In 100 Millionen Jahren

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In 100 Millionen Jahren
Wir haben gerade einen außergewöhnlichen Planeten
ausgemacht. So außergewöhnlich, dass man es zu Hause
wohl in den Nachrichten bringen wird, wo die neuesten
Informationen mit großer Spannung und Interesse verfolgt werden. Noch sind wir in einiger Entfernung von
unserer Entdeckung, doch schon jetzt ist klar, dass auf
der Oberfläche dieses Planeten ungewöhnliche und ziemlich instabile chemische Verhältnisse herrschen. Unsere
Sonden konnten nicht nur große Mengen an ungebundenem Wasser feststellen, sondern auch – und hier liegt die
eigentliche Überraschung – freien Sauerstoff, und das in
erheblichen Mengen.
Die Erde in ferner Zukunft: die erste Sichtung
Einhundert Millionen Jahre von heute. Ein Erzähler erscheint auf
der Szene und erzählt die Geschichte der menschlichen Spezies.
„Einhundert Million Jahre von heute“ bedeutet dabei: einige Pro-
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Die Erde nach uns
zent weiter auf der Zeitskala der Erde und etwas weniger als ein
Prozent weiter auf der des Universums. Geologisch gesehen ist dies
die nahe Zukunft, kosmologisch gesehen sind wir schon fast dort.
Die Erde, die wir heute als die unsere bezeichnen, wird auch in
dieser Zukunft noch existieren. Auf ihr wird es mit einiger (aber
nicht absoluter) Sicherheit Ozeane geben, eine mit Sauerstoff angereicherte Atmosphäre und eine Fülle an komplexen, mehrzelligen
Lebensformen.
Die Erde ist kein Durchschnittsplanet, und genau dies wird die
Aufmerksamkeit der außerirdischen Entdeckungsreisenden wecken.
Für die erste Fernerkundung benötigen sie auf ihrem Raumschiff
nichts weiter als ein einfaches Spektroskop, um sofort zu erkennen,
dass die chemisch hochgradig aktive Oberfläche der Erde alles andere als im Gleichgewicht ist. Planeten mit einer sauerstoffreichen
Atmosphäre sind außerhalb jeglicher Norm. Selbst aus einer Entfernung von vielen Millionen Kilometern muss man erkennen: Dieser
Planet ist offensichtlich voller Leben.
Aus näherer Sicht wird man schließlich neben dem Blau der Ozeane und dem Braun der Gesteine noch einen grünen Spektralanteil
ausmachen können. Er wird vom Leben auf der Oberfläche des
Planeten erzeugt, dem großen Regulator für die chemischen Vorgänge, die dort ablaufen. Die Besucher wissen zu diesem Zeitpunkt
noch nichts von Chlorophyll, dennoch wird der unerwartete grüne
Wellenanteil im Spektrum mit Sicherheit ihre Neugier wecken.
Gesteine, Ozeane … und dann dieses grüne Zeug. Mit unseren
heutigen Augen betrachtet, sähe die Geographie der Erdoberfläche
zu diesem fernen Zeitpunkt irgendwie vertraut aus – doch etwas
stimmt nicht mehr. Die Maßstäbe wirken verzerrt, so als wären sie
vom Surrealisten Salvador Dali persönlich zurechtgerückt worden.
Die Landmassen haben sich allesamt verlagert. Aber in welche Richtung? Wir können aus heutiger Sicht nicht vorhersagen, wie sich
die Landmassen in 100 Millionen Jahren verschoben haben werden.
Wird sich der Atlantik verbreitert haben und der Pazifik verschmälert? Wird sich der ostafrikanische Grabenbruch zu einem Ozean
ausgeweitet haben? Oder werden sich die Kontinente zu einem
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Superkontinent vereinigt haben, wie es in der Erdgeschichte schon
einmal der Fall war?
Langfristige Vorhersagen tektonischer Vorgänge sind, wie langfristige Wettervorhersagen, mit so vielen Unsicherheiten behaftet,
dass genauere Prognosen keinen Sinn machen. Es gibt einfach zu
viele mögliche Szenarien für die Zukunft. Die Morphologie der Erdoberfläche wird sicher anders sein als heute, obwohl sie aus teilweise
vertrauten Bausteinen bestehen wird, die wie von einem spielenden
Riesenkind umgeordnet wurden.
Wenn wir aber das zukünftige Gesicht der Erdoberfläche nicht
kennen, dann gilt das zwangsläufig auch für die Verteilung der
Temperaturen, denn das globale Klima hängt maßgeblich von der
Geographie der Erdoberfläche ab. Ohne Vorhersage der Geographie ist keine Vorhersage des Klimas möglich. Es gibt einen guten
Grund dafür, dass es heute überhaupt Eismassen gibt: Die globale
Verteilung der Kontinente und Ozeane verhindert, dass die in den
Tropen gespeicherte Wärmeenergie ohne Hindernisse über Meeresströmungen in die Antarktis, dieser größten Kühltruhe unserer Erde,
gelangt.
Vor 100 Millionen Jahren, in der sogenannten Kreidezeit, waren
die Landmassen und Ozeane vollkommen anders verteilt als heute.
Damals konnte sich die tropische Wärme weit nach Norden und Süden ausbreiten, so dass beide Pole nur kleine (eventuell auch gar keine) Eiskappen trugen. Das nicht als Eis gebundene Wasser musste
natürlich woanders vorhanden sein. Tatsächlich lag der Meeresspiegel in der Kreidezeit um etwa 70 Meter höher und ein weit größerer
Teil der Kontinente war demzufolge von Wasser bedeckt.
Wie müssen wir uns nun die Erde der Zukunft vorstellen – als
Treibhaus oder als Gefrierschrank? Zur Beantwortung dieser Frage
können wir erdgeschichtliche Präzedenzfälle heranziehen. Es gab
in der geologischen Vergangenheit der Erde wesentlich mehr Perioden mit Treibhausklima als Kälteperioden. Auch die Astrophysik
hat hier ein gewichtiges Wort mitzureden: In der fernen Zukunft
wird die Sonne minimal wärmer sein, gerade genug, um die Erde
ein wenig näher an den Punkt zu bringen, an dem die Ozeane ver-
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Die Erde nach uns
dunsten und alles Leben verschwinden würde. Mit oder ohne Hilfe
des Menschen: Es ist eher wahrscheinlich, dass die Erde zu ihrem
Normalzustand zurückkehren wird, nämlich warmem Klima – so
wie es einst die Dinosaurier liebten – ohne Eiskappen.
Hier sind wir nun, in der fernen Zukunft: ein warmer Lebensraum
mit eher lauwarmen als kalten Meeren; die Erde erscheint blauer als
heute, da nun drei Viertel der Landmassen unter Wasser liegen, im
Vergleich zu den heutigen zwei Dritteln. Auf den Landflächen, die
aus dem Wasser ragen, gibt es immer noch viel Grün. Wenn unsere
zukünftigen Besucher so etwas wie Erstaunen kennen und über ein
ästhetisches Empfinden verfügen, werden sie diesen Planeten betreten wollen. Schnallen wir uns an, es ist Zeit zur Landung.
Die Erde in ferner Zukunft: eine Nahaufnahme
Unsere Fantasie reicht wahrscheinlich nicht aus, um uns das von
den Besuchern angetroffene Pflanzen- und Tierreich vorstellen zu
können. Auf alle Fälle würde diese von Leben durchdrungene Welt
sie durch ihre Vielfalt in Erstaunen versetzen. Stellen Sie sich das
gleiche Szenario einmal in der Kreidezeit vor 100 Millionen Jahren
vor: Welcher Besucher hätte angesichts der Dinosaurier und Farne
gedacht, dass einst Säugetiere und bunte Blütenpflanzen die Erde
beherrschen werden.
Warum sollte die Erde in der Zukunft nicht von Nagetieren
bevölkert sein, vielleicht Nachfahren der heutigen Ratten, die uns
als erfolgreiche Kulturfolger schon immer um die ganze Welt begleitet haben. Die einzelnen Nagerarten könnten die unterschiedlichsten Größen haben; manche könnten kleiner sein als eine
Spitzmaus, andere so groß wie Elefanten und wie diese durch das
Grasland ziehen. Eine weitere Art wäre möglicherweise extrem
flink und dabei stark und mit Killerinstinkt ausgerüstet wie ein
Leopard. Alles ist denkbar – warum nicht auch eine oder zwei
Spezies von großen unbehaarten Nagern, die in Höhlen leben und
sich aus Steinen einfache Werkzeuge fertigen. Zu ihrem Schutz
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bedecken sie sich mit den Häuten der Tiere, die sie erlegt und
verspeist haben.
In den Meeren könnten robbenartige Nagetiere umherschwimmen, die ihrerseits von größeren, beutereißenden Killernagern gejagt werden, die mit ihren torpedoförmigen Körpern den heutigen
Delfinen und den ausgestorbenen Ichthyosauriern ähneln. Auch
Fische könnte man sich in dieser Tiergesellschaft noch vorstellen,
sowohl Knochenfische als auch Haie mit ihren Knorpelskeletten.
Was die Haie betrifft, muss man allerdings vorsichtig mit Prognosen
sein: Bereits heute sind die Haipopulationen durch Überfischung
stark rückläufig, und das gerade bei den großen Arten in besonders
erschreckendem Maße. Von dieser Entwicklung könnten wiederum
andere Lebewesen, wie beispielsweise die Tintenfische, profitieren,
und sich weitere Lebensräume erobern oder diese sogar beherrschen.
Nach Ihrer Ankunft werden unsere zukünftigen Forscher für
eine geraume Zeit alle Hände voll zu tun haben, schon allein um
die vorhandene Fülle an Organismen zu Lande und zu Wasser zu
studieren und zu katalogisieren. Sie könnten sich in den endlosen
Details dieser Vielfalt verlieren, vielleicht sind sie aber ebenso an der
Frage interessiert, was die Erde und ihr Ökosystem in ihrer Ganzheit zusammenhält und steuert.
Sie werden herausfinden, dass die Pflanzen die Grundlage des
vielfältigen Lebens auf der Erde sind, indem sie einen Teil des Sonnenlichtes auffangen und den für sie nutzlosen Rest wieder in das
All reflektieren (spätestens jetzt werden unsere Besucher erkennen,
woher der bei der ersten Analyse festgestellte grüne Spektralanteil dieses Planeten stammt). Mithilfe der Energie des eingefangenen Lichts spalten die Pflanzen einfache Moleküle wie Wasser
und Kohlendioxid auf. Diese Bruchstücke verbinden sie wieder zu
komplexen organischen Molekülen, die sie zu ihrem eigenen Masseaufbau verwenden, wobei als Nebenprodukt Sauerstoff in die
Atmosphäre entweicht. Unter Einsatz weiterer chemischer Kunstgriffe machen die Pflanzen die Energie, die in einigen der neu synthetisierten Kohlenwasserstoffe gespeichert ist, durch Reaktion mit
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Sauerstoff wieder für sich verfügbar. Dabei werden diese organischen Moleküle wieder in Kohlendioxid und Wasser zerlegt. Die bei
dieser Oxidation (die man Respiration nennt) frei werdende Energie nutzt die Pflanze, um ihren gesamten biomolekularen Kreislauf
anzutreiben.
Bei einer anderen Gruppe von Organismen, den Tieren, sieht die
Sache etwas anders aus. Diese sind offensichtlich nicht in der Lage,
das Sonnenlicht aufzufangen und aus dessen Energie und einigen
einfachen Molekülen ihre Körpermasse aufzubauen. Sie halten sich
vielmehr an den Pflanzen schadlos, die sie als Energie- und Biomassequelle nutzen, indem sie sie fressen. Einige ganz gewitzte Spezies
umgehen die Mühsal des Pflanzenfressens und fallen gleich über
andere Tiere her, um deren nahrhafte Biomasse für sich zu nutzen.
Wir dürfen annehmen, dass sich unsere zukünftigen Besucher mit
dem Phänomen des Lebens auskennen. Somit werden ihnen die hier
vorgefundenen, auf komplizierte Weise miteinander verwobenen
ökologischen Kreisläufe von Energie und Materie, wie sie durch die
Millionen von Arten und Trillionen von einzelnen Lebewesen erzeugt werden, bekannt vorkommen. Aber wer weiß, vielleicht liegen
wir mit dieser Annahme auch völlig falsch. Wir dürfen in unserer
Ich-Bezogenheit nicht vergessen, dass sich auf anderen Planeten,
die um andere Fixsterne kreisen, völlig abweichende Formen von
Leben entwickelt haben können.
Es ist gleichgültig, wie vertraut oder fremd unseren zukünftigen
Entdeckern die treibende Kraft ist, die dem System „Leben“ auf
der Erde zugrunde liegt. Wir gehen in jedem Fall davon aus, dass sie
ein ausgeprägtes Interesse daran haben werden, diese Kraft zu verstehen und ihren Ursprung zu erforschen. Somit werden Untersuchungen der physikalischen und chemischen Zusammenhänge des
Lebens auf der Erde einen großen Teil ihrer Forschungstätigkeit
ausmachen. Sie werden außerdem verstehen müssen, wie die Entwicklungsgeschichte der lebenden Organismen und der von ihnen
bewohnten Erde verlief, denn nur so können sie aus ihren Ergebnissen ein Gesamtbild des Lebens ableiten und dessen Verhältnis zum
festen Erdkörper ins rechte Licht setzen.
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Bald werden unsere Forscher herausfinden, dass sich diese Entwicklungsgeschichte in einem solchen Maße auf der Oberfläche
der Erde wiederfindet wie auf keinem anderen Planeten in diesem
Sonnensystem – geradezu wie auf einer Mülldeponie. Aus dieser
Mülldeponie ist nun eine Schatzkammer geologischer Schichten geworden. Es ist höchste Zeit, dass unsere Entdecker beginnen, sich
mit diesen Schichten zu befassen.
http://www.springer.com/978-3-8274-2302-3
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