Quantengravitation Die hindernisreiche Suche nach der Weltformel ist in vollem Gange. Erstmals besteht Aussicht, die weit reichen­ den Theorien der Forscher über Strings, Supersymmetrie und Extradimensionen im Experiment zu überprüfen. In Kürze r Ohne die Verschmelzung von Quantentheorie und allgemeiner Relativitätstheorie zu einer Quantengravi­ tation werden grundsätz­ liche Fragen über die Materie und das Universum unbeantwortet bleiben. r Erfolg versprechende Ansätze, die teilweise schon seit Jahrzehnten entwickelt werden, könnten diese Aufgabe vielleicht leisten. r Zunächst aber müssen experimentelle Ergebnisse, wie sie nun erstmals in Reichweite scheinen, das Dickicht theoretischer Spekulationen lichten. 28 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 Astronomie & Physik Von Hermann Nicolai NASA / ESA, STScI, Adolf Schaller P hysiker in aller Welt richten ihre Aufmerksamkeit derzeit auf eine einzigartige Anlage, die sich unweit von Genf in den französisch-schweizerischen Untergrund bohrt. Am 10. September nahm dort der »Large Hadron Collider« – eine gigantische Teilchenschleuder und die wohl komplizierteste Maschine, die jemals gebaut wurde – seinen Betrieb auf. Zwar war die Enttäuschung groß, als der LHC nach technischen Problemen vorerst wieder abgeschaltet werden musste. Doch schon im Frühjahr 2009 geht es weiter: Dann sollen Protonenbündel, die zuvor in einem 27 Kilometer langen Ringtunnel beschleunigt werden, viele Male pro Sekunde mit der Energie von Güterzügen aufeinanderprallen und bei jeder Kollision in Myriaden von Elementarteilchen zerfallen. So stellen die Forscher Bedingungen her, die jenen kurz nach dem Urknall ähneln. Mehr noch als von den Präzisionsdaten, welche uns die moderne Astrophysik und Kosmologie liefern, erhoffen sich Physiker von diesem einen Instrument die Auflösung eines schon lange bestehenden Erkenntnisstaus. Es geht um die Frage, was uns jenseits der etablierten physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts erwartet. Grundlage der modernen Physik bilden zwei Theorien, die bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entwickelt und zur Blüte gebracht wurden: die Quantentheorie, die die Physik des Mikrokosmos beschreibt, und Einsteins allgemeine Relativitätstheorie (ART) für die Physik des Makrokosmos. Beide haben sich in unzähligen und immer genaueren Experimenten bewährt. Mit ihrer Hilfe loteten die Physiker subatomare Bereiche ebenso aus wie die Grenzen des sichtbaren Universums. Weil sie bis heute keine Abweichungen von ihren theoretischen Vorhersagen fanden, könnten sich die Forscher eigentlich entspannt zurücklehnen. Bestünde da nicht ein zentrales Dilemma: Die beiden Theorien passen nicht zusammen. Ohne die »Verheiratung« von ART und Quantentheorie jedoch, so scheint es, werden unsere Grundfragen zum Aufbau der Materie und zur Entwicklung des Universums ohne Antwort bleiben. 1. Wir kennen heute 48 Grundbausteine der Materie (Quarks und Leptonen, die zusammenfassend als Fermionen bezeichnet werden). Warum sind es gerade so viele, und warum teilen sie sich in drei nahezu identische Familien auf? Und warum reicht bereits die erste der Familien völlig aus, um die uns umgebende Materie zu erklären (siehe »Weltbild vor dem Umbruch«, S. 12)? 2. Warum treffen wir in der Natur (mindestens) vier »Kräfte« an, die zwischen diesen Materiebausteinen wirken: die starke und Den Makrokosmos (die Illustra­ tion zeigt eine Sternentstehungs­ region) und den Mikrokosmos erklären die Physiker mit zwei völlig unterschiedlichen, aber gleichwohl in unzähligen Experimenten bewährten Theorien. Doch erst, wenn sie beide miteinander verschmel­ zen, können sie auch befriedi­ gende Antworten auf Grund­ fragen zum Aufbau unserer Welt finden. Quantengravitation lexikon Quantengravitation Die vier Grundkräfte der Natur lassen sich bislang nicht in einem einheit­ lichen Modell zusammen­ fassen. Elektromagnetis­ mus sowie schwache und starke Kernkraft werden erfolgreich als Quantenfeld­ theorien, die Gravitation jedoch durch die allgemei­ ne Relativitätstheorie beschrieben. Diese beiden begrifflich völlig unterschiedlichen Theoriengebäude funktionieren in ihren jeweiligen Anwen­ dungsbereichen, dem Mikrokosmos beziehungsweise dem Makrokosmos, hervor­ ragend. Um Extremphäno­ mene wie Schwarze Löcher zu erklären, müssten die Forscher jedoch beide Theorien gleichzeitig nutzen, was zu Widersprü­ chen führt. Diese Wider­ sprüche soll eine Quanten­ gravitation auflösen, indem sie beide Theorien – auf welchem Weg auch immer – zusammenführt. schwache Kernkraft, die elektromagnetische Kraft und die Schwerkraft? Und warum ist Letztere um so vieles schwächer, nämlich um den Faktor 10 – 40, als die starke Wechselwirkung (»Hierarchieproblem«)? 3. Lassen sich Massen und andere Parameter der Elementarteilchenphysik aus einer fundamentalen Theorie berechnen? Oder handelt es sich um »ambiente« Größen (wie etwa den Abstand zwischen Mond und Erde), deren Zahlenwerte der Zufall festlegt? 4. Können wir die Entwicklung des Universums erklären, insbesondere die »inflationäre« (exponentielle) Aufblähung des winzigen Feuerballs, aus dem der Kosmos einst hervorging (siehe »Die unsichtbare Hand des Universums«, SdW 4/2007, S. 32; »Das Tempo der Expansion«, SdW 7/2004, S. 42)? Worum handelt es sich bei der kosmologischen Konstante, die als Grund für die beschleunigte Ausdehnung des Universums gilt und auch als Dunkle Energie bezeichnet wird? Und warum erhalten wir, wenn wir sie mit Hilfe einfacher quantenmechanischer Abschätzungen berechnen, einen Wert, der um einen Faktor 10120 größer ist als unsere Messergebnisse? 5. Können wir verstehen, was im Augenblick des Urknalls »geschah«, als das gesamte heute sichtbare Universum aus einem Punkt unvorstellbarer Dichte explodierte? Können wir gar über diesen singulären Punkt hinausgehen und verstehen, was »vorher« war? Oder aber zeigen, dass es gar kein »Vorher« gab, dass also Raum und Zeit selbst erst mit dem Urknall entstanden sind? Die »Sehnsüchte der Theorie« fasste Albert Einstein (1879 – 1955) schon im Jahr 1929 zusammen: nämlich erstens möglichst alle Erscheinungen und deren Zusammenhänge zu erfassen (»Vollständigkeit«), und dies zweitens zu erreichen unter Zugrundelegung möglichst weniger voneinander logisch unabhängiger Begriffe und willkürlich gesetzter Beziehungen zwischen diesen (»logische Einheitlichkeit«). Erst dann ließe sich eine Antwort auf die Frage finden, ob die Welt ist, wie sie ist, weil sie genau so sein muss – oder ob »Gott bei der Erschaffung der Welt eine Wahl« hatte. Verwirrendes Arsenal von Ideen Auf der Suche nach der von Werner Heisenberg (1901 – 1976) so getauften »Weltformel« haben theoretische Physiker seither ein beeindruckendes und nicht nur für Außenstehende verwirrendes Arsenal immer komplizierterer Ideen zusammengetragen. Trotz einer kollektiven intellektuellen Anstrengung, die in der Geschichte der Naturwissenschaften ohne Beispiel ist, bleibt aber nach wie vor völlig ungewiss, von welchen dieser Ideen die Natur letztlich Gebrauch macht – oder ob wir die »richtige« Idee möglicherweise noch gar nicht hatten. NASA, Dana Berry Noch vor einigen Jahrzehnten galten Schwarze Löcher als Kuriositäten, die allein in den Köpfen der theoreti­­ schen Physiker existierten. Mittler­weile sind zahlreiche von ihnen ent­deckt worden, doch erst eine vereinheitlichte Theorie der Quantengravitation wird sie korrekt beschreiben können. 30 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 Unser Ausgangspunkt sind die zwei gro­ ßen Theorien des 20. Jahrhunderts. Die ART ist für alle Phänomene zuständig, die mit der Gravitation zusammenhängen. Sie beschreibt die Dynamik der Planeten, Sterne und Galaxien ebenso wie die Evolution des gesamten Universums. Vielen gilt sie trotz ihrer mathematischen Komplexität als die schönste unter den existierenden physikalischen Theorien, weil sie auf zwei äußerst einfachen Prinzipien beruht: dem Äquivalenzprinzip (»Alle Körper fallen gleich schnell«) und dem Prinzip der allgemeinen Kovarianz (»Physikalische Gesetze sollen nicht davon abhängen, in welchen Koordinatensystemen sie formuliert werden«). Ausgehend von diesen Postulaten konnte Einstein die Schwerkraft als Manifestation der Krümmung von Raum und Zeit erklären. Die Bahnen materieller Körper folgen »Geodäten«, also Linien, die zwei Punkte in der Raumzeit auf kürzestem Weg miteinander verbinden. Auch die Erde auf ihrem Weg um die Sonne folgt einer solchen Geodäte. Weil die Schwerkraft der Sonne aber den Raum verzerrt, erscheint uns die Geodäte nicht als Gerade, sondern ist (um die Sonne herum) gekrümmt. Die Eigenschaften des Raums beeinflussen also die Bewegung der Körper, umgekehrt verzerren Körper durch ihre Masse aber auch die Geometrie der Raumzeit. Bei kleinen Abständen hingegen, in der Welt der Moleküle, Atome und Elementarteilchen, spielt die Gravitation keine Rolle. Hier herrschen die ganz andersartigen Gesetze der Quantentheorie. Während die ART zumindest im Prinzip vollständig deterministisch ist, kann die Quantentheorie prinzipiell nur Wahrscheinlichkeiten vorhersagen, etwa für den Zeitpunkt des Zerfalls eines radioaktiven Teilchens. Darüber hinaus besagt die heisenbergsche Unschärferelation, dass bestimmte quantenmechanische Größen wie Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens nicht gleichzeitig präzise messbar sind. Bis heute haftet der Quantentheorie ein Rest von Unverstandenem an, weil sie von unseren durch die klassische newtonsche Physik geprägten Vorstellungen noch radikaler als die ART abweicht. Niels Bohr (1885 – 1962) wird der Ausspruch zugeschrieben: »Jeder, der von sich behauptet, er habe die Quantenmechanik verstanden, hat überhaupt nichts verstanden.« Doch so paradox uns viele ihrer Aussagen erscheinen mögen, ist sie dennoch die am besten getestete Theorie der gesamten Naturwissenschaft (siehe »Die Wirklichkeit der Quanten«, S. 54). Den vorläufigen Höhepunkt ihrer Erfolgsgeschichte bildet das so ­genannte Standardmodell der ElementarteilSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 CERN Astronomie & Physik chenphysik. Im Rahmen von Quantenfeldtheorien beschreibt es die Physik der elementaren Materiebausteine und der zwischen ihnen wirkenden Kräfte (siehe Artikel S. 12). Die Unverträglichkeit zwischen ART und Quantentheorie kommt auf leisen Sohlen daher. Denn abgesehen von der begrifflichen Fremdheit, die beide Theorien trennt, scheinen die Diskrepanzen zunächst ohne praktische Bedeutung. Sie zeigen sich nämlich erst auf extrem kleinen Skalen, die experimentell für uns nicht direkt erreichbar sind: der so genannten Planck-Länge (10 – 33 Zentimeter) und der Planck-Zeit (10 – 43 Sekunden). Risse im Theoriengebäude? Die Frage, warum sich Physiker überhaupt für die Vereinigung von Quantentheorie und Gravitation interessieren sollten, ist daher berechtigt und wurde bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich heiß diskutiert. Mindestens zwei Antworten können wir heute geben. Zum einen reicht das Wissen der modernen Kosmologen mittlerweile bis auf Sekundenbruchteile an den Urknall heran. Dort, am Anfang der Welt, wird die Scheidung zwischen Mikro- und Makrokosmos und damit auch die Trennung von Quantentheorie und ART hinfällig. Zum anderen kann weder die eine noch die andere Theorie für sich allein in Anspruch nehmen, eine vollständige und in allem konsistente Beschreibung der Wirklichkeit zu geben. Vielmehr kranken beide an Widersprüchen, die erst bei detaillierter Beschäftigung mit ihnen offensichtlich werden und sich mit den bekannten Naturgesetzen nicht auflösen lassen – ein, wie die Geschichte der Physik lehrt, auf Dauer nicht haltbarer Zustand. In der ART zeigt sich die Unabgeschlossenheit der Theorie unter anderem in der Existenz Schwarzer Löcher: extreme Verzerrungen von Raum und Zeit, in deren Umgebung die Schwerkraft so gewaltig ist, dass weder Lichtstrahlen noch materielle Körper Der gigantische Large Hadron Collider (LHC) bei Genf gilt als Tor zur Physik des 21. Jahrhun­ derts. Unter anderem könnte der 27 Kilometer lange ringförmige Teilchenbeschleuniger super­ symmetrische Elementarteilchen nachweisen. Deren bislang hypothetische Existenz ist eine zentrale Voraussetzung für die Gültigkeit der Stringtheorie. Wegen Reparaturbedarfs bleibt der erst jüngst eingeweihte LHC allerdings bis zum Frühjahr 2009 abgeschaltet. Supergravitation Die Theorie der Supergravi­ tation wendet die Prin­ zipien der Supersymmetrie auf die allgemeine Relativi­ tätstheorie an. Dabei entsteht eine Theorie, die sich – anders als die nichtsupersymmetrische Gravitation – leichter quantisieren lässt. 31 Quantengravitation Dualität starke Kraft schwache Kraft elektromagnetische Kraft 1018 10–12 1012 10–9 106 10–6 10–3 1 10–6 elektro­ schwache Vereinigung 1 103 10 –18 106 Gravitation 10–24 109 10–30 1012 »Große Vereinigung«? Planck-Skala Urknall 32 10–36 10–44 1015 1019 Spektrum der Wissenschaft, nach DESY Energie in GeV Zeit in s Die engen Beziehungen zwischen den Hauptvarian­ ten der Supergravitation und der Stringtheorie bezeichnen die Mathemati­ ker als Dualitäten. Sie deuten darauf hin, dass möglicherweise alle diese Theorien Teil einer übergeordneten Theorie sein könnten. Keine von ihnen wäre dann im eigentlichen Sinn »falsch«, vielmehr wären sie unter­ schiedliche Perspektiven auf dieselbe Welt. ihrer Anziehung entkommen können. Aus den einsteinschen Gleichungen lässt sich nämlich ableiten, dass Sternen mit ausreichend Masse unvermeidlich ein Gravitationskollaps bevorsteht. Sie stürzen in sich zusammen und enden schließlich als Schwarze Löcher, die jegliche Materie in ihrer Umgebung in die Singularität in ihrem Zentrum reißen – Punkte unendlicher Raumkrümmung und unendlicher Dichte, bei deren Beschreibung alle bekannten Gesetze der Physik versagen. Noch bis in die 1960er Jahre galten solche Objekte zwar als theoretische Kuriosität. Doch heute wissen wir, dass sie zahlreich im Weltall existieren – selbst im Zentrum unserer Milchstraße, wo ein riesiges Exemplar bereits Abermillionen von Sonnen verschlungen hat. Seit Anfang der 1970er Jahre ist außerdem bekannt, dass zwischen Schwarzen Löchern und thermodynamischen Systemen eine tief greifende Verwandtschaft besteht: Jedem Schwarzen Loch lässt sich eine Entropie zuschreiben, die proportional zu seiner Oberfläche (genauer: der Horizontfläche) ist. Ursprünglich stammten die Argumente für diese Analogie aus der ART, doch quasi durch die Hintertür kam auch die Quantenmechanik ins Spiel. Denn alle relevanten Formeln enthalten das plancksche Wirkungsquantum h- und damit eine zentrale quantenphysikalische Größe! Noch überraschender für die Forschergemeinde war Stephen Hawkings (geb. 1942) Entdeckung, dass Schwarze Löcher zerstrahlen können – eine quantenfeldtheoretische Erkenntnis, die den Voraussagen der ART sogar Das Prinzip, dem zufolge die jeweils ein­ fachste Theorie zu bevorzugen sei, spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie Phy­ siker die Grundkräfte der Natur betrachten. Sie gehen davon aus, dass sie unterschied­ liche Ausprägungen ein und derselben »Ur­ kraft« sind und sich in bestimmten, sehr ho­ hen Energiebereichen nicht mehr voneinander unterscheiden. Experimentell lassen sich bis­ lang aber nur Energiebereiche bis etwa 103 ­Gigaelektronvolt untersuchen, so dass nur die elektroschwache Vereinigung schon nachge­ wiesen wurde. Bei höheren Energien ist die Grafik hypothetisch, Physiker diskutieren wei­ tere Varianten. Die Abbildung lässt sich von unten nach oben auch als zeitliche Entwick­ lung lesen: Nach dem Urknall sank die Ener­ giedichte allmählich, und die Urkraft spaltete sich in Gravitation, Elektromagnetismus, schwache und starke Wechselwirkung auf. widerspricht. Dieses Resultat zieht neue Fragen nach sich, die bis heute nicht vollständig beantwortet sind, etwa die, ob beim Zerfall eines Schwarzen Lochs Information unwiederbringlich verloren geht oder nicht (siehe »Das Informationsparadoxon bei Schwarzen Löchern«, SdW 6/1997, S. 58). Klar scheint jedenfalls, dass nicht nur die ART, sondern auch die Quantentheorie nötig ist, um zu einem wirklichen Verständnis Schwarzer Löcher zu gelangen. »Kochrezept« mit Schwächen Die Quantenfeldtheorie vereint die Theorie klassischer Felder (wie das elektromagnetische Feld) mit quantenmechanischen Prinzipien. So kann sie Teilchen und Felder einheitlich beschreiben. Ihre Unvollständigkeit äußert sich im Auftreten unendlich großer Terme in den mathematischen Ausdrücken. Solche Divergenzen treten auch im Standardmodell der Teilchenphysik auf (das ja ebenfalls quantenfeldtheoretisch formuliert ist), wenn man es im Rahmen der mathematischen Störungs­ theorie behandelt. Dabei wird die Rechnung in sukzessive Einzelschritte unterteilt. Mit Hilfe ausgefeilter Vorschriften können die Divergenzen dann bei jedem Rechnungsschritt beseitigt werden (»Renormierung«). Tatsächlich stimmen die auf diese Weise näherungsweise errechneten Ergebnisse hervorragend mit den gemessenen Daten überein. Dennoch wissen wir bis heute nicht, ob das Standardmodell im mathematisch strengen Sinn überhaupt existiert! Bei direkter Anwendung der quantenmechanischen Rechenmethoden auf die ART versagt das Renormierungsverfahren aber völlig. Die auftretenden Unendlichkeiten lassen sich nun nicht mehr mit den »Kochrezepten« der Quantenfeldtheorie beseitigen, vielmehr muss die Theorie selbst mit jedem Rechenschritt abgeändert werden, soll sie endliche Resultate liefern. Diese »Nichtrenormierbarkeit der Gravitation« hat zur Folge, dass die quantenmechanisch behandelte ART jegliche Vorhersagekraft verliert. All diese Schwierigkeiten hängen eng mit der Frage nach der Beschaffenheit von Raum und Zeit bei kleinsten Abständen zusammen. Bilden diese ein Kontinuum, wie es die ART annimmt? Oder sind Raum und Zeit gequantelt, kommen sozusagen portionsweise vor, wie es die Erweiterung quantenmechanischer Konzepte auf die Geometrie nahelegt? Aber wie sollen wir uns eine Quantenraumzeit und eine Quantengeometrie vorstellen? Und ließen sich mit ihren elementaren Konstituenten vielleicht auch die thermodynamischen Eigenschaften Schwarzer Löcher erklären? SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 Entwicklung von Galaxien, Sternen und Planeten inflationäre (exponentielle) Ausdehnung des Kosmos »Dunkles Zeitalter« Muster kosmischer Temperaturfluktuationen (noch heute beobachtbar, siehe Abbildung S. 34) Quantenfluktuationen Satellit WMAP Während unmittelbar nach dem Urknall Quantenprozesse vorherrschten, übernahm ab einer gewissen Größe des Kosmos die Gravitation das Kom­ mando, zumindest was die Entwicklung der großräumigen Strukturen betrifft. Die Schwer­ kraft ist dafür verantwortlich, dass Sterne, Galaxien und Galaxienhaufen sich so formten, wie wir sie heute kennen. Entstehung der ersten Sterne rund 13,7 Milliarden Jahre NASA WMAP Science Team Eine Theorie, die Quantentheorie und ART ersetzen soll, muss deren innere Widersprüche auflösen und beide Theorien als Grenzfälle enthalten. Sie muss dieselben Aussagen über die Natur treffen, die uns die Standardmodelle der Teilchenphysik und der modernen Kosmologie so erfolgreich geliefert haben. Doch wie nähert man sich einer Theorie, von der man fast nichts weiß, außer dass sie solchen Konsistenzforderungen genügen muss? Im Ringen um eine Antwort gehen die Meinungen auch unter Experten weit auseinander. So haben sich mehrere sehr unterschiedliche Denkschulen herausgebildet. Ein kanonischer Weg zur Quantengravitation? Die kanonische Quantisierung versucht, die Raumzeitgeometrie »direkt« zu quantisieren. Die Forscher gehen dabei von der Annahme aus, dass die beschriebenen Schwierigkeiten lediglich ein Artefakt der Störungstheorie sind. Eine konsistente Quantisierung der ART sollte daher möglich sein, wenn man nur die ihr zu Grunde liegenden Prinzipien ernst nimmt. Anders als die Stringtheorie, auf die wir noch zu sprechen kommen, attackiert dieser Zugang frontal ein zentrales Problem der Quantengravitation, dass nämlich die Raumzeitgeometrie nicht mehr (wie in der Quantenfeldtheorie) als vorgegeben angenommen werden kann, sondern selbst den Quantenfluktuationen unterliegt. Auf diesem Weg gelangt man zur Fundamentalgleichung der Quantengravitation, der Wheeler-DeWittGleichung (nach John Archibald Wheeler, SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 1911 – 2008, und Bryce S. DeWitt, 1923 – 2004). Jenseits aller Schwierigkeiten, dieser hochabstrakten Gleichung einen mathematisch wohl definierten Sinn zu geben, konfrontiert sie uns direkt mit einem Schlüsselproblem der Quantentheorie: nämlich der Frage, wo die Trennlinie zwischen klassischer und quantenmechanischer Welt verläuft. Lässt sich, wie es diese Gleichung postuliert, das gesamte Universum durch eine einzige Wellenfunktion (»Wellenfunktion des Universums«) beschreiben? In diesem Fall müssten nicht nur subatomare Partikel quantenmechanisch als Wahrscheinlichkeitswellen beschrieben werden, son­dern – im Gegensatz zur gewohnten Kopenhagener Interpretation – auch die Messgeräte, wir selbst als Beobachter und letztlich der gesamte Kosmos. Dann würden wir allerdings erwarten, dass sich die quantenmechanischen Seltsamkeiten auch in der klassischen Welt beobachten lassen, dass sich makroskopische Objekte beispielsweise gleichzeitig an mehreren Orten, in »Superposition«, befinden. Doch dies ist nicht der Fall: Bei jeder Messung verschwinden die Superpositionen, jedes Objekt befindet sich dann in genau einem eindeutigen Zustand. Wie also geht unsere klassische Welt aus einem rein quantenmechanischen System hervor? Ganz unmittelbar stellt sich diese Frage bei Betrachtung der weiträumigen kosmischen Temperaturfluktuationen, welche der Satellit WMAP vor einigen Jahren vermaß. Dieses Muster ist nach heutigem Verständnis aus Quantenfluktuationen im frühen Universum Planck-Einheiten Einheiten wie die nach Max Planck benannte PlanckLänge, Planck-Energie und so weiter markieren die Grenze, jenseits derer die bekannten Naturgesetze nicht mehr anwendbar sind. Auf direktem Weg experimentell erreichen lässt sich diese Grenze bislang nicht. Die PlanckLänge von 10– 35 Metern etwa ist um 20 Größen­ ordnungen kleiner als ein Atomdurchmesser, die Planck-Energie von 1019 GeV (Milliarden Elektronvolt) übertrifft die im Beschleuniger LHC erreichbaren Energien von 103 GeV um 16 Größenord­ nungen. Was auf der Planck-Skala geschieht, muss also theoretisch erschlossen oder indirekt aus experimentellen Ergebnissen abgeleitet werden. 33 NASA WMAP Science Team Quantengravitation Aus Quantenprozessen im frühen Universum ist dieses vom WMAP-Satelliten (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe) gemessene Muster der kos­ mischen Temperaturfluktuati­ onen entstanden. Bei seiner Interpretation stehen Quanten­ physiker aber noch vor einem Rätsel. Stringtheorie Die Stringtheorie, von der fünf Hauptvarianten existieren, geht von schwingenden »Saiten» als elementaren Konstituenten des Universums aus. Die Töne dieser Saiten entspre­ chen verschiedenen Elementarteilchen. Wäh­ rend das quantenfeldtheo­ retische Standardmodell der Teilchenphysik auf punktförmigen Teilchen beruht und nur drei Naturkräfte beinhaltet, könnte die Stringtheorie auch die Gravitation mit ins theoretische Boot holen und so zu einer vereinheit­ lichten Theorie der Quan­ tengravitation führen. Sie könnte darüber hinaus die Existenz der vier Grund­ kräfte erklären, ebenso wie die Frage, warum Elemen­ tarteilchen mit ganz bestimmten physikalischen Eigenschaften ausgestattet sind. 34 enstanden. Niemand würde daran zweifeln, dass ein Astronom vor Jahrmillionen genau dasselbe Bild gesehen hätte. Wer oder was aber hat dann in der Frühzeit des Universums den quantenmechanischen Messprozess in Gang gesetzt, der dieses eindeutige Ergebnis hervorbrachte, bei dem jegliche Superpositio­ nen verschwunden sind? Kosmische Kopien als Ausweg? Als möglicher Ausweg bietet sich eine neue Deutung der Quantenmechanik an. Die »Vielwelten-Interpretation« (siehe »Die Parallelwelten des Hugh Everett«, SdW 4/2008, S. 24) etwa behauptet, dass die Vermessung eines quantenmechanischen Objekts, das sich gleichzeitig an mehreren Orten befindet, zur Aufspaltung des gesamten Universums in verschiedene Kopien führt. In jeder Kopie befände sich das Objekt dann tatsächlich an jeweils einem dieser Orte, so dass die Beobachter (die nun natürlich auch in Kopien existieren) die gewohnten klassischen Ergebnisse erhalten. Neuere Bemühungen um die kanonische Quantengravitation zielen zum einen darauf, die begrifflichen und interpretatorischen Schwierigkeiten mit Hilfe stark vereinfachter Modelle besser in den Griff zu bekommen. Dabei geht es sozusagen um die Suche nach dem »Wasserstoffatom der Quantengravita­ tion«. Atomphysikern dient das Wasserstoffatom als Modellsystem, da sich seine quantenmechanische Gleichung (anders als die schwerer Atome) nicht nur näherungsweise, sondern exakt lösen lässt. Ein entsprechend realitätsnahes Modell der Quantengravitation fehlt jedoch bislang. Zum anderen zielen die Forscher auf ein besseres Verständnis der Probleme, die sich bereits mit der mathematisch sauberen Formulierung der Wheeler-DeWitt-Gleichung stellen. Die moderne Variante des kanonischen Zugangs, die Schleifenquantengravitation (siehe »Ein Kosmos ohne Anfang«, SdW 6/2007, S. 33; »Quanten der Raum- zeit«, SdW Dossier 5/2005, S. 32), versucht dies, indem sie die ART nach dem Vorbild der Quantenfeldtheorien umformuliert, welche die starke und schwache Kernkraft und die elektromagnetische Kraft beschreiben. Dabei stoßen die Forscher bei winzigen Abständen (der Planck-Länge) auch auf eine Art »Raumzeit-Schaum«, also eine diskrete Struktur der Raumzeit. Ungeklärt bleibt aber die Frage, wie (und ob) diese Struktur bei makroskopischen Abständen in ein »glattes« Raumzeitkontinuum übergeht – nur in diesem Fall nämlich kann die ART als Grenzfall in der Theorie enthalten sein. Einen völlig anderen Weg zur Quantisierung der Gravitation nehmen Supergravitation und Superstringtheorie (siehe »Strings – Urbausteine der Natur?«, SdW 2/2003, S. 24; »Universen auf der kosmischen Achterbahn«, SdW 2/2008, S. 26). Im Gegensatz zum kanonischen Zugang werden die nichtgravitativen Kräfte bei diesem Ansatz von Beginn an mit einbezogen. Er will das Standardmodell der Teilchenphysik und die Gravitation unter einen Hut bringen, indem er beide Theorien im Bereich kleinster Abstände radikal abändert. Dabei sind die Änderungen so zu bestimmen, dass sich die Divergenzen in jedem Rechnungsschritt gegenseitig aufheben. Im Erfolgsfall erklärt diese Strategie möglicherweise, warum die Welt mit ihren Grundbausteinen genau so beschaffen ist, wie wir sie vorfinden. Die Stringtheorie basiert auf Prinzipien der Quantenfeldtheorie. Die Renormierbarkeit des Standardmodells verdankt sich einem Symmetrieprinzip, der Eichinvarianz. Ein entscheidender Fortschritt darüber hinaus war Anfang der 1970er Jahre die Entdeckung der Supersymmetrie (siehe »Ist die Natur supersymmetrisch?«, SdW 8/1986, S. 68), einer neuen Art von Symmetrie zwischen Bosonen (Teilchen, die Kräfte übertragen) und Fermionen (fundamentale Teilchen, aus denen die Materie besteht). Dank ihrer wird die Renormierung weit gehend verzichtbar, da sie die gewünschte Aufhebung von Unendlichkeiten fast automatisch garantiert. Die Supersymmetrie sagt zudem die Existenz einer Vielzahl neuartiger Elementarteilchen voraus, die am LHC gesichtet werden könnten. Hierzu zählen Gravitinos (als »Superpartner« der Gravitonen, der Trägerteilchen der Schwerkraft) und schwach wechselwirkende Teilchen, aus denen möglicherweise die Dunkle Materie im Kosmos besteht. Ziel ist es nun, die einsteinsche ART gemäß den Prinzipien der Supersymmetrie zu einer Theorie der Supergravitation zu erweitern, um so zu einer vereinheitlichen Theorie zu gelangen. In der Tat existiert seit rund dreißig Jahren eine Theorie, der dies vollstänSPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 Astronomie & Physik dig gelungen ist, die so genannte maximal erweiterte N=8-Supergravitation. Ungelöst ist aber die Frage, ob die N=8-Supergravitation für beobachtbare Größen tatsächlich nur endliche Werte liefert. Auch wenn Aufsehen erregende Rechnungen jüngst neue Hinweise auf ihre Endlichkeit lieferten, bleibt ungewiss, welchen Beitrag sie zur Vereinheitlichung der Physik leisten kann. Ein Kuriosum jedoch verdient Erwähnung: In der Phase gebrochener Supersymmetrie sagt diese Theorie 48 elementare Fermionen voraus, in Übereinstimmung mit der Zahl der bisher tatsächlich nachgewiesenen Quarks und Leptonen! Universum aus schwingenden Saiten Die Zweifel an der Endlichkeit der Supergravitation gaben Anfang der 1980er Jahre den Anstoß zur Entwicklung der Superstringtheorie. Anders als die Quantenfeldtheorie, die elementare Materiebausteine als punktförmig annimmt, betrachtet die Stringtheorie alle Elementarteilchen als auf unterschiedliche Art und Weise schwingende »Strings«. Einen solchen String kann man sich als schwingende (quantisierte) Saite vorstellen, wobei die »Töne« der Saite verschiedenen Elementarteilchen entsprechen. Erste Rechnungen ergaben, dass die Superstringtheorie zumindest in den unteren Ordnungen frei von Divergenzen ist. Einer ihrer überraschendsten Aspekte ist indessen dieser: Die Existenz des Gravitons geht aus ihr auf ganz natürliche Art hervor. Dieses bislang hypothetische Teilchen muss also nicht eigens in die Theorie eingeführt werden. Ihren eigentlichen Durchbruch erlebte die Stringtheorie im Jahr 1985 mit der Entde- ckung der heterotischen Stringtheorie. Diese lässt genügend Platz für die Trägerteilchen aller vier Kräfte und ist überdies verträglich mit der »Händigkeit«, einer wichtigen Quanteneigenschaft der elementaren Fermionen. Damit wurde der heterotische String zum eindeutigen Favoriten im Wettkampf um die Vereinheitlichung der Physik. Für einige Wochen gerieten viele Physiker geradezu in einen Zustand kollektiver Ekstase, denn die Erklärung des längst unübersichtlichen »Teilchenzoos« und der bekannten Wechselwirkungen schien in greifbare Nähe gerückt. Die Euphorie ist inzwischen abgeflaut, der intensiven Forschungsarbeit seit dieser Zeit verdanken wir gleichwohl eine Fülle von möglichen Vorhersagen für »neue Physik«. r Neue Elementarteilchen: Nicht nur mit der Existenz des Higgs-Bosons rechnen Physiker mittlerweile (dieser letzte noch nicht nachgewiesene Baustein des Standardmodells soll für die Erzeugung der Massen der anderen Teilchen verantwortlich sein), sondern auch mit zahlreichen »exotischen« Teilchen wie Dila­tonen und Axionen. Auch supersymmetrische Partner der bekannten Elementarteilchen werden vorhergesagt, ebenso neue Arten von Wechselwirkungen wie beispielsweise eine »fünfte Kraft«. r Verborgene Dimensionen der Raumzeit: Die Stringtheorie ist nur konsistent, wenn die Raumzeit über zehn Dimensionen verfügt. Da unser Universum lediglich drei Raumdimensionen und eine Zeitdimension besitzt, muss die Theorie erklären, warum sechs über- Symmetrien in ihrem anschaulichen Sinn kennt jeder. Ein Quadrat bei­ spielsweise, gespiegelt an seinen Symmetrieachsen, wird durch diese Transfor­ mation wieder in dasselbe Quadrat umgewandelt. Physiker bezeichnen auch abstraktere Transformationen als Symmetrien. Bei­ spielsweise lässt sich feststellen, dass in einem Quantensystem (häufig) dieselben Wechselwirkungen herrschen, wenn die Elementarteilchen darin gegen ihre (entge­ gengesetzt geladenen, aber ansonsten identischen) Antiteilchen ausgetauscht werden – auch eine solche Ladungstransformation gilt daher als symmetrisch. Symmetrien in der Natur sind für Physiker wertvoll, weil sie die Berechnungen erheblich vereinfachen oder sie überhaupt erst ermöglichen. Supersymmetrie Im Rahmen der in den 1970er Jahren entdeckten Theorie der Supersymme­ trie wird eine Teilchenart (Bosonen, die Kräfte übertragen) in eine funda­ mental andere (Fermionen, die Grundbausteine der Materie) transformiert. Diese Symmetrie er­ leichtert es, die Grundkräf­ te der Natur in einer vereinheitlichten Theorie der Quantengravitation zusammenzufassen. Unter anderem sagt sie voraus, dass zu jedem bekannten Elementarteilchen auch ein supersymmetrischer Partner (Superpartner) gehört. Werden einige dieser sehr schweren Teilchen am Beschleuniger LHC gefunden, könnte die Natur tatsächlich super­ symmetrisch sein. Alfred T. Kamajian Auf kleinsten Distanzen unterhalb der Planck-Länge beginnt die Raum­ zeit möglicherweise zu »schäumen«, weil die hohe Energie virtueller Teilchen ihr Gefüge durcheinanderbringt. Die Illustration kann das Geschehen, das unserem Verständnis einer kontinuierlichen Raumzeit zuwiderläuft, allerdings nur andeuten. Symmetrie SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 35 Quantengravitation Eine große Wüste? Natürlich richten viele Physiker ihre Hoffnungen, eine neue Physik jenseits des Standardmodells zu entdecken, auf den Teilchenbeschleuniger LHC – in der Erwartung, dass zwischen der Energieskala des Standardmodells, die bei rund 100 GeV liegt, und der Planck-Skala bei 1019 GeV neue Skalen existieren sollten, auf denen zum Beispiel supersymmetrische Teilchen zum Vorschein kommen. Es ist aber keineswegs ausgeschlossen, dass »nur« das Higgs-Teilchen ge­ funden wird. Damit wäre das Standardmodell zwar endgültig bestätigt. Gleich­ zeitig würde dies aber bedeuten, dass der LHC die Energieschwelle noch nicht erreicht, jenseits derer eine neue Physik liegt. Möglicherweise könnte das Standardmodell in seiner heutigen Form sogar bis zur Planck-Skala »überle­ ben«, wäre also bei allen Energien unterhalb der Planck-Energie gültig. Dieses letztere Szenario, häufig als »große Wüste« bezeichnet, ist unter Physikern allerdings wenig populär. Dann nämlich wäre über das schon rund vierzig Jahre alte Standardmodell hinaus – außer einigen durchaus wünschens­ werten Präzisierungen – nichts Neues zu vermelden. Manche Forscher zögen in diesem Fall sogar vor, dass das Higgs-Teilchen nicht gefunden wird. Dann käme wenigstens dadurch Neues ins Spiel, dass der Mechanismus der Symmetriebrechung, durch den das Higgs-Teilchen anderen Partikeln ihre Masse verlei­ hen soll, revidiert werden müsste. So oder so wird der LHC aber seinen Zweck erfüllen, indem er kräftig »auf­ räumt«. Binnen drei Jahren, so ist zu erwarten, werden die experimentellen Ergebnisse einen großen Teil der zahlreichen theoretischen Ansätze widerle­ gen. Existiert beispielsweise das Higgs-Teilchen wie erwartet, und lässt sich seine Masse genau bestimmen, müssen sich die unterschiedlichen Voraussa­ gen der existierenden Modelle an diesem Wert messen lassen. Die gängigen supersymmetrischen Modelle etwa sagen Massenwerte unterhalb von 135 GeV voraus. Ist das Teilchen schwerer, müssen wir andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. H.N. 36 Spe ktr um de rW iss en sc ha f t im an ig /S Der Urknall und die auf ihn folgende Expansion des Raums (Illustration) sind heute Teil des weithin anerkannten Standard­ modells der Kosmologie. Doch die extrem energiereichen Prozesse, die sich in den Sekun­ denbruchteilen unmittelbar nach dem Big Bang abspielten, bleiben mangels einer Theorie der Quantengravitation weiter­ hin unverstanden. zählige Dimensionen »unsichtbar« sind. Möglicherweise sind die Extradimensionen winzig klein »aufgerollt«. Oder aber wir nehmen sie nicht wahr, weil alle Materie und ihre Wechselwirkungen an unser vierdimensionales Universum »gefesselt« sind, mit der einzigen Ausnahme der Gravitation, die sich auch in die Extradimensionen erstreckt. Abermals eine neue Wendung erfuhr die Diskussion, als klar wurde, dass die String­ theorie in mindestens 10500 möglichen Versionen existiert – und entsprechend viele unterschiedliche Welten beschreibt. Einige Physiker folgern daraus, dass unser sichbares Universum nur ein winziger Teil eines gigantischen »Megaversums« ist, in dem alle diese Möglichkeiten tatsächlich realisiert sind. (Die­se »vielen Welten« haben allerdings nichts mit der erwähnten Everett-Interpretation der Quantenmechanik zu tun.) Auch neuere Varianten der Inflationstheorie, denen zufolge ­unser Universum nur eine »Blase« in einer ewig brodelnden Suppe unzähliger Universen sein soll, stützen diese Idee. Die Besonderheit unserer Blase würde dann einzig und allein darin bestehen, dass sie genau die für unsere Existenz notwendigen (höchst unwahrscheinlichen!) Bedingungen bereitstellt – während die überwältigende Mehrzahl der Universen die Existenz von intelligentem Leben und ­Fragen stellenden Beobachtern überhaupt nicht zulassen würde. In anderer Gewandung ist dieses Erklärungsmuster schon seit Langem bekannt und wird als anthropisches Prinzip bezeichnet (siehe »Das anthropische Prinzip: kein Universum ohne Mensch«, SdW 2/1982, S. 90). Mit einem solchen Ende ihrer Suche nach dem Anfang aller physikalischen Erkenntnis wollen sich viele Physiker allerdings nicht zufriedengeben. Sie verweisen darauf, dass sich jede physikalische Theorie dem unerbittlichen Urteil des Experiments stellen muss. Und sie beharren auf dem Grundsatz, dass Aussagen, die sich der experimentellen Nachprüfbarkeit prinzipiell entziehen (wie solche über logisch mögliche, aber unbeobachtbare Welten jenseits des Sichthorizonts unseres Universums), keinen Platz in einer physikali­schen Theorie beanspruchen dürfen. In der string­theo­retischen Neuauflage des anthropischen Prinzips sehen Kritiker daher lediglich den Versuch, unser gegenwärtiges Unwissen über die Stringtheorie zu einem fun­ damentalen Prinzip zu erheben. In der Tat scheint es verwegen, so weit reichende Schlussfolgerungen aus einer Theorie zu zie- hen, von der wir noch nicht einmal wissen, ob sie die richtige ist. Theoretiker konzentrieren ihre Anstrengungen deshalb verstärkt darauf, die mathematischen Grundlagen der Stringtheorie besser zu verstehen. Wesentliche Fortschritte in dieser Richtung erzielten sie in den letzten zehn Jahren im Rahmen der AdS/CFT-Dua­ lität. Zwei unterschiedliche Theorien, eine Quantenfeldtheorie sowie eine Superstringtheorie, haben sich nämlich überraschenderweise als weit gehend äquivalent erwiesen – jede von ihnen beschreibt dasselbe, aber auf jeweils andere Weise. Das eröffnet Möglichkei­ ten, von der Quantenfeldtheorie Rückschlüsse auf die Superstringtheorie zu ziehen – und umgekehrt (siehe »Schwerkraft – eine Illusion?«, SdW 3/2006, S. 36). Ein Rahmen, in dem alles zusammenpasst Eine zentrale Rolle in aktuellen Untersuchungen spielt auch die Suche nach weiteren Symmetrien, da sich diese Strategie als das bisher erfolgreichste Rezept zur Vereinheitlichung der Physik erwiesen hat. Forscher stießen in den letzten Jahren auf eine einzigartige Symmetriestruktur namens »E10«, die zur Klasse der so genannten hyperbolischen KacMoody-Algebren gehört. Zwar weiß man schon lange von deren Existenz, doch auch 40 Jahre nach ihrer Entdeckung bleibt sie eines der rätselhaftesten Gebilde der gesamten Mathematik. Umso faszinierender erscheint daher, wie sich hier die Wege der Physik und der Mathematik kreuzen: Neuesten Untersuchungen zufolge lassen sich fast sämtliche bekannten Informationen über die supersymmetrischen Modelle der Supergravitation und Stringtheorie in die E10-Algebra »kodieren«. Die Ergebnisse liefern erste Hinweise, wie die Auflösung von Raum und Zeit in der Nähe der Urknall-Singularität »funktionieren« könnte. Trotz der Faszination, welche von diesen Ideen ausgeht, kann eine nüchterne Bestandsaufnahme des bisher Erreichten eines nicht außer Acht lassen: Wo Theorie und Experiment sich weit voneinander entfernen, laufen SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · November 2008 ESA Immer wieder schlagen Forscher neue, oft spekulative Ideen zum Test der Stringtheorie vor. Manche hoffen beispielsweise darauf, im Wärme­ muster der kosmischen Hintergrundstrahlung Hinweise auf die von der Stringtheorie postu­ lierten Extradimensionen zu entdecken. Daten der erforderlichen Präzision liegen bislang allerdings nicht vor. Die aber könnte bald der ESA-Satellit Planck liefern, dessen Start für 2009 geplant ist. theoretische Ansätze leicht Gefahr, sich im Niemandsland der Beliebigkeit zu verlieren. Deshalb sei an die bereits zitierte Aussage Einsteins erinnert, die ihrerseits wieder auf ein noch älteres erkenntnistheoretisches Prinzip zurückgreift: »Ockhams Rasiermesser«. Liegt eine Vielzahl von Erklärungsmustern vor, so besagt der nach einem mittelalterlichen Philosophen benannte Grundsatz, ist dasjenige zu bevorzugen, das mit der gerings­ ten Zahl von Annahmen auskommt. Insbesondere sind alle Modelle zu verwerfen, bei denen die Zahl der Annahmen die Zahl der zu erklärenden Fakten übersteigt. Nicht zuletzt mit Blick auf künftige experimentelle Tests der hier beschriebenen Ansätze kommt Ockhams Rasiermesser eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Um auf Basis der theoretischen Modelle zu wirklich verlässlichen Aussagen zu gelangen und sie zweifelsfrei mit (möglichen) experimentellen Hinweisen in Verbindung zu bringen, wird es äußerster begrifflicher und mathematischer Sorgfalt bedürfen. Nur so besteht Hoffnung, am Ende einen Erklärungsrahmen zu finden, in dem alles zusammenpasst. Im Jahr 1980, in seiner viel beachteten Antrittsvorlesung an der University of Cambridge, hatte der englische Astrophysiker Stephen Hawking das Ende der theoretischen Physik prophezeit – binnen höchstens 20 Jahren. Heute, mehr als 25 Jahre später, sind wir diesem Ziel trotz aller Anstrengungen kaum näher gekommen. Einen wesentlichen Unterschied aber gibt es: Dank aufregender Fortschritte in der beobachtenden Kosmologie und der experimentellen Teilchenphysik besteht nun Aussicht, dass Experimente bald Licht ins Dickicht der theoretischen Spekulationen über das Jenseits der modernen Physik bringen. Hermann Nicolai ist Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitations­ physik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam-Golm. Der theoretische Physiker arbeitete unter anderem auch am europäischen Teilchenfor­ schungszentrum CERN. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Quantengravitation und Vereinheit­ lichte Theorien, insbesondere Supergravitation, Superstring- und Supermembrantheorien. Nicolai ist auch leitender Herausgeber von »General Relativity and Gravitation«. Davies, P.: Auf dem Weg zur Weltformel. Komet Verlag, Köln 2005. Guth, A. et al.: Die Geburt des Kosmos aus dem Nichts. Droemer Knaur, München 2002. Hasinger, G.: Das Schicksal des Universums: Eine Reise vom Anfang zum Ende. C.H.Beck, München 2007. Nicolai, H.: A Beauty and a Beast. In: Nature, 447, S. 41 – 42, 3. Mai 2007. Weinberg, S.: Der Traum von der Einheit des Universums. Bertels­ mann, München 1993. Weitere Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/ artikel/969247. 37