WENDEPUNKT e.V. Außenstelle Hamburg Max-Brauer-Allee 40, 22765 Hamburg Fon: 0 40/70 29 87 61 [email protected] ABSCHLUSSBERICHT zum Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige 2007 bis 2010* vorgelegt von Ingrid Kohlschmitt und Bernd Priebe *vom Hamburger Senat bewilligt unter der Bezeichnung: „Modellprojekt für jugendliche Sexual(straf-)Täter“ unter der Drucksachennummer 18/5307 Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 2 DANKSAGUNG Für die Chance, an einem solchen Modell mitzuwirken und aktiv Einfluss auf die Entwicklung von Präventionsstrukturen für sexuell auffällige Minderjährige zu nehmen, für die partnerschaftliche Zusammenarbeit der Projektbeteiligten und die tatkräftige Unterstützung des gesamten Netzwerks wollen wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken: • bei den politischen Gremien, die ein solches Modell ermöglicht haben • bei der Stadt Hamburg / Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz. Hier allen voran bei der Staatsrätin Dr. Angelika Kempfert, beim Leiter der Abteilung Kinder- und Jugendhilfe (FS2), Dr. Wolfgang Hammer, bei der Leiterin der Abteilung Jugenddelinquenz (FS24), Christa Töwe und allen weiteren Beteiligten in der Behörde • bei allen projektbegleitenden Mitarbeiterinnen des Familieninterventionsteams, stellvertretend sei hier Kerstin Haedge genannt • bei Prof. Dr. Peer Briken und seinem Team im Institut für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) • bei der Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, namentlich Dr. Christian Böhm und Bianka Petri. • bei Susanne Engel und ihren Kolleg/innen von REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde) • bei allen Teilnehmenden von NEXUS (Netzwerk Hamburger Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen) • und natürlich bei allen Teilnehmern/innen des modellbegleitenden Arbeitskreises Wir sehen einer weiteren produktiven Zusammenarbeit mit Ihnen allen, auch über den Modellzeitraum hinaus, mit Freude entgegen. Das Team von WENDEPUNKT, im September 2010 Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 3 INHALT 1 Vorstellung des WENDEPUNKT 5 2 Vorstellung des Modellprojektes 7 3 Unsere Aufgaben im Modellprojekt 10 3.1. Die Säulen unserer Arbeit 10 3.2. Unser Team 13 4 Begriffserklärungen 14 5 Die fallabhängige Arbeit: Vorstellung unseres Angebotes und Erkenntnisse 16 5.1. Enge Kooperation zwischen Familieninterventionsteam und WENDEPUNKT eröffnet verschiedene Zugangswege zum Hilfesystem 16 5.2. Der niedrigschwellige Zugang im WENDEPUNKT hat sich bewährt! 18 5.2.1. Fallzahlenentwicklung 18 5.2.2. Unsere Zugangswege 19 5.2.3. Zunehmend erreichen uns Fällen aus den Opferberatungsstellen 20 Uns erreichen unterschiedliche Fallanfragen 21 Alter, Migrationshintergrund, Kognitive Beeinträchtigung 21 5.3. 5.3.1. 5.3.2. Tätertypologie und Deliktbereiche 23 5.3.3. Fallbeispiele und Beratungsanliegen 25 Verteilung unserer Interventionsmaßnahmen 30 5.3.4. 5.4. 5.4.1. Die Finanzierung der Fallbearbeitung erfolgt aus verschiedenen Budgets 31 Finanzierung aus Mitteln des Modellprojektes 31 5.4.2. Finanzierung aus Mitteln der Erziehungshilfe 31 5.4.3. Finanzierung aus Mitteln der Justizbehörde 31 Rückfallprophylaxe in stationären Angeboten als Annexleistung 32 5.5. 5.4.4. Die Arbeit mit sexuell auffälligen Minderjährigen erfordert eine spezifische Herangehensweise 33 5.6. Unklar formulierte Aufträge und Therapieweisungen stellen ein Problem dar 38 5.7. Sondierung, Diagnostik und Rückfallprognostik sind unverzichtbar 39 5.7.1. Sondierung (Vorklärung des Hilfebedarfs) 39 5.7.2. Instrumente zur Risikoabschätzung und Therapieplanung 40 5.7.3. Instrumente zur Rückfallprognostik: Unsere Einbindung ins ERASOR-Programm 41 5.7.4. Instrumente zur (unspezifischen) psychologischen Diagnostik 41 Interventionen für Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten brauchen Standards und müssen differenziert konzipiert sein 42 42 5.8. 5.9. 5.8.1. Unsere Standards 5.8.2. Das Konzept der Ambulanten Rückfallprophylaxe (ARP): Indikationen und Inhalte 45 5.8.3. Kognitiv Beeinträchtigte brauchen ein eigenes Konzept 49 5.8.4. Rückfallprophylaxe für Unter-14-Jährige in stationären Einrichtungen 52 5.8.5. Normenverdeutlichende Gespräche 54 5.8.6. Sexualpädagogische Beratung als niedrigschwelliges Angebot 56 5.8.7. Elternarbeit ist unverzichtbar 58 Sekundärprävention ist doch nötig, denn sexuelle Übergriffe mit mehreren Beteiligten nehmen zu 59 Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 4 6 Die fallunabhängige Arbeit: Vorstellung unseres Angebotes und Erkenntnisse 61 6.1. Eine effiziente Arbeit mit sexuell auffälligen Minderjährigen braucht tragfähige Kooperationsstrukturen 61 6.1.1. Das UKE evaluiert die Entwicklung der Kooperationsbezüge 61 6.1.2. Der das Modell begleitende Arbeitskreis 61 6.1.3. Vernetzung mit dem Arbeitskreis NEXUS 63 6.1.4. Vernetzung mit der Schulbehörde 63 Mitarbeit im DGfPI 64 6.2. 6.1.5. Fallunabhängige Fachberatungen tragen zur Erweiterung von Handlungskompetenzen und damit zur Prävention bei 65 6.3. Neben Grundlagenvermittlung müssen Fortbildungen und Fachgespräche flexibel auf unterschiedliche Anliegen reagieren 65 6.3.1. Fortbildungsanlässe und Zielgruppen 66 6.3.2. Fortbildungskonzepte 68 6.3.3. Auswertung und Rückmeldungen 84 Standards zum Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen müssen erarbeitet werden 85 6.4.1. Leitfaden Schulbehörde 85 6.4.2. Grundlegende Empfehlungen zum FDXUmgang mit sexuellen Übergriffen durch Kinder und Jugendliche in Einrichtungen 85 6.4.3. Leitfragenkatalog für Einrichtungen, die direkt m. Kindern u. Jugendlichen arbeiten 87 6.4.4. Leitfragenkatalog für Einrichtungen, die beratend o. intervenierend mit Kindern und Jugendlichen arbeiten 89 6.4. 6.5. Öffentlichkeitsarbeit ist unverzichtbar 91 6.5.1. Flyer 91 6.5.2. Veranstaltungen und Tagungen 92 7 Qualitätsentwicklung und -sicherung 94 7.1. Konzepte müssen beständig überprüft und weiter entwickelt werden 94 7.2. Kollegiale Beratung und Supervision 94 7.2. Fortbildung der Teammitglieder und Teilnahme an Fachdiskussionen 95 Ausblick Die Arbeit wird fortgesetzt –„ Hamburger Beratungsstelle für sexuell auffällige Minderjährige und junge Erwachsene“ 96 Anhang A1 Leitfaden Gewaltprävention: Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen unter Schülerinnen und Schülern – Hg. in Kooperation mit Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde), Vertreterinnen von NEXUS A2 Zeitschrift für Sexualforschung; 2008, 21, Georg Thieme Verlag, Stuttgart-New York, S. 249-268 Bernd Priebe: Rückfallprophylaxe bei jungen Sexualstraftätern: Erfahrungen aus der Ambulanten Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen A3 Beitrag Bernd Priebe zur Fachtagung „Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugendliche“ vom 12.-14.02.2009 im UKE, Hamburg. Die Arbeit des WENDEPUNKT im „Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige“ – Säulen der Ambulanten Rückfallprophylaxe A4 Zeitschrift für Soziale Strafrechtspflege Schleswig – Holstein, Sonderausgabe 2008, Bernd Priebe: Vernetzung, Standards, Herausforderungen in der Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen in Schleswig-Holstein A5 J. Tetens/S. Friedrichs Hg. Umgang mit Konflikten und Gewalt an der Schnittstelle zwischen Psychologie, Pädagogik und Soziale Arbeit, 2009, Lulu Enterprises, Inc., Morrisville, S. 63 ff: Bernd Priebe: Arbeit mit sexuelle grenzverletzenden Minderjährigen A6 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Stellungnahme des Senats zu dem Ersuchen der Bürgerschaft vom 22./23. Juni 2005 (Drucksache 18/5307) „Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch minderjährige Täter“ 97 Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 5 1. VORSTELLUNG WENDEPUNKT „Gewalt beginnt nicht da, wo Messer gezückt und Fäuste geballt werden. Gewalt beginnt da, wo Menschen kleingemacht, eingemacht und ausgelacht werden, wo man ihnen Räume und Träume nimmt und ihre Gefühle missbraucht. Kurz: da, wo die Suche nach dem großen Glück zum Dauer-Frust und Trauer-Spiel wird und jeder sehen muss, wo er bleibt." von Günter Jankowiak Der WENDEPUNKT E.V. wurde 1993 gegründet und hat seinerzeit vom Kreistag in Pinneberg die Trägerschaft für die seit 1991 existierende kreisweit tätige Beratungsstelle gegen den sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen übertragen bekommen. Er ist als gemeinnützig anerkannt und unter anderem Mitglied im Paritätischen. Zur Zeit arbeiten - überwiegend in Teilzeitarbeitsverhältnissen - 20 festangestellte psychosoziale/pädagogische Fachkräfte, drei Verwaltungsmitarbeiterinnen sowie insgesamt sechs Honorarmitarbeiter/innen in seinen Einrichtungen und Projekten. Unser Motto lautet: Respektvoll und gewaltfrei in Erziehung, Partnerschaft und Sexualität Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien in Krisen, nach Traumatisierung und Gewalt Unsere Angebote werden in erster Linie über den Kreis Pinneberg, das Land SchleswigHolstein, den Hamburger Senat und über verschiedene Kommunen finanziert. Darüber hinaus erhalten wir beispielsweise Mittel von der Aktion Mensch, vom Kinderhilfswerk oder von der Unfallkasse Nord. Und nicht zuletzt erreichen uns Spenden in nicht unerheblicher Höhe. Unsere Arbeit richtet sich zum einen an Mädchen, Jungen und Jugendliche sowie an deren Bezugspersonen; zum anderen stehen wir insbesondere psychosozialen und pädagogischen Fachkräften für Fachberatung, Krisenintervention und Fortbildung zur Verfügung. Überblick Tätigkeitsbereiche seit 1991 Hauptstelle in Elmshorn Außenstellen in Quickborn, Schenefeld, Hamburg 23 festangestellte Mitarbeitende, 6 Honorarkräfte ca. 600 Wochenstunden Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 6 • Der WENDEPUNKT ist eine gewaltpräventive Einrichtung, wobei Prävention für uns heißt: - einen Beitrag dazu zu leisten, dass Kinder und Jugendliche aufwachsen können, ohne Gewalterfahrungen machen zu müssen - bereits vorhandene Gewalterfahrungen aufzudecken und den Schutz vor weiteren Gewalthandlungen zu veranlassen - Folgeerscheinungen möglichst zu verhindern oder zumindest gering zu halten. • Der WENDEPUNKT hat Ende der 90er Jahre begonnen, sein Angebot auf Kinder und Jugendliche mit sexuell auffälligem Verhalten auszudehnen und seine Ambulante Rückfallprophylaxe entwickelt. Dieser Arbeitsbereich stellt für uns originäre Gewaltprävention dar, denn frühzeitige, kompetente und nachhaltige Intervention kann das Manifestieren von übergriffigem Verhalten verhindern. Der WENDEPUNKT verfügt heute über ein ausdifferenziertes Interventions- und Fortbildungsrepertoire. • Er unterstützt tatkräftig Bemühungen, die rechtlichen und psychosozialen Hilfen gegen die häusliche Gewalt möglichst wirkungsvoll weiter zu entwickeln. Häusliche Gewalt richtet sich mehrheitliche gegen Frauen, wobei die Mädchen und Jungen, die in diesen Familien leben, von dieser Gewalt auf vielfältige Weise mit betroffen sind. Sie erleben hilflos die Misshandlung der Mutter mit und werden dadurch häufig selbst schwer geschädigt. Sie sind dabei oft gleichzeitig auch am eigenen Leib von Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch betroffen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 7 2. VORSTELLUNG DES MODELLPROJEKTES Die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg hatte im Juni 2005 den Senat ersucht, ein Modellprojekt zur besseren Koordination der Hilfesysteme und anderer staatlicher Institutionen einzurichten, das der Erfassung der Täter und Opfer sexueller Übergriffe sowie die Diagnostik und Behandlung bzw. Therapie der minderjährigen Täter optimiert“. Der Senat hat in seiner Stellungnahme zu diesem Ersuchen eine umfangreiche Projektkonzeption vorgelegt (s. Anlage 7). Sie stellt die Grundlage für das Modellprojekt dar, das inzwischen abgeschlossen wurde und dessen Inhalte und Ergebnisse in diesem Bericht vorgestellt werden. Das Modellprojekt startete im Juni 2007 und lief über einen Zeitraum von drei Jahren. Es setzte an drei verschiedenen Punkten an und bezog drei Einrichtungen ein, die eng miteinander kooperiert haben: • Der Erstkontakt, insbesondere von Seiten der Jugendämter, sollte neu strukturiert werden. Hintergrund dafür ist die Erfahrung, dass sexuelle Grenzverletzungen die häufig unvorbereiteten Systeme überfordern. Das betrifft oft nicht nur das soziale und pädagogische Umfeld des mutmaßlichen Täters, sondern auch die hinzugezogenen Fachkräfte der Allgemeinen Sozialen Dienste. In der Regel gibt es auch dort wenig Praxis im Umgang mit Minderjährigen mit sexuell auffälligem Verhalten. Entsprechend groß ist die Unsicherheit, wenn es um die Entwicklung und Verfügung angemessener Hilfen geht. Für das Hamburger Modellprojekt für minderjährige Sexual(straf-)Täter (dieser Ursprungstitel wurde relativ schnell nach Projektbeginn geändert) ist in diesem Bereich das Familieninterventionsteam (FIT) Ansprechpartner gewesen. Das FIT ist die überregionale Jugendamtsabteilung in Hamburg, die sich um Jugendliche mit besonders problematischen Hintergründen kümmert. Voraussetzung für die Anbindung an das FIT ist normalerweise eine Strafanzeige, dies wurde für die Zeit des Modellprojektes teilweise ausgesetzt. Im Vorfeld und zu Beginn der Modelllaufzeit wurden das zuständige Landeskriminalamt, die Staatsanwaltschaften und die zuständigen Stellen in den regionalen Polizeikommissariaten informiert. Im FIT selber sollte dann vor allem das Case-Management übernommen sowie die Ersteinschätzung von Hilfebedarfen für die Kinder und Jugendlichen optimiert werden. Dafür wurde vom Institut für Sexualforschung an der Uniklinik Eppendorf ein Testinstrumentarium zur Verfügung gestellt, über das es möglichst schnell und niedrigschwellig möglich wurde, zu einer Einschätzung von Tatschwere und Hilfebedarf zu gelangen. An dieser Stelle soll schon einmal eine - aus unserer Sicht wichtige Erkenntnis vorweggenommen werden: Für die erfolgreiche Arbeit im Modellprojekt war eine strukturelle Veränderung besonders wesentlich: Nur wenige, in die Thematik „Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten“ gut eingearbeitete und fortgebildete Kolleg/innen im FIT haben die Fälle aus dem Projekt bearbeitet. Sie haben sich auch aktiv in die Vernetzungsgremien des Modellprojektes eingebracht. Diese Kolleginnen standen im regelmäßigen Fachaustausch mit den Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT. • Die Aufgaben des WENDEPUNKT im Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige lassen sich unter den folgenden Überschriften zusammenfassen: − Aktiver Opferschutz durch eine rechtzeitige Intervention: Information und Krisenberatung für Eltern, Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen sollte aufgebaut werden, damit eine angemessene Reaktion eingeleitet werden kann. Dabei geht es z. B. um die räumliche Trennung von Opfer Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 8 und Täter, Begleitung von Eltern und Lehrkräften und pädagogische Interventionen in betroffenen Gruppen. − Prävention von sexueller Gewalt durch Verhindern von „Täterkarrieren“: Die neuere Forschung zeigt, dass die meisten erwachsenen Sexualstraftäter schon eine lange einschlägige Vorgeschichte hinter sich haben, ohne dass sie eine kompetente Reaktion darauf erfahren hätten. Der WENDEPUNKT hat im Modellprojekt versucht dazu beitragen, dass sexuell übergriffige Minderjährige möglichst frühzeitig eine angemessene Reaktion auf ihr Verhalten erleben. Dazu gehörte u. a. ein niedrigschwelliges Angebot zur Diagnostik und Beratung. − Effizienterer Einsatz der vorhandenen Fachstellen und Fachkompetenz durch eine bessere Vernetzung: Es gab und gibt in Hamburg an vielen Stellen Fachwissen zur Thematik sexueller Übergriffe. Der WENDEPUNKT hat u. a. einen Arbeitskreis als Schnittstelle initiiert, um das Know-how zu bündeln, gemeinsame Handlungskonzepte zu entwickeln, fachliche Kooperation zu stärken und das Wissen über die verschiedenen Angebote in den Einrichtungen zu verbessern. − Erarbeiten von verbindlichen Kriterien im Umgang mit der Thematik „Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten“ Leitfäden sind für Einrichtungen wichtig, um in Krisensituationen vor dem Hintergrund einer klaren Verantwortungsstruktur fachlich angemessen und kompetent reagieren zu können. Über Leitfäden hinaus unterstützen wir Einrichtungen mit Fachberatung und Fortbildung auf der Grundlage jeweils zugeschnittener Konzepte. − Sensibilisierung von (Fach)Öffentlichkeit Dem Themenbereich „Sexuelle Gewalt“ wird möglichst ausgewichen oder er löst hochemotional geführte Debatten aus. Vor allem über Fortbildungen und Fachgespräche wollten wir zu einer Versachlichung und zur Erweiterung von Wissen und Handlungskompetenzen beitragen. − Interne Weiterbildung und fachlicher Austausch der beteiligten Institutionen und Einrichtungen. Auf verschiedenen Wegen und Ebenen haben wir daran mitgewirkt, Qualitätskriterien für die Arbeit mit sexuell auffälligen Minderjährigen weiterzuentwickeln. • Der dritte Aufgabenteil des Modellprojekts wurde durch das Institut für Sexualforschung an der nik Eppendorf (IFS) abgedeckt. Das IFS sollte das Projekt senschaftlich begleiten und beispielsweise die passenden mente für den kontakt mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen sammenstellen. Die zweite umfangreichere Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 9 Arbeitsaufgabe bestand in der Evaluation der Daten, die über die Testung beim FIT und beim WENDPUNKT zurückliefen. Evaluiert wurden zusätzlich die Vernetzungsstrukturen in Hamburg und der begleitende Arbeitskreis. Der Abschlussbericht des UKE wird dort gesondert erstellt. Während der gesamten Laufzeit von Juli 2007 bis Juni 2010 hat eine interne Steuerungsgruppe getagt. Sie hatte die Aufgabe • die Kooperationsprozesse zwischen den Modellprojektpartnern zu optimieren • den Informationsfluss zwischen allen Projektbeteiligten und der verantwortlichen Behörde zu gewährleisten • gegebenenfalls zeitnah auf Entwicklungen zu reagieren • sich in der Auswahl und im Einsatz von Instrumenten zur Diagnostik und Gefährdungseinschätzung abzustimmen. In der Steuerungsgruppe saßen Vertreter/innen der beteiligten Projektpartner (Familieninterventionsteam, Institut für Sexualforschung am UKE und WENDEPUNKT) sowie eine Vertreterin der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz. Das Modellprojekt war mit einem Etat von 80.000 € pro Jahr ausgestattet. Damit konnten ca. 46 Std./Wo an Fachkräften finanziert werden. Hinzu kommen Ressourcen für die Verwaltung. Datenschutzrechtliche Belange wurden zu Beginn in enger Abstimmung mit dem Hamburger Datenschutzbeauftragten geklärt. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 10 3. UNSERE AUFGABEN IM MODELLPROJEKT 3.1. DIE SÄULEN UNSERER ARBEIT Die Beratungsstelle des WENDEPUNKT hatte im Rahmen des Hamburger Modellprojektes für sexuell auffällige Minderjährige fallabhängige und fallunabhängige Aufgaben zu bearbeiten. Fallabhängige Aufgaben Die Forschungsbeiträge zur Rückfallwahrscheinlichkeit bei der Gruppe der Minderjährigen mit sexuell auffälligem Verhalten kommen zwar zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, Konsens ist jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass aus dieser Gruppe heraus wieder Sexualstraftaten verübt werden, deutlich größer ist als in der übrigen Population. Die Prävention weiterer Straftaten , die einem effektiven Opferschutz gleichkommt, erfordert daher eine frühzeitige Intervention und eine nachhaltig wirksame Arbeit mit den Tätern. Zu den fallabhängigen Aufgaben gehören die folgenden Arbeitsbereiche: Arbeitsbereiche Fallabhängige Aufgaben - Intervention Fachberatung Sondierung Beratung von Angehörigen v.a. für Einrichtungen der Jugendhilfe und für Schulen Bearbeitung von Verdachtsfällen des sozialen Umfeldes In Einzelfällen: Diagnostik im Vorfeld von HzE Niedrigschwellige Interventionen Nach Verfügung durch FIT oder den ASD: Durchführen von sozialtherapeutischen Maßnahmen zur Ambulanten Rückfallprophylaxe (ARP) – auch für intelligenzgeminderte Jugendliche Beratung von Minderjährigen mit sexuell auffälligem Verhalten z.B. Sex.päd. Interventionen Normen verdeutl deutlichende Gespräche Unterrichtsprojekte im Einzelsetting im Gruppensetting Achtung: Wird nicht aus dem Zuschuss für das Modellprojekt sondern aus HzE -Mitteln finanziert Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 11 Im Rahmen des Modellprojektes bedeutete Intervention in erster Linie niedrigschwellige Beratung vor allem in Krisenfällen. Für den Bereich der konkreten Fallarbeit, die Krisenintervention und die Fachberatung stand allerdings nur der kleinere Teil des Projektzuschusses zur Verfügung. Ziel dieser Säule der Arbeit im Modellprojekt war eine möglichst zeitnahe Intervention nach sexuell auffälligem Verhalten durch Minderjährige. Es erfolgten Interventionen, bei denen die Aussagen der Opfer ernst genommen werden und trotzdem ruhig und besonnen agiert wird, ohne dass es zu Stigmatisierungen der Tatverdächtigen kommt. Gleichzeitig dürfen die Interventionen nicht zur Bagatellisierung und Skandalisierung führen. Für sinnvolle Reaktionen im Hinblick auf die Tatverdächtigen braucht es eine spezialisierte Diagnostik sowie angemessene und möglichst niedrigschwellige Angebote für die sexuell grenzverletzenden Minderjährigen. Ein weiteres Ziel für unsere Fallarbeit war ein ausdifferenziertes Angebot für spezifische Auffälligkeiten. Fallunabhängige Aufgaben Zu den fallunabhängigen Aufgaben gehören die folgenden Aufgabenbereiche: Arbeitsbereiche Fallunabhängige Aufgaben – Aufbau und Entwicklung Leitung des Entwicklung von Entwicklung von Entwicklung von modell- Kooperationsstrukturen Qualitätsstandards FortbildungsKonzepten Entwicklung von Konzepten und Verfahren zur Intervention und Prävention Koordination und Durchführung von projekt- sowie begleitenden Arbeitskreises Öffentlichkeitsarbeit Fortbildungen Selbstverständlich gab es schon vor Beginn des Hamburger Modellprojektes im Sommer 2007 verschiedene Einrichtungen und Ansätze in und um Hamburg, die sich mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen auseinandergesetzt haben. Eine formulierte Aufgabe des Projektes bestand in der Zusammenführung verstreuter Ansätze, um diese durch Vernetzung effizienter zu gestalten und gleichzeitig die Lücken in der Versorgung zu erkennen. Der erste Schritt zur Vernetzung war die Evaluation der vorhandenen Angebote für sexuell delinquente Jugendliche in Hamburg. (s. hierzu Begleitevaluation durch das UKE). Diese bestehenden Angebote sollten durch Kooperation fallbeteiligter Einrichtungen optimiert werden. Dazu gehörte beispielsweise auch die Vernetzung innerhalb verschiedener Teilbereiche wie z. B. Schule. Andere Aufgabenfelder, in denen Vernetzung angebracht erschien, sind in der Arbeit mit Jugendlichen mit Behinderungen oder in der spezialisierten Arbeit mit Tatverdächtigen, die einen Migrationshintergrund aufweisen, zu finden. Trotz aller fachlich bedingten Abgrenzungen ist eine Kooperation mit Beratungseinrichtungen für Opfer sexueller Gewalt eines unserer Ziele, um eine „Mehrspurenhilfe“ installieren zu können. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 12 Integriert in dieses Aufgabenfeld ist die Information und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften verschiedener Arbeitsbereiche, die mit sexueller Grenzverletzung konfrontiert sind oder sein könnten. Für diesen Arbeitsbereich haben wir uns eingangs folgende Ziele gesetzt: • Sensibilisierung für sexuelle Übergriffe durch Minderjährige. • Entwicklung von Kommunikationsfähigkeit im Hinblick auf ein widerstandauslösendes und tabubesetztes Thema • Informationsvermittlung z.B. zu Formen sexueller Delinquenz Minderjähriger oder zu Tätertypologien und -strategien • Informationsvermittlung zur „deliktorientierten Arbeit“ mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen oder zur Arbeit im direktiven Rahmen • Für eine schnelle und sinnvolle Intervention benötigten wir Präventions- und Interventionskonzepte, die auf die jeweiligen Einrichtungen zugeschnitten sind. Ziel ist es, für die jeweilige Einrichtung oder Behörde passende Konzepte und Verantwortlichkeiten zu entwickeln, die im Ernstfall Sorge tragen, dass kompetent und zeitnah reagiert werden kann. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 13 3.2. UNSER TEAM Unser Team ist multiprofessionell zusammengesetzt: Bernd Priebe, Projektleitung MA Theologe, Sexualpädagoge, Therapeut für sexuell misshandelnde Kinder und Jugendliche (DGgKV e.V.) insg. 35 Std./Wo – davon ca. 24 Std./Wo im Modellprojekt Uwe Ladleif Dipl. Sozialpädagoge, Therapeut für sexuell misshandelnde Kinder und Jugendliche (DGgKV e.V.) insg. 39 Std./Wo – davon ca. 6 Std./Wo im Modellprojekt Nicole Krampe Dipl. Psychologin, Systemische Beraterin, Systemische Therapeutin i.A. insg. 29 Std./Wo – davon ca. 10 Std./Wo im Modellprojekt ……………………………………… Ingrid Kohlschmitt, Geschäftsführerin WENDEPUNKT e.V. Dipl. Pädagogin insg. 39 Std./Wo – davon ca. 6 Std./Wo im Modellprojekt Hinzu kommen Ressourcen für die Verwaltung. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 14 4. BEGRIFFSKLÄRUNGEN Das Hamburger Modellprojekt trug anfangs den Namen „Modellprojekt für jugendliche Sexual(straf-)Täter“. Aus folgenden Gründen wurde der Name kurz nach Modellstart und nach ausführlicher Diskussion in der Steuerungsgruppe geändert: Der Begriff „Straftäter“ ist nicht passend, denn mit ihm sind z. B. die Fälle, in denen strafunmündige Kinder beschuldigt werden, die nach einer rein rechtlichen Definition nicht als Täter gelten können, nicht mit abgedeckt. Gleichzeitig traf dieser Terminus selbst bei den Eltern, deren Kinder bereits eine Anzeige erhalten hatten, auf große Vorbehalte und Abwehr und förderte entsprechend die Angst vor Stigmatisierung. Der neue Name des Modellprojektes lautete dann „Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige“. Den Ausschlag für diese Bezeichnung gab die Überlegung, Eltern delinquenter Jugendlicher nicht allein schon durch den Namen des Modellprojektes eine zusätzliche Handhabe in der Abwehr möglicher Interventionen zu geben. Mit ihm wurde der niedrigschwellige Ansatz des Modells betont. Der Terminus „sexuell auffällige Minderjährige“ will eine Vorverurteilung des Jugendlichen vermeiden, indem er nicht mehr auf den sexuellen Übergriff fokussiert. Damit verbunden ist die Perspektive, die Kontaktaufnahme mit den Eltern zu vereinfachen, die für den Verlauf und den Erfolg einer Intervention von entscheidender Bedeutung ist. Gleichzeitig ermöglicht es dieser Modelltitel aber auch, Anfragen zu bearbeiten, die sich auf Fälle beziehen, die nicht von Gewalt oder Manipulation gekennzeichnet sind. Dazu gehören z. B. Fachberatungen für Einrichtungen, die sich darüber informieren möchten, ob sich die Doktorspiele, die sie bei ihren Kindern beobachten, im angemessenen Rahmen bewegen oder ob ein bestimmtes Verhalten bei älteren Jugendlichen eine Entwicklung hin zu paraphilem Verhalten befürchten lassen. Aber auch die neu gewählte Projektbezeichnung birgt Schwierigkeiten in sich, denn sie lässt große Interpretationsspielräume zu. Darüber hinaus eröffnet sie ggf. auch Tatleugnern die Möglichkeit, sich der Verantwortung zu entziehen. Im WENDEPUNKT wurde im Anschluss an diese Diskussionen versucht, die sexuelle Übergriffigkeit der Jugendlichen mit einer Terminologie zu beschreiben, die auf der einen Seite die Menschen, die sich mit Beratungs- oder Therapiewünschen an die Beratungsstelle wenden, nicht verschreckt, die aber trotzdem deutlich benennt, worum es sich bei den Taten der Minderjährigen handelt. • Für die minderschweren Taten wurde der Terminus „sexuell missbräuchliche Handlungen“ gewählt. Dazu zählen z. B. Tatgeschehen, in denen einmal oder nur wenige Male ein jüngeres Opfer über der Kleidung berührt wurde. • Mit dem Begriff „sexuelle Grenzverletzung“ wurde versucht, den Sachverhalt deutlich aber nicht dramatisierend zu beschreiben. Zusätzlich ist in diesem Begriff auch immer die Opferperspektive erkennbar. Sexuelle Grenzverletzung beschreibt ein übergriffiges Verhalten, das einen eher abwertenden, gewalttätigen Charakter hat. Das fängt mit sprachlichen Übergriffigkeiten an und kam in der Beratungsstellenpraxis hauptsächlich in Form von Berühren der Genitalien und sekundären Geschlechtsmerkmalen vor. • Die Begriffe „sexuelle Nötigung“ und „Vergewaltigung“ umfassen die massiveren und eindeutig strafrechtlich relevanten Formen der sexuellen Gewalt: − Unter sexueller Nötigung (§ 177 Abs. 1 StGB) sind sexuelle Handlungen gemeint, die gegen den Willen des Opfers mit Gewalt durchgesetzt werden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 15 − Bei der Vergewaltigung (§ 177 Abs. 2 StGB) geht es zusätzlich um eine Penetration des Opfers, dabei kann es sich entgegen der landläufigen Meinung auch um die Penetration mit einem Gegenstand handeln. • „Sexueller Missbrauch“ (§ 176 StGB) geht von einem Hierarchiegefälle aus, dieses kann sich z. B. aus der Altersdifferenz, unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten, psychische Abhängigkeiten, Gruppendynamiken oder auch sozialen und kulturellen Unterschieden ergeben. Zu dieser Gruppe gehören auch Übergriffe, bei denen eine Penetration stattgefunden hat oder die über einen längeren Zeitraum stattfanden, bei denen also davon ausgegangen werden kann, dass der Schaden für das Opfer größer ist. Dieser Begriff ist unglücklich, weil er suggerieren könnte, es gäbe so etwas wie richtigen Gebrauch. Andererseits ist Sexueller Missbrauch ein Terminus, dessen Inhalt weitgehend geläufig ist. Wegen der Geläufigkeit wurde diese Begrifflichkeit in der Fallerfassung des WENDEPUNKT übernommen. • Eine Gruppe, die wir im Bereich der missbräuchlichen Übergriffe gesondert beschreiben sind die „Inzesttaten“. Inzest meint den sexuellen Kontakt zu jüngeren Geschwistern. Da in diesen Fällen die Tatszenarien fast immer sehr komplex sind und es oft lange dauert, bis in den Familien die Dimension des Geschehenen wirklich realisiert wird und darüber hinaus die Bereitschaft, eine Anzeige zu erstatten, eher als gering einzuschätzen ist, wird davon ausgegangen, dass gerade für diese Tätergruppe ein niedrigschwelliger Zugang zu Beratung und Therapie wichtig ist. • Eine weitere Deliktgruppe, welche gesondert erfasst wurde, sind die „Gruppentaten“, die nach den Untersuchungen von Jutta Elz statistisch überproportional von Jugendlichen begangen werden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 16 5. DIE FALLABHÄNGIGE ARBEIT: VORSTELLUNG UNSERES ANGEBOTES UND ERKENNTNISSE 5.1. DAS FAMILIENINTERVENTIONSTEAM UND DER WENDEPUNKT ARBEITEN ENG ZUSAMMEN UND ERÖFFNEN VERSCHIEDENE ZUGANGSWEGE ZUM HILFESYSTEM Beide Einrichtungen sollten und wollten eng zusammenarbeiten. Für ihre Kooperation war es ausgesprochen hilfreich, dass die Mitarbeiter/innen des FIT, die ausdrücklich dem Modellprojekt zugeordnet waren, über umfangreiche spezifische Kenntnisse verfügten – z.B. im Hinblick auf Verantwortungsabwehrsyndrome oder auf die Notwendigkeit, im direktiven Rahmen zu arbeiten. Sie waren im Umgang mit diagnostischen Instrumenten geschult, mit geeigneten Gesprächsführungsstrategien ausgerüstet und konnten sich gleichermaßen empathisch und konfrontativ mit dem Thema auseinandersetzen. Die Konzeption des Modellprojektes war in der Ausschreibung von der Behörde für Soziales und Gesundheit (BSG) auf ein über unterschiedliche Zugänge erreichbares Hilfeangebot angelegt. • • Jugendliche, gegen die eine Strafanzeige wegen eines Sexualdeliktes vorliegt, werden über die Polizei dem Familieninterventionsteam (FIT), einer Spezialabteilung des Hamburger Jugendamtes, gemeldet. Von dort aus werden erste standardisierte Interventionsschritte eingeleitet. Alternativ können sich nach vermuteten oder aufgedeckten sexuellen Übergriffen Einrichtungen wie Schulen, bezirkliche Jugendämter oder Beratungsstellen, aber auch die Jugendlichen selbst oder deren Familien an den WENDEPUNKT wenden. Zwischen dem FIT und WENDEPUNKT wurde Folgendes vereinbart: • • • • • Alle gemeldeten Fälle werden in die gemeinsame Fallbesprechung eingebracht, wobei jeweils die Einrichtung, an die zuerst gemeldet wird, den Fall in die gemeinsame Fallbesprechung einbringt. Ist der Fall ein HzE-Fall oder erfolgt eine Anzeige, übernimmt das FIT das Case Management, ansonsten liegt das Case Management bei WENDEPUNKT. Ausnahmen bilden HzE-Fälle, die vom ASD gemeldet werden, diese Fälle verbleiben beim ASD (es sei denn der ASD gibt den Fall an das FIT ab oder es erfolgt eine Polizeimeldung) und WENDEPUNKT erhält das Case Management innerhalb des Projektes. Wenn das Case Management eines Falles beim WENDEPUNKT liegt, führt WENDEPUNKT die Diagnostik 1 (BARO, MSI-J, CFT 20) durch. Die Daten fließen über den Meldebogen anonymisiert in die Datenbank ein. Die Anonymisierung der Daten ist unbedingt erforderlich, um meldenden Institutionen und Personen Datenschutz zu garantieren. Danach entscheidet WENDEPUNKT (ggf. mit dem zuständigen ASD) über weitergehende Hilfen und notwendige Diagnostik. Anfragen an WENDEPUNKT, die keine Diagnostik beinhalten (z.B. Fachberatung, Prävention etc.) fließen nicht in die Datenbank ein. Die Vereinbarung zum ersten Punkt (gemeinsame Fallbesprechung) konnte aufgrund der Vielzahl der Fälle nicht eingehalten werden. Fallanfragen, in denen keine diagnostische oder therapeutische Intervention erforderlich war, konnten z. T. nicht in den Fallbesprechungen vorgestellt werden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 17 Verantwortungsstruktur der Fallarbeit in Modellprojekt Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 18 5.2. DER NIEDRIGSCHWELLIGE ZUGANG IM WENDEPUNKT HAT SICH BEWÄHRT! Für die am Modellprojekt beteiligten Fachkräfte vom WENDEPUNKT war von Anfang an klar, dass das besondere Profil eines freien Trägers gerade in der leichteren Zugänglichkeit der Beratungsangebote liegen muss. Konkret bedeutete das, dass der WENDEPUNKT großen Wert darauf gelegt hat, eine Beratungsstelle zu konzipieren, die auf der einen Seite möglichst niedrigschwellig funktioniert, andererseits aber auch verbindlich und angemessen mit den Herausforderungen in der Arbeit mit jugendlichen sexuellen Grenzverletzern umzugehen weiß. Niedrigschwelligkeit heißt in diesem Kontext z.B., dass es Ratsuchenden aus behördlichen Einrichtungen, von freien Trägern oder aus dem sozialen Umfeld der sexuell grenzverletzenden Minderjährigen gleichermaßen möglich sein muss, sich anonym möglichst umfassend zu verschiedenen Themenkomplexen beraten zu lassen. Niedrigschwelligkeit bedeutet aus unserer Sicht aber auch, flexible Sprechzeiten vorzuhalten, kontinuierlich der Stigmatisierung der Zielgruppe entgegen zu wirken und beständig an der Entwicklung von Vernetzung zu arbeiten. Die Beratung und Intervention bei sexuellen Grenzverletzungen ist für die Betroffenen und deren soziales Umfeld dann ein wichtiges Anliegen, wenn es konkrete Vorfälle gegeben hat. Im Alltag hingegen spielt diese Thematik für die meisten Menschen keine große Rolle. Informationen über Angebote, die es rund um die Thematik sexueller Übergriffe gibt, werden deshalb nicht zum aktiven Wissen großer Bevölkerungsgruppen gehören. Das bedeutet für die Zugänglichkeit von Beratung, dass sie weniger in der Breite, als vielmehr qualitativ an entscheidenden Vernetzungspunkten bekannt sein sollte. Dementsprechend gab es zu Beginn des Modellprojektes für folgende Institutionen und Zusammenschlüsse Informationsveranstaltungen: • • • • • die Allgemeinen Sozialen Dienste der bezirklichen Jugendämter die Jugendgerichtshilfe die Jugendbeauftragten der Polizei der Arbeitskreis der Opferberatungsstellen NEXUS (s. auch 5.2.3. und 6.1.3.) verschiedene andere Arbeitskreise, Gremien und Institutionen aus den Bereichen Gesundheitsförderung, Schule und Jugendhilfe. 5.2.1. Fallzahlenentwicklung Die Frequenz der Nachfragen hat sich – wie erwartet – im Verlauf der Projektlaufzeit kontinuierlich gesteigert. Wichtig sind im Rückblick vor allem die guten Kontakte zur Schulbehörde, die z. B. die Zugänge zu Fach- und Beratungslehrerkreisen ermöglichte. Aber auch der kontinuierliche Austausch mit den Opferberatungsstellen, die viele Fallanfragen an die Beratungsstelle des WENDEPUNKT weitergeleitet haben, war bedeutsam. Über den Zugangsweg der Opferberatungsstellen gab es im Laufe der Zeit auch vermehrt Kontakte zu Eltern sexuell grenzverletzender Minderjähriger. Der niedrigschwellige Zugang spielt speziell für Eltern, die von inzestuösen Übergriffen ihrer Kinder erfahren, eine wichtige Rolle. Anders als bei anderen Formen der sexuellen Übergriffigkeit fehlt in vielen Familien, in denen es Inzest gegeben hat, die Bereitschaft, das Geschehene Außenstehenden gegenüber zu thematisieren. Damit wird das Opfer alleine gelassen; aber auch dem übergriffigen jungen Täter gegenüber werden keine Interventionsmaßnahmen ergriffen. Im ersten Halbjahr des Modellprojektes gab es insgesamt nur sieben Fallanfragen. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2010 waren es bereits 42 Beratungsgesuche. ►Es ist also zu erkennen: Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich ein solches hochspezialisiertes Beratungs- und Interventionsangebot etablieren kann. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 19 Insgesamt wurden während der dreijährigen Laufzeit des Modellprojektes 162 Fälle an den WENDEPUNKT herangetragen: 2007 2008 2009 1.07.– 31.12. Fallanfragen insgesamt 7 2010 Gesamt 1.01.– 30.06. 44 69 42 162 2009 2010 Gesamt 5.2.2. Unsere Zugangswege Die Fälle erreichten uns auf ganz unterschiedlichen Wegen: 2007 2008 1.07.– 31.12. 1.01.– 30.06. Zugangswege Fallanfragen durch Schule / Kita 3 8 18 14 43 Fallanfragen durch ASD / FIT 1 25* 13 6 45 davon 12 Diagnostik für FIT Fallanfragen durch JGH 1 3 7 - 11 Fallanfragen durch Eltern etc. - 3 12 4 19 Fallanfragen durch stationäre oder ambulante Einrichtungen 1 5 15 11 32 Fallanfragen durch andere (z.B. Beratungsstellen) 1 4 7 12 162 * Diese sehr hohe Anzahl an Fallanfrage erklärt sich dadurch, dass der WENDEPUNKT in 2008 wegen eines Engpasses im FIT vorübergehend die diagnostischen Aufgaben dieser Einrichtung übernommen hat. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 20 5.2.3. Zunehmend erreichen uns Fälle aus den Opferberatungsstellen Von Beginn an war es den Mitarbeiter/innen des Modellprojektes ein wichtiges Anliegen, einen guten Kontakt zu den Opferberatungsstellen herzustellen. Historisch gesehen ist das keine Selbstverständlichkeit! Die Opferberatungsstellen, die z. T. aus einem feministischen Kontext heraus entstanden sind, standen der Arbeit mit Tätern aus verschiedenen Gründen skeptisch gegenüber. Neben pragmatischen Befürchtungen, wie z. B. der Angst, dass Mittel für Beratung und Therapie der Täter und Tatverdächtigen und deren sozialem Umfeld aus der Opferberatung abgezogen werden könnten, gibt oder gab es sicherlich auch eine grundsätzliche Skepsis gegenüber diesem Arbeitsfeld. Die Mitarbeiter/innen der Opferberatungsstellen sind tagtäglich mit den Konsequenzen von sexueller Übergriffigkeit für ihre überwiegend weiblichen Klientinnen konfrontiert. Zwangsläufig ist es schwierig, in einem solchen Arbeitskontext so etwas wie Wertschätzung oder auch nur einen differenzierten Blick auf den einzelnen Täter zu entwickeln. Der WENDEPUNKT hat seinen Ursprung in der Beratung von Opfern sexueller Gewalt. Aus dieser Erfahrung heraus ist der Ansatz der Ambulanten Rückfallprophylaxe ganz bewusst als ein Programm entwickelt worden, das sich in seiner Zielrichtung auch dem direkten Opferschutz verpflichtet fühlt. In der Praxis bedeutet dies, dass in unseren Fachberatungen die Frage nach dem Schutz und der Sicherheit des Opfers von zentraler Bedeutung ist. Rückfallprophylaxe versteht sich darüber hinaus auch grundsätzlich als Intervention, die weitere Opfer vermeiden helfen will. Vor diesem Hintergrund ist es aber ebenso wichtig, die sexuell grenzverletzenden Jugendlichen für sich zu sehen - als Menschen, deren Übergriffigkeit sehr oft Zeichen individuell nicht gelingender Lebensentwürfe oder zum Teil auch als Folge eigener traumatischer Erlebnisse sein kann. Die Herausforderung besteht darin, diesen Jugendlichen zu vermitteln, dass sie als Menschen akzeptiert und wertgeschätzt, ihre Taten aber verurteilt werden und sie sich den Konsequenzen stellen müssen. Dieser Haltung ist für Fachkräfte, die in ihrem Alltag mit den Konsequenzen und dem Leid, das aus sexuell übergriffigem Handeln entsteht, konfrontiert sind, schwer einnehmbar. Im Modellprojekt zeigte sich, dass es aber durchaus die Bereitschaft gibt, die unterschiedlichen Haltungen von Opfer- und Täterarbeit nebeneinander bestehen zu lassen und mit dem gemeinsamen Ziel, durch Aufklärung, Prävention und Therapie das Ausmaß und die Folgen sexuell grenzverletzenden Handelns möglichst zu begrenzen, in einen Austausch zu gehen. Umgesetzt wird dieses Interesse an Austausch und Kooperation zum Beispiel in gemeinsamen Fortbildungen für therapeutische und pädagogische Fachkräfte, in denen Fragen von unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet werden können. Ein differenzierter Blick macht dann z. B. klar, dass die Notwendigkeit einer Anzeige nach einer Tat aus Sicht von Opfer- und Täterberatung ganz unterschiedlich eingeschätzt werden kann - ohne dass es dabei um richtig oder falsch geht. Über die Teilnahme am Nexuskreis, über gemeinsam angebotene Fortbildungen aber auch über die Einbindung der Opferberatungsstellen in den das Modellprojekt begleitenden Arbeitskreis ist ein kontinuierlicher Kontakt zu den Kolleginnen aus den Opferberatungsstellen entwickelt worden. Dies führte zu vermehrter Vermittlung von Ratsuchenden an den WENDEPUNKT. Häufig nehmen die Beratungsstellen / Opferberatungsstellen nicht direkt Kontakt mit dem WENDEPUNKT auf, sondern sie verweisen im Zuge ihrer eigenen Beratungen an uns, so dass dann der direkte Zugangsweg z.B. über die Eltern hergestellt wird. Die folgende Übersicht zeigt Fälle, die entsprechend bereits unter 5.2.1. erfasst wurden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 21 2007 2008 2009 1.07.– 31.12. 2010 Gesamt 1.01.– 30.06. Fallverweisungen Fallverweisungen durch andere Einrichtungen (z.B. Beratungsstellen, Opferberatungsstellen) 1 6 17 12 36 Die zunehmend enger werdende Zusammenarbeit mit den Opferberatungsstellen war insofern besonders erfreulich, als gerade darüber Kontakt von Personen zu uns aufgenommen wurde, bei denen es zumindest Befürchtungen geben könnte, dass sie unter anderen Vorzeichen gar keine Beratung in Anspruch genommen hätten. Ein Beispiel dafür sind Fälle von Übergriffen innerhalb von Familien. Inzest löst innerhalb eines Familiensystems fast regelhaft heftige Konflikte aus, die kaum oder nicht lösbar erscheinen. Die Gefahr besteht dann häufig, dass Übergriffe bagatellisiert oder geleugnet werden – mit der Folge, dass weder dem Opfer Unterstützung noch dem übergriffigen Jugendlichen eine therapeutische Intervention angeboten wird. 5.3. UNS ERREICHEN UNTERSCHIEDLICHE FALLANFRAGEN 5.3.1. Alter, Migrationshintergrund, kognitive Beeinträchtigung Alter In der überwiegenden Zahl der Anfragen ging es um (mutmaßliche) Täter im Jugendalter, innerhalb einer Altersspanne zwischen fünf und 18 Jahren. Das Durchschnittsalter der sexuell devianten Jungen, wegen derer der WENDEPUNKT e. V. kontaktiert wurde, lag relativ konstant zwischen 13,3 und 13,8 Jahren. 2007 2008 2009 1.07.– 31.12. 2010 1.01.– 30.06. Alter Altersspanne Altersdurchschnitt 12 - 18 5 - 18 6 - 18 9 - 18 13,8 13,3 13,7 13,8 Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 22 Migrationshintergrund Der Anteil der Jungen mit Migrationshintergrund an der Gesamtzahl unserer Klienten entspricht knapp 30 % und damit nicht dem Anteil, den diese Klientel an der Gesamtpopulation in Deutschland hat. 2007 2008 2009 1.07.– 31.12. Migrationshintergrund 3 2010 Gesamt 1.01.– 30.06. 15 18 12 48 Insgesamt gibt es in der Bevölkerung und auch bei den Fällen, die nach einer Strafanzeige beim FIT gemeldet werden, einen deutlich größeren Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Etwa 45% aller Kinder und Jugendlichen Hamburgs im Alter von 6 bis 18 Jahre haben laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes 2005 einen Migrationshintergrund. Wir erklären uns diesen Umstand derzeit folgendermaßen: • Möglicherweise ist unser Beratungsangebot noch nicht so niedrigschwellig, dass es die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund genauso erreicht wie andere. • Im Kontakt vor allem mit Eltern mit Migrationshintergrund erleben wir häufig eine noch größere Skepsis und Angst gegenüber Interventionen von außen als in den übrigen Familien. Es ist noch nicht geglückt, bspw. über Kolleg/innen mit Migrationshintergrund diese Schwelle zu überwinden. • Für Einrichtungen aus der Jugendhilfe und für Schulen stellt die Auseinandersetzung mit dem Thema „Sexuelle Übergriffe durch Jugendliche“ ohnehin eine hohe Herausforderung dar, die nicht immer dazu führt, dass daran stringent gearbeitet wird. Das Thema löst regelmäßig Widerstände, Abwehrreaktionen, Verunsicherung, Angst und Überforderungsempfinden aus. Diese Reaktionen und Gefühle werden möglicherweise noch einmal potenziert, wenn zusätzlich migrationsbezogene Fragen beantwortet werden sollen. Die Gefahr, in einem solchen Fall weder konsequent noch fachlich angemessen zu reagieren, sondern Verantwortung zu delegieren oder Beobachtungen auszublenden, ist nicht unerheblich. Uns sind selbstverständlich auch Fälle bekannt, in denen genau gegenteilig reagiert wird und wegen eine Migrationshintergrundes vorschnell, vorurteilsgeleitet und damit ebenso unangemessen gehandelt wird. • Möglicherweise sind die proportional geringen Fallzahlen auch damit zu erklären, dass wir in einigen der Fälle, in denen wir den/die Jugendlichen gar nicht direkt kennen lernen, auch nicht erfahren, ob ein Migrationshintergrund vorliegt. Aus dieser Hypothese werden wir zukünftig die Konsequenz ziehen, regelmäßig danach zu fragen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 23 Kognitive Beeinträchtigung Der Anteil der Fallanfragen im Zusammenhang mit kognitiv beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen (IQ unter 80) ist dagegen deutlich höher (27 %) als deren Anteil in der Gesamtbevölkerung. 2007 2008 2009 1.07.– 31.12. Kognitive Beeinträchtigung 2 2010 Gesamt 1.01.– 30.06. 10 20 12 44 Mögliche Erklärungsansätze dafür könnten sein: • Diese Jugendlichen sind häufig sehr viel engmaschiger in ein professionelles Erziehungsumfeld eingebunden, welches sich im Ernstfall auch eher Unterstützung durch Beratung von außen sucht. • Gerade diese Personengruppe (und zum Teil auch ihr soziales Umfeld) sind eher nicht in der Lage, ihr grenzverletzendes Verhalten so zu vertuschen oder zu bagatellisieren, dass es zu keinen Interventionen kommt • Sexualerziehung, Aufklärung und angemessene Orte zum Ausprobieren fehlen für diese Jugendlichen noch häufiger als für die anderen. 5.3.2. Tätertypologie und Deliktbereiche Zunächst unterscheiden wir zwischen den beiden folgenden Kategorien Hands off und Hands on • • Der Begriff Hands Off - Delikte meint Übergriffe, die ohne körperlichen Kontakt auskommen. Dazu gehören bspw. verbale sexuelle Gewalt und Exhibitionismus. Hands On - Delikte können von Berührungen bis hin zu Penetrationen reichen. Mit diesen Kategorien wird jedoch nicht erfasst, welche Bedeutung der Übergriff für das Opfer hatte. Sie lassen auch nicht erkennen, inwieweit Gewalt eingesetzt oder Manipulation ausgeübt wurde. Tätertypologie Eine klar abgegrenzte Tätertypologie ist im Bereich der minderjährigen Täter nur eingeschränkt möglich – vor allem deswegen, weil sich Kinder und Jugendliche naturgemäß noch stark in der Entwicklung und somit erst in der Ausbildung von bestimmten Verhaltens-, Denk- und Gefühlsmustern befinden. Von festgelegter Täterpersönlichkeit kann also noch keine Rede sein. Dennoch unterscheiden wir – auch vor dem Hintergrund des ASAP, der zu unseren diagnostischen Instrumenten gehört (vgl. 5.7.2.), - zwischen zwei Gruppen: Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 24 Rapist und Abuser • • Für den sexuellen Übergriff unter Einsatz von Gewalt wird der Täter als ‚Rapist‘ beschrieben und erhält im Rahmen der Diagnostik und Rückfallprognostik - neben dem allgemeinen - einen entsprechenden deliktbezogenen Fragebogensatz. Der Täter, dessen Vorgehen eher manipulativ ist und der hierarchisches Gefälle ausnutzt, bekommt den zu ergänzenden ‚Abuser‘ Fragebogensatz aus dem ASAP. Diese Unterscheidung ist selbstverständlich zunächst eher grober Natur und gerade auch im Hinblick auf eventuelle Stigmatisierungen nur für den internen Gebrauch bestimmt. Tatsächlich lassen sich beide Tätertypen aufgrund der Ergebnisse des ASAP jedoch recht gut voneinander differenzieren. Grenzfälle Darüber hinaus werden im WENDEPUNKT Grenzfälle vorgestellt, in denen den Fallanfragenden nicht klar ist, ob es sich um Doktorspiele, pubertäres Ausprobierverhalten, leichte sexuelle Grenzverletzungen oder um sexuelle Gewalt handelt. Solche Fälle, in denen es klar nur um Doktorspiele oder Ausprobierverhalten geht, werden in der folgenden Übersicht zu den Deliktbereichen nicht erfasst. Deliktbereiche Deliktbereiche, die den Jugendlichen vorgeworfen werden 2007 2008 2009 1.07.– 31.12. 2010 1.01.– 30.06. Gesamt Tätertypus „Abuser“ (manipulativ, nutzt Hierarchien aus) Sexueller Missbrauch Hands on Delikte Hands off Delikte 3 5 5 13 Sexuell missbräuchliche Handlungen 1 6 12 10 29 Inzest 1 - 5 4 10 1 3 2 6 1 1 2 4 Konsum und Verteilung von Pornografie Exhibitionisten 62 Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 25 Gesamt Tätertypus „Rapist“ (Einsatz von Gewalt) „Sexuelle Grenzverletzung“ 4 18 23 18 63 1 1 16 4 22 2 4 2 8 - 6 3 9 6 14 13 33 (minder schwer) Hands on Delikte Nötigung Vergewaltigung Nötigung / Vergewaltigung als Gruppendelikt Hands off Delikte Verbale sexuelle Gewalt 135 N = 162 Mehrfachnennungen möglich, weil einzelnen Klienten mehrere Delikte vorgeworfen werden. Von den insgesamt 162 Fallanfragen gehörten in die ‚Rapist‘ Kategorie 135, davon 96 im Bereich „sexuelle Grenzverletzung“ sowie „verbale sexuelle Gewalt“, 22 in den Bereich der Nötigung und gegen acht Klienten richtetet sich der massive Vorwurf der Vergewaltigung. Die neun Nachfragen, in denen es sich um Gruppendelikte, vorwiegend um so genannten „Gang Bang“, handelte, sind Teil dieser Kategorie. Fallanfragen mit diesem Inhalt gab es erst ab Mitte 2009 (vgl. auch 5.9.). Klar abgrenzbar als „Sexueller Missbrauch“ oder „Sexuell missbräuchliche Handlung“ waren 42 Übergriffe, die in den Beratungen thematisiert wurden. Zu dieser Zahl sind die zehn Inzestfälle hinzuzuzählen. Wegen des Konsums oder der Weiterverbreitung von Kinderpornographie, vorwiegend über das Internet, gab es darüber hinaus sechs Beratungsanliegen. 5.3.3. Fallbeispiele und Beratungsanliegen Im Folgenden sollen exemplarisch Fallanfragen vorgestellt werden, wobei zunächst grundsätzlich festzustellen ist, dass sich an uns direkt in erster Linie solche Anfragen richten, in denen (noch) keine Strafanzeige vorliegt. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass die anfragende Person/Einrichtung nur in Ausnahmefällen eine sozialtherapeutische oder sexualpädagogische Hilfe für einen oder mehrere Jugendliche anregt. In vielen Fällen werden erste Sondierungen, Bewertungen, Unterstützung des Umfeldes, Fachberatungen zum Umgang mit spezifischen Fragen et. gewünscht. Wenn uns beispielsweise eine Schulleitung anfragt, weil mehrere Schüler ihrer Schule sexuelle Gewalt gegen eine Schülerin ausgeübt hat, so kann die Intervention, die von uns erwartet wird, ganz unterschiedlicher Natur sein: • Möglicherweise gibt es – bei strafmündigen Schülern – bereits eine Strafanzeige, oder die Schüler sind der Schule verwiesen worden, oder sie sind vielleicht sogar stationär in einer Einrichtung untergebracht, aber mit dem Rest der Klasse muss an deren Fragen und Verunsicherungen gearbeitet werden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 26 • • • • • • Möglicherweise gab es Schüler/innen, die den Übergriff zwar mitbekommen haben, die aber – aus ganz unterschiedlichen Gründen – nicht eingeschritten sind und geholfen haben. Diese Schüler/innen machen sich vielleicht Vorwürfe oder mit ihnen muss gearbeitet werden, damit sie zukünftig Opferempathie entwickeln können. Möglicherweise wünscht das Kollegium eine Beratung/Fortbildung zu der Frage, ob und wie solche Übergriffe zukünftig verhindert werden können oder wie sie mit dem Opfer umgehen sollen. Möglicherweise wünschen die Mädchen der Klasse Unterstützung, um sich ggf. vor entsprechenden Übergriffen schützen zu können – eine solche Anfrage würden wir weiterleiten. Möglicherweise brauchen Eltern Unterstützung bei der Verarbeitung des Vorfalles. Möglicherweise soll über das FIT (nach einer Strafanzeige), das Jugendamt (ohne Strafanzeige) eine Ambulante Rückfallprophylaxe eingeleitet werden und wir werden als entsprechende Interventionsstelle angesprochen. Möglicherweise wollen die Eltern eines oder mehrerer Täter, dass ihr Sohn sich einer entsprechenden Rückfallprophylaxe stellt. In einem solchen Fall würden wir an das entsprechende FIT /Jugendamt verweisen und die Einleitung eines Hilfeplanverfahrens anregen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 27 Beispiel für Fallanfrage Fallanfragende/r Anliegen des/der Fallanfragenden Interventionsmaßnahme des WENDEPUNKT Weitere Interventionsmaßnahmen Ein 14- Jähriger hat seine fünf Jahre jüngere Halbschwester über ein halbes Jahr regelmäßig an den Genitalien berührt und sie mit Drohungen und Versprechungen dazu gebracht, nichts davon zu erzählen. Das Mädchen offenbarte sich zuerst dem Stiefvater, der die Vorwürfe jedoch nicht ernstnahm. Ein zweites Mal erzählte sie ihrer Mutter von dem Verhalten des Bruders. Die Frau ist selber durch sexuelle Gewalt traumatisiert. Diese wendete sich an eine Opferberatungsstelle, die wiederum an den WENDEPUNKT verweist. Mutter/ Eltern ● Die Familie wieder „funktionsfähig“ machen Krisenintervention in der Familie Unterbringung in einer spezialisierten WG ● Schutz der Tochter sicherstellen Diagnostik / Gefährdungseinschätzung Familientherapie ● Einschätzung der Rückfallgefahr ● Hilfe für den Sohn Einschalten von FIT Beratung der Eltern Ambulante Rückfallprophylaxe (ARP) Opferberatungsstelle unterstützt Mutter im Umgang mit der Tochter Tochter will keine eigene Hilfe. Nach Gesprächen mit der Mutter, dem Sohn und anderen Familienangehörigen wird mit der Mutter vereinbart, das Familieninterventionsteam einzuschalten und dort das Fallmanagement übernehmen zu lassen. Eine Strafanzeige gegen ihren Sohn kommt für die Mutter keinesfalls in Frage. Die Beratungslehrerin einer Gesamtschule ruft beim WENDEPUNKT an, weil in einer 7.Klasse mehrere Jungen die Mädchen immer wieder bedrängten und auch an den Brüsten und dem Gesäß betatschten. Mit Drohungen produzierten sie ein Klima, in dem sich die Mädchen nicht trauten, etwas über die Übergriffe zu erzählen. Schließlich platzte es während des geschlechtsgetrennten Sexualkundeunterrichtes doch aus einem Mädchen heraus. Die Eltern der betroffenen Mädchen erstatteten keine Anzeige. Von der Beratungsstelle für Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung wird die ratsuchende Lehrerin an den WENDEPUNKT weitervermittelt. Lehrerin ● Klärung des Sachverhaltes Fachberatung des Kollegiums ● Auseinandersetzung mit Verunsicherung im Kollegium Mit den Mitläufern werden „normenverdeutlichende Gespräche“ geführt. ● Eltern überzeugen, dass Söhne Unterstützung brauchen/dass kein Kavaliersdelikt vorliegt. ● Unterstützung im Umgang mit der Klasse; der Schülerin, die aufgedeckt hatte, wird illoyales Verhalten vorgeworfen. Gespräche mit den Eltern der Mitläufer Sekundärpräventives Unterrichtsprojekt in der Klasse nach Einschalten von FIT : ARP für den hauptsächlich übergriffigen Jungen Die Schule erteilt dem Anführer der Gruppe einen Schulverweis. FIT verfügt Rückfallprophylaxe. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 28 Beispiel für Fallanfrage Fallanfragende/r Anliegen des/der Fallanfragenden Interventionsmaßnahme des WENDEPUNKT Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes hat die Aufgabe, einen möglicherweise sexuell grenzverletzenden Jugendlichen stationär unterzubringen. Sie meldet sich beim WENDE- Jugendamt ● Es soll eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen werden. Diagnostik/ Rückfallprognostik In einer JVA wird eine Gruppe von inhaftierten jungen Sexualstraftätern sozialtherapeutisch durch den WENDEPUNKT begleitet. Ein Insasse hat seine Haftstrafe verbüßt und soll entlassen werden. Er befürchtet in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, wenn er ohne Hilfe in seine alte Umgebung zurückkommt. Er bittet um Unterstützung. JVA ● Nachsorge nach JVA- Aufenthalt/Stabilisierung und Reintegration in den Alltag sozialtherapeutische Begleitung – finanziert über Justizbehörde Ein 17-Jähriger wendet sich an die Beratungsstelle. Er beschreibt pädophile Interessen und konsumiert intensiv (kinder-)pornografische Darstellungen. Er leidet unter seinem Verhalten und will sich besser unter Kontrolle bekommen. Er will keinesfalls einen Antrag auf HzE beim Jugendamt stellen. 17-Jähriger ● Opferschutz Sozialtherapeutische Begleitung im Rahmen der pauschalen Zuwendung. PUNKT, weil sie Schwierigkeiten hat, eine Wohngruppe zu finden, die einen Jungen mit dieser Problematik aufnimmt. Inhaftierter ● Jugendlicher will alternative Verhaltensweisen trainieren Weitere Interventionsmaßnahmen Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 29 Beispiele für Fallanfragen Fallanfragende/r Anliegen des/der Fallanfragenden Interventionsmaßnahme des WENDEPUNKT Zwei 14-jährige Mädchen berichten in einem Jugendhaus, dass sie bei einer Party waren und gegen Morgen weitgehend entkleidet in der Wohnung des Gastgebers aufgewacht sind. Sie geben zu, Alkohol getrunken zu haben und können sich kaum daran erinnern, was am Abend zuvor geschehen war. Sie befürchten, K-O Tropfen bekommen zu haben. Ihnen tut alles weh. Die Eltern sollen nicht wissen, dass sie bei einer Party waren. Jugendhausmitarbeiter ● Klärung des Sachverhaltes Fachberatung ● Mädchen sollen unterstützt werden. Verweis auf Rechtsmedizin In einer Grundschule kommt es zu sexuellen Handlungen unter Kindern. Unklar ist, ob es sich um Übergriffe oder um Neugierde und Doktorspiele geht. Einige Eltern sind sehr aufgeregt. Lehrerin ● Mitarbeiter/innen wollen sicherer im Umgang mit dem Thema „Sexuelle Übergriffe unter Gleichaltrigen“ werden. Eltern Fortbildung der Mitarbeiter/innen ● Klärung des Sachverhaltes Beratung des Kollegiums ● Verunsicherung der Lehrkräfte soll abgebaut werden. Beratung der Eltern ● Eltern sollen beruhigt werden. Ein 13- jähriger Schüler mit unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten, der in einer Wohngruppe lebt, ist verschiedene Male mit sexuellen Übergriffen gegenüber Mitbewohnern auffällig geworden. Die ersten Übergriffe, bei denen er versuchte, gleichaltrigen aber vor allem jüngeren Mitbewohnern an die Genitalien zu greifen, wurden von den Mitarbeiter/innen der Wohngruppe zunächst nicht wirklich ernst genommen. An einem Nachmittag wird er in dem Zimmer eines neunjährigen Jungen mit heruntergelassener Hose erwischt. Der Neunjährige erzählt, dass der Ältere ihn dazu aufgefordert habe, seinen Penis in den Mund zu nehmen. Pädagogische Leitung der Wohngruppe ● Thema „Sexualität“ soll aus Tabuzone herausgeholt; blinde Flecken sollen bearbeitet werden. ● Opferschutz: Der Junge soll seine Übergriffe einstellen. Weitere Interventionsmaßnahmen Fachberatung zur Vorbereitung auf eintägigen Teamtag Sexualpädagogische Fortbildung der Mitarbeiter/innen Unterstützung bei der Bearbeitung eines Konzeptes zum Umgang mit sexuellen Übergriffen innerhalb der Einrichtung Sexualpädagogische Beratung des Jugendlichen Sexualpädagogische Einrichtung führt Elternabend zum Thema „Psychosexuelle Entwicklung von Kindern“ durch Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 30 5.3.4. Verteilung unserer Interventionsmaßnahmen Der folgende Überblick verdeutlicht, welche Interventionsmaßnahmen von Seiten des WENDEPUNKT ergriffen wurden. Die jeweilige Maßnahme umfasst i.d.R. mehrere Gespräche bzw. Sitzungen. Unsere Interventionsmaßnahmen 2007 2008 2009 1.07.– 31.12. (Telefonische) Erstberatung, z.B. zur Klärung des Sachverhaltes oder zur ersten Informationsvermittlung bspw. im Hinblick auf Möglichkeiten des Opferschutzes 7 2010 1.01.– 30.06. 44 „Niedrigschwellige“ Maßnahmen 69 Gesamt 42 162 Gesamt: 217 Elterngespräche - 3 12 4 19 Fachberatungen - z.T. mehrere Beratungsgespräche in verschiedenen Settings 6 68 62 27 163 10 8 18 4 2 17 Sekundärpräventive (Unterrichts-) Projekte mit Jugendlichen Informations-/Fortbildungsangebote in Kollegien / Teams nach einem aktuellen Vorfall 1 10 (Sozial-)Therapeutische Interventionen Achtung: Über HzE Mittel finanziert! Gesamt: 54 1 13 13 6 33 - 3 2 2 7 Sozialtherapeutische Begleitung im Rahmen des Modellprojektes, ohne Verfügung durch das Jugendamt 2 3 1 Sexualpädagogische Beratungen z.T. in Kleingruppen - 1 2 2 5 6 4 10 Ambulante Rückfallprophylaxe (ARP) z.T. inkl. Diagnostik • Davon ARP für kognitiv Beeinträchtigte (U 80) Normenverdeutlichende Gespräche z.T. in Kleingruppen Maßnahmen zur Diagnostik - unabhängig von einer ARP durchgeführt 6 Gesamt: 14 Achtung: Über HzE Mittel finanziert! 13 13 1 2 Diagnostik Diagnostik ohne Verfügung, d.h. aus Modellmitteln finanziert 1 Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 31 5.4. DIE FINANZIERUNG DER FALLBEARBEITUNG ERFOLGT AUS VERSCHIEDENEN BUDGETS Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit sexuell auffälligem Verhalten wird in Hamburg aus verschiedenen „Töpfen“ finanziert: 5.4.1. Finanzierung aus Mitteln des Modellprojektes Die dem Modellprojekt zur Verfügung stehenden Mittel wurden – wie unter Punkt 3. bereits ausgeführt – sowohl der Bearbeitung niedrigschwelliger Fälle als auch der Erledigung fallunabhängigen Aufgaben zugeführt. Da ein wesentliches Ziel des Modellprojektes u.a. darin bestand, Standards für eine Ambulante Rückfallprophylaxe zu erarbeiten, fallunabhängige Fachberatungen zu ermöglichen, Kooperationsbezüge (weiter-)zu entwickeln sowie Fortbildungsmaßnahmen zu konzipieren und umzusetzen, ist der weitaus größere Teil des Zuschusses diesem Bereich zugute gekommen. Dennoch wollten wir eine Fallbearbeitung unabhängig von der Zuweisung durch das FIT ermöglichen. Beim FIT „landen“ i.d.R. nur Fälle, in denen bereits eine Strafanzeige erfolgt ist. Bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit sexuell auffälligem Verhalten kann jedoch – aus ganz unterschiedlichen Gründen - nicht immer eine polizeiliche Ermittlung zur Voraussetzung für eine Beratungsaufnahme gemacht werden. Vor diesem Hintergrund sind wir auch in 117 Fallanfragen - unabhängig von einer Finanzierung durch das FIT/Jugendamt aus Erziehungshilfemitteln nach dem SGB VIII - beratend tätig geworden. (vgl. 5.3.4.) 5.4.2. Finanzierung aus Mitteln der Erziehungshilfe Es ist hoheitliche Aufgabe des Jugendamtes, nach Beantragung durch die Sorgeberechtigten und einem entsprechenden Hilfeplanverfahren ggf. Hilfen zur Erziehung zur Verfügung zu stellen. Hierzu stehen verschiedene Maßnahmen nach dem SGB VIII zur Verfügung. Wir haben für unsere Ambulante Rückfallprophylaxe sowie für diagnostische Maßnahmen entsprechende Leistungsbeschreibungen vorgelegt und die Kosten für eine Fachleistungsstunde vereinbart. Darüber wurde die Grundlage geschaffen, dass Maßnahmen zur Ambulanten Rückfallprophylaxe durch den öffentlichen Träger der Jugendhilfe verfügt werden können. 5.4.3 Finanzierung aus Mitteln der Justizbehörde Justizvollzugsanstalt (JVA) Einige Zeit nach Modellstart ist die Justizbehörde Hamburg mit dem Ziel auf uns zugekommen, eine sozialtherapeutische Maßnahme für den „Geschlossenen Strafvollzug“ zu konzipieren und gemeinsam mit der dort tätigen sozialpädagogischen Fachkraft durchzuführen. Auch hier wurde eine Leistungsbeschreibung vorgelegt und eine entsprechende Finanzierung vereinbart. Daraus folgt, dass auch hier die sozialtherapeutische Intervention nicht aus Modellmitteln finanziert wurde. Zwischenzeitlich wurde zusätzlich eine sozialtherapeutische Nachsorge für Jugendliche und junge Erwachsene vereinbart, die nach längerer Inhaftierung entlassenen werden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 32 „Pilotvereinbarung“ mit der Justizbehörde In Ergänzung zur forensischen Versorgung von zu Freiheitsstrafen verurteilten Sexualstraftätern beim Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, hat die Hamburger Justizbehörde mit dem WENDEPUNKT eine Pilotvereinbarung geschlossen. Sie zielt darauf ab, die speziellen Kenntnisse des WENDEPUNKT zur Betreuung junger oder intelligenzgeminderter Sexualstraftäter zu nutzen, aber auch neue Kapazitäten für die Behandlung sonstiger Verurteilter zu erschließen, die wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung nach §§ 174 bis 180 oder § 182 StGB zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung gemäß § 56 StGB verurteilt wurden. Auch soll ein Therapieangebot für Personen bereitgehalten werden, die wegen einer Straftat nach §§ 183, 184b StGB verurteilt wurden. Auch für diesen Aufgabenbereich wurde eine zusätzliche, modellprojektunabhängige Finanzierung vereinbart. 5.4.4. Rückfallprophylaxe in stationären Angeboten als Annexleistung Wir haben inzwischen mit verschiedenen Trägern stationärer Angebote für Kinder und Jugendliche mit sexuell auffälligem Verhalten eine Kooperation vereinbart. Vor diesem Hintergrund bieten wir innerhalb der jeweiligen Einrichtungen oder auch in unseren Räumen sozialtherapeutische Maßnahmen zur Rückfallprophylaxe an, die die Träger als Annexleistungen mit ihren Kostenträgern abrechnen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 33 5.5. DIE ARBEIT MIT SEXUELL AUFFÄLLIGEN MINDERJÄHRIGEN BRAUCHT EINE SPEZIFISCHE HERANGEHENSWEISE Die Ambulante Rückfallprophylaxe (ARP) orientiert sich in ihrer kognitiv–behavioralen Ausrichtung an vergleichbaren Programmen im europäischen Ausland, wie beispielsweise an der Methode „Dauerhafte Veränderung“ aus den Niederlanden (Hendriks und Bullens 1998; Nowara und Pierschke 2005). Grundlagen und Herausforderungen des deliktorientierten Ansatzes in der Täterarbeit Ein Prinzip der ARP ist die, teils auch konfrontative, Auseinandersetzung mit dem Übergriff oder der sexuellen Auffälligkeit des Jugendlichen. Erfahrungsgemäß ist es für die meisten Menschen nicht einfach, über die dunklen Seiten ihrer Sexualität zu sprechen. Im Gegenteil, selbst für erste sexuelle Erfahrungen, die sich im Rahmen dessen bewegen, was in der Gesellschaft für Jugendliche als angemessen angesehen wird, fehlt die Sprache aber auch die Gelegenheit, um darüber kommunizieren zu können. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf Erwachsene, die als Gegenüber in der Adoleszenz häufig nur eine begrenzte Rolle spielen (können), sondern ebenso für die Gleichaltrigen, die nicht darauf vorbereitet sind, das Thema Sexualität anders als mit markigen Sprüchen abzuhandeln. Jungen, die in der Adoleszenz erste Erfahrungen mit gelebter Sexualität machen, fehlen häufig die Voraussetzungen, ihre Bedürfnisse, Gefühle und Ängste angemessen zu thematisieren. Männlichen Jugendlichen schwebt oftmals ein Phantasiemodell vom Sex vor (Zilbergeld 1994). Dies wird von den Bildern über Sexualität verstärkt, die viele unserer Klienten schon sehr frühzeitig und unkontrolliert über die neuen Medien konsumieren, die aber auch, in Form von pornographischen DVDs und Videos, in den Familien oder der Peergruppe zirkulieren. Eine Aufarbeitung der teilweise extremen Bilder, die die Jungen meistens nicht mit einer real gelebten Sexualität abgleichen können, findet weder in der Familie noch in der Schule statt. Ein Grund dafür kann der Umgang mit dem Thema Sexualität in der Familie sein. Darüber hinaus findet an den Schulen Aufklärung oft nur in Form von Information über körperliche Vorgänge statt. Sexualpädagogik fristet in der Praxis und in der Lehre für pädagogische Fachkräfte immer noch ein Schattendasein. Umso schwieriger wird es für die Jungen, über ihre Sexualität zu reden, wenn sie in diesem Bereich bereits negativ auffällig geworden sind. • Kooperation des Helfersystems Die Dynamik in Fällen von sexuellen Grenzverletzungen, macht es nötig, dass alle Beteiligten im Helfersystem kooperieren. Für eine effektive Behandlung der Jugendlichen gilt es zu verhindern, dass sich die oftmals vorhandenen Leugnungs- und Bagatellisierungstendenzen im Helfersystem etablieren können. Dazu sind eine enge Zusammenarbeit und eine möglichst große Transparenz (unter Wahrung des Datenschutzes) die besten Voraussetzungen. Zusätzlich ist eine Rollenklärung vorab im Helfersystem notwendig. Jungen, die sexuelle Übergriffe begangen haben, befinden sich gerade nach Aufdeckung der Tat häufig selbst in einer großen seelischen Notlage. Darauf muss geachtet und sie müssen entsprechend begleitet werden. Insgesamt sind ihre Übergriffe aber auch als Symptom ihrer eigenen Probleme, Nöte und Konflikte zu verstehen. Kein Junge, dem es gut geht, der sich geliebt, geborgen, verstanden und wertgeschätzt fühlt, der sich selbstwirksam, stolz und erfolgreich erlebt, der Freunde und andere ihn erfüllende Beziehungen hat, wird mit Macht und auf Kosten anderer seine sexuellen Bedürfnisse an Kleineren oder Unterlegenen ausleben. Eine deliktorientierte Ambulante Rückfallprophylaxe ist für die übergriffigen Jungen eine hohe Herausforderung. Über viele Monate immer wieder und immer detaillierter darüber sprechen zu müssen, was sie am liebsten so schnell wie möglich aus ihrem Leben aus- Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 34 blenden würden, kann sehr belastend für sie sein. Sie müssen Verantwortung auch den anderen in der Gruppe gegenüber für ihre Tat übernehmen, sich mit ihren Ängsten, ihrer Scham und ihren anderen unangenehmen Gefühlen, Gedanken, Fantasien und Erinnerungen konfrontieren. All das kann diese Jungen in einem hohen Maße verunsichern. Daher ist es Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung, dass sie sich in dieser Zeit in einem stabilen und verlässlichen sozialen Umfeld befinden, das ihnen Orientierung, Perspektive und ein notwendiges Maß an Sicherheit bietet. Möglicherweise kann es auch während der Behandlung zu vermehrt auftretenden Konflikten mit dem Jungen kommen, die dann entsprechend begleitet werden sollten. • Direktiver Rahmen Kindliche und jugendliche sexuelle Missbraucher kommen nicht von sich aus in die Behandlung. Sie brauchen einen lückenlosen und dauerhaften direktiven Rahmen für die Behandlungsaufnahme und -durchführung. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie die Behandlung gar nicht erst aufnehmen oder frühzeitig wieder abbrechen. Bei ausbleibender Intervention besteht aber das Risiko weiterer Übergriffe und damit die Entstehung von Täterkarrieren. Der Grundsatz von Freiwilligkeit und Mitwirkungsbereitschaft in der öffentlichen Jugendhilfe stößt in diesem Kontext an seine Grenze. Der erforderliche direktive Rahmen kann bei strafmündigen Tätern i.d.R. über jugendgerichtliche Weisungen hergestellt werden. Dabei hat der/die Jugendliche die Wahl, sich auf eine Behandlung einzulassen oder das Risiko einzugehen, möglicherweise eine Strafe verbüßen zu müssen. Bei strafmündigen Jugendlichen mit sexuell grenzverletzendem Verhalten, die ohne Anzeige freiwillig oder auf Druck der Eltern in die Behandlung gehen, kann der verbindliche Rahmen sichergestellt werden, indem mit dem Jungen vereinbart wird, dass er eine Selbstanzeige schriftlich formuliert und beispielsweise im Jugendamt hinterlegt. Sollte er vorzeitig das Programm abbrechen, wird diese Anzeige an die Strafverfolgungsorgane weitergeleitet. Bei strafunmündigen Sexualtätern ist der direktive Rahmen ungleich schwerer herzustellen. Kooperierende Eltern können dafür sorgen, dass ihr Kind regelmäßig in die Behandlung kommt, dennoch kann es sinnvoll sein, mit ihnen zu vereinbaren, dass bei einem vorzeitigen Abbruch das zuständige Jugendamt informiert wird und sie mit familiengerichtlichen Konsequenzen rechnen müssen. Auch ist die Anrufung des Familiengerichts über das Jugendamt bei nicht-kooperierenden Eltern manchmal ein Weg, um eine Zusammenarbeit zu erreichen. Wenn ihr Kind die sexuelle Grenzverletzung leugnet und die Eltern diese Leugnung wie oben beschrieben verstärken, ist eine erfolgreiche Behandlung selbst bei Fremdunterbringung nicht wahrscheinlich. Minderjährige mit sexuell grenzverletzendem Verhalten haben oft starke Verleugnungstendenzen • aus Scham • aus Angst vor der Reaktion des sozialen Umfeldes auf ihre Tat • aus Angst vor Stigmatisierung und sozialer Isolation • aus Angst vor weiterer Strafverfolgung bzw. anderen disziplinarischen Konsequenzen Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 35 Bei Delikten durch strafmündige Sexualtäter ist die Tatermittlung Sache der Strafverfolgungsbehörden. Bei den Unter-14-Jährigen kommen das Jugendamt oder der WENDEPUNKT schnell in die Ermittlerrolle. Es besteht die Gefahr, dass das Helfersystem der Leugnung des jungen Tatverdächtigten aus Unkenntnis der Verleugnungsstrategien erliegt und es zu Spaltungen im System kommt, die die Errichtung eines verbindlichen Behandlungskontextes verunmöglicht. Bei minderjährigen leugnenden Tatverdächtigten ist dies im Zweifelsfall nur durch eine gutachterliche Abklärung der Glaubwürdigkeit des Opfers aufzulösen. Aus dem direktiven Rahmen entstehen für die Rückfallprophylaxe verschiedene Spannungsfelder: • Extrinsische – Intrinsische Motivation: Gerade weil sich die Jungen nicht freiwillig in die Beratung begeben, ist es entscheidend, sie möglichst in den ersten Sitzungen erfahren zu lassen, dass sie von dem Prozess, in den sie sich begeben mussten, persönlich profitieren können. Ziel ist es, dass sie sich möglichst schnell innerlich auf den Therapieprozess einlassen. Die Jungen, die mit großen Ängsten und Scham zu uns kommen, erfahren, dass ihre Taten offen benannt werden können, dies aber nicht mit einer Abwertung oder Verurteilung ihrer Person einhergeht. • Konfrontation – therapeutische Beziehung: Beide Faktoren sind wichtige Bestandteile der Arbeit mit sexuell übergriffigen Jungen. Beides den Klienten in einem ausgeglichenen Verhältnis zu vermitteln, ist eine Voraussetzung dafür, dass sie sich, wie oben beschrieben, einlassen können. Empathisches und kongruentes Auftreten gegenüber den Jungen, ohne die Tat aus den Augen zu verlieren und sich in der Dynamik der Beziehung zu den Jungen nicht von deren Bagatellisierungswünschen einnehmen zu lassen, sind Bedingungen, die die Balance zwischen Konfrontation und therapeutischer Beziehung gelingen lassen. Selbstverständlich ist es ebenso zu vermeiden, die Jungen zu manipulieren. • Wertschätzung – Bewertung: Für die Jungen und für den Erfolg ihres Therapieprozesses ist immer wieder die Trennung zwischen der Verurteilung der Tat durch die Mitarbeiter des WENDEPUNKT und deren Verhalten gegenüber dem Jungen entscheidend. Das Selbstwertgefühl der Jungen ist, wenn ihr Übergriff bekannt und evtl. sanktioniert wurde, oftmals auf einem Tiefpunkt. Reaktionen der Umwelt, Schamgefühle und das eigene Unrechtsbewusstsein übertragen sich auf ihr Selbstbild. Der wertschätzende Umgang soll ihnen vermitteln, dass sie nicht generell in ihrer Umwelt mit Ablehnung rechnen müssen. • Tataufarbeitung – Traumaverarbeitung: Viele sexuell übergriffige Jungen haben selber schwere Traumatisierungen erfahren. Häufig sind sie Opfer oder Zeugen von häuslicher Gewalt und/ oder sexueller Gewalt geworden. Sie brauchen einen geschützten Rahmen insbesondere, wenn sie noch jünger sind oder die Traumatisierung noch anhält. In solchen Fällen ist der deliktorientierte Ansatz – zumindest in bestimmten Phasen der Aufarbeitung – nicht angebracht. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Jugendlichen ihr eigenes „Opfer-sein“ dazu nutzen, sich nicht mit ihren Täteranteilen auseinander zu setzen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 36 • ProAktivität – Opferschutz: Jugendliche sollen die Erfahrung machen, dass der Therapeut auf ihrer Seite steht und sich für ihre Belange, Nöte und Bedürfnisse interessiert. Die proaktive Zuwendung soll die Jugendlichen darin unterstützen und es ihnen erleichtern, sozial angemessene Verhaltensweisen zu entwickeln. Es ist nicht klar, ob sich bei Jungen, die sich zu den Sitzungen nur unter Zwang quälen und sich als Objekt von negativen Projektionen erleben, die Prognosen bezüglich ihrer Rückfälligkeit verschlechtern. Zumindest für erwachsene Täter trifft das nicht zu. Diese Haltung kann sich aber auf das soziale Umfeld übertragen und damit die weitere Teilnahme der Jungen in Frage stellen. Gleichzeitig muss dafür gesorgt werden, dass von ihnen keine weitere Gefahr ausgeht. Mit allen Beteiligten müssen ausreichende Sicherheitsmaßnahmen vereinbart und deren Einhaltung regelmäßig kontrolliert werden. • Vertrauen – Kontrolle: In der Arbeit mit Tätern reicht das Vertrauen in die Aufrichtigkeit des Klienten nicht aus. Das gilt insbesondere für sexuell übergriffige oder auffällige Jugendliche, die oft sehr geübt darin sind, ihr Gefühl, ihre Fantasien und ihre Taten zu verbergen. Damit sich die Jungen nicht hintergangen fühlen, muss darauf geachtet werden, dass alle Kontrollschritte transparent werden. Eindrücke von Außen, also von den Eltern, aus der Wohngruppe oder auch von Lehrkräften können im Prozess auch dazu dienen, die Eigen- mit Fremdwahrnehmungen abzugleichen Notwendige Rahmenbedingungen Die therapeutischen und/oder pädagogischen Interventionen im Rahmen der Ambulanten Rückfallprophylaxe können ihr Potenzial an Wirksamkeit dann besonders gut entfalten, wenn sie zwischen allen Beteiligten abgestimmt werden. Um ein Setting für die sexuell grenzverletzenden Jugendlichen herstellen zu können, bedarf es zunächst der Planung eines mit den entsprechenden Institutionen und den Eltern des Jugendlichen abgestimmten Vorgehens. Wenn diese nicht zu einer einheitlichen Strategie und Einschätzung des Falles gelangen, wird der betreffende Junge die Lücken im Helfer-/Familiensystem nutzen, um sich nicht in Behandlung begeben zu müssen bzw. die Behandlung abzubrechen. Eine weitere Gefahr besteht darin, dass der Jugendliche keine Notwendigkeit sieht, sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen. Folgende Rahmenbedingungen sind deshalb notwendig: • Verbindlicher Rahmen Es besteht ein für den Jungen verbindlicher Rahmen über die gesamte Therapiezeit, der ihn verpflichtet, die Behandlung aufzunehmen und bis zum Ende zu durchlaufen. Dieser kann bei strafmündigen Tätern hergestellt sein durch: o Gerichtsurteil mit Weisung zur Teilnahme an einer ambulanten deliktorientierten Therapie o Ankündigung einer Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung einer solchen Therapieweisung o Eine schriftlich formulierte und beim Jugendamt hinterlegte Selbstanzeige des Jungen, die - wie vorher mit dem Jungen vereinbart - bei vorzeitigem Abbruch an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet wird o Die Vereinbarung mit kooperierenden Sorgeberechtigten, dass sie dafür verantwortlich sind, dass der sexuell übergriffige Junge regelmäßig und bis zum Ende der Behandlung/Beratung zu den vereinbarten Sitzungen kommt. Sollte er vorzeitig abbrechen, wird das Jugendamt informiert und sie müssten z. B. mit familienrechtlichen Konsequenzen rechnen Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 37 Bei strafunmündigen Tätern kann er hergestellt werden durch: o o o Die Vereinbarung mit kooperierenden Sorgeberechtigten, dass sie dafür verantwortlich sind, dass der sexuell übergriffige Junge regelmäßig und bis zum Ende der Behandlung zu den vereinbarten Sitzungen kommt. Sollte er vorzeitig abbrechen, wird das Jugendamt informiert und sie müssen mit familienrechtlichen Konsequenzen rechnen Anrufung des Familiengerichts durch das Jugendamt zur Herstellung einer Therapieweisung, sollten die Sorgeberechtigten sich einer Behandlung des Jungen verweigern Die Finanzierung der kompletten Maßnahme ist gewährleistet. Darüber hinaus muss der Umgang mit Rückfällen und Abbrüchen geregelt sein. Wiederholungstaten vor, während oder auch nach der Jugendhilfemaßnahme können nie vollständig ausgeschlossen werden. Das gleiche gilt für Abbrüche. Die Aufdeckung, die Konfrontation mit der Tat und die Teilnahme am Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe verschärfen u.U. zeitweilig noch die Krise des Minderjährigen. Entsprechend ist ein professioneller, differenziert bewertender Umgang mit Rückfällen integraler Bestandteil des Programms. Rückfälle, Abbrüche und Krisen bringen es mit sich, dass die Ziele und Mittel der Jugendhilfemaßnahme auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden müssen. Daraus folgt: • • • • • Rückfälle führen in der Regel aber nicht zwingend zum Abbruch der Maßnahme. Sie sind immer Anlass zur sofortigen Information der Erziehungsberechtigten sowie ggf. anderer Bezugspersonen aber auch der Opfer bzw. der für diese Sorge tragenden Personen wie z. B. der Fachkräfte im Jugendamt. Externe Sicherungsmaßnahmen müssen überprüft werden und die Hilfegestaltung muss ggf. umgesteuert werden. Rückfälle bieten Anlass, Notfallpläne neu aufzustellen und vorausgegangene Warnsignale neu zu bearbeiten. Unter Umständen ist der Minderjährige von einer Selbstanzeige zu überzeugen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 38 5.6. UNKLAR FORMULIERTE AUFTRÄGE UND THERAPIEWEISUNGEN STELLEN EIN PROBLEM DAR! Wie schon mehrfach betont sind für die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen angemessene Rahmenbedingungen von großer Bedeutung. Im Rahmen juristischer Verfahren kommt es allerdings immer wieder zu unklaren oder unzureichend formulierten Weisungen der Gerichte. Jugendliche oder junge Heranwachsende werden z.B. mit der Weisung im WENDEPUNKT vorstellig, „sexualtherapeutisch“ über 2 – 5 Sitzungen an die Beratungsstelle angebunden zu werden. Für uns ergeben sich mit diesen Weisungen mehrere Probleme: • In einer solch kurzen Zeitspanne kann nicht einmal eine ausführliche Anamnese oder eine fundierte Therapieplanung erfolgen. • Darüber hinaus ist auch häufig die Finanzierung unklar. Wenn der Klient unter 18 ist, ist es in den meisten Fällen möglich, sich mit dem zuständigen Jugendamt über den konkreten Verlauf einer Intervention zu verständigen. In diesem Szenario wäre auch das Jugendamt über sein Budget für ‚Hilfen zur Erziehung‘ Kostenträger der Maßnahme. Voraussetzung sind jedoch Mitarbeitende des Amtes, die nachvollziehen, dass eine Rückfallprophylaxe nicht in einem derartig kurzen Zeitraum greifen kann und dementsprechend auch mehr kostet. • Weitaus schwieriger sind die Fälle, in denen es um Heranwachsende (also junge Menschen im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, die ebenfalls noch unter das Jugendstrafrecht fallen können) geht. Theoretisch bestünde zwar die Möglichkeit, dass die Klienten selber einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung stellen. Diese Anträge sind jedoch selten erfolgreich. • In Hamburg gibt es inzwischen eine Pilotvereinbarung mit der Justizbehörde, in der auch die Finanzierung der Ambulanten Rückfallprophylaxe für Heranwachsende geklärt ist. Allerdings gab es dennoch im Verlauf des Modellprojektes einige Fälle, in denen sich entweder kein Kostenträger für diese Klientel fand oder Zusagen nicht eingehalten wurden. Auch mit der aktuellen Regelung bleibt es schwierig z. B. für solche Jugendliche, bei denen das Verfahren ausgesetzt wird, mit der Auflage sich um therapeutische Unterstützung zu kümmern. Für diese Jugendliche können wir derzeit keine Intervention anbieten. Die Vorstellung, nach einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung könne eine „Sexualtherapie“ mit nur wenigen Sitzungen wirklich hilfreich sein, macht vor allem deutlich, dass es noch viel Aufklärungs- und Informationsbedarf gibt. Uns sind dabei drei Aspekte wichtig: • Es braucht eine spezialisierte Intervention für sexuell grenzverletzende Jugendliche und Heranwachsende. Sexual- oder Psychotherapie gehen davon aus, dass der Klient freiwillig in die Therapie kommt - dies ist in unserer Arbeit eher die Ausnahme. • Um eine angemessene deliktspezifische Intervention gewähren zu können, ist die Festlegung auf wenige Sitzungen kontraproduktiv. Die gewünschte Prävention weiterer Sexualstraftaten kostet Geld. • In den Weisungen spiegelt sich unseres Erachtens oftmals auch eine Fehleinschätzung der Tatschwere oder der Störung des Täters wider. Es ist inzwischen beispielsweise bekannt, dass das Konsumieren von Kinderpornographie ein relativ harter Indikator für pädophile Neigungen ist. Dennoch wird dieses Verhalten häufig als nicht ausreichend bewertet. Was also weiterhin aussteht, ist eine bessere Fortbildung von Jugendrichter/innen und der Staatsanwaltschaft. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 39 5.7. SONDIERUNG, DIAGNOSTIK UND RÜCKFALLPROGNOSTIK SIND UNVERZICHTBAR 5.7.1. Sondierung (Vorklärung des Hilfebedarfes) Maßnahmen zur Sondierung sind insbesondere im Vorfeld einer Entscheidung für eine Hilfe zur Erziehung nach SGB VIII notwendig. Häufig sind Eltern erst nach einer „erfolgreichen“ Sondierung bereit, einen entsprechenden Antrag zu stellen. In diesem Zusammenhang werden folgende Leistungen erbracht: • Es wird zunächst nach festgelegten Kriterien abgeklärt, inwieweit das sexuelle Verhalten des Minderjährigen tatsächlich den unter Punkt 5.5. genannten Indikationen entspricht oder ob es als „normales“ und dem Alter angemessenes Verhalten bewertet werden kann. Dabei arbeiten die Mitarbeiter des WENDEPUNKT mit unterschiedlichen Kooperationspartnern zusammen. Es werden Informationen bezogen auf das Delikt, weitere Auffälligkeiten und die Ressourcen des Minderjährigen gesammelt. • Die Erwartungen und Aufträge der unterschiedlichen Akteure des Helfersystems werden abgestimmt. • Mit den Sorgeberechtigten werden Informationsgespräche geführt, die das Ziel verfolgen, das Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe als Chance und als Ausweg aus der Krise annehmen zu können. Sie werden darüber informiert, welche Folgen die Aufnahme in das Programm für sie selbst und für ihr Kind hat (Teilnahme an Elterngesprächen, Einhaltung des direktiven Rahmens usw.) • Der Minderjährige soll motiviert werden, das Programm anzunehmen und über die Folgen einer möglichen Ablehnung sowie über Alternativen zur Teilnahme am Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe informiert werden. • Eine externe Kontrolle durch die Sorgeberechtigten und/oder durch Institutionen wird etabliert. Bevor ein Minderjähriger mit sexuell grenzverletzendem Verhalten in das Rückfallprophylaxe-Programm aufgenommen werden kann, sollte unbedingt eine ausreichende Diagnostik erstellt werden. Sie ist einerseits Basis für die Risikoabschätzung und andererseits für die Behandlungsplanung. Denn: Auch wenn es sich bei der Ambulanten Rückfallprophylaxe um ein strukturiertes Vorgehen handelt, sind die Maßnahmeziele für jeden einzelnen Jugendlichen ausdifferenziert und können sehr unterschiedlich sein – dafür bedarf es eingangs eines umfassenden Screenings. Auch muss abgeschätzt werden, ob der Junge in einer ambulanten Maßnahme angemessen behandelt werden kann, oder ob aufgrund seiner Auffälligkeiten und erhöhter Rückfallgefahr eine stationäre eventuell psychiatrische Aufnahme und Therapie notwendig sind. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 40 5.7.2. Instrumente zur Risikoabschätzung und zur Therapieplanung Anhand folgender Instrumente kann gleich zu Beginn der Behandlung eine Einschätzung des möglichen Risikos für weitere sexuelle Übergriffe vorgenommen werden: • BARO (Basis Raads Onderzoek) Erfasst mit standardisiertem, halbstrukturiertem Interview Basisdaten, psychische Störungen oder Auffälligkeiten und mögliche Risikofaktoren (D. Gutschner, Th.A.H. Doreleijers, 2007; IFB Bern) o • S-BARO o • CFT 20 (Culture Fair Intelligence Test) o • Grundintelligenztest / (Rudolf H. Weiß; 4. Aufl. 1997, Hogrefe Göttingen, Bern, Toronto, Seattle) SPS-J (Screening psychischer Störungen für Jugendliche) o • Sexualmodul zum Screeninginstrument BARO (Van Wijk, Doreleijers, Bullens & Gutschner ; 2007; IFB Bern) Erfassung psychischer Störungen / (Petra Hampel, Franz Petermann; 2005; Huber Göttingen, Toronto, Seattle; Deutschsprachige Adaption des Reynolds Adolscent Adjustment Screening Inventory von William M. Reynolds) MSI-J (Multiphasic Sex Inventory für Jugendliche) o Messung psychosexueller Merkmale und Auffälligkeiten (Thomas Gruber, Stefan Waschlewski und Günther Deegener, 2003; Hogrefe, Göttingen, Bern, Toronto, Seattle) Zur Therapieplanung setzt der WENDEPUNKT außerdem folgende Instrumente regelhaft ein: • ASAP (Adolescent Sexual Abuser Project) / (Beckett R., Gerhold, C.K.E. & Brown, 2002; Übersetzung und deutsche Bearbeitung: Matthias Schmelzle und Monika Egli-Alge) ASAP erfasst Persönlichkeitsmerkmale und deliktbezogene Informationen. Es handelt sich hierbei um eine Zusammenstellung von Fragebögen, die eine systematische und standardisierte Beurteilung von Jugendlichen, die sexuelle Übergriffe begangen haben, ermöglichen sollen. Das Beurteilungsprotokoll des ASAP soll bei der ersten Einschätzung der Klienten helfen und spezielle Problemzonen identifizieren. Das ASAP ist in englischsprachigen und skandinavischen Ländern in der Arbeit mit jugendlichen Tätern sehr weit verbreitet und gut erprobt. Der WENDEPUNKT schickt die anonymisierten Daten aus diesen Fragebögen an das Kantonsspital Thurgau und nimmt damit an einem Programm teil, das Effekte der Arbeit mit jugendlichen Sexualstraftätern untersucht und gleichzeitig mehr Erfahrungen und Daten über diese Tätergruppe sammelt, um zukünftig die Einschätzung des Rückfallrisikos noch zu verbessern. • ERASOR (Estimate of Risk of Adolescent Sexual Offense Recidivism) / (James R. Worling, Ph.D. Tracey Curwen, M.A. Übersetzung und deutsche Bearbeitung: Matthias Schmelzle; 2003) Zur Risikoeinschätzung bezüglich des Rückfallrisikos Diese beiden Tests (ASAP und ERASOR) werden auch am Ende der ambulanten Rückfallprophylaxe noch einmal durchgeführt Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 41 5.7.3. Instrumente zur Rückfallprognostik: Unsere Einbindung ins ERASORProgramm Seit einigen Jahren ist die Forschung im Hinblick auf die Klientel der Minderjährigen mit sexuell auffälligem Verhalten dabei, Risikofaktoren zu identifizieren, die für die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Übergriffs bedeutsam sind. Darauf aufbauend ist das Beurteilungsinstrument • ERASOR (Estimate of Risk of Adolescent Sexual Offense Recidivism) von James R. Worling, Ph.D. Tracey Curwen, M.A entwickelt worden, das von Mathias Schmelzle auf Deutsch übersetzt und als „Skala zur Einschätzung des Rückfallrisikos bei jugendlichen Sexualstraftätern“ vorgelegt wurde. Der WENDEPUNKT ist 2003 in das ERASOR–Programm aufgenommen und kann sich entsprechend der Skala als Instrument zur Beurteilung des Wiederholungsrisikos bedienen. In diesem Programm werden 25 Risikofaktoren in fünf Kategorien eingeteilt: • • • • • Sexuelle Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen Vorgeschichte sexueller Übergriffe (Straftaten) Psychosoziale Faktoren Funktionsniveau der Familie / Umgebung Behandlung Aufgrund der Exploration dieser und evtl. fallspezifischer zusätzlicher Faktoren ist die Einschätzung des Rückfallrisikos in verschiedene Risikogruppen möglich. Auf der Grundlage der Ergebnisse können dann weitere Maßnahmen wie z.B. ein Sicherheitsplan für den Jugendlichen erstellt werden, um die größtmögliche Sicherheit für ihn selbst und potenzielle Opfer zu erreichen. Bei Fällen von sexuellen Übergriffen innerhalb der Familie stellt diese Sicherheitsplanung alle Beteiligten vor eine besondere Herausforderung, die in einigen Fällen ohne Herausnahme des übergriffigen Jugendlichen nicht zu bewerkstelligen ist. 5.7.4. Instrumente zur (unspezifischen) psychologischen Diagnostik Um einen Eindruck über die kognitive Leistungsfähigkeit zu erhalten, wird regelhaft vor Beginn der Behandlung ein Intelligenztest durchgeführt. Da es sich bei diesem Instrument um ein non-verbales Verfahren handelt, ist es besonders auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund oder Jugendliche mit sprachlichen Schwierigkeiten geeignet. • CFT 20 (Culture Fair Intelligence Test) Grundintelligenztest / (Rudolf H. Weiß; 4. Aufl. 1997, Hogrefe Göttingen, Bern, Toronto, Seattle) Um Hinweise auf psychopathologische Störungen bei sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen möglichst frühzeitig zu erkennen, wurde das folgende Screeningverfahren eingesetzt: • SPS-J (Screening psychischer Störungen für Jugendliche) Erfassung psychischer Störungen / (Petra Hampel, Franz Petermann; 2005; Huber Göttingen, Toronto, Seattle; Deutschsprachige Adaption des Reynolds Adolscent Adjustment Screening Inventory von William M. Reynolds) Gab es in dieser Hinsicht Auffälligkeiten, bestand die Möglichkeit, die Klienten zu einer umfassenderen Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Eppendorf unterzubringen. Diese Möglichkeit wurde während des Modellprojektes ausschließlich über den Zugangsweg des Familieninterventionteams genutzt, weil dort die meisten Kinder und Jugendlichen gemeldet und dementsprechend auch der Eingangstestung unterzogen wurden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 42 5.8. INTERVENTIONEN BRAUCHEN STANDARDS UND MÜSSEN DELIKTSOWIE ZIELGRUPPENADÄQUAT KONZIPIERT SEIN 5.8.1. Unsere Standards Therapeutische Arbeit mit Sexualstraftätern ist nicht zu vergleichen mit einer „klassischen“ Psychotherapie“. Im Folgenden werden die Standards, die unserer Arbeit zugrunde liegen, vorgestellt. • Unsere Arbeit mit Sexualstraftätern orientiert sich in ihrer kognitiv–behavioralen Ausrichtung an vergleichbaren Programmen im europäischen Ausland Zentrale Merkmale sind: o Gelingende Balance zwischen Konfrontation und therapeutischer Beziehung o Gelingende Balance zwischen Vertrauen und Kontrolle o Direktiver Rahmen: Behandlungsaufnahme auch dann, wenn zunächst vorwiegend eine extrinsische Motivation vorliegt; es muss jedoch im Therapieverlauf gelingen, diese in eine intrinsische umzuwandeln, der Klient muss erkennen, dass er von der Behandlung profitiert. o Gelingende Balance zwischen Bewertung der Tat(en) und wertschätzendem Umgang mit dem Klienten o Wie in anderen therapeutischen Settings gilt grundsätzlich, dass Inhalte der Therapie nicht an Dritte weiter kommuniziert werden. Dieses Prinzip kann aber in Hinsicht auf Kontroll- und Sicherheitsplanung - für den Klienten transparent - eingeschränkt werden. • Wir verfolgen in unserer therapeutischen Arbeit folgende inhaltliche Schwerpunkte: o o o o o o o o o Entwicklung von Therapiemotivation Aufgabe der Tatverleugnung und Eingestehen der Schuld Übernahme der Verantwortung für die Tat Bearbeitung kognitiver Verzerrungen und Einstellungen sowie des Deliktszenarios Förderung der Opferempathie Erlernen und Einüben sozialer Fähigkeiten Sensibilisierung des Minderjährigen für seine devianten sexuellen Erregungszustände Schulung der Eigenwahrnehmung Differenzierte Ausarbeitung und Internalisierung von individuellen Mechanismen zur Kontrolle und Unterbrechung der Deliktdynamik • Vor der Behandlung ist eine differenzierte Diagnostik notwendig. • Oberste Priorität hat der Opferschutz Die Opfer müssen schnellstmöglich vor weiteren Übergriffen, Einschüchterungen und anderweitigen Bedrohungen durch den minderjährigen Täter geschützt werden, um erneute Traumatisierungen zu verhindern. Bei innerfamilialem Missbrauch ist das i.d.R. nur durch gesicherte räumliche Trennung zwischen Opfer und Täter unter vorrangiger Berücksichtigung der Opferinteressen zu erreichen. Dies gilt analog auch bei Übergriffen in stationären Einrichtungen. Bei Übergriffen im Nahbereich des Jungen darf es maximal beaufsichtigte Kontakte zwischen Opfer und Täter geben, wenn dies dem Wohl des Opfers dient. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 43 • Möglichst zeitnahe Intervention: Die Krise als Chance nutzen Die Intervention sollte sobald als möglich nach Bekanntwerden der Übergriffe im Rahmen des Projektes stattfinden, da… o o o • die Jungen und deren Sorgeberechtigte in der Krise eher motiviert sind, sich auf Gespräche einzulassen sich lang andauernde Leugnungen verfestigen und später nur sehr schwer/gar nicht mehr aufgelöst werden können übergriffige Jungen bei Bekanntwerden ihrer Tat/en selbst möglicherweise in einer starken Krise sind, in der sie Unterstützung brauchen. Wir halten ein proaktives Vorgehen für unverzichtbar Sexuell übergriffige Kinder, Jugendliche und deren Sorgeberechtigten kommen häufig nicht von allein und bitten um Unterstützung, daher handelt es sich bei der Ambulanten Rückfallprophylaxe in der Regel um kein rein freiwilliges Angebot. Vielmehr ist häufig aufsuchende Arbeit vonnöten. Ein verbindlich verpflichtender Rahmen muss notfalls mit Druck evtl. sogar über ein Jugend-/ Familiengericht hergestellt werden. Bei ausbleibender Intervention besteht die Gefahr von: o o o • weiteren Übergriffen Entstehung und Verfestigung von Täterkarrieren Störung der Entwicklung in sozialer, psychosexueller und gesundheitlicher Hinsicht. Ein frühzeitiges Hinzuziehen von notwendigen Kooperationspartnern/innen ist unverzichtbar Dies gilt insbesondere für solche Einrichtungen, die die Opfer der Minderjährigen mit sexuell auffälligem Verhalten betreuen (Opferschutzeinrichtungen). Darüber hinaus ist eine Vernetzung mit anderen Einrichtungen der Jugendhilfe – und ggf. der Sozial- und Gesundheitshilfe – unverzichtbar. Informationen müssen ausgetauscht werden zur o o o o Abklärung des Hilfebedarfs Konfrontation des minderjährigen Täters mit seiner Bezugsperson Diagnostik und Einschätzung des Rückfallrisikos Planung des weiteren Vorgehens. Datenschutzrechtliche Bestimmungen werden eingehalten. • Die Fachkräfte im WENDEPUNKT sind bereit, ihre Beratungsarbeit im Zwangskontext zu erbringen und – wenn nötig – mit direktiven Methoden zu arbeiten. • Das frühzeitige Herstellen eines verpflichtenden Rahmens ist unbedingt notwendig Er besteht für den Jungen über die gesamte Behandlungszeit und verpflichtet ihn, die Behandlung aufzunehmen und bis zum Ende zu durchlaufen. (siehe 5.5.) • Es muss ein Vertrag zwischen Therapeut/in und Klienten geschlossen werden Für den Erfolg einer Therapie sind mitbestimmend die regelmäßige Teilnahme, die zufrieden stellende Mitarbeit des Täters und das Einhalten von Vereinbarungen, weshalb ein Vertrag über Aufnahmebedingungen, Verlauf und Inhalt der Therapiestunden zwischen Klient und der Beratungsstelle geschlossen wird. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 44 • Der WENDEPUNKT vertritt einen geschlechtsbezogenen, interkulturellen Ansatz Das heißt, dass sowohl der Blick auf die Konstruktion der Geschlechtsidentität als auch die Sensibilität in Bezug auf den kulturellen Hintergrund als Querschnittsaufgaben wahrgenommen werden. In der Praxis bedeutet das, dass Jungen und Mädchen von einem/einer Mitarbeiter/in ihres eigenen Geschlechts beraten werden können, dass vor allem aber die Fragen, inwieweit Gender und kulturelle Herkunft in Bezug auf die Tat stehen, immer mitgedacht und verhandelt werden. • Die Intervention ist niedrigschwellig konzipiert Ein direkter Zugang zum WENDEPUNKT ist möglich, er muss nicht über das FIT hergestellt werden. Entsprechend ist geeignete Öffentlichkeitsarbeit unverzichtbar. Für Berufstätige werden Beratungsangebote (z.B. am späten Nachmittag) gemacht. Eine Kontaktaufnahme ist auch über das Internet möglich. In Notfällen und anderen dringenden Fällen erhalten Ratsuchende möglichst umgehend einen ersten Gesprächstermin bzw. eine Krisenintervention. Die Beratung erfolgt vertraulich, anonyme Beratung ist möglich. Beratungen sind kostenlos, Spenden werden jedoch gerne entgegengenommen. • Eltern erhalten parallel ein Beratungsangebot Flankierend zur Arbeit mit dem minderjährigen Sexual(straf-)täter erhalten dessen Eltern/Bezugspersonen kontinuierlich ein Beratungsangebot. Ziel ist eine kontinuierliche Information über den Programmverlauf, ggf. eine Verbesserung ihrer Erziehungsfähigkeit und eine möglichst konstruktive Koordination aller Akteure. • Zur zufriedenstellenden Bearbeitung der oben genannten Therapieinhalte benötigen wir in der Regel einen Mindestzeitraum von etwa eineinhalb Jahren. Andere, niedrigschwellige Maßnahmen umfassen erheblich kürzere Zeiträume. • Regelmäßige Evaluation der ambulanten Behandlung ist notwendig und wird angestrebt Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 45 5.8.2. Das neun-stufige ARP-Konzept: Indikationen und Inhalte Indikationen auf Seiten des minderjährigen Täters Das Hilfeangebot ist geeignet wenn der Minderjährige eine oder mehrere der folgenden Taten begangen hat: • • • • Sexueller Missbrauch von Kindern / §§ 176, 176a 2. und 3. StGB Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung / §§ 177 – 178 STGB Beischlaf zwischen Verwandten / § 173 StGB Sexueller Missbrauch Widerstandsunfähiger / § 179 StGB sowie sonstige Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, z.B. • • Exhibitionistische Handlungen / § 183 StGB Verbreitung und Besitz kinder- und gewaltpornographischer Schriften / § 184 ff StGB Dabei ist es unerheblich, ob der Täter schuldfähig oder strafmündig ist. Hinzu kommt, dass • • • • • • • eine ambulante Behandlung Erfolg versprechend ist und dieses im Rahmen einer spezifischen Diagnostik oder im Hinblick auf die Deliktspezifik, den Lebenskontext und das Persönlichkeitsbild des Minderjährigen geklärt werden kann die sexuellen Grenzverletzungen zum Schutz der Opfer unterbunden werden konnten und eine Wiederholungsgefahr gegenwärtig nicht als sehr hoch eingeschätzt wird die Tat nicht massiv geleugnet und zumindest in Teilen eingeräumt wird der Minderjährige zumindest teilweise die Verantwortung für die Tat auf sich nimmt der Minderjährige nicht selbst aktuell Opfer von Misshandlung oder Missbrauch ist der Minderjährige aufgrund seiner psychischen Konstitution therapiefähig ist und nicht unter primär zu behandelnden Störungen und Beeinträchtigungen leide, so dass die Behandlung im WENDEPUNKT nachzuordnen ist oder sich erübrigt der Minderjährige im Falle einer Gruppenbehandlung ausreichend gruppenfähig ist. Indikationen auf Seiten des Umfeldes Das Hilfeangebot ist geeignet, wenn • • die Sorgeberechtigten und das professionelle Helfersystem zur aktiven Mitarbeit im Rahmen der Ambulanten Rückfallprophylaxe bereit sind die Sorgeberechtigten und das professionelle Helfersystem bereit sind, an der Aufrechterhaltung des verpflichtenden Rahmens mitzuwirken. Indikationen auf Seiten der Justiz Das Hilfeangebot ist geeignet, wenn • • • eine Tat vorliegt, die nach den o.g. Paragraphen des StGB als Sexualdelikt zu bewerten oder bei Kindern oder jüngeren Jugendlichen durch die Diagnostik und eine ausführliche Anamnese sexuell auffälliges Verhalten evident ist das Gericht durch Urteil dem minderjährigen Täter eine Weisung erteilt hat eine Einstellung des Verfahrens oder ein Urteil mit der Weisung der Teilnahme an dem Programm verknüpft wird. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 46 Indikationen auf Seiten des Jugendamtes Das Hilfeangebot ist geeignet, wenn • die öffentliche Jugendhilfe die Maßnahme unterstützt (Jugendhilferahmen) • ein Hilfeplan aufgestellt wurde, der die Teilnahme des Minderjährigen an einem Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe im WENDEPUNKT vorsieht • ggf. eine Weisung nach dem JGG oder ein Urteil mit entsprechender Weisung vorliegt. Insbesondere die standardisierte Diagnostikinstrumente ASAP und ERASOR geben dann Aufschluss darüber, ob der Jugendliche an der umfangreichen, etwa 1,5 Jahre dauernden Rückfallprophylaxe (im Einzel- oder Gruppensetting) teilnehmen sollte oder ob eine andere Maßnahme (z.B. stationäre Unterbringung) indiziert ist. Die Ambulante Rückfallprophylaxe in ihrer ursprünglichen Form umfasst neun Stufen und setzt eine gewisse kognitive Leistungsfähigkeit, d.h. IQ über 80 und ein Mindestalter von 12 Jahren voraus. Sollte der betreffende Jugendliche noch zu jung für das Behandlungsprogramm sein, gibt es die Möglichkeit einer sexualpädagogischen Beratung, die von ihrer Dauer wesentlich kürzer ist. Hauptsächliche Inhalte der Beratung sind dann eine altersangemessene sexuelle Aufklärung, Gefühlsarbeit und die Akzeptanz von Grenzen in allgemeiner und in sexueller Hinsicht. Sofern der Jugendliche eine kognitive Einschränkung in Form einer Lern- oder geistigen Behinderung aufweist, gibt es die Möglichkeit der Teilnahme an einer modifizierten Form der Ambulanten Rückfallprophylaxe, welche im Folgenden unter Pkt. 5.8.3. vorgestellt wird. Die durchgeführte Diagnostik kann aber auch hervorbringen, dass z.B. eine stationäre Unterbringung in einer hochspezialisierten Einrichtung für den betreffenden Jugendlichen angezeigt ist. Die Ambulante Rückfallprophylaxe ist ein teilstrukturiertes Programm mit verschiedenen festen deliktorientierten Themenblöcken, die jeder Junge mindestens einmal durchläuft. Sie orientiert sich in ihrer kognitiv–behavioralen Ausrichtung an vergleichbaren Programmen im europäischen Ausland, wie beispielsweise an der Methode „Dauerhafte Veränderung“ aus den Niederlanden. Das neunstufige Programm der Ambulanten Rückfallprophylaxe (ARP) Das Programm, das möglichst im Gruppensetting angeboten werden sollte, gliedert sich in die folgenden neun Stufen: 1. Stufe: Eingangsouting: Klares Benennen der Tat vor der Gruppe Zunächst stellt der Jugendliche den Grund dar, warum er in die Gruppe gekommen ist und benennt, was er lernen und erreichen will. Im Rahmen dieses Outings muss er über sein Delikt sprechen. Auf diese Weise wird für ihn sofort deutlich, dass es darum geht, Dinge beim Namen zu nennen, anstatt sie zu vertuschen oder zu verharmlosen. Er muss also Verantwortung für seine Tat, aber auch für seine persönlichen Ziele übernehmen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 47 2. Stufe: Aufdecken der Folgen für den Täter Der Teilnehmer erarbeitet alle Konsequenzen der Tat, wie etwa den Abbruch von Beziehungen zu Freunden und Verwandten, die Angst vor Aufdeckung u. v. a. m.. Die negativen Folgen werden in einer Bilanz den Vorteilen, die der Missbrauch bedeutet hat, gegenübergestellt und bewertet. Die immensen Nachteile der Tat sollen für die Zukunft eng an die erlebte Lust, die Machtgefühle und Stärke während des Übergriffes gekoppelt werden und diese so negativ belegen. 3. Stufe: Detailliertes Aufdecken der Tat - Deliktszenario Der Teilnehmer muss detailliert vor der Gruppe über seinen Missbrauch sprechen, wesentliche Details werden rekonstruiert. Dazu zählen auch Fragen nach der Aufdeckung der Tat oder nach den Schweigegeboten, die der Junge erwirkt hat. Die anderen Teilnehmer erhalten die Möglichkeit gezielt nachzufragen und die Leitung konfrontiert ihn, wenn nötig, mit Informationen aus anderen Quellen. In diesem Schritt soll die Verleugnung schrittweise überwunden und Verantwortung für die Tat übernommen werden. Für das ganze Programm ist es entscheidend, dass, neben der Klarheit, mit der an den Taten gearbeitet wird, die Jugendlichen ein Klima von Wertschätzung und Offenheit erfahren. 4. Stufe: Analyse der Missbrauchskette Mit verschiedenen Methoden werden in dieser Stufe die Ereignisse, die Fantasien, die inneren Rechtfertigungen, und die Gefühle rekonstruiert, die der Tat vorausgegangen sind. Jungen haben aufgrund ihrer Sozialisation wenig Zugang zu ihren inneren Prozessen haben, dies gilt häufig noch viel stärker für die Gruppe der minderjährigen Täter. Deshalb erhält der Teilnehmer in dieser Gruppenphase viel Raum, um mit unterschiedlichen Übungen seine Gedanken und Gefühle wahrnehmen zu können und zu lernen, diese in der Gruppe zu kommunizieren. Der Jugendliche soll erkennen, dass er seinen Missbrauch nicht quasi schicksalhaft begangen hat, sondern dass er bestimmte Vorbedingungen, die er beeinflussen konnte, genutzt hat, um den sexuellen Übergriff durchzuführen. Damit steigt die Selbstverantwortung - aber der Jugendliche erfährt auch seine Selbstwirksamkeit. Gleichzeitig erhält er Anhaltspunkte darüber, wie er zukünftig frühzeitig riskante Situationen beenden kann, denn er hat seine individuellen Auslösefaktoren und Risikomomente identifiziert. 5. Stufe: (Opfer)Empathie Das Gruppensetting wird zunächst dazu genutzt, mit Hilfe unterschiedlicher Methoden Einfühlungsvermögen bezüglich der anderen Teilnehmenden zu trainieren. In einem zweiten Schritt geht es um Empathie gegenüber den Opfern sexueller Gewalt allgemein, um dann die jeweiligen Opfer in den Fokus zu bekommen. Der Jugendliche lernt zu erkennen, welche Folgen sein Verhalten für andere Menschen hat, um die Konsequenzen seines Handelns frühzeitig mit einbeziehen zu können. Jungen mit pädosexuellen Präferenzen zeigen nicht selten ein hohes Maß an Empathie in dem Sinne, dass sie sich in einige der Bedürfnisse ihrer Opfer einfühlen, diese dann befriedigen, um sie anschließend dann für ihre sexuellen Interessen zu instrumentalisieren und zu manipulieren. Bei Jugendlichen mit entsprechender Präferenz geht es bei diesem Programmschritt dann darum, seine verzerrten Einstellungen in Bezug auf sein(e) Opfer und dessen/deren Sexualität aufzudecken und zu korrigieren. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 48 6. Stufe: Auseinandersetzen mit Geschlechterrollen und Sexualität, Aufklärung von Verzerrungen, kulturelle Verschiedenheiten. Viele Jugendliche haben ein fatales Halb- und Fehlwissen in Bezug auf Sexualität, das sich z. T. auch in ihrem übergriffigen Handeln widerspiegelt. Unterstützt werden diese kognitiven Verzerrungen oftmals durch den starken Konsum von Pornographie. Gerade in Zeiten des Internets werden Jugendliche mit Praktiken und Bildern konfrontiert, die in keinem Verhältnis zu der von ihnen bereits gelebten Sexualität stehen. Mit verschiedenen Methoden der Sexualpädagogik, der Verhaltenstherapie, mit Rollenspielen u.a.m. wird an realistischen und angemessenen Einstellungen und Verhaltensweisen gearbeitet. Die Zielsetzung ist, dass der Jugendliche zu einer selbst bestimmten, sozial verträglichen Form von Sexualität und Beziehungsfähigkeit findet. Wenn möglich soll sie eine Reflexion von Geschlechterrollen beinhalten. Ein Schritt in Richtung dieser reflektierenden Haltung ist die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und kulturellen Quellen der eigenen Bilder und Vorstellungen. 7. Stufe: Erarbeiten von Verhaltensalternativen zum Missbrauch Die in der vierten Stufe erarbeitete Missbrauchskette dient in diesem Teil des Programms dazu, den bereits identifizierten Risikofaktoren auf situativer, emotionaler, kognitiver und Verhaltensebene durch angemessene Alternativen entgegenzusteuern. Je nach individueller Problemstellung wird an der Gefühlssteuerung und der Impulskontrolle oder auch an Frustrationstoleranz, Konfliktlöse- und Durchsetzungsfähigkeit mit probaten Mitteln gearbeitet. Jeder Junge reflektiert, wie er sich zukünftig in Risikolagen verhalten kann und Entsprechendes wird mit ihm eingeübt. 8. Stufe: Verantwortungsübernahme Eine wichtige Methode in dieser Phase ist das Schreiben eines Briefes an das/die Opfer. In diesem Brief, der nicht abgeschickt wird, schildert der Jugendliche, aus welchen Situationen, Gefühlen und Fantasien heraus die Tat begangen wurde und welche Folgen sie für ihn hatte. Er beschreibt den individuellen Prozess, den er in der Gruppe gemacht hat, insbesondere im Hinblick darauf, wie er sich zukünftig in ähnlichen Situationen verhalten werde. Weitere Punkte, die in dem Brief angesprochen werden, sind der Blick auf die Folgen für das Opfer und evtl. auch eine Bitte um Vergebung oder Verzeihung. Das Schreiben dieses Briefes nimmt oft viel Zeit in Anspruch, vor allem, weil die übrigen Teilnehmer der Gruppe intensiv an der Diskussion über die Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit beteiligt sind. Weitere Schritte der Verantwortungsübernahme sind in dieser Phase möglich. 9. Stufe: Verabschiedung Zum Abschluss wird der gesamte Prozess des Täters mit der Leitung und in der Gruppe reflektiert. Der Jugendliche berichtet über die von ihm gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen und zieht Bilanz, welches seiner eigenständig im Behandlungsvertrag formulierten Ziele er erreicht hat. Die Gruppe und die Leitung geben ihm Rückmeldung darüber, wie sie seine Fortschritte und seinen Erfolg einschätzen. Es folgt eine auf den Jugendlichen persönlich zugeschnittene Verabschiedung von der Leitung und den übrigen Teilnehmern. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 49 In Einzelfällen kann von der Teilnahme an einem Gruppenangebot abgesehen werden und zwar vor allem dann, wenn ein Jugendlicher aufgrund seines antisozialen Verhaltens und seiner eingeschränkten Beziehungsfähigkeit nicht in die Gruppe zu integrieren ist und somit die Arbeit in der Gruppe behindern würde. Auch eine große Altersabweichung vom Durchschnittsalter der Gruppenteilnehmer kann ein Grund dafür sein, dass eine Einzelbehandlung vorgezogen wird. 5.8.3. Kognitiv Beeinträchtigte brauchen ein eigenes Konzept Besonders diese Klientel weist in ihrer sexuellen Entwicklung Defizite auf, welche häufig zu altersunangemessenem Sozialverhalten führen. Aus unserer Sicht spielen vor allem die beiden folgenden Aspekte eine maßgebliche Rolle zur Erklärung dieses Verhaltens: • Kognitiv beeinträchtige Jugendliche erleben häufig eine unzureichende sexualpädagogische Aufklärung in der Schule, durch die Eltern oder andere Bezugspersonen (z.B. in Lebensgemeinschaften). • Die kognitiv und emotional verzögerte Entwicklung der Jugendlichen kann dazu führen, dass deren sexuelle Entwicklung nicht wahrgenommen oder sogar negiert wird. Ist ein Jugendlicher aufgrund seiner kognitiven Beeinträchtigung nicht in der Lage an dem neun-stufigen Behandlungsprogramm teilzunehmen, gibt es ein daran angelehntes Programm mit insgesamt sieben Stufen. Berücksichtigt werden hier verstärkt die spezifischen Bedürfnisse, Aufnahme- und Lernkapazitäten dieser Klientel. Dies impliziert ein langsameres Vorgehen bei der Vermittlung der Inhalte, eine häufigere Wiederholung der Themen und das Ansprechen mehrerer Lernkanäle (visuell, auditiv und kinästhetisch), um die Jugendlichen in ihren individuellen Aufnahmemöglichkeiten zu erreichen. Auch hier wird die Teilnahme an einer Gruppe angestrebt, aber auch die Behandlung im Einzelsetting ist möglich. Vorbedingungen für die Behandlung Zu Beginn der Behandlung steht das Eingangsouting des Jugendlichen. Das Eingeständnis, einen sexuellen Übergriff begangen zu haben, ist für die weitere Arbeit mit den Jugendlichen unabdingbar. Befindet sich der Jugendliche in der Phase der Leugnung oder erfährt er durch sein Umfeld eine starke Bagatellisierung seiner Tat, ist die Zusammenarbeit stark erschwert oder sogar unmöglich. Die Einbeziehung des sozialen Umfeldes (Familie, Lebensgemeinschaften) ist daher für die Arbeit mit dem Jugendlichen von besonderer Bedeutung. Dies impliziert vorbereitende und begleitende Gespräche mit den Eltern oder Bezugspersonen der jeweiligen Institutionen. Behandlungssetting Die Arbeit mit den Jugendlichen verläuft entweder im Einzel- oder Gruppensetting. Sofern sich nicht genügend Teilnehmer für eine Gruppe finden - wichtig hierfür ist eine ähnliche Altersstruktur und möglichst geringe Unterschiede in der Deliktschwere - findet die Behandlung in Form von Einzelgesprächen statt. In einer Gruppe stehen maximal vier Jugendliche unter einer gemischtgeschlechtlichen Leitung von erfahrenen Tätertherapeuten. Um für die Jugendlichen eine klar strukturierte und für sie bekannte Lernsituation zu schaffen, ist das Gruppensetting dem einer Schulklasse sehr ähnlich. Jeder Jugendliche sitzt an einem eigenen Tisch und erhält verschiedene Arbeitsmaterialien. Nach jeder abgeschlossenen Behandlungsstufe werden schriftliche Kurzarbeiten geschrieben, der Abschluss wird durch ein Diplom honoriert. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 50 Sowohl in der Einzel- als auch Gruppenbehandlung, kommen die Jugendlichen einmal die Woche für 60 Minuten, über einen Zeitraum von ca. 18 Monaten. Die Einbindung des sozialen Umfeldes erfolgt, nach individueller Absprache, in regelmäßigen Abständen. Inhalte der Behandlung (sieben Stufen) Die kognitiv beeinträchtigten Jugendlichen durchlaufen in der Ambulanten Rückfallprophylaxe insgesamt sieben Behandlungsstufen, die aufeinander aufgebaut sind. (Bei durchschnittlich intelligenten Jugendlichen sind es neun Stufen) 1. Stufe: Gefühle und Sexualität - Welche Grundgefühle besitzen wir (Wut, Scham, Liebe, Trauer etc.)? - Wie unterscheiden sich diese Gefühle voneinander? - Woran erkennen wir diese Gefühle bei anderen, und wie äußern sich diese bei uns selbst? - Was sind sexuelle Gefühle? Wie äußern sich sexuelle Gefühle? - Was ist sexuelles Verhalten und nicht-sexuelles Verhalten? - Wann sind Berührungen sexuell? - Aufklärungsfilme Hintergrund: In dieser Arbeitsstufe sollen die allgemeine emotionale Entwicklung und insbesondere die Empathiefähigkeit der Jugendlichen vorangetrieben werden. Die Teilnehmer erlernen verschiedene Gefühle bei anderen zu erkennen, um soziale Situationen besser einschätzen und sich adäquat verhalten zu können. 2. Stufe: Grenzen und Regeln in der Sexualität - Was sind sexuelle Grenzen und Regeln? - Wofür sind diese Regeln da? - Der rote und grüne Bereich sexuellen Verhaltens? - Wann war ich im rotem Bereich, d.h. welche Grenzen habe ich verletzt? - Welche Stoppschilder gibt es im sexuellen Verhalten und wie erkenne ich diese? Hintergrund: Eine klar strukturierte Einteilung von sexuellen Verhaltensweisen in erlaubte (grüne) und unerlaubte (rote) Bereiche hilft den Jugendlichen, diese zu verinnerlichen und auf evtl. kritische Situationen anzuwenden. So lernen sie anhand von sexuellen Regeln, mit wem, wann und wo sie ihre Sexualität leben dürfen. Diese Regeln werden mehrfach in der gesamten Behandlungszeit wiederholt und eingeübt. 3. Stufe: Mein Weg zum sexuellen Missbrauch - Gedanken und Phantasien über den Missbrauch - Welche internen Hemmungen für den sexuellen Missbrauch gibt es? - Welche externen Hemmungen für den sexuellen Missbrauch gibt es? - Wie habe ich den Widerstand des Opfers überwunden? - Wie bin ich durch diese vier Stufen gegangen? Wie habe ich das angestellt? Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 51 Hintergrund: Diese Arbeitsstufe erfordert von den Teilnehmern eine erneute und vertiefte Auseinandersetzung mit ihren sexuellen Übergriffen. Je nach kognitiver Leistungsfähigkeit werden die Stufen vereinfacht bzw. zusammengefasst. Die Jugendlichen sollen verstehen lernen, wie sie bei ihren Taten vorgegangen sind, wie es ihnen gelungen ist eigene Bedenken aus dem Weg zu räumen, andere Personen zu täuschen, und warum es in vielen Fällen nicht bei einem sexuellen Übergriff geblieben ist. 4. Stufe: Folgen meines Missbrauchs für mich und andere - Was habe ich seit meinem Übergriff verloren? Wie hat sich mein Leben seitdem verändert? - Vor- und Nachteile meines Übergriffs - Wer ist noch von den Folgen meines Missbrauchs betroffen? - Wie hat sich das Opfer vor, während und nach dem Missbrauch gefühlt? Hintergrund: In dieser Einheit werden verstärkt die persönlichen und sozialen Nachteile des Übergriffes (z.B. immenses Schamgefühl, evtl. Schulwechsel, Wohnwechsel in Lebensgemeinschaft) den geringen Vorteilen (z.B. Lust- und Machtgewinn) gegenübergestellt. Weiterhin wird das Einfühlungsvermögen in das Opfer gefördert, und die Folgeschäden, die das Opfer durch den Übergriff erlitten hat, werden verdeutlicht. 5. Stufe: Kontrollplan: So kann ich mich kontrollieren! - Welche Risikosituationen bestehen für mich? - Welche Regeln helfen mir, mit meinem Verhalten im „grünen Bereich“ zu bleiben? - Wer kann mir helfen, mein Verhalten im „grünen Bereich“ zu behalten? Hintergrund: Ein erster Kontrollplan wird bereits zu Beginn der Behandlung des Jugendlichen zusammen mit Eltern bzw. Betreuern und anderen involvierten Personen erstellt. Dabei gilt es die möglichen Risikosituationen für einen erneuten Übergriff herauszubilden und spezifische Maßnahmen dagegen aufzustellen. Der Plan wird nun in dieser Phase der Behandlung überarbeitet. 6. Stufe: Soziale und persönliche Fähigkeiten: Was kann ich gut? - Wie funktionieren zwischenmenschliche Beziehungen? - Wie bin ich bisher mit anderen Menschen umgegangen? Was hat sich jetzt verändert? - Was möchte ich an mir verändern? - Wie können diese Veränderungen mir helfen, mein sexuelles Verhalten zu kontrollieren? Hintergrund: In der vorletzten Stufe sollen noch einmal verstärkt auch die vorhandenen und neu erworbenen Stärken des Jugendlichen im Umgang mit anderen Personen herausgestellt werden. Der Fokus liegt hierbei auch auf den persönlichen Veränderungen während des Behandlungszeitraumes, die dazu beitragen sollen, einen weiteren sexuellen Übergriff zu verhindern. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 52 7. Stufe: Rückfallprognose und Abschluss Vor der Entlassung des Jungen aus dem Programm wird erneut sein Rückfallrisiko mit Hilfe des ERASOR - der im Abschnitt 5.7.3. dargestellt wurde - eingeschätzt. Daraus ergeben sich sowohl Anhaltspunkte, inwiefern er das Programm erfolgreich durchlaufen hat als auch Hinweise auf einen möglichen weiteren Hilfebedarf, der dann mit den Erziehungsberechtigten und dem Jugendamt besprochen werden und in die weitere Hilfeplanung eingehen kann. Weitere Veränderung lassen sich über eine Wiederholung der ASAP Testung (vgl.5.7.2.) darstellen. Mithilfe dieses Instrumentes lassen sich vor allem die persönlich gesteckten Ziele, wie z. B. Stärkung des Selbstbewusstseins oder Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen, überprüfen. Zum Abschluss wird der gesamte therapeutische Prozess mit der Leitung und in der Gruppe reflektiert. Der Jugendliche berichtet über die von ihm gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse und zieht Bilanz, welche seiner eigenständig im Behandlungsvertrag formulierten Ziele er erreicht hat. Es folgt eine auf den Jugendlichen persönlich zugeschnittene Verabschiedung von der Leitung und den übrigen Teilnehmern. 5.8.4. Rückfallprophylaxe für Unter-14-Jährige in stationären Einrichtungen Die im Folgenden skizzierte stationäre Gruppentherapie orientiert sich an unserem neunstufigen Rückfallprophylaxeprogramm (vgl. 5.8.2.), das hier nicht noch einmal vorgestellt wird. Vielmehr konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Besonderheiten: • Stationäre Unterbringungen und • die Klienten sind unter 14 Jahre alt. Therapievertrag Nach einem ersten Kennenlernen, der Diagnostikphase und vor Beginn des eigentlichen Behandlungsprogramms schließen die Bewohner mit den beiden Therapeuten/in, einer gemischt geschlechtlichen Leitung, einen verpflichtenden Behandlungsvertrag ab. Dieser umfasst allgemeine Gruppenregeln (z.B. Pünktlichkeit, aktive Teilnahme, Respekt vor den Teilnehmern und Leitern der Gruppe, Verschwiegenheit bzgl. der besprochenen Inhalte etc.). Weiterhin werden darin, zusammen mit den Teilnehmern, persönliche Ziele für die Behandlung formuliert. Diese Ziele orientieren sich an der Biographie und Persönlichkeit des jeweiligen Gruppenteilnehmers. Bestimmte Ziele, wie die Vermeidung von Rückfällen werden von den Therapeuten vorgegeben. Mit diesem Behandlungsvertrag sollen die Jungen in einem ersten Schritt Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und lernen, dass sie selbst aktiv an der Gestaltung von Zielen und der Therapie mitarbeiten können und müssen. Des Weiteren dient er als strukturgebender Rahmen, auf den die Teilnehmer immer wieder hingewiesen werden können, sollte es im Laufe der Behandlung z.B. zu Verweigerung der aktiven Teilnahme kommen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 53 Behandlungsinhalte und -rahmen Die stationäre Gruppentherapie für unter 14 Jährige sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche ist angelehnt an das unter Punkt 5.8.2. beschriebene neun-stufige Behandlungsprogramm der Ambulanten Rückfallprophylaxe. Da sich dieses Programm in der Originalversion vor allem auf Jugendliche ab 14 Jahren bezieht, ist die Behandlung den Entwicklungsständen, Lernkapazitäten und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen unter 14 Jahren anzupassen. Somit wird ein größerer Fokus auf grundlegende pädagogische Inhalte wie z.B. der Gefühlsarbeit (Welche Gefühle gibt es? Woran erkenne ich diese Gefühle bei mir und anderen? Was ist der Unterschied zu sexuellen Gefühlen?) und damit einer allgemeinen emotionalen Entwicklung sowie Empathiefähigkeit gelegt. Auch bedarf die Auseinandersetzung der Kinder und Jugendlichen mit ihren sexuellen Übergriffen einer vorausgehenden altersangemessenen Sexualaufklärung mit Hilfe verschiedener Medien. Bei der Gruppe handelt es sich um eine halboffene Gruppe, so dass neue Jungen in die laufende Gruppe aufgenommen werden können und Jungen, die das komplette Programm erfolgreich durchlaufen haben, dies verlassen können. Die Dauer der Gruppentherapie liegt bei ca. 1,5 bis zwei Jahren. Dieser Zeitrahmen kann aber individuell auch abweichen. Die Gruppe kommt einmal in der Woche für zwei Stunden zusammen. Sollte es sich herausstellen, dass ein Kind bzw. Jugendlicher nicht gruppenfähig ist, z.B. aufgrund einer stark abweichenden kognitiven Leistungsfähigkeit, werden mit dem Betreffenden Einzelgespräche durchgeführt. Auch alle anderen Gruppenteilnehmer haben nach individuellem Bedarf die Möglichkeit Einzeltermine bei einem der beiden Therapeuten wahrzunehmen. Der formale Ablauf der Gruppensitzungen ist weitgehend festgelegt: Die Jungen sind in einer Eingangsrunde dazu aufgefordert, von ihrer letzten Woche zu berichten. Dabei sollen neben alltäglichen Begebenheiten auch evtl. kritische Situationen beleuchtet werden. Berichtet ein Gruppenteilnehmer z.B. von Gedanken, Phantasien oder Träumen an einen sexuellen Übergriff, wird dies von den Therapeuten aufgenommen und mit der Gruppe besprochen. Nach der Eingangsrunde folgen, je nach Dynamik in der Gruppe und dem Stand der Jungen, unterschiedliche Themen und Methoden. Zuletzt berichten die Teilnehmer in der Abschlussrunde von ihrem subjektiven Erleben der Gruppensitzung. Bei Bedarf gibt es eine Pause, welche optimalerweise an das für die Teilnehmer bekannte Schulzeitsystem angepasst ist und nach 45 Minuten stattfindet. Therapieende Voraussetzung für das Therapieende ist, dass das Durchlaufen der gesamten Behandlungsinhalte und eine positive Einschätzung des Rückfallrisikos. Diese Einschätzung wird von den Therapeuten zusammen mit den Betreuern des Jungen vorgenommen. Hierfür wird erneut der ERASOR (siehe Abschnitt 5.7.3.) herangezogen. Darüber hinaus wird ein möglicher weiterer Hilfebedarf geprüft, der dann mit den Erziehungsberechtigten und dem Jugendamt besprochen wird. Der Junge hat vor seiner Verabschiedung aus der Gruppe, in Stufe 9 des Behandlungsprogramms, die Aufgabe von den von ihm gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen zu berichten. Er sollte Strategien benennen können, die ihn an einem Rückfall hindern und sich gegebenenfalls (das Einverständnis des Opfers vorausgesetzt) bei diesem entschuldigt haben. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 54 Einbindung des sozialen Umfeldes Eltern Besonders wichtig für eine erfolgreiche Arbeit mit sexuell übergriffigen Kindern und Jugendlichen ist die Zusammenarbeit mit und die Unterstützung durch die Eltern. Vermitteln die Eltern ihrem Kind den Eindruck nicht mit der Therapie einverstanden zu sein oder deren Notwendigkeit nicht einzusehen, kann dies die Arbeit mit den Jungen erheblich erschweren. Somit ist es unabdingbar, auf die Ängste, Befürchtungen und mögliche Abwehr der Eltern einzugehen. Wie auch mit den Gruppenteilnehmern sollten zusammen mit den Eltern Ziele für die persönliche Entwicklung ihres Kind und die Rückfallprävention formuliert werden. Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Therapeuten, Eltern und Betreuern der Wohngruppe kann eine Verlaufskontrolle der Behandlung gewährleistet werden und möglicherweise kritischen Entwicklungen des Kindes bzw. Jugendlichen mit einer gemeinsamen Verantwortlichkeit begegnet werden. Diese prozessorientierte Zusammenarbeit aller Beteiligten bringt eine Ausweitung der Kompetenzen im Bereich Umgang mit Sexualität und sexuellen Übergriffen und verhilft zu einer sicheren Haltung gegenüber dem Kind bzw. Jugendlichen. Die Gespräche mit den Eltern finden ca. alle zwei Monate statt, nach Bedarf auch häufiger. Jugendamt Gemeinsam mit dem zuständigem Jugendamt und der stationären Einrichtung wird zu Beginn der Maßnahme ein individueller Behandlungsplan für das sexuell übergriffige Kind bzw. den Jugendlichen erarbeitet. Eine wichtige Grundlage hierfür ist die vorausgehende Diagnostik, durchgeführt durch die Therapeuten. In regelmäßigen, alle drei Monate stattfindenden Kontrollplangesprächen tauschen sich alle Institutionen, die in den Fall involviert sind, über die Entwicklung des Jungen und die momentane Risikoeinschätzung aus. Schule Eine enge Kooperation mit der jeweiligen Schule des Jungen ist besonders für die Sicherheitsplanung und somit für den Opferschutz erheblich. Dabei wird in persönlichen Gespräch mit dem/der Klassenlehrer/in und der Schulleitung ein Plan erstellt, der mögliche kritische Situationen in der Schule und auf dem Schulweg aufgreift und geeignete Maßnahmen dagegen enthält. Weiterhin stehen die Therapeuten jederzeit für Fragen und Anliegen seitens der Schule zur Verfügung. 5.8.5. Normenverdeutlichende Gespräche Die am wenigsten aufwendige Interventionsebene nach sexuellen Grenzverletzungen, die durch unsere Beratungsstelle während des Modells angeboten wurde, ist die der „Normenverdeutlichende Gespräche“. Es handelt sich hierbei um ein einmaliges – ggf. auch um mehrmalige – Treffen mit einem Jugendlichen, dem in seiner Schule eine minderschwere Regelverletzung vorgeworfen wurde. Entweder ist der Sachverhalt nicht genau zu klären und die Schule scheut sich deshalb weitere Maßnahmen einzuleiten, wie Einschaltung des Jugendamtes oder eine Anzeige; oder es wird davon ausgegangen, dass die sexuelle Grenzverletzung nicht so massiv war und deren Ursachen eher im Bereich des adoleszenten Ausprobierverhaltens zu suchen sind. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 55 Der WENDEPUNKT ist aus folgenden Gründen prädestiniert, eine solche Intervention vorzunehmen: • Seine Mitarbeiter/innen verfügen über sexualpädagogische Kompetenzen und können deshalb offen über Sexualität und über sexuelle Grenzverletzungen reden. • Sie haben gleichzeitig langjährige Erfahrung mit der Aufgabe, den Jugendlichen mit der vorgeworfenen Tat zu konfrontieren und ihm trotzdem wertschätzend entgegenzutreten. • Sie können ihn über mögliche (auch rechtliche) Konsequenzen informieren, die dann zu erwarten sind, wenn sich sein Fehlverhalten nicht ändert. Zu Beginn des Modellprojektes erschien es zunächst nicht unbedingt naheliegend, sexuell übergriffigen Jugendlichen und deren sozialem Umfeld eine derart niedrigschwellige Interventionsmaßnahme anzubieten. Sie birgt das Risiko, dass der Jugendliche den Eindruck gewinnen kann, keine Verantwortung für seine Taten übernehmen zu müssen. Die Nachfrage nach dieser Interventionsmöglichkeit kam vor allem aus den Schulen. In den Beratungen mit den jeweiligen Lehrkräften wurde deutlich, dass gerade bei als nicht gravierend eingeschätzten sexuellen Grenzverletzungen oder in sehr unklaren Situationen die Alternative zu einem normenverdeutlichenden Gespräch im schlechtesten Falle das Nichtverhalten der Einrichtung ist. In folgenden Situationen wurde der Wunsch an den WENDEPUNKT herangetragen, ein derartiges Gespräch zu führen: • Verbale sexuelle Grenzverletzungen innerhalb einer Klasse oder eines Jahrganges. Betroffen von diesen Übergriffen waren ausschließlich Mädchen, genauso wie es sich bei den Grenzverletzern nur um Jungen handelte. • Sexuelle Grenzverletzungen von Jungen gegenüber Mädchen der Klasse oder der Schule - z. B. in Form von Berührungen der sekundären Geschlechtsorgane, denen die Mädchen entweder nicht zugestimmt oder die sie sogar eindeutig abgewehrt hatten. Sobald im Rahmen der Fachberatung(en) der Eindruck entstand, dass die Übergriffigkeit sich keineswegs auf niedrigem Niveau bewegte, wurde immer in die Richtung beraten, weitere Schritte in Form von Einschaltung behördlicher Stellen und/oder Anzeige zu gehen. War dies nicht der Fall oder blieb es bei dem Wunsch nach einem oder mehreren normenverdeutlichenden Gesprächen, wurden diese durch die Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT durchgeführt. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 56 5.8.6. Sexualpädagogische Beratung als niedrigschwelliges Angebot Zielgruppen Zielgruppen dieses bewusst niedrigschwelligen Angebotes sind: • Sexuell auffällige Kinder und jüngere Jugendliche Es handelt sich dabei um Kinder und Jugendliche mit sexuellen Auffälligkeiten oder übergriffigem Verhalten, • - deren Verhalten offensichtlich in ungenügender Aufklärung durch Eltern, Schule etc. begründet ist, - deren Übergriffe oder Auffälligkeiten sich in einem minderschweren Bereich bewegen, - oder deren Verhalten mit einem kindlichen oder adoleszenten Ausprobierverhalten erklärt werden kann. Sexuell auffällige Kinder und Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen Kinder und Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen oder auch Entwicklungsverzögerungen haben oft über Elternhaus, Betreuungseinrichtung und Schule keinen adäquaten Zugang zu Informationen über Sexualität und häufig auch wenig Spielraum, eigene Erfahrung in der Interaktion mit anderen auf diesem Feld zu sammeln. Ansonsten gelten für diese Zielgruppen die gleichen Punkte wie für die o.g. Zielgruppe. Falls es zu unterschiedlichen Einschätzungen über das Gefährdungspotenzial, das von diesen Kindern und Jugendlichen ausgeht, kommt, ist es möglich und notwendig, entsprechende diagnostische Instrumente einzusetzen. Diese Entscheidung erfolgt in Kooperation der Mitarbeiter/innen vom Jugendamt und vom WENDEPUNKT. • Eltern von sexuell auffälligen Kindern und Jugendlichen Allgemein haben viele Eltern Ängste und Schwierigkeiten vor und mit dem Thema Sexualität und Aufklärung. Kommt ein auffälliges Verhalten ihres Kindes dazu, führt die Verunsicherung im schlechtesten Fall zu einem Nichtverhalten. Insbesondere gilt dies - für Eltern mit Migrationshintergrund, die wenig Zugang zu der herrschenden Mehrheitskultur haben - für Eltern mit geistig und/oder körperlich behinderten Kindern Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 57 Sexualpädagogische Angebote für Kinder und Jugendliche Für die ersten beiden Zielgruppen bietet der WENDEPUNKT – je nach Bedarf – verschiedene Module an. Was im Einzelnen angemessen erscheint, kann z.B. auf einer Erziehungskonferenz oder in Fallbesprechungen mit dem FIT abgestimmt werden. Alle Angebote können in Kleingruppen oder in Einzelarbeit durchgeführt werden. • • • Modul Sexualpädagogik / Aufklärung o Funktion der Geschlechtsorgane, Fortpflanzung, (ggf. Verhütung) o Angemessene Sprache über Sexualität o Aufklärung von Verzerrungen hinsichtlich Sexualität (Pornografie) o Reflexion und Verbalisieren von Gefühlen Modul Geschlechterverhältnis o Reflexion über die vorhandenen Bilder zum eigenen Geschlecht o Erwartungen an und Bilder über das andere Geschlecht o Aufklärung über Verzerrungen hinsichtlich der Geschlechterbilder o Kennenlernen von alternativen Verhaltensalternativen Modul Grenzen kennenlernen und verstehen o Eigene Grenzen kennenlernen und austesten o Grenzen anderer verstehen und akzeptieren o (Un-)krrekte Anmache Für alle Angebote gilt, dass die Kinder und Jugendlichen sich mit ihrem eigenen grenzverletzenden oder auffälligen Verhalten auseinandersetzen müssen. Angebote für Eltern Die Eltern sollen lernen, sich mit dem Verhalten ihres Kindes vorurteilsfrei auseinanderzusetzen, angemessen auf dieses zu reagieren und ihnen altersgemäße Anregungen geben zu können. Ängste vor der Auseinandersetzung mit der Sexualität der Kinder, eigene Grenzen und Möglichkeiten werden thematisiert. Das Ziel ist, dass die Eltern befähigt werden, in ihrer Familie an einer Atmosphäre mitzuwirken, in der Sexualität nicht tabuisiert wird. Dazu gehört, dass auch die Grenzen entsprechend deutlich benannt werden können. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 58 5.8.7. Elternarbeit ist unverzichtbar! An dieser Stelle soll noch einmal betont werden: Es ist in allen Fällen und bei allen anstehenden (sozialtherapeutischen) Interventionsmaßnahmen maßgeblich, möglichst früh Kontakt mit den Eltern der grenzverletzenden Jugendlichen zu haben. Eltern, deren Kinder sexuelle Grenzverletzungen begangen haben, sind fast immer in einer außerordentlichen psychischen Belastungssituation. Im Erstkontakt soll versucht werden, gemeinsam mit ihnen Orientierung in der oftmals als chaotisch empfundenen Situation zu finden. Die Eltern sind häufig geschockt von den Vorwürfen gegen ihre Kinder. Damit dies nicht dazu führt, dass entweder die Kinder abgelehnt oder die Taten negiert werden, sollen sie darin bestärkt werden, zu unterscheiden zwischen der ablehnenswerten Tat und dem Kind oder Jugendlichen, der immer noch ein Anrecht auf die Zuneigung und Liebe seines sozialen Umfeldes hat. Insbesondere in Inzestfällen befinden sich die Eltern in einer großen Zerreißprobe zwischen den verschiedenen Polen in ihrer Familie. Sie befinden sich in einer schwer belasteten Situation und haben oft eigenen Beratungsbedarf. Eltern von sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen haben aber auch ein Anrecht darauf zu erfahren, welche Möglichkeiten der Hilfe es für ihre Kinder gibt. Ein guter Kontakt zu ihnen ist für eine gelingende Intervention zwingend notwendig. Den Eltern muss vermittelt werden, dass ihr Kind Hilfe braucht und dass die Auseinandersetzung mit der Tat nicht bedeutet, dass ihr Kind als Täter stigmatisiert werden soll. Im Gegenteil: Wenn die Jugendlichen die Möglichkeit haben, sich mit ihrem Übergriff auseinanderzusetzen und Verantwortung dafür zu übernehmen, steigen die Chancen für eine gesunde Entwicklung. In diesem Prozess benötigen die Jugendlichen die Unterstützung ihrer Eltern. Gelingt es, den Eltern diese Gedanken im Erstkontakt zu vermitteln, ist ein ganz wichtiger Schritt für eine gelungene Intervention getan. Die Eltern unterstützen eine deliktorientierte Therapie und begreifen diese als Möglichkeit für ihre Kinder, aus deren Täterverhalten auszusteigen. Mit ihnen werden das Vorgehen in der Therapie und die Entwicklung des Jungen sowohl im Rahmen der Behandlung, als auch außerhalb in seinem sozialen Umfeld besprochen. Weiterhin wird thematisiert, mit welchen Maßnahmen und möglicherweise veränderten Einstellungen und verändertem Erziehungsverhalten sie die Entwicklung des Jungen positiv unterstützen können. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 59 5.9. SEKUNDÄRPRÄVENTION IST DOCH NÖTIG, DENN SEXUELLE ÜBERGRIFFE MIT MEHREREN BETEILIGTEN NEHMEN ZU! In den Vorüberlegungen zum Modellprojekt spielten von unserer Seite sekundärpräventive Interventionen in den Peers von sexuell grenzverletzenden Minderjährigen und den der davon betroffenen Opfer zunächst keine Rolle. Vielmehr gab es zunächst die Grundannahme, dass Fortbildungsangebote, Beratungen des sozialen Umfeldes sowie diagnostische und therapeutische Interventionsmaßnahmen ein ausreichendes Angebot darstellten, um auf Vorfälle zu reagieren. Im letzten Modelljahr gab es jedoch häufiger Anfragen von Schulen, in denen es zu Übergriffen unter (meist) Gleichaltrigen gekommen war. Nach Übergriffen, die von Tätern oder Zuschauern in Bildern oder Filmen dokumentiert wurden, und nach Gruppentaten, über deren Ablauf manchmal ganze Jahrgänge informiert waren, meldeten sich die Schulen – in Rücksprache mit der Schulbehörde - mit dem dringenden Wunsch, Projekte für die betroffenen Klassen durchzuführen. Die Ratsuchenden hatten sich damit auseinanderzusetzen, dass die begangenen Übergriffe - aus unterschiedlichen Gründen - zentrales Thema in den betroffenen Klassen oder Jahrgängen war. Eine rein sexualpädagogische Intervention, die auf Freiwilligkeit und zumindest teilweise auf die eigene Themenauswahl der Schüler/innen setzt, wäre aus unserer Sicht in einer solchen Situation nicht ausreichend gewesen. Deshalb haben wir unsere Kompetenz aus der Arbeit mit sexuellen Grenzverletzern für die Arbeit mit den Jungen eingebracht. Für die Intervention bezüglich der Mädchen kooperierten wir mit Hamburger Opferberatungsstellen. Anfragen aus Schulen nach sexuellen Übergriffen unter Gleichaltrigen Wenn mehrere Jugendliche sexuelle Handlungen an einem Mädchen vollziehen, sprechen wir von sogenanntem Gang Bang. Häufig ist das betroffene Mädchen alkoholisiert oder es macht aus Gruppenzwang zunächst mit. Wenn es dann versucht, aus dem Geschehen auszusteigen, wird der Widerstand nicht wahrgenommen. Gang Bang ist für männliche Jugendliche eine Spielart der Sexualität, die die meisten aus dem Internet kennen, Bei den entsprechenden Filmen, die auf den Pornowebsites konsumiert werden können, nehmen die Frauen in der Regel freiwillig am Gruppensex teil, der Umgang mit diesen Frauen ist aber in der Regel brutal und abwertend. In Gesprächen über Sexualpraktiken haben Jungen in den therapeutischen Gruppen des WENDEPUNKT immer wieder geäußert, dass Mädchen, die an solchen Praktiken teilnehmen, für sie als Beziehungspartnerinnen nicht in Frage kämen. Die Jungen gehen z. T, sogar soweit, dass sie es auch ablehnen würden, Mädchen, die sich auf spezielle Sexualtechniken einlassen, zu küssen, weil diese schmutzig seien. Anfragen infolge digitaler Erfassung von sexuellen Übergriffen Sexuelle Grenzverletzungen werden auch dann zum vieldiskutierten Thema in der Peer, wenn der Übergriff mit dem Handy oder einer Kamera gefilmt und danach über bluetooth weitergegeben oder im Internet gepostet wurde. Auch bei diesen Übergriffen spielt häufig Alkohol eine Rolle und häufig sind mehrere Personen tatbeteiligt. Sowohl die Tatsache, dass mehrere Jugendliche beteiligt waren als auch die „Dokumentation“ auf einem Datenträger können dazu führen, dass z. B. in einer Klasse viele Jugendliche über den Übergriff Bescheid wissen. Das Anliegen des Opferschutzes geht in einem solchen Setting unter, in dem das betroffene Mädchen real oder auch nur imaginiert immer wieder mit Reaktionen auf die traumatische Situation konfrontiert wird. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 60 Oftmals gehen die Jugendlichen, die beispielsweise den Übergriff auf einen Handyfilm gesehen haben, davon aus, dass das Opfer selbst eine Mitschuld trägt, weil sie sich auf eine solche Situation eingelassen hat. Häufig zeigen gerade Mädchen wenig Solidarität gegenüber der Betroffenen. Die Einschätzung der männlichen Klassenmitglieder ist entweder vergleichbar oder sie stehen unter dem Druck, sich den übergriffigen Jungen gegenüber solidarisch zu verhalten. Immerhin stehen ja in solchen Fällen fast immer mehrere Aussagen gegen die Schilderung des Opfers. Ein rein sexualpädagogischer Ansatz würde in dieser Situation ins Leere laufen. Das Grundprinzip der Sexualpädagogik ist die Freiwilligkeit, sowohl im Hinblick auf die Teilnahme, wie auch hinsichtlich der gewählten Themen. Ein Sexualpädagoge/eine Sexualpädagogin steht auch immer vor der Herausforderung, möglichst wenig an Wertung in das Gruppengeschehen einfließen zu lassen und trotzdem eine deutliche Haltung zu bestimmten Themen (sexuelle Übergriffe, sexuelle Orientierung etc.) zu transportieren. Eine Intervention nach einer sexuellen Grenzverletzung in einer Klasse, die diesem Übergriff zumindest ambivalent gegenüber steht, braucht eine andere pädagogische Ausgangssituation. Während einer solchen Intervention muss den Jugendlichen ganz deutlich klar gemacht werden, dass es eindeutige Definitionen bezüglich sexuell grenzverletzenden Verhaltens gibt, auf die gegebenenfalls auch juristische Schritte folgen. Eine Konfrontation alleine wird die Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erreichen, neben dem erhobenen ‚Zeigefinger’ bedarf es trotzdem eines Klimas der Wertschätzung, in der sich die Jugendlichen trauen, ihre Sicht der Dinge zu schildern. Die Kompetenz für diese Gratwanderung bringen die Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT aus ihren Erfahrungen in der Gruppenarbeit in der ARP mit. Deshalb wurde im Laufe des Modellprojektes ein Angebot installiert, das sich vor allem an Schulen richtet. Gemeinsam mit Kolleginnen aus Opferberatungsstellen werden seit dem letzten Jahr Projekte für diese besondere Problemstellung angeboten. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 61 6. DIE FALLUNABHÄNGIGE ARBEIT: VORSTELLUNG UNSERES ANGEBOTES UND ERKENNTNISSE 6.1. EINE EFFIZIENTE ARBEIT MIT SEXUELL AUFFÄLLIGEN MINDERJÄHRIGEN BRAUCHT TRAGFÄHIGE KOOPERATIONSSTRUKTUREN 6.1.1. Das UKE evaluiert die Entwicklung der Kooperationsbezüge Die Ergebnisse der Evaluation liegen im Institut für Sexualforschung an der Uniklinik Eppendorf (IFS) vor und sind dort abrufbar. 6.1.2. Der das Modellprojekt begleitende Arbeitskreis Das „Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige“ wurde alle zwei Monate von einem Arbeitskreis begleitet. Für die Teilnahme an diesen AK wurden Vertreterinnen und Vertreter von Behörden und freien Trägern angefragt. Zusammensetzung Zum Teilnehmerkreis gehörten neben den Kooperationspartnern im Modellprojekt Vertreter und Vertreterinnen • der bezirklichen Allgemeinen Sozialen Dienste • von REBUS, den regionalen Beratungsstellen der Schulbehörde • der Beratungsstelle für Gewaltprävention • der Kinder- und Jugendpsychiatrien • der Jugendgerichtshilfe • des zuständigen Landeskriminalamtes • der Jugendstaatsanwaltschaft • von (Opfer-) Beratungsstellen • von Jugendhilfeträgern (stationär) • der Psychotherapeutenkammer Zielsetzung Ziel war es, vorhandene Angebote zu vernetzen, mögliche Lücken in der Arbeit mit übergriffigen Jugendlichen aufzudecken und den beteiligten Personen und Einrichtungen ein Forum zu bieten, in dem sie eigene Erfahrungen weitergegeben und von denen anderer partizipieren können. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 62 Bearbeitete Themen Die Themen im Arbeitskreis ergaben sich z. T. aus aktuellen Diskursen, aus Beobachtungen und Erfahrungen im Modell, aus Anregungen der Teilnehmenden oder aus Vorgaben der Kooperationspartner im Modellprojekt. Für die inhaltliche Vorbereitung war mit Ausnahme der Einladung von externen Referent/innen der WENDEPUNKT zuständig. Zu den bearbeiteten Themenschwerpunkten gehörten u. a. • die Kooperation zwischen verschiedenen Einrichtungen und Behörden, mit dem Ziel, effektivere Interventionsstrukturen zu schaffen • die Schnittstelle zu den Kinder- und Jugendpsychiatrien im Hinblick auf weitere Diagnostik bei solchen Kindern und Jugendlichen, bei denen -, neben der sexuellen Auffälligkeit - auch eine psycho-pathologische Problematik vermutet wird • die Spezifika in der Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten sexuell auffälligen Minderjährigen • Unterschiede in den Perspektiven aus Sicht der Opfer bzw. Täterarbeit - insbesondere auch die Frage, ob und wann eine Anzeige sinnvoll und notwendig erscheint • rechtliche Fragen; hier profitierten die beteiligten Nichtjurist/innen von der Kompetenz der Staatsanwaltschaft und der Jugendgerichtshilfe • spezialisierte stationäre Angebote für sexuell übergriffige Minderjährige Rückmeldung der Teilnehmenden Die Teilnahme der meisten angefragten Einrichtungen war sehr verlässlich. Aus den Feedbackbögen, die das UKE regelmäßig nach dem Arbeitskreis verteilte, war zu ersehen, dass die Teilnehmer/innen den Kreis überwiegend positiv bewerteten und nach Anfangsschwierigkeiten mit manchmal wechselnden Vertreter/innen aus den Einrichtungen der Grad an Bekanntheit der übrigen Anwesenden stetig zunahm und auf hohem Niveau verweilte. Auch die überwiegend vom WENDEPUNKT vorbereiteten thematischen Schwerpunkte (s.o.) stießen auf ein durchweg positives Echo. Im Moment liegt uns die endgültige Auswertung der Evaluationsbögen des UKE noch nicht vor. Wie gehen jedoch davon aus, dass die erstrebten Ziele (Vernetzung, Erfassung von Versorgunglücken und interne Fortbildung) in diesem Gremium weitgehend erreicht werden konnten. Dafür spricht auch, dass sich beim letzten offiziellen Treffen des Arbeitskreises alle Teilnehmenden für eine Weiterführung desselben aussprachen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 63 6.1.3. Vernetzung mit dem Arbeitskreis NEXUS Seit etlichen Jahren gibt es in Hamburg einen Verbund von Opferberatungsstellen. Verschiedene Träger haben sich unter dem Dach von NEXUS zusammengefunden, um vorhandene Angebote und Spezialisierungen besser koordinieren zu können. Vom WENDEPUNKT aus bestanden schon vor dem Modellprojekt Kontakte zu diesem Kreis, die sich z. B. in Form von gemeinsamen Fortbildungen niederschlugen. Zu Beginn des Modellprojektes war es dem WENDEPUNKT wichtig, auch diese Vernetzung zu intensivieren. (vgl. auch 5.2.3.). Ziel war es, Schnittstellen zu untersuchen sowie eine besser Fallkoordination und Krisenintervention zu gewährleisten, um weitere Verletzungen und Übergriffe zu vermeiden. Dazu waren und sind u.a. tragfähige persönliche Kontakte und abgesprochene Verfahren hilfreich. Die Kolleginnen der in NEXUS organisierten Beratungsstellen wurden zum modellprojektbegleitenden Arbeitskreis eingeladen und nahmen an diesem regelmäßig teil. In diesem Rahmen konnten immer wieder Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert werden. Hierzu zählte bspw. die nach der Anzeigepflicht von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Erfreulicherweise wurde eine WENDEPUNKT-Mitarbeiterin ebenfalls zur Teilnahme am NEXUS-Kreis eingeladen und konnte so regelmäßig an den Fachdiskussionen teilnehmen. 6.1.4. Vernetzung mit der Schulbehörde In Kooperation mit der Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde), Vertreterinnen von NEXUS und dem WENDEPUNKT wurde für die Hamburger Schulen eine Handlungsanweisung entwickelt. Ziel war es, den Lehrkräften, die sich mit Anfragen an uns oder andere Beratungseinrichtungen wenden, verbindliche Handlungspfade aufzeigen zu können. Zu diesem Zweck wurde eine Broschüre erarbeitet, in der über sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen informiert und eine konkrete Interventionskette vorgestellt wird. Das Case Management wird von der Beratungsstelle für Gewaltprävention übernommen. Von dort aus wird auch die Koordinierung der verschiedenen Hilfsangebote übernommen. Darüber hinaus wurden in den beteiligten Einrichtungen Zuständigkeiten für das Problem der sexuell auffälligen Minderjährigen festgelegt. Damit ist die Gefahr gebannt, dass in der ohnehin oft als überfordernd erlebten Situation nach sexueller Grenzverletzung, die Beratungssuchenden nicht mit unterschiedlichen Kontaktinformationen von einer Beratungsstelle zur nächsten geschickt werden. Trotz dieser Erfolge steht die Vernetzung noch am Anfang und entsprechend trifft sich der oben erwähnte Kooperationskreis in größeren Abständen, um in Fallbesprechungen die installierten Maßnahmen zu überprüfen. Zur Zeit wird die Broschüre, die Anfang 2009 an den Schulen verteilt wurde, überarbeitet und um Informationen zu spezifischen Aspekten der Arbeit mit Opfern und Tätern ergänzt. Ein Ergebnis dieser aus unserer Sicht gelungenen Kooperation ist sicherlich auch das zunehmende Verweisen von Seiten der Hamburger Schulen an die Beratungsstelle des WENDEPUNKT. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 64 6.1.5. Mitarbeit in der DGfPI Die Beratungsstelle des WENDEPUNKT in Hamburg, die im Rahmen des Modellprojektes entstanden ist, stand und steht vor ähnlichen Fragestellungen wie vergleichbare Einrichtungen in anderen Teilen der Bundesrepublik. Für unsere Arbeit war es deshalb nahe liegend, den Austausch mit anderen ambulanten Beratungsstellen und spezialisierten Einrichtungen zu suchen. Die regelmäßig einmal pro Jahr stattfindenden Werkstattgespräche der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) bieten hierfür einen Ort. Die DGfPI ist 2009 aus der Verschmelzung zweier Vereine entstanden, die sich schon lange mit dem Thema „Sexuelle Grenzverletzungen“ beschäftigten. Einer der beiden Gründungsvereine (Deutsche Gesellschaft gegen Kindesmissbrauch und Vernachlässigung) hat als erster Verband in Deutschland spezielle berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungen für die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen angeboten. Parallel dazu wurden seinerzeit die Werkstatttreffen initiiert, um für die Praktiker/innen eine Plattform zum Austausch und zur Weiterbildung zu schaffen. Der WENDEPUNKT hat sich an diesen Treffen von Beginn an beteiligt. Für das Jahr 2009 wurde das Werkstatttreffen in Hamburg vom WENDEPUNKT ausgerichtet, d.h. seine Mitarbeiter/innen haben die organisatorische und inhaltliche Vorbereitung weitgehend übernommen. Während der Werkstatttreffen finden inhaltlich fortlaufende Arbeitsgruppen statt, ergänzend zu diesen war es uns bei dem Treffen in Hamburg wichtig, das Modellprojekt vorzustellen. Darüber hinaus haben wir die Arbeit mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund zum Schwerpunktthema gemacht. Für eine Beratungsstelle in einer Metropole wie Hamburg, in der es einen sehr großen Anteil von Kindern und Jugendlichen gibt, deren Wurzeln in anderen Kulturen liegen, ist die Auseinandersetzung mit interkulturellen Fragen eine Erfahrung, die wir auch in andere Fachkreise einbringen können und möchten. Daneben haben wir das Werkstatttreffen dazu genutzt, für eine norddeutsche Vernetzung von Fachkräften in der praktischen Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen zu werben. Seit einiger Zeit gibt es schon ähnliche Netzwerke in West- und Ostdeutschland. Ziel der Vernetzung ist es zum einen, unter dem Dach der DGfPI spezialisierte Angebote für Kinder und Jugendliche mit sexuell auffälligem Verhalten bekannt zu machen, damit Hilfen schnell und unbürokratisch abgefragt werden können. Darüber hinaus ermöglichen die Treffen Austausch, Vorstellung neuer Angebote und Konzepte, kollegiale Fortbildung und im Einzelfall auch Fallbesprechungen. Die Resonanz auf unser Angebot war so erfreulich, dass der WENDEPUNKT im Februar 2010 zum ersten norddeutschen Vernetzungstreffen in seine Hauptstelle in Elmshorn einladen konnte – hier gibt es einen ausreichend großen Raum. Seitdem haben zwei weitere Treffen stattgefunden. Sie hatten die inhaltlichen Schwerpunkte: Therapeutische Herausforderungen und Pornographie. Teilnehmende an den Treffen sind Vertreter/innen stationärer Facheinrichtungen aus Hamburg und Schleswig-Holstein, spezialisierte Beratungsstellen aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen und Niedersachsen, aber auch Mitarbeiter/innen aus Jugendämtern und Justizvollzugsanstalten. Das Netzwerk trifft sich derzeit dreimal im Jahr in Elmshorn oder Hamburg. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 65 6.2. FALLUNABHÄNGIGE FACHBERATUNGEN TRAGEN ZUR ERWEITERUNG VON HANDLUNGSKOMPETENZEN UND ZUR PRÄVENTION BEI Ein Teil der vom WENDEPUNKT während des Modellprojektes durchgeführten Fachberatungen wurden nicht durch vorgehende sexuelle Übergriffe initiiert. Häufig gehen diese Anfragen auf Mitarbeiter/innen zurück, die in irgendeiner Weise mit der Thematik konfrontiert worden sind und/ oder die sich in der pädagogischen Verantwortung fühlen, in ihrer Einrichtung Notfallkonzepte und präventive Maßnahmen zu etablieren. Eine andere Motivation kann die Erkenntnis auf Leitungsebene sein, dass Schutz vor und Prävention von sexueller Gewalt zu einem umfassenden Qualitätsmanagement gehört. In der Regel fanden diese Fachberatungen mit einem kleineren Kreis von Kolleg/innen aus der Einrichtung statt. Sie verfolgten das Ziel, einen möglichst „Sicheren Ort“ für das eigene Klientel zu schaffen. Vor diesem Hintergrund wurde reflektiert, welche Maßnahmen bspw. bereits zur Sensibilisierung und Enttabuisierung, zum Beschwerdemanagement und zur Partizipation der Kinder und Jugendlichen ergriffen wurden und wo es noch Lücken gebe. Gemeinsam wurde geklärt, ob die Mitarbeiter/innen und die Einrichtung insgesamt Standards zu diesen Fragen und eine bewusste Haltung zu den Bereichen „Sexualität“ und „Sexuelle Übergriffe“ transportieren. Verdeutlicht wurde, dass dann, wenn etwa eine Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität tabuisiert wird und die eigene Haltung unklar bleibt, an die Adresse der Jugendlichen die Botschaft transportiert wird: Hier können Fragen, Ängste aber auch konkrete Übergriffe nicht verbalisiert werden. In einem solchen Fall wurde gemeinsam mit den Beratungssuchenden überlegt, welche Möglichkeiten es gebe, z. B. über Fortbildungen für eine Verbesserung der Situation zu sorgen. 6.3. NEBEN GRUNDLAGENVERMITTLUNG MÜSSEN FORTBILDUNGEN UND FACHGESPRÄCHE SEHR FLEXIBEL AUF UNTERSCHIEDLICHE ANLIEGEN REAGIEREN Ein wesentliches Aufgabenfeld des WENDEPUNKT im Modellprojekt waren die Information und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften verschiedener Arbeitsbereiche, die mit sexueller Grenzverletzung konfrontiert sind oder sein könnten. Folgende Erkenntnisse konnten gewonnen werden: • Fortbildungsinhalte hängen von den jeweiligen Bedürfnissen, Informationsständen und Interessen der anfragenden Einrichtungen ab – aber auch von den Rahmenbedingungen, die zur Verfügung stehen. • Sexualität gehört immer noch zu den Themen, zu denen es in wenigen Einrichtungen eine offene Kommunikationskultur gibt. Sie wird ausgeblendet, negativ bewertet und tabuisiert. (Dieser Sachverhalt ist deshalb vor allem bemerkenswert, weil dieser Bereich für Kinder und insbesondere für Jugendliche von großer Bedeutung ist.) Es fehlt an Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich Sexualpädagogik. Damit fehlt eine Grundlage, um auch sexuelle Grenzverletzungen thematisieren zu können. • Generell ist festzustellen, dass die Sensibilität dem Problem der sexuellen Gewalt gegenüber und die Handlungskompetenzen im Umgang mit Verdachtsmomenten in vielen Einrichtungen noch erweitert werden müssen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 66 • Häufig gibt es keine Ansätze zum Umgang mit sexuellen Übergriffen innerhalb einer Einrichtung; Konzepte für Interventionen und zur Prävention sexueller Übergriffe fehlen. • Es bestehen erhebliche Informationsdefizite zum Beispiel zu folgenden Fragen 6.3.1. o Formen sexueller Delinquenz Minderjähriger o Bewertung sexuell auffälligen Verhaltens: Wo fängt übergriffiges Verhalten an, bis wohin sind sexuelle Handlungen tolerierbar? Wer entscheidet diese Frage? o Tätertypen und Täterstrategien o Grundzüge und Rahmenbedingungen „Deliktorientierter Arbeit“ mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen o Sekundärpräventive Ansätze Fortbildungsanlässe und Zielgruppen Fortbildungen zum Thema „Minderjährige mit sexuell auffälligem Verhalten“ wurden vor unterschiedlichen Hintergründen angefragt und von unterschiedlichen Zielgruppen in Anspruch genommen. Fortbildungsanlässe • Es hat einen Verdachtsfall oder auch einen Vorfall in einer Einrichtung gegeben, der große Verunsicherung ausgelöst hat. Anmerkung: Vor diesem Hintergrund werden die weitaus meisten Fortbildungswünsche an uns herangetragen. • Die Berichterstattung in den Medien – in aller Regel zu einem Aufsehen erregenden Vorfall – wirft Fragen zum Umgang mit dem Thema auf. • Es findet eine einrichtungsweite Debatte zur Qualitätsentwicklung statt, in deren Zusammenhang auch Standards zum Umgang mit unserer Thematik entwickelt werden sollen. • (Leitende) Mitarbeiter/innen wollen sich intensiv mit der Frage beschäftigen, wie sie einen „Sichern Ort“ für die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen schaffen können. • Pädagogische Fachkräfte wollen mehr über Tätertypologien und –strategien erfahren, um frühzeitig und kompetent auf Hinweise reagieren zu können. • Fortbildungen werden (regelmäßig) offen ausgeschrieben und können von einem heterogen zusammengesetzten Publikum gebucht und besucht werden. (s. die in Kooperation mit der Opferberatungsstelle Allerleirauh regelmäßig angebotene und auf großen Zuspruch stoßende Fortbildung „Sie hatte doch einen kurzen Rock an und wollte das auch so“ oder das bereits mehrfach angebotene Seminar im Rahmen der Sommeruni). Zielgruppen für Fortbildungen im Modellkontext waren in aller Regel Professionelle. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 67 Zielgruppen • Lehrkräfte • Mitarbeiter/innen aus (stationären) Jugendhilfeeinrichtungen • Mitarbeiter/innen aus stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe • Mitarbeiter/innen aus psychosozialen Beratungsstellen Die folgende Zielgruppe wurde zwar angesprochen, unser Angebot fand jedoch weniger Resonanz, als wir gehofft hatten: • Mitarbeiter/innen aus der offenen Jugendarbeit Noch nicht gezielt angesprochen haben wir bspw. • (Ehrenamtliche) Mitarbeiter/innen aus der verbandlichen Jugendarbeit. Die jeweiligen Fortbildungsinhalte können dem folgenden Abschnitt entnommen werden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 68 6.3.2. Fortbildungskonzepte Fortbildungstyp 1 (eintägig) „Sie hatte doch einen kurzen Rock an und wollte das so!“ Diese Veranstaltung wurde gemeinsam mit der Beratungsstelle Allerleirauh konzipiert und regelmäßig während des Modellprojektes in Kooperation mit Kolleginnen dieser Beratungsstelle durchgeführt. Besonderheit dieser Fortbildung ist es, dass gleichzeitig die Perspektive von „Opfer-“ und „Täterseite“ aufgezeigt wird. Die Fortbildung richtet sich an Fachkräfte und Multiplikator/innen aus den Bereichen Schule und Jugendhilfe. Sie soll dabei unterstützen, die erarbeiteten Inhalte in den jeweiligen Einrichtungen umsetzen. Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform 9:00 Vorstellen der Inhalte und des Ablaufes Soziometrie/ Ab durch die Mitte (thematisch langsam steigern) alle Kennenlernen Hilfsmittel Heranführen an die Thematiken Sexualität und sexuelle Übergriffe 9:20 Klärung, welche Erwartungen es in der Gruppe an die Fortbildung gibt Vorstellungsrunde plus eigene Erwartungen alle 9:40 Abfragen von Bildern und Meinungen zum Thema Sexualität und sexueller Übergriffigkeit „Thesenampel“ zu Sexualität und sexuellen Übergriffen alle 10:00 Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendliche aus der Perspektive der Betroffenen Vortrag und Diskussion alle Notebook und Beamer, Powerpoint Präsentation Input: Flipchart • Definitionen • Unterscheidung kindliche und erwachsene Sexualität • Rechtliche Grundlagen • Besondere Situation für die Opfer jugendlicher Täter • Arbeit einer Beratungsstelle für Opfer sexueller Gewalt 10:45 PAUSE 11:00 Warm-up Hennenrennen alle Stofftiere 11.10 Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen aus der Perspektive der sexuell grenzverletzenden Minderjährigen Vortrag und Diskussion alle Notebook und Beamer, Powerpoint Präsentation Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 69 Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel Input: • Minderjährige Täter • Tatverhalten • Täterstrategien 12:30 MITTAGSPAUSE 13:30 Warm-up Klatsch Spiel alle 13:40 Aufzeigen von möglichen Handlungsoptionen und präventiven Maßnahmen in Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen Vortrag und Diskussion alle Notebook und Beamer, Powerpoint Präsentation Anhand eigener oder fiktiver Fälle werden Fortbildungsinhalte auf die eigene Praxis übertragen Die Ergebnisse werden festgehalten Fallarbeit in vier Gruppen Kleingruppen vorbereitete Fallvignetten Flipchart Bögen und Stifte 15:50 Präsentation der Kleingruppenergebnisse Diskussion alle 16.30 Feedback und Ausblick Abschlussrunde Input: • Interventionsmöglichkeiten • Vorstellung eines Handlungsleitfadens 14:50 Plenum Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 70 Fortbildungstyp 2: (vierstündig) Umgang mit sexuellen Übergriffen in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe In dieses Fortbildungskonzept fließt die Erfahrung ein, dass der Bedarf nach Fortbildung in Wohngruppen fast immer direkte Folge von sexuellen Übergriffen in der Einrichtung ist. Deshalb wird versucht, dem Aufarbeiten und der Reflexion der gemachten Erfahrungen Raum zu geben. Oftmals fehlen den Einrichtungen allerdings die zeitlichen Ressourcen, sich so ausführlich mit dem Thema zu beschäftigen, wie dies aus Sicht der Prävention weiterer Übergriffe wünschenswert wäre. Aus diesem Grund beschränkt sich das Konzept zeitlich auf einen Vormittag, verbunden mit der ausdrücklichen Option, später einzelne Aspekte zu vertiefen. Fortbildungsangebote, die sich zeitlich versetzt anschließen können, finden sich bei den Vertiefungsmodulen. Zeit Ziel 09:00 Begrüßung Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel alle Programm auf Flipchart Vorstellung der Teamer und des Programmablaufes 09:20 Einstieg in das Thema „Sexualität“ und spielerische Auseinandersetzung z.B. mit den folgenden Fragen: • Wie geht es mir angesichts der Auseinandersetzung mit diesem Thema? • Wer arbeitet zusammen? • Ist Sexualität ein Thema in Wohngruppe? (oft/gar nicht) • Wie wird mit diesem Thema umgegangen? • Wie gehe ich persönlich mit dem Thema um? Spiel „Ab durch die Mitte“ alle 09:30 Erwartungen der TN abklären Abfrage alle Flipchart 09:45 Erste Begriffsklärungen: Abfrage auf Karteikarten einzeln Karteikarten • Was sind sexuelle Übergriffe für mich? Wo fangen sie an? • Welche Bilder habe ich dazu in meinem Kopf? • Welche Gefahren sehe ich? (Bagatellisierung und Skandalisierung von sexuellen Grenzverletzungen Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 71 Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel 09:55 Input Vortrag alle Beamer, Laptop, Powerpoint Präsentation Diskussion und Reflexion Kleingruppen Flipchart-Bögen, Stiftes • Definitionen • Reaktionen auf sexuelle Übergriffe 10:25 Pause 10:45 Erfahrungen aus dem Gruppenalltag bearbeiten und auswerten • Bewertung des sexuell auffälligen Verhaltens • Bewertung der bisherigen Reaktionen in der Einrichtung • Bewertung der Kooperationserfahrungen 11:15 Vorstellung der einzelnen Fälle im Plenum Präsentation alle 11:40 Input: Vorstellung eines Handlungsleitfaden alle • Mögliche angemessene Handlungs- und Interventionsoptionen aufzeigen 12:10 Feedback zur Fortbildung Was fehlt… ? alle 12:20 Abschluss Abschlussrunde alle Beamer, Laptop, Powerpoint Präsentation Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 72 Fortbildungstyp 3 (eintägig) Umgang mit sexuellen Übergriffen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe Aufgrund der steigenden Anfrage aus dem Bereich der Behindertenhilfe, wurde das Konzept für Einrichtungen der stationären Jugendhilfe modifiziert. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass kognitiv beeinträchtigte Kinder und Jugendliche vergleichbares Interesse und ebenso eine vergleichbare, wenngleich auch oft ein wenig verzögerte, psychosexuelle Entwicklung haben wie andere Kinder und Jugendliche. Der Unterschied liegt eher im Blick und der Bewertung des Umfeldes hinsichtlich ihrer ersten sexuellen Entwicklungsschritte. Andere Fragen stellen sich im Hinblick auf selbstverantwortliche Verhütung oder auf den Wunsch, eigene Kinder zu bekommen und damit Eltern zu werden. Zeit Ziel 09:00 Begrüßung Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel alle Programm auf Flipchart Vorstellung der Teamer und des Programmablaufes 09:20 Einstieg in das Thema Sexualität und spielerische Auseinandersetzung z.B. mit den folgenden Fragen: • Wie geht es mir angesichts der Auseinandersetzung mit diesem Thema? • Wer arbeitet zusammen? • Ist Sexualität ein Thema in Wohngruppe/Einrichtung? (oft/gar nicht) • Wie wird mit diesem Thema umgegangen? • Gibt es Unterschiede zu Einrichtungen der ambulanten Jugendhilfe? • Wie gehe ich persönlich mit dem Thema um? Spiel „Ab durch die Mitte“ alle Soziometrische Übung 09:35 Erwartungen der TN abklären Abfrage alle Flipchart 09:50 Erste Begriffsklärungen: Abfrage auf Karteikarten einzeln Karteikarten • Was sind sexuelle Übergriffe für mich? Wo fangen sie an? • Welche Bilder habe ich dazu in meinem Kopf? • Welche Gefahren sehe ich? (Bagatellisierung und Skandalisierung von sexuellen Grenzverletzungen Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 73 Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel Vortrag alle Beamer, Laptop, Powerpoint Präsentation – besonders bei kognitiv Beeinträchtigten) 10:00 Input • Definitionen • Reaktionen auf sexuelle Übergriffe 10:25 Pause 10:40 Warm Up Spiel „Hennenrennen“ alle Zwei Kuscheltiere 10:50 Auseinandersetzung mit folgenden Fragen: Murmelgruppen wechselnde Kleingruppen Flipchart und Stifte Präsentation und Diskussion Plenum • Sexualität und Behinderung: Wie ist die Haltung der Einrichtung dazu? • Ist es ok, wenn geistig Behinderte Sexualität leben wie alle anderen? • An welchen Punkten gibt es Auseinandersetzungs- und ggf. Handlungsbedarf? 11:35 Austausch 12:15 Mittagspause 13:15 Warm Up und Methodenvorstellung Grabbelsack Grabbelsack 13:30 Input Gespräch Vorbereitete Fallvignetten Kognitiv beeinträchtigte Jugendliche als „Täter“ 14:15 Erfahrungen aus dem Gruppenalltag bearbeiten und auswerten • Bewertung des sexuell auffälligen Verhaltens • Bewertung der bisherigen Reaktionen in der Einrichtung Diskussion Kleingruppen Präsentation und Diskussion alle Spiel „Obstsalat“ alle Bewertung der Kooperationserfahrungen 14:45 Vorstellung der einzelnen Fälle im Plenum 15:00 PAUSE 15:15 Warm Up Flipchartbögen, Stifte Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 74 Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel 15:25 Input: Vorstellung eines Handlungsleitfaden alle Beamer, Laptop, Powerpoint Präsentation Mögliche angemessene Handlungs- und Interventionsoptionen aufzeigen 15:55 Übertragung des Handlungsleitfadens auf die eigene Einrichtung Kleingruppenarbeit, danach Kurzvorstellung im Plenum Kleingruppe 16:30 Feedback und Abschluss Was fehlt…? alle vorbereiteter Bogen Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 75 Fortbildungstyp 4 (eintägig) Sommeruni, Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen Teil 1 14:00 – 17:30 Uhr Die „Sommeruni“ - Veranstaltungen richten sich an Studierende aus den Fachbereichen Psychologie und Pädagogik. Ziel ist es, ihnen verschiedene Praxisbereiche vorstellen zu können. Der WENDEPUNKT beteiligt sich daran, weil erfahrungsgemäß Sexualität und sexuelle Übergriffe als Themenfelder in den Studiengängen kaum auftauchen und sich über diese Veranstaltungen z. B. die Möglichkeit ergibt, Studierende dabei zu unterstützen sich dieser Thematik auch in ihren späteren Arbeitsfeldern zu stellen. Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel 14:00 Vorstellen Referent, Arbeit des WENDEPUNKT und des Fortbildungsablaufes Vortrag alle Powerpoint Präsentation 14.10 Vorstellungs-/ Erwartungsrunde Soziometrie: alle Flipchart alle Fragen / Klangschale • 14:30 14:50 Mit welcher Motivation sind die Teilnehmer/innen in die Fortbildung gekommen und welche Erfahrungen haben sie? Input und Anleitung zur Selbstreflexion • Das Thema Sexualität in der Arbeit mit Jugendlichen • TN sollen einen eigenen Eindruck davon gewinnen, wie schwierig es gerade für Jugendliche ist, über das Thema Sexualität zu kommunizieren. • Reflexion der eigenen Erfahrungen in der Adoleszenz • Haltung zum Thema Sexualität entwickeln Erfahrungsaustausch „Reden über Sexualität ist nicht einfach, macht vielleicht Angst und verunsichert“ Übertragung auf Kinder und Jugendliche Vortrag Selbstreflexion Sexpuzzle/ Fragen beantworten Erfahrungsaustausch Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 76 Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel 15:20 Erste Begriffsklärungen: Murmelgruppen: Kleingruppen mit unterschiedlichen Teilnehmer/innen Powerpoint Präsentation • Unterscheidung Kindliche Sexualität/ Erwachsene Sexualität • Was sind sexuelle Übergriffe für mich? Wo fangen sie an? • Welche Bilder habe ich dazu in meinem Kopf? • Welche Gefahren sehe ich? (Bagatellisierung und Skandalisierung von sexuellen Grenzverletzungen – besonders bei kognitiv Beeinträchtigten) alle 16:05 PAUSE 16:20 Warm Up Spiel: Rotes Sofa alle 16:20 Input Vortrag und Diskussion alle Powerpoint Präsentation alle Karteikarten 17:05 • Minderjährige Täter • Tatverhalten • Täterstrategien • Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen aus der Perspektive der sexuell grenzverletzenden Minderjährigen Nachfragen, Feedback, Wünsche an den zweiten Teil der Fortbildung Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 77 Teil 2 09:00 – 14:00 Uhr Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform 09:00 Warm Up Spiel „Ab durch die Mitte“ alle 09:15 • Befindlichkeit • Reste von Gestern Input • O9:30 Konkrete Arbeitsansätze mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen darstellen Vorstellung Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige Input Abfrage • Antworten auf dem Boden oder einer Stelltafel sortieren Wer sind die Täter? Gesellschaftlich und medial geprägte Bilder 10:20 PAUSE 10:35 Warm Up Spiel „Klatschen weitergeben“ 10:40 Vorstellen der Spezifika deliktspezifischer Täterarbeit Konzeptpräsentation, Vortrag • Vergleich zu klassischen psychotherapeutischen und pädagogischen Ansätzen • Direktiver Rahmen • Extrinsische Motivation 11:20 Pause 11:30 Input: • 12:15 13:20 Powerpoint Präsentation Einzelarbeit Offene Fragen Feedback Karteikarten, Stifte Powerpoint Präsentation Powerpoint Präsentation Power Point Präsentation Standards zum Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen Übertragen der Fortbildungsinhalte auf Situationen aus der eigenen Praxis Hilfsmittel Kleingruppengespräche Murmelgruppen Kurzes Feedback zu Arbeitsergebnissen Plenum alle Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 78 Vertiefungsmodule zu der Fortbildung: Umgang mit sexuellen Übergriffen in stationären Jugendhilfe Einrichtungen (jeweils 4 stündig) Modul 1 Sexualpädagogische Grundlagen • • • Über Sexualität reden können und dürfen, Blick auf die eigene Biographie, familiäre und gesellschaftliche Prägungen Die eigenen Grenzen und die Anderer wahrnehmen Eine gemeinsame Sprache finden Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel 09:00 Vorstellung Leitung Vortrag alle Ablauf auf Flipchart Gesamt-Fortbildung Ablauf 09:10 Heranführung an das Thema Sexualität Soziometrie als Einstieg alle Fragenliste 09:40 Selbstreflexion zum Thema Fragen Eigene biographische Entwicklung • in konzentrischen Kreisen wechselnde Zweierpaare vorbereitete Fragenliste • in Kleingruppen zu Werten und Normen 10:20 PAUSE 10:35 Eigene Grenzen und Widerstände zum Thema erkennen Klangschale mit Fragen zur Sexualität alle Fragen laminiert, Klangschale 11:00 Bedingungen klären und Regeln vereinbaren zur geschützten Kommunikation über Sexualität Vorstellung der Regeln alle Regeln laminiert 11:10 Auseinandersetzung mit dem Thema „Sexualität und Sprache“ Reflexion einzeln, danach alle Ausreichend Karteikarten, Stifte, Plakat/Flipchart, Spezifische und gemeinsame Begriffe finden Klebeband Punktaufkleber ggf. Theorie zur Sprache als Papier 12:20 Begriffe in der Gruppe ausprobieren 12:40 Abschlussrunde Feedback für Heute und Erwartungen an die nächste Veranstaltung Spiel „Obstsalat“ mit Begriffen aus der Sexualität alle alle Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 79 Modul 2 Sexualpädagogische Grundlagen • • Geschlechterverhältnisse; Konstruktion von weiblicher und männlicher Identität in der Adoleszenz Methodische Grundlagen Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform 09:00 Rückbesinnung auf die letzte Fortbildung: Reflexion auf die eig. Biographie, Sexualität und Sprache… Raumbewegung Marktplatzspiel alle 09:15 Sexualpädagogische Methoden kennen lernen zur Auseinandersetzung mit den Bereichen „Porno, Geschlecht, Aufklärung, Verhütung…“ Grabbelsack alle Grabbelsack gefüllt mit Gegenständen, die sexuelle Konnotationen haben könnten, Flipchart Flipchart Vertiefungsbedarfe klären Hilfsmittel 10:30 Pause 10:45. Warm Up Spiel „Hennenrennen“ alle 2 Stofftiere 10:55 Thema sexuelle Identität: Einzelarbeit: Weil ich ein Junge/ Mädchen bin kann/ muss/ darf ich einzeln, dann geschlechtsho mogene Kleingruppen Arbeitszettel Erarbeiten von Fragen an das andere Geschlecht, evtl. Kaffeepause anschließend Kleingruppen Fishbowl: zwei geschlechtshomogene Stuhlkreise tauschen Fragen an das jeweils andere Geschlecht aus alle Austausch in geschlechtshomogenen Gruppen, 11:10 12:00 Kommunikationsmöglichkeiten und –grenzen zwischen den Geschlechtern Offene Fragen aus den beiden sex päd Fortbildungen klären Feedback 12:30 Eigene Fragen und Anliegen Flipchart Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 80 Modul 3 Täter, Taten, Strategien • • • • • Allgemeine Informationen zu sexueller Übergriffigkeit Erleben von sexuellen Grenzverletzungen im Gruppenalltag Tätertypen, Täterstrategien, Täterbiographien „Wahrnehmungsschulung“ Was ist übergriffig? Wie sind Eskalationen frühzeitig zu erkennen? Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform 09:00 Rückbesinnung auf die letzte Fortbildung: Reflexion auf die eig. Biographie, Sexualität und Sprache… Raumbewegung Marktplatzspiel alle 09:15 Gruppendynamischen Prozess begleiten Lügenportrait ausfüllen und Autor/innen erraten 09:30 Vorstellung des Ablaufes 09:45 Input Lügenportrait Zettel Vortrag Powerpoint Präsentation Informationen über jugendliche sexuelle Grenzverletzter 10:30 Pause 10:45 Fortsetzung zu Input Hilfsmittel alle Fragen klären 11:10 Input alle Prävention sexueller Gewalt in der Einrichtung: Welche Komponenten gehören dazu? 11:50 Pause 12:00 Klären offener Fragen aus den letzten Fortbildungen alle 12:30 Eigene Fragen und Anliegen/ Literaturvorstellung alle Powerpoint Präsentation Literaturliste Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 81 Modul 4 Deliktorientierte Täterarbeit • • • • Besonderheiten des deliktorientierten Therapiekonzeptes Rückfallprophylaxe und andere Therapieangebote: Grundlagen, Unterscheidungen Übergriffe geschehen in der Regel nicht spontan Täter–Opfer Verhältnis Diese Fortbildung kann evtl. als Vorbereitung auf das Modul 5 fungieren. Einrichtungen, die sich dafür entscheiden, mit „Tätern“ in ihren Wohngruppen zu arbeiten, erhalten die Möglichkeit, die Besonderheiten der deliktorientierten Tätertherapie kennenzulernen. Dies ist deshalb wichtig, weil für die Mitarbeit der Klienten in der Ambulanten Rückfallprophylaxe Unterstützung durch das soziale Umfeld erforderlich ist. Zeit Ziel Arbeitstechnik Gruppenform 09:00 Ankommen und Rückbesinnung auf die letzte Fortbildung: Raumbewegung alle 09:15 Lockerungsübung Bewegungsspiel alle 09:20 Vorstellung des Konzeptes Ambulante Rückfallprophylaxe Vortrag mit Diskussion alle 09:50 Vorstellung von Diagnostikmethoden Vortrag und Übung Powerpoint Präsentation und z. B. ERASOR Fragebögen 10:15 Einblicke in die Tätertherapie: Vortrag mit Diskussion Powerpoint Präsentation • Was ist ein Deliktkreislauf? • Ein sexueller Übergriff hat immer eine Vor- und Nachgeschichte 10:30 PAUSE 10:45 Deliktkreisläufe werden auf konkrete Fälle angewandt Fälle sammeln und einen Kreislauf dokumentieren Kleingruppen 11:30 Im Plenum werden die Arbeitsergebnisse aus den Kleingruppen vorgestellt Fälle vorstellen alle 12:00 Welche anderen Angebote gibt es für sexuelle Grenzverletzter Fallbeispiele vorstellen alle 12:30 Offene Fragen Feedback alle Hilfsmittel Powerpoint Präsentation Flipchartbögen Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 82 Modul 5 Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugendliche in der Wohngruppe • Speziell für Wohngruppen, die sich dafür entscheiden, die sexuell grenzverletzenden Kinder oder Jugendlichen in der Einrichtung zu lassen und sich dem Thema zu stellen, während gleichzeitig eine ambulante Therapie außerhalb stattfindet Zeit Ziel 09:00 Vorstellung des Ablaufs 09:10 Ankommen und ggf. Rückbesinnung auf die letzte Fortbildung Raumbewegung alle 09:15 Das Team/ die Teams überprüfen ihre Haltung zum Fortbildungsthema überprüfen Thesenbarometer: alle 09:45 Kontroverse Themen moderiert weiterdiskutieren Plenumsdiskussion 10:30. Pause 10:45 Warm Up Schlangenspiel 10:55 Zusammenarbeit mit externen Tätertherapeuten: Reflexion Kleingruppen Karteikarten Diskussion und anschließend Plenum Flipchart 12:30 • Erwartungen • Anliegen • Befürchtungen • Bedingungen für gelingende Zusammenarbeit Reste und Rückmeldung Arbeitstechnik Gruppenform Hilfsmittel alle Flipchart Thesenpapier, Themen auf der Flipchart festhalten vorbereitete Thesen zum Thema sexuell Übergriffige in der Wohngruppe alle Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 83 Modul 6 Krisenintervention • • Was tun bei akuten Übergriffen? Handlungsleitfäden und Verhaltensrichtlinien Zeit Ziel Arbeitstechnik 09:00 Einstimmung und Rückbesinnung auf die letzte Fortbildung Raumbewegung 9:20 Eingangsrunde Themen auf der Flipchart festhalten Offene Fragen 09:35 Komplexe Dynamik nach sexuellen Übergriffen soll mithilfe eines Planspieles aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden Planspiel I Rollenzettel verteilen, Gruppen instruieren Gruppenform Flipchart Gruppen bilden vorbereitete Rollenzettel Ball 10:30. Pause 10:45 Warm Up Ballweitergeben alle 10:55 Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Akteuren und deren Interessen Planspiel II alle 11:20 Auswertung des Planspieles Diskussion 11:40 Pause 11:50 Input: 12:30 • Handlungsleitfaden vorstellen • Reaktion auf sexuelle Übergriffe Feedback und Abschluss Hilfsmittel Runder Tisch/ Podiumsdiskussion: Umgang mit sexuellen Übergriffen in Neustadt alle Vortrag Powerpoint Präsentation alle Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 84 6.3.3. Auswertung und Rückmeldungen Die durch den WENDEPUNKT durchgeführten Fortbildungen werden am Ende mit einem kurzen, selbsterstellten Fragebogen evaluiert, wenn Zielsetzung und Zusammensetzung der Veranstaltung dies sinnvoll und angemessen erscheinen lässt. Abgefragt werden die Zufriedenheit mit • den Inhalten der Veranstaltung • der Methodik • der inhaltlichen Kompetenz der Teamer/innen • und deren didaktischen Fähigkeiten. Die Teilnehmenden haben bei diesen Fragen jeweils die Möglichkeit, sich zwischen fünf Stufen von eins (sehr zufrieden) bis fünf (überhaupt nicht zufrieden) zu entscheiden. Weiterhin wird abgefragt, welche Inhalte als besonders wichtig empfunden werden, welche Themen fehlten und was darüber hinaus als Kommentar zu der Veranstaltung gesagt werden kann. Insgesamt wurden im Modellzeitraum 51 Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt und darüber etwa 1.300 Personen erreicht. 27 dieser Veranstaltungen wurden evaluiert, wir konnten einen Rücklauf von mehr als 410 Fragebögen verzeichnen, dies entspricht einer Rücklaufquote von knapp 77 Prozent. Je nach Veranstaltung machten 75 – 100% der Teilnehmer und Teilnehmerinnen deutlich, dass sie mit Inhalten und Methodik der Fortbildungen „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ waren. Ähnliches gilt für die Bewertung der Leitung der Fortbildung. Insbesondere in solchen Veranstaltungen, die einen hohen theoretischen Inputanteil haben, wurde von den Teilnehmenden mehr Einblick in die Praxis und Praxisbeispiele eingefordert. Dieser Wunsch ist nachvollziehbar, lässt sich jedoch dann nur schwer umsetzen, wenn gleichzeitig die Erwartung geäußert wird, in kurzer Zeit möglichst viele Themen zu bearbeiten. Interessanterweise wiesen Veranstaltungen, die einen stärker sexualpädagogischen Schwerpunkt legten, durchschnittlich etwas bessere Bewertungen auf als solche Fortbildungen, die ganz eindeutig den Schwerpunkt auf das Problem der „Sexuellen Übergriffe“ legten. Dennoch wurde häufig angemerkt, dass gerade die Informationen zu Tätertypen und -strategien neu und für die Teilnehmenden sehr bedeutsam waren. Die Teilnehmenden selbst wiesen zum einen darauf hin, dass die „Schwere“ des Themas z. T. auch in das Feed Back zur Fortbildung eingeflossen sei. Zum anderen reflektierten sie, dass sich in sexualpädagogischen Seminaren Fortbildungserfolge relativ schnell und leicht ein stellten und entsprechend zu einer besonders positiven Bewertung führten: Die Teilnehmenden erfahren bspw. sehr direkt, dass unter bestimmten Bedingungen und unter Einhaltung von nachvollziehbaren Regeln eine Kommunikation und Auseinandersetzung über Sexualität möglich und nicht beschämend ist. Die Veranstaltungen, die gemeinsam mit dem Hamburger Träger Allerleirauh durchgeführt wurden, sind von dieser Einrichtung evaluiert worden. In diesen Rückmeldungen fällt auf, dass besonders die Tatsache, parallel die „Opfer-“ und die „Täter-“ Perspektive aufgezeigt zu bekommen, als einzigartig und positiv bewertet wurde. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 85 6.4. STANDARDS ZUM UMGANG MIT SEXUELLEN GRENZVERLETZUNGEN MÜSSEN ERARBEITET WERDEN 6.4.1. Leitfaden Schulbehörde Gemeinsam mit der Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde), Vertreterinnen von NEXUS wurde für die Hamburger Schulen eine Handlungsanweisung entwickelt. Sie liegt in gedruckter Form vor und ist in unserer Geschäftsstelle bzw. der der Beratungsstelle Gewaltprävention abrufbar Als Ausdruck ist sie auch dem Anhang (A1) zu entnehmen. 6.4.2. Grundlegende Empfehlungen zum Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen und Übergriffen durch Kinder und Jugendliche in Einrichtungen Grenzverletzungen wahrnehmen Achten Sie auf den Umgang der Mädchen und Jungen untereinander in Bezug auf Sexualität (Sprache, Gesten, Verhalten ....), und nehmen Sie insbesondere Grenzverletzungen wahr. Grenzverletzungen und Übergriffe ernst nehmen Als Orientierung zur Frage: ‚Wo beginnen Übergriffe? dient in der konkreten Situation eingangs vor allem Ihre eigene Wahrnehmung und Ihr eigenes Empfinden. Gewaltbetroffene Kinder und Jugendliche sind in ihrem Grenzempfinden häufig gestört, so dass sie Übergriffe teilweise nicht als solche wahrnehmen können und dafür auf die Rückmeldung von Unbeteiligten im Außen angewiesen sind. Bei Übergriffen intervenieren Unterbrechen Sie die übergriffigen Handlungen. Sagen Sie, was Sie gesehen haben und weshalb Sie eingreifen. Beziehen Sie Stellung, zeigen Sie Grenzen auf, sagen Sie deutlich, worin die Grenzverletzung oder der Übergriff bestanden hat und warum diese Handlung so nicht in Ordnung war. Bieten Sie den Beteiligten ein (getrenntes) Gespräch an. Zeigen Sie dem übergriffigen Kind/Jugendlichen Konsequenzen auf, die im Wiederholungsfall eintreten würden. Bieten Sie dem Opfer Unterstützung dabei an, sich weitere Hilfen zu holen, vermeiden Sie hierbei Schuldzuweisungen in Richtung des Opfers („Warum erzählst du das denn erst jetzt? Du hast ihn aber auch provoziert“). Sexuelle Grenzverletzungen und Übergriffe benennen Sprechen Sie die Übergriffe gezielt und so konkret wie möglich mit den Beteiligten an. Beispielsweise könnten Sie folgende Formulierung benutzen: „Ich habe gesehen/ gehört, dass du... gemacht hast. (...) Wenn das Mädchen / der Junge das nicht will, ist das nicht o.k., auch wenn er/ sie das in dem Moment nicht gesagt hat oder nicht sagen konnte.“ Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 86 Vorfall thematisieren Machen Sie den Vorfall in der Gruppe/Klasse direkt zum Thema. Beispiel: „Heute hat ein Junge einem Mädchen an die Brust/zwischen die Beine gefasst. Ich möchte hier nicht diesen Vorfall besprechen, das habe ich mit den beiden getan. Ich möchte mit euch über Grenzen und Grenzverletzungen sprechen, und darüber, wie man erkennt, wo die eigenen Grenzen sind, und wie man sich gegen deren Verletzung wehren kann.“ Beziehen Sie dabei Position. Machen Sie deutlich, warum sexuell übergriffiges Verhalten nicht in Ordnung ist, welche Folgen es für das Opfer mit sich bringen kann und dass Sie so etwas nicht dulden werden. Kontrollieren Kontrollieren Sie, dass es nicht zu weiteren Übergriffen kommt. Ermutigen Sie die Mädchen und Jungen, Ihnen von etwaigen Übergriffen zu berichten, damit Sie ggf. intervenieren können. Bei wiederholten oder schwerwiegenderen Übergriffen: Fachberatung/Prüfen einer Strafanzeige Informieren Sie sich, wenn Sie unsicher sind in Bezug auf das weitere Vorgehen, bei einer Beratungsstelle (WENDEPUNKT). Eine Information der Eltern kann kontraproduktiv sein, wenn der übergriffige Junge selber (sexuelle) Gewalt im familiären Nahbereich erlebt. Über eine Einbeziehung der Eltern und den geeigneten Zeitpunkt muss im Einzelfall entschieden werden. Bei wiederholten oder schwerwiegenden Übergriffen: Delegieren Überweisen Sie die weitere Hilfeplanung an eine kompetente Beratungsstelle. Es liegt nicht in Ihrer Verantwortung, tiefer liegende Aspekte (weder bei Opfer noch bei Täter) aufzuarbeiten. Wenn möglich, stellen Sie sich weiterhin als Kontaktperson zur Verfügung. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 87 6.4.3. Leitfragenkatalog zum professionellen Umgang mit sexuellen Übergriffen durch Minderjährige in Einrichtungen, die direkt mit Kindern und Jugendlichen arbeiten (Kindertageseinrichtungen, Schule, Bildungseinrichtungen, ambulante und stationäre Jugendhilfeeinrichtungen sowie Jugendfreizeitstätten, u.a.m.) Folgende Leitfragen sollen Ihnen als Mitarbeiter/innen einer Institution dazu dienen, wesentliche Aspekte im Umgang mit Fällen, in denen es einen sexuellen Übergriff durch ein Kind oder einen Jugendlichen in Ihrer Einrichtung gegeben hat, zu berücksichtigen. Dieser Fragenkatalog will Sie somit unterstützen, fachlich angemessen handeln zu können. Versuchen Sie, bei solchen sexuellen Übergriffen im Team Antworten auf jede einzelne Frage zu finden und verteilen Sie die sich daraus ergebenen Aufgaben untereinander, so dass niemand unter Ihnen über die Maßen mit dem Fall belastet und allein gelassen wird. Im folgenden Fragenkatalog werden die Ausdrücke Opfer und Täter verwendet, wohl wissend, dass es sich häufig erst einmal um einen Übergriffsverdacht handelt, und dass diese Begriffe im Bereich von leichten sexuellen Grenzverletzungen, die ausschließlich durch fehlgeschlagenes Ausprobierverhalten zu erklären sind, unangemessen sind. Dennoch haben wir uns hier für diese Begrifflichkeit entschieden, da scheinbar leichte sexuelle Übergriffe nicht selten Ausdruck von massiver sexualisierter Gewalt- oder Machtausübung sind. Leitfragen 1. Wie ist der sexuelle Übergriff in der Institution bekannt geworden? 2. Wer hat darüber welche Information? 3. Wer spricht mit dem Opfer – wer spricht mit dem Täter? 4. Wie wird ein möglicher Rollenkonflikt: Beratung/Betreuung des Opfers und des Täters vermieden? 5. Wer wird in der Einrichtung über den erfolgten sexuellen Übergriff informiert, inwieweit wird die Leitung mit einbezogen, in wessen Zuständigkeit liegt die Fallbearbeitung? 6. Was berichtet das Opfer über den Übergriff? 7. Ist es glaubwürdig, was und vor allem wie es über den Übergriff berichtet? 8. Wie steht der Täter zu den Tatvorwürfen – streitet er sie ab oder räumt er sie ein? 9. Welche Schutz- aber auch welche Gefährdungspotenziale für die Möglichkeit weiterer Übergriffe liegen vor? • Ist der Missbrauch innerhalb der Einrichtung/der Familie offen gemacht worden oder soll er möglichst verschwiegen/tabuisiert werden? Darf das Opfer über seine Erfahrung reden oder unterliegt es erneut einem Schweigegebot? • Ist mit allen kindlichen und jugendlichen Mitgliedern der Einrichtung/Familie darüber gesprochen worden, wie sie sich ggf. gegen sexuelle Übergriffe wehren können, und an wen sie sich wenden können, wenn eine Gegenwehr erfolglos geblieben ist? Kennen sie die Strategien, die Täter anwenden, um Opfer zur Geheimhaltung zu bewegen oder sind sie diesen uninformiert und hilflos ausgeliefert? • Haben die Kinder und Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass sie über ihre Gefühle (wie Verwirrung, Angst, Scham) reden konnten, ohne dass diese in Frage gestellt, uminterpretiert oder ins Lächerliche gezogen worden wären? • Ist die Haltung der Erwachsenen im Hinblick auf die Bewertung des sexuellen Übergriffs eindeutig oder wird er bagatellisiert, uminterpretiert, ignoriert? Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 88 • Erleben die nicht betroffenen Kinder und Jugendlichen, dass dem Opfer Unterstützung zuteil wird? Oder erleben sie Sprach- und Hilflosigkeit oder gar mangelnde Empathie? • Kann eine räumliche Trennung zwischen Opfer und Täter ermöglicht werden? • Kann sichergestellt werden, dass der Täter keinen unbeaufsichtigten Kontakt zu dem Opfer hat? 10. Wie wird der Schutz des Opfers vor weiteren Übergriffen, Bedrohungen, Einschüchterungen etc. (in der Einrichtung) konkret sichergestellt? 11. Wie werden weitere Übergriffe auf andere Kinder/Jugendliche konkret verhindert? 12. Wie wird Unterstützung für das übergriffige Kind / den Jugendlichen eingeleitet und sichergestellt? 13. Bei welcher Art von sexuellen Grenzverletzungen interveniert die Einrichtung mit internen Mitteln, ab wann werden externe Maßnahmen (z.B. Fachberatung) hinzugezogen? 14. Unter welchen Umständen wird eine Strafverfolgung in die Wege geleitet? 15. Was brauchen die KollegInnen und die Einrichtung zur Sensibilisierung für dieses Thema und damit sie sexuelle Übergriffe durch Kinder und Jugendliche als solche wahr- und ernst nehmen? 16. Wie verbindlich soll das besprochene Vorgehen in den Einrichtungen gehandhabt werden? Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 89 6.4.4. Leitfragenkatalog zum Umgang mit sexuellen Übergriffen durch Minderjährige für Institutionen, die beratend oder intervenierend mit Kindern und Jugendlichen befasst sind (bspw. Jugendamt oder Beratungsstelle) Folgende Leitfragen sollen Ihnen als Mitarbeiter/innen einer Institution, die beratend/ intervenierend mit Fällen von sexuellen Übergriffen durch ein Kind oder einen Jugendlichen zu tun hat, dazu dienen, wesentliche Aspekte im Umgang mit diesen Fällen zu berücksichtigen. Dieser Fragenkatalog will Sie somit unterstützen, fachlich angemessen handeln zu können. Im Folgenden werden die Ausdrücke Opfer und Täter verwendet, wohl wissend, dass es sich häufig erst einmal um einen Übergriffsverdacht handelt, und dass diese Begriffe im Bereich von leichten sexuellen Grenzverletzungen, die ausschließlich durch fehlgeschlagenes Ausprobierverhalten zu erklären sind, unangemessen sind. Dennoch haben wir uns hier für diese Begrifflichkeit entschieden, da scheinbar leichte sexuelle Übergriffe nicht selten Ausdruck von massiver sexualisierter Gewalt- oder Machtausübung sind. Leitfragen 1. Wie ist der sexuelle Übergriff bekannt geworden? 2. Wer hat darüber welche Information? 3. Wer spricht mit dem Opfer – wer spricht mit dem Täter? 4. Wie wird ein möglicher Rollenkonflikt: Beratung des Opfers und des Täters vermieden? 5. Was berichtet das Opfer über den Übergriff? 6. Ist es glaubwürdig, was und vor allem wie es über den Übergriff berichtet? 7. Wie kann im Zweifel die Glaubwürdigkeit des Opfers festgestellt werden – und durch wen? 8. Wie steht der Täter zu den Tatvorwürfen – streitet er sie ab oder räumt er sie ein? 9. Welche Schutz- aber auch welche Gefährdungspotenziale für die Möglichkeit weiterer Übergriffe liegen vor? • Ist der Missbrauch innerhalb der Einrichtung/der Familie offen gemacht worden oder soll er möglichst verschwiegen/tabuisiert werden? Darf das Opfer über seine Erfahrung reden oder unterliegt es erneut einem Schweigegebot? • Ist mit allen kindlichen und jugendlichen Mitgliedern der Einrichtung/Familie darüber gesprochen worden, wie sie sich ggf. gegen sexuelle Übergriffe wehren können und an wen sie sich wenden können, wenn eine Gegenwehr erfolglos geblieben ist? Kennen sie die Strategien, die Täter anwenden, um Opfer zur Geheimhaltung zu bewegen, oder sind sie diesen uninformiert und hilflos ausgeliefert? • Haben die Kinder und Jugendlichen die Erfahrung gemacht, dass sie über ihre Gefühle (wie Verwirrung, Angst, Scham) reden konnten, ohne dass diese in Frage gestellt, uminterpretiert oder ins Lächerliche gezogen worden wären? • Ist die Haltung der Erwachsenen im Hinblick auf die Bewertung des sexuellen Übergriffs eindeutig oder wird er bagatellisiert, uminterpretiert, ignoriert? • Erleben die nicht betroffenen Kinder und Jugendlichen, dass dem Opfer Unterstützung zuteil wird? Oder erleben sie Sprach- und Hilflosigkeit oder gar mangelnde Empathie? • Kann eine räumliche Trennung zwischen Opfer und Täter ermöglicht werden? Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 90 • Kann sichergestellt werden, dass Opfer und Täter keinen unbeaufsichtigten Kontakt haben? 10. Wie wird der Schutz des Opfers vor weiteren Übergriffen, Bedrohungen, Einschüchterungen etc. konkret sichergestellt? 11. Wie werden weitere Übergriffe auf andere Kinder/Jugendliche konkret verhindert? 12. Wie und ab wann wird Unterstützung für das übergriffige Kind / den Jugendlichen eingeleitet? 13. Wie und durch wen kann der notwendige verpflichtende Rahmen für seine Diagnostik und Behandlung sichergestellt werden? 14. Welche Institutionen sind bei der Fallbearbeitung hilfreich und notwendig und müssen (bei Helferkonferenzen) mit hinzugezogen werden? 15. Welche Informationen werden wann an welche anderen Institutionen weitergegeben? 16. Wie und welche Rückmeldungen erhält die informierende Stelle über die daraufhin erfolgten Maßnahmen? 17. Wie verbindlich soll das besprochene Vorgehen in den Einrichtungen gehandhabt werden? 18. Was brauchen die KollegInnen und die Einrichtung zur Sensibilisierung für dieses Thema und Erweiterung der notwendigen Handlungskompetenz? Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 91 6.5. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT IST UNVERZICHTBAR 6.5.1. Flyer Zu Beginn des Modellprojektes wurde ein Folder entwickelt, der vom Layout und der Sprache her sowohl pädagogische Fachkräfte, aber auch Nichtfachleute ansprechen soll. Er wird Eltern und Pädagogen/innen in Erstgesprächen überreicht, auf Fachtagungen verteilt und in größeren Aktionen z. B. an die Hamburger Schulen oder an offene Jugendhilfe Einrichtungen verschickt. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 92 6.5.2. Veranstaltungen und Tagungen Während und auch nach dem Modellprojekt gab es verschiedene Anfragen, die Arbeit im Modellprojekt oder einzelne Teilaspekte aus diesem Projekt darzustellen. Entsprechende Präsentationen fanden in Form von Beiträgen auf größeren Tagungen, in Workshops oder in Fachgesprächen statt: • Fachtagung Neumünster 2008 Gemeinsam mit dem Verband Soziale Strafrechtspflege Schleswig-Holstein und dem Packhaus in Kiel organisierte der WENDEPUNKT eine Fachtagung mit dem Ziel, die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen in Schleswig – Holsteinischen Fachkreisen bekannter zu machen. Der WENDEPUNKT hat in diesem Rahmen sein Konzept der Ambulanten Rückfallprophylaxe und das Modellprojekt in Hamburg vorstellen können. Es gab eine große Resonanz auf den Beitrag, weit über Schleswig-Holstein hinaus (s. Beitrag in der Zeitschrift für soziale Strafrechtspflege Schleswig-Holstein, Sonderausgabe 2008). • Jugendhilfetag in Essen 2008 Zum Jugendhilfetag in Essen, dem größten Fachtreffen der Jugendhilfe in der Bundesrepublik, wurde gemeinsam mit dem Familien-Interventions-Team und dem Institut für Sexualforschung auf einem Fachforum das Modellprojekt vorgestellt. • Fachtagung UKE 2009 Anfang 2009 organisierte das Institut für Sexualforschung (mit Unterstützung der beteiligten Modellprojektpartner) begleitend zum Modellprojekt eine Fachtagung. Zu dieser Veranstaltung waren als Referentinnen und Referenten Fachleute aus Deutschland und Europa eingeladen. Die Erfahrungen aus knapp eineinhalb Jahren Modellprojekt wurden im Beitrag des WENDEPUNKT zu dieser Veranstaltung dargestellt. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 93 • Workshop für die Aktion Jugendschutz Niedersachsen in Hannover 2009 Auf einer Fachtagung mit dem Titel „Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen als Thema in der (sexual)pädagogischen Arbeit“ gestaltete der WENDEPUNKT einen Workshop mit dem Fokus auf sexualpädagogische Konzepte und Methoden im pädagogischen Alltag mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen. • Vernetzungstreffen Ostdeutschland der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) 2009 Die in diesem Treffen vernetzten Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen baten den WENDEPUNKT, die Erfahrungen aus dem Modell speziell im Hinblick auf die Kooperation zwischen Behörden und Freien Jugendhilfeträgern vorzustellen. • Workshop auf dem Fachtag der DGfPI zum Thema „Sexuelle Gewalt in der Einwanderungsgesellschaft“ Dieser Fachtag wurde von einem Fachkreis aus Hamburg, an dem der WENDEPUNKT ebenfalls beteiligt ist, vorbereitet. Er wollte die migrantischen Communities und die Fachkräfte, die an der Thematik sexueller Gewalt arbeiten, anregen, sich miteinander auszutauschen. Von den Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT wurde in diesem Kontext ein Workshop zum Thema „Sexuell Grenzverletzende mit Migrationshintergrund“ angeleitet. • Fachtagung in Lüneburg, 2010 Im September dieses Jahres ist der WENDEPUNKT nach Lüneburg eingeladen, um einen Fachtag zu gestalten, der Impulse zur Entwicklung einer Infrastruktur für minderjährige sexuelle Grenzverletzer in der Metropolenrandregion geben soll. • Workshop auf der Fachtagung zur Kooperation zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie im November 2010 und Januar 2011 in Berlin Auf den beiden Veranstaltungen sollen die Erfahrungen aus dem Modellprojekt mit dem Fokus auf das Tagungsthema dargestellt werden. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 94 7. QUALITÄTSENTWICKLUNG UND –SICHERUNG 7.1. KONZEPTE MÜSSEN BESTÄNDIG ÜBERPRÜFT UND WEITER ENTWICKELT WERDEN Die Arbeit im Modellprojekt hat sehr deutlich gemacht, dass auch und gerade im Bereich der Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen kein Konzept und kein Ansatz für immer „in Stein gemeißelt“ sein darf. • Im Bereich der konkreten Fallarbeit mussten wir z. B. mit Konzepten für kognitiv Beeinträchtigte, für niedrigschwellige Beratungsangebote oder für Jugendliche mit Migrationshintergrund auf die Vorgaben reagieren, die sich durch die Fallanfragen ergaben. • Aber auch Fortbildungskonzepte mussten spezifischen Bedarfen angepasst werden. Speziellere Konzepte zum Umgang mit kognitiv beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen sind genauso wie die zur Auseinandersetzung mit der Problematik von sexuellen Grenzverletzern mit Migrationshintergrund dem Umstand geschuldet, dass sich diese Fragestellungen aus der praktische Arbeit heraus gestellt haben. • Auch die Auseinandersetzung mit immer neuen Fragestellungen und Aspekten ist unverzichtbar. Als Beispiel seien hier die Kinder als Täter im stationären Kontext genannt. Diese haben sehr häufig eigene potenziell traumatisierende Erfahrungen gemacht. Das klassische deliktorientierte Konzept mit seinen konfrontativen Elementen stößt bei diesen Kindern auf Grenzen. Deshalb ist der WENDEPUNKT aktuell dabei, seine therapeutischen Konzepte für diese Klientel zu überarbeiten. Aber bspw. auch die Mädchen, die sexuell übergriffig geworden sind, stellen eine Herausforderung dar. • Veränderungsbedarfe können sich auch ergeben, wenn Prozesse, Abläufe und Strukturen erprobt und ausgewertet wurden. 7.2. KOLLEGIALE BERATUNG UND SUPERVISION SIND UNVERZICHTBAR Für den WENDEPUNKT gehören kollegiale Beratung und Supervision aus folgenden Gründen unbedingt zur Qualitätssicherung: • Die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Tätern ist in besonderem Maße belastend. Zu den schwierigen Situationen und Familienkonstellationen, mit denen die Mitarbeiter/innen konfrontiert werden, kommt zusätzlich die Reaktion der Umwelt auf den Arbeitsbereich, die häufig von Unverständnis oder gar Ablehnung geprägt ist. Mit dieser mehrfachen Belastung dürfen die Fachkräfte nicht alleine gelassen werden • Ein weiteres Feld, das eine besondere Herausforderung darstellt, ist die individuell empfundene bzw. zugeschriebene Verantwortung für die Sicherheit potenzieller weiterer Opfer. • Die Entscheidungen, die aus therapeutischer Sicht unterstützt werden, haben oftmals eine sehr große Reichweite für den Klienten und sein soziales Umfeld. Wenn z. B. eine Herausnahme aus der Familie empfohlen wird, darf dies erst nach eingehender Prüfung – auch im Kollegenkreis – geschehen. • In der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entsteht zwangsläufig eine therapeutische Beziehung. Dies ist auch so gewünscht. Allerdings kann die Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 95 Nähe zum Klienten den Blick auf sein Gefährdungspotential verstellen. Ein Feed Back aus dem KollegInnenkreis ist insofern unverzichtbar. • Letztendlich ist es immer hilfreich, wenn ein Fall aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Insbesondere gilt dies für Genderaspekte. Für den WENDEPUNKT gilt, dass in der Einzelfallarbeit ein Vier-Augen-Prinzip existiert. Das heißt, dass es in allen Fällen eine zweite Fachkraft gibt, die zumindest über den groben Verlauf Bescheid weiß. Alle Risiko- und Prognostikeinschätzungen werden mit dem gesamten Team vorgenommen, um immer ein Korrektiv für eventuelle Fehleinschätzungen oder Vorurteile zu haben. Mindestens in sechswöchiger Frequenz findet eine moderierte Fallsupervision statt. In dieser Runde besteht die Möglichkeit, einzelne Fälle, die evtl. belastend sind, aber auch spezielle Fragestellungen zu thematisieren. In der Supervision werden Themen wie z. B. „Gender und Täterarbeit“ sowie Schwierigkeiten mit speziellen Klienten bearbeitet Monatlich besteht die Möglichkeit, Fälle mit dem Gesamtteam des WENDEPUNKT in der kollegialen Fallbesprechung zu thematisieren. Der Vorteil dieses Forums liegt zum einen darin, dass gemeinsame Fälle aus verschiedenen Perspektiven besprochen werden können; zum anderen kann zu eigenen Fällen ein Feed Back von Kolleg/innen abgeholt werden, die nicht nur der Brille der „Täterarbeit“ tragen. Eine weitere Option auf kollegiale Fallberatung bestand und besteht in Fachkreisen, wie z. B. dem modellprojektbegleitenden Arbeitskreis, dem Werkstatttreffen und der „Vernetzung Nord“ unter dem Dach der DGfPI. 7.3. FORTBILDUNG DER TEAMMITGLIEDER UND TEILNAHME AN FACHDISKUSSIONEN Ein weiteres Merkmal der Qualitätssicherung und -entwicklung in der Arbeit des WENDEPUNKT ist die Teilnahme der Mitarbeiter/innen an Fortbildungen und inhaltlichen Fachdiskussionen. Um die Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen konzeptionell weiterentwickeln zu können, wurden Fortbildungen der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) und des Forensischen Instituts der Ostschweiz besucht. Darüber hinaus wurde das Angebot genutzt, in den Gruppen des Forensischen Institutes zu hospitieren, um einen Einblick in die praktische Umsetzung der Arbeit zu erhalten. Diese Angebote wurden besonders intensiv genutzt, weil für den WENDEPUNKT in diesem Arbeitsbereich ein neuer Schwerpunkt entstanden ist. Zu vielen spezifischen Fragestellungen gibt es noch keine fertigen kanonisierten Weiterbildungswege. Dazu gehören z. B. auch die Herausforderungen, die sich in der Auseinandersetzung mit anderen kulturellen Hintergründen ergeben. Für den WENDEPUNKT war es ein Anliegen, dieses Thema – aus der Perspektive der „Täterarbeit“ – in verschiedene Fachdiskussionen, wie z. B. dem Fachkreis „sexuelle Gewalt in Einwanderer– Communities“ oder den Werkstattgesprächen der DGfPI einzubringen. Ziel war und ist es, gemeinsam mit anderen Fachkräften, aber auch mit interessierten Laien aus den Communities in den Austausch zu kommen und die Fachdiskussion voranzutreiben. Darüber hinaus haben die Mitarbeiter/innen des WENDEPUNKT während des Modellprojektes z. B. an Fortbildungen zum Bereich „Sexualität und Behinderung“ oder zum „Einfluss von Pornographie auf die Sexualität Jugendlicher“ teilgenommen. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 96 AUSBLICK: DIE ARBEIT WIRD FORTGESETZT –„ HAMBURGER BERATUNGSSTELLE FÜR SEXUELL AUFFÄLLIGE MINDERJÄHRIGE UND JUNGE ERWACHSENE“ Aus den Erfahrungen der letzten drei Jahre wurden für die Fortführung folgende Konsequenzen gezogen und Perspektiven entwickelt: • Die Zuständigkeit der Beratungsstelle wird auf Heranwachsende, auf die ja auch das Jugendstrafrecht angewendet werden kann, ausgeweitet. • Neben Fachberatungen und Kriseninterventionen werden pädagogischen Interventionen in Schulklassen als zusätzliche sekundärpräventive niedrigschwellige Maßnahme etabliert (vgl. 5.9). • Weitere Kooperationen mit stationären Jugendhilfeträgern sollen aufgebaut werden, mit dem Ziel, stationär untergebrachte Jugendliche angemessen therapeutisch begleiten zu können. • Im Rahmen der Beratungsstelle wird auch zukünftig die Einzelfallarbeit sowohl aus dem Etat der Erziehungshilfen als auch – vereinbart in einem Pilotabkommen – über die Justizbehörde finanziert. • Der WENDEPUNKT wird sich im Rahmen des schon etablierten Arbeitskreises in Hamburg auch zukünftig um eine Vernetzung der Fachstellen bemühen. Er wird sich auch in anderen Netzwerken wie der „Vernetzung Nord“ unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention (DGfPI) oder in der Kooperation mit Beratungsstellen und dem Landesinstitut weiterhin für die Weiterentwicklung einer effektiven Rückfallprophylaxe engagieren. • Als weiteres Ziel sei die Fort- und Weiterbildung von ehrenamtlich Tätigen in der Kinder- und Jugendarbeit in Vereinen und Verbänden genannt. • Weiterhin stehen die Themen „Sexuelle Grenzverletzter mit Migrationshintergrund“, „Sexuelle Übergriffe und kognitive Beeinträchtigungen“ sowie „Vernetzung mit Justiz und Jugendgerichtshilfe“ auf der Agenda des WENDEPUNKT. Wir setzen uns dafür ein, dass die Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen als ein Baustein in die Infrastruktur gegen die sexuelle Gewalt integriert wird. Sie trägt maßgeblich zum Opferschutz bei. Dazu braucht es weiterhin eine verlässliche Angebotsstruktur und eine gute Vernetzung in Hamburg. Dazu hofft der WENDEPUNKT seinen Teil beitragen zu können. Abschlussbericht Hamburger Modellprojekt 2010 97 ANHANG A1 Leitfaden Gewaltprävention: Umgang mit sexuellen Grenzverletzungen unter Schülerinnen und Schülern – Hg. in Kooperation mit Beratungsstelle Gewaltprävention am Landesinstitut für Lehrerfortbildung, REBUS (Regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen der Hamburger Schulbehörde), Vertreterinnen von NEXUS A2 Zeitschrift für Sexualforschung; 2008, 21, Georg Thieme Verlag, StuttgartNew York, S. 249-268 Bernd Priebe: Rückfallprophylaxe bei jungen Sexualstraftätern: Erfahrungen aus der Ambulanten Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen A3 Beitrag Bernd Priebe zur Fachtagung „Sexuell grenzverletzende Kinder und Jugendliche“ vom 12.-14.02.2009 im UKE, Hamburg Die Arbeit des WENDEPUNKT im „Hamburger Modellprojekt für sexuell auffällige Minderjährige“ – Säulen der Ambulanten Rückfallprophylaxe A4 Zeitschrift für Soziale Strafrechtspflege Schleswig – Holstein, Sonderausgabe 2008 Bernd Priebe: Vernetzung, Standards, Herausforderungen in der Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen in Schleswig-Holstein A5 J. Tetens/S. Friedrichs Hg. Umgang mit Konflikten und Gewalt an der Schnittstelle zwischen Psychologie, Pädagogik und Soziale Arbeit, 2009, Lulu Enterprises, Inc., Morrisville, S. 63 ff, B. Priebe: Arbeit mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen A6 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Stellungnahme des Senats zu dem Ersuchen der Bürgerschaft vom 22./23. Juni 2005 (Drucksache 18/2296) „Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch minderjährige Täter“