Dankesrede Professor Dr. Ralph Hertwig Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2017 Es gilt das gesprochene Wort! Berlin, 15. März 2017 Dankesrede zum Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2017 Prof. Dr. Ralph Hertwig Berlin, 15. März 2017 DFG Seite 2 von 4 Sehr geehrte Frau Bundesministerin Wanka, sehr geehrte Frau Senatorin Quante-Brandt, sehr geehrter Herr Präsident Strohschneider, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen, Freunde und liebe Familien, im Namen der diesjährigen Preisträger darf ich unseren tief empfunden Dank für die Verleihung des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises ausdrücken! Mit diesem Preis gewürdigt zu werden, ist für jeden von uns eine große Ehre. Wir alle haben uns unbändig gefreut, als am 8. Dezember letzten Jahres das Telefon klingelte, die DFG sich meldete und eine freundliche Stimme uns mitteilte, dass wir heute von Fortuna geküsst wurden. Zugegebenermaßen war die frohe Mitteilung etwas weniger lyrisch gefasst – aber das Gefühl, dass die Schicksalsgöttin auch ihre Hand im Spiel gehabt hat, rührt aus dem Bewusstsein, dass es natürlich auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt, die diesen Preis ebenso verdient hätten. Wir freuen uns und sind dankbar, weil dieser Preis uns großes Vertrauen schenkt und uns noch mehr Freiheit gibt, unseren wissenschaftlichen Träumen nachzujagen. Wissenschaftler habe Visionen; sie träumen – müssen vielleicht gar träumen. Wie wäre sonst möglich, was Darwin als die notwendige Beharrlichkeit des Wissenschaftlers beschrieb und was die Psychologie als die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub identifiziert? Allerdings sind die wissenschaftlichen Träume seltsame Wesen: Sie rauben uns eher den Schlaf und sie treiben uns regelmäßig aus dem Bett. Vielleicht kann man die bedeutsame Rolle des großen wissenschaftlichen Traums kaum besser nachempfinden als mit Leibniz, dem Patron dieses Preises. Leibniz kam 1646 zur Welt. Er wurde also hineingeboren in die letzten Jahre des Dreißigjährigen Kriegs – eine Zeit voller Gewalt, Tod und Zerstörung. Vermutlich muss man Leibniz’ ehrgeizigste Vision vor dem Hintergrund dieser völlig verwüsteten Welt- und Seelengegend verstehen. Sein metaphysischer Traum bestand in der Erfindung einer „Characteristica Universalis“, also einer Sprache und Zeichenkunst, in der es keine Zweideutigkeiten mehr gibt. Diese künstliche Sprache sollte, in Kombination mit einem nahezu mechanischen Kalkül des vernünftigen Denkens, wissenschaftliche Kontroversen oder gar Streit für immer unnötig machen. Voller Begeisterung beschrieb er diese Vision einmal so: Dankesrede zum Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2017 Prof. Dr. Ralph Hertwig Berlin, 15. März 2017 DFG Seite 3 von 4 „Wenn man [...] Zeichen finden könnte, die geeignet wären, alle unsere Gedanken ebenso rein und streng auszudrücken, wie die Arithmetik die Zahlen oder die analytische Geometrie die Linien ausdrückt, könnte man [...] bei allen Gegenständen, soweit sie dem vernünftigen Denken unterworfen sind, das tun, was man in der Arithmetik und der Geometrie tut. [...] alle Forschungen, die vom vernünftigen Denken abhängen, würden durch die Umwandlung dieser Charaktere und eine Art Kalkül zustande kommen, was die Erfindung schöner Dinge ganz leicht machen würde. [...] Zudem würde man jeden von dem überzeugen, was man gefunden [...] hätte, da es leicht sein würde, den Kalkül zu prüfen [...]. Und wenn jemand [...] zweifelte, würde ich zu ihm sagen: ‚Rechnen wir, mein Herr.’" Rechnen wir! Wie liebend gerne würden wir heute diesen Weg in jenen wissenschaftlichen Disputen gehen, die auch persönlich verletzend werden und auf die es auch keine eindeutigen Antworten gibt. Und noch lieber wäre es uns allen, wenn auch Dispute, die über die Grenzen der Wissenschaft hinausreichen und die wir jeden Tag fassungslos bestaunen können, nichts anderes wären als die falsche Anwendung des vernünftigen Kalküls, sozusagen Rechenfehler. Und diese ließen sich dann ebenso leicht finden und korrigieren, wie einen Fehler in der letzten Reisekostenabrechnung. Leibniz hatte übrigens die Hoffnung, dass sein Kalkül der Vernunft auch eine bewundernswerte Hilfe „sogar in der Politik“ sein könnte. Leider war der Traum von Leibniz zu ehrgeizig. Weder gelang es ihm, die voraussetzungsfreie Sprache, die „Characteristica Universalis“, zu kreieren, noch fand er das Kalkül des vernünftigen Denkens. Die Welt spielt da einfach nicht mit. Aber manchmal entdeckt man eben Amerika auf der Suche nach Indien. Und Leibniz hat – um nur einige Beispiele zu nennen – die Differential- und Integralrechnung erfunden, die Konstruktion einer digitalen Rechenmaschine ersonnen und grundlegende Prinzipien der Quantorenlogik entdeckt. Der Leibniz-Preis ermöglicht es uns, weiter zu träumen. Sie haben vorhin kurze Momentaufnahmen dieser Träume gesehen. Ich hoffe, dass ich Sie überzeugen konnte, dass Träumen in der Wissenschaft nichts Anstößiges ist, sondern den leidenschaftlichen Wunsch widerspiegelt, eine eigene große Idee zu verfolgen, in die Wirklichkeit umzusetzen und zu testen. Dankesrede zum Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2017 Prof. Dr. Ralph Hertwig Berlin, 15. März 2017 DFG Seite 4 von 4 Wissenschaftliche Träume brauchen Unterstützung. Wir möchten daher einer Gesellschaft und deren Institutionen und namentlich der DFG unseren Dank ausdrücken, die uns die Ressourcen und die Freiheit geben, forschen zu dürfen, ohne zu erwarten, dass wir sogleich die Frage nach dem unmittelbaren Nutzen beantworten können. Wir wissen, dass die Akzeptanz der Grundlagenforschung alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Große wissenschaftliche Ideen entstehen selten aus dem Nichts, und noch seltener ist man deren einziger Autor. Wir danken deshalb auch unseren Mentoren, Lehrern und anderen Traumsouffleuren, die uns geprägt und inspiriert haben. Wir danken den jüngeren Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir jeden Tag zusammenarbeiten und ohne deren Begeisterung, Belohnungsaufschub und auch deren Träume wir heute nicht hier wären. Es ist ein großes Privileg, gemeinsam denken zu dürfen. Und das vielleicht wunderbarste Geschenk des Leibniz-Preises ist es, die Ressourcen zu haben, die Lizenz zum Träumen mit Anderen, Jüngeren teilen zu können. Abgesehen von wissenschaftlichen Träumen haben Wissenschaftler eigentlich keine „normalen“ Träume? Doch natürlich! Zum Glück gibt es hier aber keinen Publikationsdruck. Und wenn wir diese ganz normalen Träume denn teilen, dann mit unseren Familien – dafür und für vieles andere mehr: Danke an euch! Bleibt mir uns nur noch eines zu wünschen, abgewandelt nach Leibniz: Träumen wir die kühnen Träume und finden dabei die schöne Dinge! Dankesrede zum Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2017 Prof. Dr. Ralph Hertwig Berlin, 15. März 2017 DFG