Haltung zum Thema
Sexualität entwickeln
Erfahrungsaustausch „Reden über Sexualität ist nicht
einfach, macht vielleicht
Angst und verunsichert“
Übertragung auf Kinder und
Jugendliche
Vortrag
Selbstreflexion
Sexpuzzle/ Fragen
beantworten
Erfahrungsaustausch
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
76
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
15:20
Erste Begriffsklärungen:
Murmelgruppen:
Kleingruppen mit
unterschiedlichen
Teilnehmer/innen
Powerpoint
Präsentation
•
Unterscheidung Kindliche Sexualität/ Erwachsene Sexualität
•
Was sind sexuelle
Übergriffe für mich? Wo
fangen sie an?
•
Welche Bilder habe ich
dazu in meinem Kopf?
•
Welche Gefahren sehe
ich? (Bagatellisierung
und Skandalisierung
von sexuellen Grenzverletzungen – besonders bei kognitiv Beeinträchtigten)
alle
16:05
PAUSE
16:20
Warm Up
Spiel: Rotes Sofa
alle
16:20
Input
Vortrag und Diskussion
alle
Powerpoint
Präsentation
alle
Karteikarten
17:05
•
Minderjährige Täter
•
Tatverhalten
•
Täterstrategien
•
Sexuelle Übergriffe
unter Kindern und Jugendlichen aus der
Perspektive der sexuell
grenzverletzenden Minderjährigen
Nachfragen, Feedback,
Wünsche an den zweiten
Teil der Fortbildung
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
77
Teil 2
09:00 – 14:00 Uhr
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
09:00
Warm Up
Spiel „Ab durch die Mitte“
alle
09:15
•
Befindlichkeit
•
Reste von Gestern
Input
•
O9:30
Konkrete Arbeitsansätze mit sexuell
grenzverletzenden
Minderjährigen darstellen
Vorstellung Hamburger
Modellprojekt für sexuell
auffällige Minderjährige
Input
Abfrage
•
Antworten auf dem Boden
oder einer Stelltafel sortieren
Wer sind die Täter?
Gesellschaftlich und
medial geprägte Bilder
10:20
PAUSE
10:35
Warm Up
Spiel „Klatschen weitergeben“
10:40
Vorstellen der Spezifika
deliktspezifischer Täterarbeit
Konzeptpräsentation,
Vortrag
•
Vergleich zu klassischen psychotherapeutischen und pädagogischen Ansätzen
•
Direktiver Rahmen
•
Extrinsische Motivation
11:20
Pause
11:30
Input:
•
12:15
13:20
Powerpoint
Präsentation
Einzelarbeit
Offene Fragen Feedback
Karteikarten,
Stifte
Powerpoint
Präsentation
Powerpoint
Präsentation
Power Point
Präsentation
Standards zum Umgang mit sexuellen
Grenzverletzungen
Übertragen der Fortbildungsinhalte auf Situationen aus der eigenen Praxis
Hilfsmittel
Kleingruppengespräche
Murmelgruppen
Kurzes Feedback zu Arbeitsergebnissen
Plenum
alle
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
78
Vertiefungsmodule zu der Fortbildung: Umgang mit sexuellen Übergriffen in
stationären Jugendhilfe Einrichtungen (jeweils 4 stündig)
Modul 1
Sexualpädagogische Grundlagen
•
•
•
Über Sexualität reden können und dürfen, Blick auf die eigene Biographie,
familiäre und gesellschaftliche Prägungen
Die eigenen Grenzen und die Anderer wahrnehmen
Eine gemeinsame Sprache finden
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
09:00
Vorstellung Leitung
Vortrag
alle
Ablauf auf Flipchart
Gesamt-Fortbildung
Ablauf
09:10
Heranführung an das Thema Sexualität
Soziometrie als Einstieg
alle
Fragenliste
09:40
Selbstreflexion zum Thema
Fragen
Eigene biographische Entwicklung
•
in konzentrischen Kreisen
wechselnde
Zweierpaare
vorbereitete Fragenliste
•
in Kleingruppen
zu Werten und
Normen
10:20
PAUSE
10:35
Eigene Grenzen und Widerstände zum Thema
erkennen
Klangschale mit
Fragen zur Sexualität
alle
Fragen laminiert,
Klangschale
11:00
Bedingungen klären und
Regeln vereinbaren zur
geschützten Kommunikation über Sexualität
Vorstellung der
Regeln
alle
Regeln laminiert
11:10
Auseinandersetzung mit
dem Thema „Sexualität
und Sprache“
Reflexion
einzeln, danach
alle
Ausreichend Karteikarten, Stifte,
Plakat/Flipchart,
Spezifische und gemeinsame Begriffe finden
Klebeband
Punktaufkleber
ggf. Theorie zur
Sprache als Papier
12:20
Begriffe in der Gruppe
ausprobieren
12:40
Abschlussrunde
Feedback für Heute und
Erwartungen an die nächste Veranstaltung
Spiel „Obstsalat“ mit
Begriffen aus der
Sexualität
alle
alle
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
79
Modul 2
Sexualpädagogische Grundlagen
•
•
Geschlechterverhältnisse; Konstruktion von weiblicher und männlicher
Identität in der Adoleszenz
Methodische Grundlagen
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
09:00
Rückbesinnung auf die
letzte Fortbildung: Reflexion auf die eig. Biographie,
Sexualität und Sprache…
Raumbewegung Marktplatzspiel
alle
09:15
Sexualpädagogische Methoden kennen lernen zur
Auseinandersetzung mit
den Bereichen „Porno,
Geschlecht, Aufklärung,
Verhütung…“
Grabbelsack
alle
Grabbelsack
gefüllt mit
Gegenständen,
die sexuelle
Konnotationen haben
könnten, Flipchart
Flipchart
Vertiefungsbedarfe klären
Hilfsmittel
10:30
Pause
10:45.
Warm Up
Spiel „Hennenrennen“
alle
2 Stofftiere
10:55
Thema sexuelle Identität:
Einzelarbeit: Weil ich ein
Junge/ Mädchen bin kann/
muss/ darf ich
einzeln,
dann geschlechtsho
mogene
Kleingruppen
Arbeitszettel
Erarbeiten von Fragen an
das andere Geschlecht,
evtl. Kaffeepause anschließend
Kleingruppen
Fishbowl: zwei geschlechtshomogene Stuhlkreise tauschen Fragen an
das jeweils andere Geschlecht aus
alle
Austausch in geschlechtshomogenen Gruppen,
11:10
12:00
Kommunikationsmöglichkeiten und –grenzen zwischen den Geschlechtern
Offene Fragen aus den
beiden sex päd Fortbildungen klären
Feedback
12:30
Eigene Fragen und Anliegen
Flipchart
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
80
Modul 3
Täter, Taten, Strategien
•
•
•
•
•
Allgemeine Informationen zu sexueller Übergriffigkeit
Erleben von sexuellen Grenzverletzungen im Gruppenalltag
Tätertypen, Täterstrategien, Täterbiographien
„Wahrnehmungsschulung“ Was ist übergriffig?
Wie sind Eskalationen frühzeitig zu erkennen?
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
09:00
Rückbesinnung auf die
letzte Fortbildung: Reflexion auf die eig. Biographie,
Sexualität und Sprache…
Raumbewegung Marktplatzspiel
alle
09:15
Gruppendynamischen Prozess begleiten
Lügenportrait ausfüllen und
Autor/innen erraten
09:30
Vorstellung des Ablaufes
09:45
Input
Lügenportrait
Zettel
Vortrag
Powerpoint
Präsentation
Informationen über jugendliche sexuelle Grenzverletzter
10:30
Pause
10:45
Fortsetzung zu Input
Hilfsmittel
alle
Fragen klären
11:10
Input
alle
Prävention sexueller Gewalt in der Einrichtung:
Welche Komponenten gehören dazu?
11:50
Pause
12:00
Klären offener Fragen aus
den letzten Fortbildungen
alle
12:30
Eigene Fragen und Anliegen/ Literaturvorstellung
alle
Powerpoint
Präsentation
Literaturliste
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
81
Modul 4
Deliktorientierte Täterarbeit
•
•
•
•
Besonderheiten des deliktorientierten Therapiekonzeptes
Rückfallprophylaxe und andere Therapieangebote: Grundlagen, Unterscheidungen
Übergriffe geschehen in der Regel nicht spontan
Täter–Opfer Verhältnis
Diese Fortbildung kann evtl. als Vorbereitung auf das Modul 5 fungieren. Einrichtungen,
die sich dafür entscheiden, mit „Tätern“ in ihren Wohngruppen zu arbeiten, erhalten die
Möglichkeit, die Besonderheiten der deliktorientierten Tätertherapie kennenzulernen. Dies
ist deshalb wichtig, weil für die Mitarbeit der Klienten in der Ambulanten Rückfallprophylaxe Unterstützung durch das soziale Umfeld erforderlich ist.
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
Gruppenform
09:00
Ankommen und Rückbesinnung
auf die letzte Fortbildung:
Raumbewegung
alle
09:15
Lockerungsübung
Bewegungsspiel
alle
09:20
Vorstellung des Konzeptes Ambulante Rückfallprophylaxe
Vortrag mit Diskussion
alle
09:50
Vorstellung von Diagnostikmethoden
Vortrag und Übung
Powerpoint Präsentation und z.
B. ERASOR Fragebögen
10:15
Einblicke in die Tätertherapie:
Vortrag mit Diskussion
Powerpoint Präsentation
•
Was ist ein Deliktkreislauf?
•
Ein sexueller Übergriff hat
immer eine Vor- und Nachgeschichte
10:30
PAUSE
10:45
Deliktkreisläufe werden auf
konkrete Fälle angewandt
Fälle sammeln und
einen Kreislauf dokumentieren
Kleingruppen
11:30
Im Plenum werden die Arbeitsergebnisse aus den Kleingruppen vorgestellt
Fälle vorstellen
alle
12:00
Welche anderen Angebote gibt
es für sexuelle Grenzverletzter
Fallbeispiele vorstellen
alle
12:30
Offene Fragen Feedback
alle
Hilfsmittel
Powerpoint Präsentation
Flipchartbögen
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
82
Modul 5
Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugendliche in der Wohngruppe
•
Speziell für Wohngruppen, die sich dafür entscheiden, die sexuell grenzverletzenden Kinder oder Jugendlichen in der Einrichtung zu lassen und sich dem Thema zu
stellen, während gleichzeitig eine ambulante Therapie außerhalb stattfindet
Zeit
Ziel
09:00
Vorstellung des Ablaufs
09:10
Ankommen und ggf.
Rückbesinnung auf die
letzte Fortbildung
Raumbewegung
alle
09:15
Das Team/ die Teams
überprüfen ihre Haltung
zum Fortbildungsthema
überprüfen
Thesenbarometer:
alle
09:45
Kontroverse Themen moderiert weiterdiskutieren
Plenumsdiskussion
10:30.
Pause
10:45
Warm Up
Schlangenspiel
10:55
Zusammenarbeit mit
externen Tätertherapeuten:
Reflexion
Kleingruppen
Karteikarten
Diskussion
und anschließend
Plenum
Flipchart
12:30
•
Erwartungen
•
Anliegen
•
Befürchtungen
•
Bedingungen für gelingende Zusammenarbeit
Reste und Rückmeldung
Arbeitstechnik
Gruppenform
Hilfsmittel
alle
Flipchart
Thesenpapier, Themen
auf der Flipchart festhalten
vorbereitete
Thesen zum
Thema sexuell
Übergriffige in
der Wohngruppe
alle
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
83
Modul 6
Krisenintervention
•
•
Was tun bei akuten Übergriffen?
Handlungsleitfäden und Verhaltensrichtlinien
Zeit
Ziel
Arbeitstechnik
09:00
Einstimmung und Rückbesinnung auf die letzte Fortbildung
Raumbewegung
9:20
Eingangsrunde
Themen auf der Flipchart
festhalten
Offene Fragen
09:35
Komplexe Dynamik nach
sexuellen Übergriffen soll
mithilfe eines Planspieles
aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden
Planspiel I
Rollenzettel verteilen, Gruppen instruieren
Gruppenform
Flipchart
Gruppen
bilden
vorbereitete
Rollenzettel
Ball
10:30.
Pause
10:45
Warm Up
Ballweitergeben
alle
10:55
Auseinandersetzung mit den
unterschiedlichen Akteuren
und deren Interessen
Planspiel II
alle
11:20
Auswertung des Planspieles
Diskussion
11:40
Pause
11:50
Input:
12:30
•
Handlungsleitfaden vorstellen
•
Reaktion auf sexuelle
Übergriffe
Feedback und Abschluss
Hilfsmittel
Runder Tisch/ Podiumsdiskussion: Umgang mit sexuellen Übergriffen in Neustadt
alle
Vortrag
Powerpoint
Präsentation
alle
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
84
6.3.3. Auswertung und Rückmeldungen
Die durch den WENDEPUNKT durchgeführten Fortbildungen werden am Ende mit einem
kurzen, selbsterstellten Fragebogen evaluiert, wenn Zielsetzung und Zusammensetzung
der Veranstaltung dies sinnvoll und angemessen erscheinen lässt. Abgefragt werden die
Zufriedenheit mit
•
den Inhalten der Veranstaltung
•
der Methodik
•
der inhaltlichen Kompetenz der Teamer/innen
•
und deren didaktischen Fähigkeiten.
Die Teilnehmenden haben bei diesen Fragen jeweils die Möglichkeit, sich zwischen fünf
Stufen von eins (sehr zufrieden) bis fünf (überhaupt nicht zufrieden) zu entscheiden.
Weiterhin wird abgefragt, welche Inhalte als besonders wichtig empfunden werden, welche Themen fehlten und was darüber hinaus als Kommentar zu der Veranstaltung gesagt
werden kann.
Insgesamt wurden im Modellzeitraum 51 Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt und
darüber etwa 1.300 Personen erreicht. 27 dieser Veranstaltungen wurden evaluiert, wir
konnten einen Rücklauf von mehr als 410 Fragebögen verzeichnen, dies entspricht einer
Rücklaufquote von knapp 77 Prozent.
Je nach Veranstaltung machten 75 – 100% der Teilnehmer und Teilnehmerinnen deutlich, dass sie mit Inhalten und Methodik der Fortbildungen „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ waren. Ähnliches gilt für die Bewertung der Leitung der Fortbildung.
Insbesondere in solchen Veranstaltungen, die einen hohen theoretischen Inputanteil haben, wurde von den Teilnehmenden mehr Einblick in die Praxis und Praxisbeispiele eingefordert. Dieser Wunsch ist nachvollziehbar, lässt sich jedoch dann nur schwer umsetzen,
wenn gleichzeitig die Erwartung geäußert wird, in kurzer Zeit möglichst viele Themen zu
bearbeiten.
Interessanterweise wiesen Veranstaltungen, die einen stärker sexualpädagogischen
Schwerpunkt legten, durchschnittlich etwas bessere Bewertungen auf als solche Fortbildungen, die ganz eindeutig den Schwerpunkt auf das Problem der „Sexuellen Übergriffe“
legten. Dennoch wurde häufig angemerkt, dass gerade die Informationen zu Tätertypen
und -strategien neu und für die Teilnehmenden sehr bedeutsam waren. Die Teilnehmenden selbst wiesen zum einen darauf hin, dass die „Schwere“ des Themas z. T. auch in
das Feed Back zur Fortbildung eingeflossen sei. Zum anderen reflektierten sie, dass sich
in sexualpädagogischen Seminaren Fortbildungserfolge relativ schnell und leicht ein stellten und entsprechend zu einer besonders positiven Bewertung führten: Die Teilnehmenden erfahren bspw. sehr direkt, dass unter bestimmten Bedingungen und unter Einhaltung von nachvollziehbaren Regeln eine Kommunikation und Auseinandersetzung über
Sexualität möglich und nicht beschämend ist.
Die Veranstaltungen, die gemeinsam mit dem Hamburger Träger Allerleirauh durchgeführt wurden, sind von dieser Einrichtung evaluiert worden. In diesen Rückmeldungen
fällt auf, dass besonders die Tatsache, parallel die „Opfer-“ und die „Täter-“ Perspektive
aufgezeigt zu bekommen, als einzigartig und positiv bewertet wurde.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
85
6.4.
STANDARDS ZUM UMGANG MIT SEXUELLEN GRENZVERLETZUNGEN
MÜSSEN ERARBEITET WERDEN
6.4.1. Leitfaden Schulbehörde
Gemeinsam mit der Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde), Vertreterinnen von NEXUS wurde für die Hamburger Schulen eine Handlungsanweisung entwickelt. Sie liegt in gedruckter Form vor und ist in unserer Geschäftsstelle
bzw. der der Beratungsstelle Gewaltprävention abrufbar
Als Ausdruck ist sie auch dem Anhang (A1) zu entnehmen.
6.4.2. Grundlegende Empfehlungen zum Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen und Übergriffen durch Kinder und Jugendliche in Einrichtungen
Grenzverletzungen wahrnehmen
Achten Sie auf den Umgang der Mädchen und Jungen untereinander in Bezug auf Sexualität (Sprache, Gesten, Verhalten ....), und nehmen Sie insbesondere Grenzverletzungen
wahr.
Grenzverletzungen und Übergriffe ernst nehmen
Als Orientierung zur Frage: ‚Wo beginnen Übergriffe? dient in der konkreten Situation
eingangs vor allem Ihre eigene Wahrnehmung und Ihr eigenes Empfinden. Gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche sind in ihrem Grenzempfinden häufig gestört, so dass sie
Übergriffe teilweise nicht als solche wahrnehmen können und dafür auf die Rückmeldung
von Unbeteiligten im Außen angewiesen sind.
Bei Übergriffen intervenieren
Unterbrechen Sie die übergriffigen Handlungen. Sagen Sie, was Sie gesehen haben und
weshalb Sie eingreifen. Beziehen Sie Stellung, zeigen Sie Grenzen auf, sagen Sie deutlich, worin die Grenzverletzung oder der Übergriff bestanden hat und warum diese Handlung so nicht in Ordnung war. Bieten Sie den Beteiligten ein (getrenntes) Gespräch an.
Zeigen Sie dem übergriffigen Kind/Jugendlichen Konsequenzen auf, die im Wiederholungsfall eintreten würden. Bieten Sie dem Opfer Unterstützung dabei an, sich weitere
Hilfen zu holen, vermeiden Sie hierbei Schuldzuweisungen in Richtung des Opfers („Warum erzählst du das denn erst jetzt? Du hast ihn aber auch provoziert“).
Sexuelle Grenzverletzungen und Übergriffe benennen
Sprechen Sie die Übergriffe gezielt und so konkret wie möglich mit den Beteiligten an.
Beispielsweise könnten Sie folgende Formulierung benutzen: „Ich habe gesehen/ gehört,
dass du... gemacht hast. (...) Wenn das Mädchen / der Junge das nicht will, ist das nicht
o.k., auch wenn er/ sie das in dem Moment nicht gesagt hat oder nicht sagen konnte.“
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
86
Vorfall thematisieren
Machen Sie den Vorfall in der Gruppe/Klasse direkt zum Thema. Beispiel: „Heute hat ein
Junge einem Mädchen an die Brust/zwischen die Beine gefasst. Ich möchte hier nicht
diesen Vorfall besprechen, das habe ich mit den beiden getan. Ich möchte mit euch über
Grenzen und Grenzverletzungen sprechen, und darüber, wie man erkennt, wo die eigenen Grenzen sind, und wie man sich gegen deren Verletzung wehren kann.“ Beziehen Sie
dabei Position. Machen Sie deutlich, warum sexuell übergriffiges Verhalten nicht in Ordnung ist, welche Folgen es für das Opfer mit sich bringen kann und dass Sie so etwas
nicht dulden werden.
Kontrollieren
Kontrollieren Sie, dass es nicht zu weiteren Übergriffen kommt. Ermutigen Sie die Mädchen und Jungen, Ihnen von etwaigen Übergriffen zu berichten, damit Sie ggf. intervenieren können.
Bei wiederholten oder schwerwiegenderen Übergriffen: Fachberatung/Prüfen
einer Strafanzeige
Informieren Sie sich, wenn Sie unsicher sind in Bezug auf das weitere Vorgehen, bei einer Beratungsstelle (WENDEPUNKT). Eine Information der Eltern kann kontraproduktiv sein,
wenn der übergriffige Junge selber (sexuelle) Gewalt im familiären Nahbereich erlebt.
Über eine Einbeziehung der Eltern und den geeigneten Zeitpunkt muss im Einzelfall entschieden werden.
Bei wiederholten oder schwerwiegenden Übergriffen: Delegieren
Überweisen Sie die weitere Hilfeplanung an eine kompetente Beratungsstelle. Es liegt
nicht in Ihrer Verantwortung, tiefer liegende Aspekte (weder bei Opfer noch bei Täter)
aufzuarbeiten. Wenn möglich, stellen Sie sich weiterhin als Kontaktperson zur Verfügung.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
87
6.4.3.
Leitfragenkatalog zum professionellen Umgang mit sexuellen Übergriffen durch Minderjährige in Einrichtungen, die direkt mit Kindern und Jugendlichen arbeiten
(Kindertageseinrichtungen, Schule, Bildungseinrichtungen, ambulante und
stationäre Jugendhilfeeinrichtungen sowie Jugendfreizeitstätten, u.a.m.)
Folgende Leitfragen sollen Ihnen als Mitarbeiter/innen einer Institution dazu dienen, wesentliche Aspekte im Umgang mit Fällen, in denen es einen sexuellen Übergriff durch ein
Kind oder einen Jugendlichen in Ihrer Einrichtung gegeben hat, zu berücksichtigen. Dieser Fragenkatalog will Sie somit unterstützen, fachlich angemessen handeln zu können.
Versuchen Sie, bei solchen sexuellen Übergriffen im Team Antworten auf jede einzelne
Frage zu finden und verteilen Sie die sich daraus ergebenen Aufgaben untereinander, so
dass niemand unter Ihnen über die Maßen mit dem Fall belastet und allein gelassen wird.
Im folgenden Fragenkatalog werden die Ausdrücke Opfer und Täter verwendet, wohl wissend, dass es sich häufig erst einmal um einen Übergriffsverdacht handelt, und dass diese Begriffe im Bereich von leichten sexuellen Grenzverletzungen, die ausschließlich durch
fehlgeschlagenes Ausprobierverhalten zu erklären sind, unangemessen sind.
Dennoch haben wir uns hier für diese Begrifflichkeit entschieden, da scheinbar leichte
sexuelle Übergriffe nicht selten Ausdruck von massiver sexualisierter Gewalt- oder
Machtausübung sind.
Leitfragen
1. Wie ist der sexuelle Übergriff in der Institution bekannt geworden?
2. Wer hat darüber welche Information?
3. Wer spricht mit dem Opfer – wer spricht mit dem Täter?
4. Wie wird ein möglicher Rollenkonflikt: Beratung/Betreuung des Opfers und des Täters
vermieden?
5. Wer wird in der Einrichtung über den erfolgten sexuellen Übergriff informiert, inwieweit wird die Leitung mit einbezogen, in wessen Zuständigkeit liegt die Fallbearbeitung?
6. Was berichtet das Opfer über den Übergriff?
7. Ist es glaubwürdig, was und vor allem wie es über den Übergriff berichtet?
8. Wie steht der Täter zu den Tatvorwürfen – streitet er sie ab oder räumt er sie ein?
9. Welche Schutz- aber auch welche Gefährdungspotenziale für die Möglichkeit weiterer
Übergriffe liegen vor?
•
Ist der Missbrauch innerhalb der Einrichtung/der Familie offen gemacht worden
oder soll er möglichst verschwiegen/tabuisiert werden? Darf das Opfer über seine
Erfahrung reden oder unterliegt es erneut einem Schweigegebot?
•
Ist mit allen kindlichen und jugendlichen Mitgliedern der Einrichtung/Familie darüber gesprochen worden, wie sie sich ggf. gegen sexuelle Übergriffe wehren können, und an wen sie sich wenden können, wenn eine Gegenwehr erfolglos geblieben ist? Kennen sie die Strategien, die Täter anwenden, um Opfer zur Geheimhaltung zu bewegen oder sind sie diesen uninformiert und hilflos ausgeliefert?
•
Haben die Kinder und Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass sie über ihre Gefühle (wie Verwirrung, Angst, Scham) reden konnten, ohne dass diese in Frage
gestellt, uminterpretiert oder ins Lächerliche gezogen worden wären?
•
Ist die Haltung der Erwachsenen im Hinblick auf die Bewertung des sexuellen
Übergriffs eindeutig oder wird er bagatellisiert, uminterpretiert, ignoriert?
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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•
Erleben die nicht betroffenen Kinder und Jugendlichen, dass dem Opfer Unterstützung zuteil wird? Oder erleben sie Sprach- und Hilflosigkeit oder gar mangelnde
Empathie?
•
Kann eine räumliche Trennung zwischen Opfer und Täter ermöglicht werden?
•
Kann sichergestellt werden, dass der Täter keinen unbeaufsichtigten Kontakt zu
dem Opfer hat?
10. Wie wird der Schutz des Opfers vor weiteren Übergriffen, Bedrohungen, Einschüchterungen etc. (in der Einrichtung) konkret sichergestellt?
11. Wie werden weitere Übergriffe auf andere Kinder/Jugendliche konkret verhindert?
12. Wie wird Unterstützung für das übergriffige Kind / den Jugendlichen eingeleitet und
sichergestellt?
13. Bei welcher Art von sexuellen Grenzverletzungen interveniert die Einrichtung mit
internen Mitteln, ab wann werden externe Maßnahmen (z.B. Fachberatung) hinzugezogen?
14. Unter welchen Umständen wird eine Strafverfolgung in die Wege geleitet?
15. Was brauchen die KollegInnen und die Einrichtung zur Sensibilisierung für dieses
Thema und damit sie sexuelle Übergriffe durch Kinder und Jugendliche als solche
wahr- und ernst nehmen?
16. Wie verbindlich soll das besprochene Vorgehen in den Einrichtungen gehandhabt werden?
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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6.4.4. Leitfragenkatalog zum Umgang mit sexuellen Übergriffen durch Minderjährige für Institutionen, die beratend oder intervenierend mit Kindern
und Jugendlichen befasst sind (bspw. Jugendamt oder Beratungsstelle)
Folgende Leitfragen sollen Ihnen als Mitarbeiter/innen einer Institution, die beratend/
intervenierend mit Fällen von sexuellen Übergriffen durch ein Kind oder einen Jugendlichen zu tun hat, dazu dienen, wesentliche Aspekte im Umgang mit diesen Fällen zu berücksichtigen. Dieser Fragenkatalog will Sie somit unterstützen, fachlich angemessen
handeln zu können.
Im Folgenden werden die Ausdrücke Opfer und Täter verwendet, wohl wissend, dass es
sich häufig erst einmal um einen Übergriffsverdacht handelt, und dass diese Begriffe im
Bereich von leichten sexuellen Grenzverletzungen, die ausschließlich durch fehlgeschlagenes Ausprobierverhalten zu erklären sind, unangemessen sind.
Dennoch haben wir uns hier für diese Begrifflichkeit entschieden, da scheinbar leichte
sexuelle Übergriffe nicht selten Ausdruck von massiver sexualisierter Gewalt- oder
Machtausübung sind.
Leitfragen
1. Wie ist der sexuelle Übergriff bekannt geworden?
2. Wer hat darüber welche Information?
3. Wer spricht mit dem Opfer – wer spricht mit dem Täter?
4. Wie wird ein möglicher Rollenkonflikt: Beratung des Opfers und des Täters vermieden?
5. Was berichtet das Opfer über den Übergriff?
6. Ist es glaubwürdig, was und vor allem wie es über den Übergriff berichtet?
7. Wie kann im Zweifel die Glaubwürdigkeit des Opfers festgestellt werden – und durch
wen?
8. Wie steht der Täter zu den Tatvorwürfen – streitet er sie ab oder räumt er sie ein?
9. Welche Schutz- aber auch welche Gefährdungspotenziale für die Möglichkeit weiterer
Übergriffe liegen vor?
•
Ist der Missbrauch innerhalb der Einrichtung/der Familie offen gemacht worden
oder soll er möglichst verschwiegen/tabuisiert werden? Darf das Opfer über seine
Erfahrung reden oder unterliegt es erneut einem Schweigegebot?
•
Ist mit allen kindlichen und jugendlichen Mitgliedern der Einrichtung/Familie darüber gesprochen worden, wie sie sich ggf. gegen sexuelle Übergriffe wehren können und an wen sie sich wenden können, wenn eine Gegenwehr erfolglos geblieben ist? Kennen sie die Strategien, die Täter anwenden, um Opfer zur Geheimhaltung zu bewegen, oder sind sie diesen uninformiert und hilflos ausgeliefert?
•
Haben die Kinder und Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass sie über ihre Gefühle (wie Verwirrung, Angst, Scham) reden konnten, ohne dass diese in Frage
gestellt, uminterpretiert oder ins Lächerliche gezogen worden wären?
•
Ist die Haltung der Erwachsenen im Hinblick auf die Bewertung des sexuellen
Übergriffs eindeutig oder wird er bagatellisiert, uminterpretiert, ignoriert?
•
Erleben die nicht betroffenen Kinder und Jugendlichen, dass dem Opfer Unterstützung zuteil wird? Oder erleben sie Sprach- und Hilflosigkeit oder gar mangelnde
Empathie?
•
Kann eine räumliche Trennung zwischen Opfer und Täter ermöglicht werden?
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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•
Kann sichergestellt werden, dass Opfer und Täter keinen unbeaufsichtigten Kontakt haben?
10. Wie wird der Schutz des Opfers vor weiteren Übergriffen, Bedrohungen, Einschüchterungen etc. konkret sichergestellt?
11. Wie werden weitere Übergriffe auf andere Kinder/Jugendliche konkret verhindert?
12. Wie und ab wann wird Unterstützung für das übergriffige Kind / den Jugendlichen
eingeleitet?
13. Wie und durch wen kann der notwendige verpflichtende Rahmen für seine Diagnostik
und Behandlung sichergestellt werden?
14. Welche Institutionen sind bei der Fallbearbeitung hilfreich und notwendig und müssen
(bei Helferkonferenzen) mit hinzugezogen werden?
15. Welche Informationen werden wann an welche anderen Institutionen weitergegeben?
16. Wie und welche Rückmeldungen erhält die informierende Stelle über die daraufhin
erfolgten Maßnahmen?
17. Wie verbindlich soll das besprochene Vorgehen in den Einrichtungen gehandhabt werden?
18. Was brauchen die KollegInnen und die Einrichtung zur Sensibilisierung für dieses
Thema und Erweiterung der notwendigen Handlungskompetenz?
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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6.5.
ÖFFENTLICHKEITSARBEIT IST UNVERZICHTBAR
6.5.1. Flyer
Zu Beginn des Modellprojektes wurde ein Folder entwickelt, der vom Layout und der
Sprache her sowohl pädagogische Fachkräfte, aber auch Nichtfachleute ansprechen soll.
Er wird Eltern und Pädagogen/innen in Erstgesprächen überreicht, auf Fachtagungen verteilt und in größeren Aktionen z. B. an die Hamburger Schulen oder an offene Jugendhilfe
Einrichtungen verschickt.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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6.5.2. Veranstaltungen und Tagungen
Während und auch nach dem Modellprojekt gab es verschiedene Anfragen, die Arbeit im
Modellprojekt oder einzelne Teilaspekte aus diesem Projekt darzustellen. Entsprechende
Präsentationen fanden in Form von Beiträgen auf größeren Tagungen, in Workshops oder
in Fachgesprächen statt:
•
Fachtagung Neumünster 2008
Gemeinsam mit dem Verband Soziale Strafrechtspflege Schleswig-Holstein und
dem Packhaus in Kiel organisierte der WENDEPUNKT eine Fachtagung mit dem Ziel,
die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen in Schleswig – Holsteinischen Fachkreisen bekannter zu machen. Der WENDEPUNKT hat in diesem Rahmen
sein Konzept der Ambulanten Rückfallprophylaxe und das Modellprojekt in Hamburg vorstellen können. Es gab eine große Resonanz auf den Beitrag, weit über
Schleswig-Holstein hinaus (s. Beitrag in der Zeitschrift für soziale Strafrechtspflege Schleswig-Holstein, Sonderausgabe 2008).
•
Jugendhilfetag in Essen 2008
Zum Jugendhilfetag in Essen, dem größten Fachtreffen der Jugendhilfe in der
Bundesrepublik, wurde gemeinsam mit dem Familien-Interventions-Team und
dem Institut für Sexualforschung auf einem Fachforum das Modellprojekt vorgestellt.
•
Fachtagung UKE 2009
Anfang 2009 organisierte das Institut für Sexualforschung (mit Unterstützung der beteiligten Modellprojektpartner) begleitend zum Modellprojekt eine Fachtagung.
Zu dieser Veranstaltung waren als
Referentinnen und Referenten Fachleute aus Deutschland und Europa
eingeladen. Die Erfahrungen aus
knapp eineinhalb Jahren Modellprojekt wurden im Beitrag des WENDEPUNKT zu dieser Veranstaltung dargestellt.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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•
Workshop für die Aktion Jugendschutz Niedersachsen in Hannover 2009
Auf einer Fachtagung mit dem Titel „Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen als Thema in der (sexual)pädagogischen Arbeit“ gestaltete der WENDEPUNKT einen Workshop mit dem Fokus auf sexualpädagogische Konzepte und Methoden im pädagogischen Alltag mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen.
•
Vernetzungstreffen Ostdeutschland der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) 2009
Die in diesem Treffen vernetzten Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen baten den WENDEPUNKT, die Erfahrungen
aus dem Modell speziell im Hinblick auf die Kooperation zwischen Behörden und
Freien Jugendhilfeträgern vorzustellen.
•
Workshop auf dem Fachtag der DGfPI zum Thema „Sexuelle Gewalt in
der Einwanderungsgesellschaft“
Dieser Fachtag wurde von einem Fachkreis aus Hamburg, an dem der WENDEPUNKT
ebenfalls beteiligt ist, vorbereitet. Er wollte die migrantischen Communities und
die Fachkräfte, die an der Thematik sexueller Gewalt arbeiten, anregen, sich miteinander auszutauschen. Von den Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT wurde in
diesem Kontext ein Workshop zum Thema „Sexuell Grenzverletzende mit Migrationshintergrund“ angeleitet.
•
Fachtagung in Lüneburg, 2010
Im September dieses Jahres ist der WENDEPUNKT nach Lüneburg eingeladen, um
einen Fachtag zu gestalten, der Impulse zur Entwicklung einer Infrastruktur für
minderjährige sexuelle Grenzverletzer in der Metropolenrandregion geben soll.
•
Workshop auf der Fachtagung zur Kooperation zwischen Jugendhilfe und
Kinder- und Jugendpsychiatrie im November 2010 und Januar 2011 in
Berlin
Auf den beiden Veranstaltungen sollen die Erfahrungen aus dem Modellprojekt mit
dem Fokus auf das Tagungsthema dargestellt werden.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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7.
QUALITÄTSENTWICKLUNG UND –SICHERUNG
7.1.
KONZEPTE MÜSSEN BESTÄNDIG ÜBERPRÜFT UND WEITER ENTWICKELT
WERDEN
Die Arbeit im Modellprojekt hat sehr deutlich gemacht, dass auch und gerade im Bereich
der Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen kein Konzept und kein Ansatz
für immer „in Stein gemeißelt“ sein darf.
•
Im Bereich der konkreten Fallarbeit mussten wir z. B. mit Konzepten für kognitiv
Beeinträchtigte, für niedrigschwellige Beratungsangebote oder für Jugendliche mit
Migrationshintergrund auf die Vorgaben reagieren, die sich durch die Fallanfragen
ergaben.
•
Aber auch Fortbildungskonzepte mussten spezifischen Bedarfen angepasst werden. Speziellere Konzepte zum Umgang mit kognitiv beeinträchtigten Kindern und
Jugendlichen sind genauso wie die zur Auseinandersetzung mit der Problematik
von sexuellen Grenzverletzern mit Migrationshintergrund dem Umstand geschuldet, dass sich diese Fragestellungen aus der praktische Arbeit heraus gestellt haben.
•
Auch die Auseinandersetzung mit immer neuen Fragestellungen und Aspekten ist
unverzichtbar. Als Beispiel seien hier die Kinder als Täter im stationären Kontext
genannt. Diese haben sehr häufig eigene potenziell traumatisierende Erfahrungen
gemacht. Das klassische deliktorientierte Konzept mit seinen konfrontativen Elementen stößt bei diesen Kindern auf Grenzen. Deshalb ist der WENDEPUNKT aktuell
dabei, seine therapeutischen Konzepte für diese Klientel zu überarbeiten. Aber
bspw. auch die Mädchen, die sexuell übergriffig geworden sind, stellen eine Herausforderung dar.
•
Veränderungsbedarfe können sich auch ergeben, wenn Prozesse, Abläufe und
Strukturen erprobt und ausgewertet wurden.
7.2.
KOLLEGIALE BERATUNG UND SUPERVISION SIND UNVERZICHTBAR
Für den WENDEPUNKT gehören kollegiale Beratung und Supervision aus folgenden Gründen
unbedingt zur Qualitätssicherung:
•
Die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Tätern ist in besonderem Maße belastend. Zu den schwierigen Situationen und Familienkonstellationen, mit denen die
Mitarbeiter/innen konfrontiert werden, kommt zusätzlich die Reaktion der Umwelt
auf den Arbeitsbereich, die häufig von Unverständnis oder gar Ablehnung geprägt
ist. Mit dieser mehrfachen Belastung dürfen die Fachkräfte nicht alleine gelassen
werden
•
Ein weiteres Feld, das eine besondere Herausforderung darstellt, ist die individuell
empfundene bzw. zugeschriebene Verantwortung für die Sicherheit potenzieller
weiterer Opfer.
•
Die Entscheidungen, die aus therapeutischer Sicht unterstützt werden, haben oftmals eine sehr große Reichweite für den Klienten und sein soziales Umfeld. Wenn
z. B. eine Herausnahme aus der Familie empfohlen wird, darf dies erst nach eingehender Prüfung – auch im Kollegenkreis – geschehen.
•
In der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entsteht zwangsläufig
eine therapeutische Beziehung. Dies ist auch so gewünscht. Allerdings kann die
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Hamburger Modellprojekt 2010
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Nähe zum Klienten den Blick auf sein Gefährdungspotential verstellen. Ein Feed
Back aus dem KollegInnenkreis ist insofern unverzichtbar.
•
Letztendlich ist es immer hilfreich, wenn ein Fall aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Insbesondere gilt dies für Genderaspekte.
Für den WENDEPUNKT gilt, dass in der Einzelfallarbeit ein Vier-Augen-Prinzip existiert. Das
heißt, dass es in allen Fällen eine zweite Fachkraft gibt, die zumindest über den groben
Verlauf Bescheid weiß. Alle Risiko- und Prognostikeinschätzungen werden mit dem gesamten Team vorgenommen, um immer ein Korrektiv für eventuelle Fehleinschätzungen
oder Vorurteile zu haben.
Mindestens in sechswöchiger Frequenz findet eine moderierte Fallsupervision statt. In
dieser Runde besteht die Möglichkeit, einzelne Fälle, die evtl. belastend sind, aber auch
spezielle Fragestellungen zu thematisieren. In der Supervision werden Themen wie z. B.
„Gender und Täterarbeit“ sowie Schwierigkeiten mit speziellen Klienten bearbeitet
Monatlich besteht die Möglichkeit, Fälle mit dem Gesamtteam des WENDEPUNKT in der kollegialen Fallbesprechung zu thematisieren. Der Vorteil dieses Forums liegt zum einen
darin, dass gemeinsame Fälle aus verschiedenen Perspektiven besprochen werden können; zum anderen kann zu eigenen Fällen ein Feed Back von Kolleg/innen abgeholt werden, die nicht nur der Brille der „Täterarbeit“ tragen.
Eine weitere Option auf kollegiale Fallberatung bestand und besteht in Fachkreisen, wie
z. B. dem modellprojektbegleitenden Arbeitskreis, dem Werkstatttreffen und der „Vernetzung Nord“ unter dem Dach der DGfPI.
7.3.
FORTBILDUNG DER TEAMMITGLIEDER UND TEILNAHME
AN FACHDISKUSSIONEN
Ein weiteres Merkmal der Qualitätssicherung und -entwicklung in der Arbeit des WENDEPUNKT ist die Teilnahme der Mitarbeiter/innen an Fortbildungen und inhaltlichen Fachdiskussionen.
Um die Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen konzeptionell weiterentwickeln zu können, wurden Fortbildungen der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) und des Forensischen Instituts der Ostschweiz besucht. Darüber hinaus wurde das Angebot genutzt, in den Gruppen des Forensischen Institutes zu
hospitieren, um einen Einblick in die praktische Umsetzung der Arbeit zu erhalten. Diese
Angebote wurden besonders intensiv genutzt, weil für den WENDEPUNKT in diesem Arbeitsbereich ein neuer Schwerpunkt entstanden ist.
Zu vielen spezifischen Fragestellungen gibt es noch keine fertigen kanonisierten Weiterbildungswege. Dazu gehören z. B. auch die Herausforderungen, die sich in der Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Hintergründen ergeben. Für den WENDEPUNKT war es
ein Anliegen, dieses Thema – aus der Perspektive der „Täterarbeit“ – in verschiedene
Fachdiskussionen, wie z. B. dem Fachkreis „sexuelle Gewalt in Einwanderer–
Communities“ oder den Werkstattgesprächen der DGfPI einzubringen. Ziel war und ist es,
gemeinsam mit anderen Fachkräften, aber auch mit interessierten Laien aus den Communities in den Austausch zu kommen und die Fachdiskussion voranzutreiben.
Darüber hinaus haben die Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT während des Modellprojektes z. B. an Fortbildungen zum Bereich „Sexualität und Behinderung“ oder zum „Einfluss
von Pornographie auf die Sexualität Jugendlicher“ teilgenommen.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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AUSBLICK:
DIE ARBEIT WIRD FORTGESETZT –„ HAMBURGER BERATUNGSSTELLE FÜR SEXUELL AUFFÄLLIGE MINDERJÄHRIGE UND JUNGE ERWACHSENE“
Aus den Erfahrungen der letzten drei Jahre wurden für die Fortführung folgende Konsequenzen gezogen und Perspektiven entwickelt:
•
Die Zuständigkeit der Beratungsstelle wird auf Heranwachsende, auf die ja auch
das Jugendstrafrecht angewendet werden kann, ausgeweitet.
•
Neben Fachberatungen und Kriseninterventionen werden pädagogischen Interventionen in Schulklassen als zusätzliche sekundärpräventive niedrigschwellige Maßnahme etabliert (vgl. 5.9).
•
Weitere Kooperationen mit stationären Jugendhilfeträgern sollen aufgebaut werden, mit dem Ziel, stationär untergebrachte Jugendliche angemessen therapeutisch begleiten zu können.
•
Im Rahmen der Beratungsstelle wird auch zukünftig die Einzelfallarbeit sowohl aus
dem Etat der Erziehungshilfen als auch – vereinbart in einem Pilotabkommen –
über die Justizbehörde finanziert.
•
Der WENDEPUNKT wird sich im Rahmen des schon etablierten Arbeitskreises in
Hamburg auch zukünftig um eine Vernetzung der Fachstellen bemühen. Er wird
sich auch in anderen Netzwerken wie der „Vernetzung Nord“ unter dem Dach der
Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) oder in der Kooperation mit Beratungsstellen und dem Landesinstitut weiterhin für die Weiterentwicklung einer effektiven Rückfallprophylaxe engagieren.
•
Als weiteres Ziel sei die Fort- und Weiterbildung von ehrenamtlich Tätigen in der
Kinder- und Jugendarbeit in Vereinen und Verbänden genannt.
•
Weiterhin stehen die Themen „Sexuelle Grenzverletzter mit Migrationshintergrund“, „Sexuelle Übergriffe und kognitive Beeinträchtigungen“ sowie „Vernetzung
mit Justiz und Jugendgerichtshilfe“ auf der Agenda des WENDEPUNKT.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen als ein Baustein in die Infrastruktur gegen die sexuelle Gewalt integriert wird.
Sie trägt maßgeblich zum Opferschutz bei. Dazu braucht es weiterhin eine verlässliche
Angebotsstruktur und eine gute Vernetzung in Hamburg. Dazu hofft der WENDEPUNKT seinen Teil beitragen zu können.
Abschlussbericht
Hamburger Modellprojekt 2010
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ANHANG
A1
Leitfaden Gewaltprävention: Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen unter
Schülerinnen und Schülern – Hg. in Kooperation mit Beratungsstelle
Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale
Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde),
Vertreterinnen von NEXUS
A2
Zeitschrift für Sexualforschung; 2008, 21, Georg Thieme Verlag, StuttgartNew York, S. 249-268
Bernd Priebe: Rückfallprophylaxe bei jungen Sexualstraftätern: Erfahrungen aus
der Ambulanten Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen
A3
Beitrag Bernd Priebe zur Fachtagung „Sexuell grenzverletzende Kinder und
Jugendliche“ vom 12.-14.02.2009 im UKE, Hamburg
Die Arbeit des WENDEPUNKT im „Hamburger Modellprojekt für sexuell
auffällige Minderjährige“ – Säulen der Ambulanten Rückfallprophylaxe
A4
Zeitschrift für Soziale Strafrechtspflege Schleswig – Holstein, Sonderausgabe 2008
Bernd Priebe: Vernetzung, Standards, Herausforderungen in der Arbeit mit sexuell
grenzverletzenden Minderjährigen in Schleswig-Holstein
A5
J. Tetens/S. Friedrichs Hg. Umgang mit Konflikten und Gewalt an der Schnittstelle
zwischen Psychologie, Pädagogik und Soziale Arbeit, 2009, Lulu Enterprises, Inc.,
Morrisville, S. 63 ff, B. Priebe: Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen
A6
Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Stellungnahme des Senats
zu dem Ersuchen der Bürgerschaft vom 22./23. Juni 2005
(Drucksache 18/2296) „Sexueller Missbrauch von Minderjährigen
durch minderjährige Täter“
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