Saul Friedländers Buch über die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden ist eines der bedeutendsten Werke zu diesem Thema. Insbesondere die Verbindung von Einzelschicksalen mit dem historischen Gesamtgeschehen macht die Darstellung so eindrucksvoll. Friedländer «beschreibt nicht nur die Entstehung, die Vorbereitung und den Vollzug des Massenmordes von Nachbarn an Nachbarn, sondern dokumentarisch genau, stilsicher und mitleidend die klassische Triade der Gewalt: die Täter und ihre Obsessionen, die Opfer und ihre Verzweiflung, die schweigende Menge der Zuschauer mit ihrer Lust und ihrem Schrecken – und wenige, zu wenige Retter. Saul Friedländer hat den zu Asche verbrannten Menschen Klage und Schrei gestattet, Gedächtnis und Namen geschenkt. Er hat den Ermordeten die ihnen geraubte Würde zurückgegeben, deren Anerkennung die Grundlage des Friedens unter den Menschen ist.» Stiftungsrat für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Saul Friedländer, geboren 1932 in Prag, emigrierte 1939 mit seinen Eltern nach Frankreich. Er überlebte in einem katholischen Internat, seinen Eltern gelang die Flucht in die Schweiz nicht und sie wurden 1942 in Auschwitz ermordet. 1948 wanderte Friedländer nach Israel aus. Er lehrte am Institut für Internationale Studien in Genf, an der Universität Tel Aviv und ist seit 1988 Professor an der University of California in Los Angeles. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2007, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2007 und mit dem Pulitzer-Preis (Sachbuch) 2008. Saul Friedländer Das Dritte Reich und die Juden Die Jahre der Verfolgung 1933–1939 Die Jahre der Vernichtung 1939–1945 Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer Deutscher Taschenbuch Verlag Dezember 2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co.KG, München www.dtv.de © 1997, 2006 Saul Friedländer Titel der Originalausgabe: ‹Nazi Germany and the Jews›. Vol I: ‹The Years of Persecution, 1933-1939›; Vol. II: ‹The Years of Extermination›. HarperCollins Publishers, New York 1997, 2007 © für die deutsche Ausgabe: Verlag C.H. Beck oHG, München 1998 und 2006 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten. Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Druck und Bindung: Druckerei C.H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 978-3-423-34519-4 Inhalt Inhalt Die Jahre der Verfolgung 1933–1939 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Erster Teil Ein Anfang und ein Ende 1. Der Weg ins Dritte Reich . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Einverstandene Eliten, bedrohte Eliten 54 . . . . . . . 3. Der Erlösungsantisemitismus . . . . . . . . . . . . 4. Das neue Ghetto 87 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5. Der Geist der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Zweiter Teil Die Einkreisung 6. Kreuzzug und Kartei . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7. Paris, Warschau, Berlin – und Wien . . . . . . . . . 231 8. Ein Modell Österreich? . . . . . . . . . . . . . . . 262 9. Der Angriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 10. Ein gebrochener Rest . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Die Jahre der Vernichtung 1939–1945 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Erster Teil Terror (Herbst 1939 – Sommer 1941) 1. September 1939 – Mai 1940 . . . . . . . . . . . . . 383 2. Mai 1940 – Dezember 1940. . . . . . . . . . . . . . 445 3. Dezember 1940 – Juni 1941. . . . . . . . . . . . . . 509 Zweiter Teil Massenmord (Sommer 1941 – Sommer 1942) 4. Juni 1941 – September 1941 . . . . . . . . . . . . . 579 5. September 1941 – Dezember 1941 . . . . . . . . . . 643 6. Dezember 1941 – Juli 1942 . . . . . . . . . . . . . . 711 Dritter Teil Shoah (Sommer 1942 – Frühjahr 1945) 7. Juli 1942 – März 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . 781 8. März 1943 – Oktober 1943 . . . . . . . . . . . . . . 851 9. Oktober 1943 – März 1944 . . . . . . . . . . . . . . 922 10. März 1944 – Mai 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . 984 Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283 Die Jahre der Verfolgung 1933–1939 Für Omer, Elam und Tom Ich möchte kein Jude in Deutschland sein. Hermann Göring, 12. November 1938 Danksagung Danksagung Bei meiner Arbeit an diesem Buch ist mir vielfältige Hilfe zuteil geworden. Die Familie Maxwell Cummings, Montreal, und der 1939 Club, Los Angeles, haben an der Universität Tel Aviv und an der University of California, Los Angeles, Lehrstühle gestiftet, welche die Durchführung dieses Projekts erleichterten. Kurze Aufenthalte am Humanities Research Institute der University of California, Irvine (1992), und am Getty Center for the History of Art and the Humanities, Los Angeles (1996), verschafften mir das unschätzbarste Privileg, das es gibt: freie Zeit. Während all dieser Jahre habe ich aus den umfangreichen Beständen und der großzügigen Unterstützung, welche mir die Wiener Library an der Universität Tel Aviv, die University Research Library an der University of California, Los Angeles, die Archive des Leo Baeck Institute in New York sowie die Bibliothek und die Archive des Instituts für Zeitgeschichte in München boten, vielfältigen Nutzen gezogen. Freunde und Kollegen waren so liebenswürdig, das Manuskript in Teilen oder als Ganzes zu lesen, und einige von ihnen haben es durch seine verschiedenen Entwicklungsstadien hindurch verfolgt. Sie alle gaben mir viele gute Ratschläge. An der University of California, Los Angeles, möchte ich Joyce Appleby, Carlo Ginzburg und Hans Rogger danken; an der Universität Tel Aviv meinen Freunden, Kollegen und Mitherausgebern von History and Memory, insbesondere Gulie Ne’eman Arad für ihr bemerkenswertes Urteil und für die ständige Unterstützung bei diesem Projekt, und ebenso Dan Diner und Philippa Shimrat. Desgleichen möchte ich Omer Bartov (Rutgers), Philippe Burrin (Genf), Sidra und Yaron Ezrahi (Jerusalem) und Norbert Frei (München) Dank sagen. Darüber hinaus bin ich meinen Forschungsassistenten Orna Kenan, Christopher Kenway und Gavriel Rosenfeld sehr zu Dank verpflichtet. Natürlich gilt die übliche Formel: Alle Fehler in diesem Buch sind die meinen. Der verstorbene Amos Funkenstein konnte leider nicht das gesamte Manuskript lesen, aber ich habe meine vielen Gedanken und Zweifel bis fast zum Ende mit ihm geteilt. Er hat mir viel Ermutigung gegeben, und ihm, meinem engsten Freund, gegenüber habe ich unendlich viel mehr als eine gewöhnliche Dankesschuld; ich vermisse ihn mehr, als ich sagen kann. Aaron Asher und Susan H. Llewellyn trugen beide zur Bearbeitung dieses Buches bei, welches das erste ist, das ich ganz auf englisch geDanksagung 10 Danksagung schrieben habe. Die deutsche Ausgabe dieses Buches verdankt viel der engagierten Übersetzung von Dr. Martin Pfeiffer, dem ich bei dieser Gelegenheit danken möchte. Ebenso danken möchte ich Dr. Volker Dahm für seine aufmerksame Lektüre des Textes und vor allem ErnstPeter Wieckenberg, meinem Lektor bei Beck. Auf Grund meiner über dreißigjährigen Erfahrung mit Buchveröffentlichungen weiß ich die unentbehrliche Hilfe des Lektors zu schätzen. Ernst-Peter Wieckenberg gehört mit Sicherheit zu den besten, mit denen ich je zusammengearbeitet habe, und ich bin ihm für seine ständige Beratung und Umsicht außerordentlich dankbar. Seit nunmehr 37 Jahren gibt mir Hagith die Warmherzigkeit und die Unterstützung, die für alles, was ich tue, lebenswichtig sind. Diese Unterstützung war niemals entscheidender als in der langen Zeit, die ich mit der Abfassung dieses Buches verbracht habe. Vor Jahren habe ich unseren Kindern Eli, David und Michal ein Buch gewidmet; dieses Buch hier ist unseren Enkeln gewidmet. Einleitung Einleitung Die meisten Historiker meiner Generation, die kurz vor Beginn der NSZeit geboren sind, erkennen explizit oder implizit: Wer sich in die Ereignisse jener Jahre hineingräbt, der entdeckt nicht nur eine kollektive Vergangenheit wie jede andere, sondern auch entscheidende Elemente seines eigenen Lebens. Aus dieser Einsicht ergibt sich keineswegs Einigkeit darüber, wie wir das NS-System definieren, wie wir seine innere Dynamik bestimmen, wie wir seinen zutiefst verbrecherischen Charakter wie auch seine äußerste Banalität angemessen wiedergeben oder wo und wie wir es schließlich in einem breiteren historischen Rahmen ansiedeln sollen.1 Doch trotz unserer Kontroversen teilen viele von uns, glaube ich, bei der Schilderung dieser Vergangenheit ein Gefühl persönlicher Betroffenheit, das unseren Forschungen eine besondere Dringlichkeit verleiht. Für die nächste Historikergeneration – und mittlerweile auch für die, die nach ihr kommt – stellen, wie für den größten Teil der Menschheit, Hitlers Reich, der Zweite Weltkrieg und das Schicksal der Juden Europas keine Erinnerung dar, an der sie teilhaben. Und doch scheint paradoxerweise die zentrale Stellung dieser Ereignisse im heutigen historischen Bewußtsein viel ausgeprägter zu sein als vor einigen Jahrzehnten. Tendenziell entwickeln sich die laufenden Debatten mit nicht nachlassender Heftigkeit, wenn Fakten in Frage gestellt und Beweise in Zweifel gezogen werden, wenn Interpretationen und Bemühungen um Gedenken in Widerspruch zueinander treten und wenn Aussagen über historische Verantwortung in regelmäßigen Abständen in die Öffentlichkeit getragen werden. Es könnte sein, daß in unserem Jahrhundert des Völkermords und der Massenkriminalität die Vernichtung der Juden Europas, abgesehen von ihrem spezifischen historischen Kontext, von vielen als der höchste Maßstab des Bösen wahrgenommen wird, an dem sich alle Grade des Bösen messen lassen. In diesen Debatten spielen die Historiker eine zentrale Rolle. Für meine Generation mag der Umstand, daß sie zu gleicher Zeit an der Erinnerung an diese Vergangenheit und an ihrer gegenwärtigen Wahrnehmung teilhat, eine beunruhigende Spannung hervorrufen; er kann jedoch auch Einsichten befördern, die auf anderem Wege nicht zugänglich wären. Eine historische Darstellung des Holocaust zu schaffen, in der sich die Praktiken der Täter, die Einstellungen der umgebenden Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem einzigen Rahmen behandeln lassen, Einleitung 12 Einleitung bleibt eine gewaltige Herausforderung. Einige der bekanntesten historischen Interpretationen dieser Ereignisse haben sich vor allem auf die Verfolgungs- und Todesmaschinerie der Nazis konzentriert und dabei der Gesellschaft im weiteren Sinne, dem allgemeineren europäischen und weltweiten Umfeld oder dem sich wandelnden Schicksal der Opfer selbst nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt; andere haben sich, und das geschah weniger häufig, deutlicher auf die Geschichte der Opfer konzentriert und nur eine eingeschränkte Analyse der NS-Politik und ihres Umfeldes geliefert.2 Die vorliegende Arbeit versucht einen Bericht zu geben, in dem zwar die politischen Maßnahmen der Nationalsozialisten das zentrale Element bilden, in dem aber zugleich die umgebende Welt sowie die Einstellungen, die Reaktionen und das Schicksal der Opfer einen untrennbaren Bestandteil dieser sich entfaltenden Geschichte bilden. In vielen Arbeiten sind die Opfer dadurch, daß man implizit von ihrer generellen Hoffnungslosigkeit und Passivität ausging oder von ihrer Unfähigkeit, den Lauf der zu ihrer Vernichtung führenden Ereignisse zu ändern, in ein statisches und abstraktes Element des historischen Hintergrundes verwandelt worden. Zu häufig vergißt man, daß sich die Einstellungen und die Politik der Nazis ohne Kenntnis vom Leben und nicht zuletzt von den Gefühlen der jüdischen Männer, Frauen und Kinder selbst nicht vollständig beurteilen lassen. Daher wird hier in jedem Stadium der Beschreibung der sich entfaltenden politischen Maßnahmen der Nationalsozialisten und der Einstellungen der Gesellschaften Deutschlands und Europas, wie sie sich auf die Entwicklung dieser Politik auswirkten, dem Schicksal, den Verhaltensweisen und bisweilen den Initiativen der Opfer große Bedeutung beigemessen. Schließlich sind ihre Stimmen unverzichtbar, wenn wir zu einem Verständnis für diese Vergangenheit gelangen wollen.3 Denn ihre Stimmen sind es, die das offenbaren, was man wußte und was man wissen konnte; ihre Stimmen waren die einzigen, die sowohl die Klarheit der Einsicht als auch die totale Blindheit von Menschen vermittelten, die mit einer völlig neuen und zutiefst entsetzlichen Realität konfrontiert waren. Die ständige Gegenwart der Opfer in diesem Buch ist nicht nur an und für sich historisch wesentlich, sie soll auch dazu dienen, das Handeln der Nationalsozialisten in eine richtige, umfassende Perspektive zu rücken. Es ist ziemlich leicht zu erkennen, welche Faktoren den historischen Gesamtrahmen prägten, in dem der von den Nationalsozialisten verübte Massenmord stattfand. Sie bestimmten die Methoden und das Ausmaß der «Endlösung»; sie trugen auch zum allgemeinen Klima der Zeit bei, das den Weg zu den Vernichtungen begünstigte. Es mag genügen, wenn ich hier die ideologische Radikalisierung erwähne – mit glühen- Einleitung 13 dem Nationalismus und rabiatem Anti-Marxismus (später Anti-Bolschewismus) als ihren wichtigsten Triebfedern –, welche in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hervortrat und nach dem Ersten Weltkrieg (und der russischen Revolution) ihren Höhepunkt erreichte; die neue Dimension massenweisen industriellen Mordens, die dieser Krieg eingeführt hatte; die zunehmende technische und bürokratische Kontrolle, wie sie von modernen Gesellschaften ausgeübt wird; und die anderen wichtigen Faktoren der Moderne selbst, die ein beherrschender Aspekt des Nationalsozialismus waren.4 Doch wie entscheidend diese Bedingungen auch dafür waren, den Boden für den Holocaust zu bereiten – und als solche sind sie ein untrennbarer Teil dieser Geschichte –, sie bilden dennoch nicht für sich allein die notwendige Kombination von Elementen, die den Gang der Ereignisse von der Verfolgung zur Vernichtung bestimmten. Im Hinblick auf diesen Prozeß habe ich die persönliche Rolle Hitlers und die Funktion seiner Ideologie bei der Genese und der Durchführung der antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes hervorgehoben. Dies sollte jedoch keineswegs als eine Rückkehr zu früheren simplistischen Interpretationen verstanden werden, mit ihrer ausschließlichen Betonung der Rolle (und der Verantwortung) des obersten Führers. Doch im Laufe der Zeit sind die gegenteiligen Interpretationen, so scheint mir, zu weit gegangen. Der Nationalsozialismus wurde nicht hauptsächlich von dem chaotischen Zusammenprall konkurrierender Feudalherrschaften in Bürokratie und Partei angetrieben, und die Planung seiner antijüdischen Politik wurde auch nicht vorwiegend den Kosten-Nutzen-Rechnungen von Technokraten überlassen.5 Bei all seinen wichtigen Entscheidungen war das Regime von Hitler abhängig. Insbesondere in seinem Verhältnis zu den Juden wurde Hitler von ideologischen Obsessionen getrieben, die alles andere als die kalkulierten Manöver eines Demagogen waren; das heißt, er führte einen ganz spezifischen Typ von völkischem Antisemitismus an seine extremsten und radikalsten Grenzen. Ich bezeichne diesen charakteristischen Aspekt seiner Weltanschauung als «Erlösungsantisemitismus»; dieser ist verschieden, wiewohl abgeleitet von anderen Varianten antijüdischen Hasses, die im gesamten christlichen Europa verbreitet waren, und er ist gleichfalls verschieden von den gewöhnlichen Arten des deutschen und europäischen rassischen Antisemitismus. Diese erlösende Dimension, diese Synthese aus einer mörderischen Wut und einem «idealistischen» Ziel, die der Führer der Nationalsozialisten und der harte Kern der Partei miteinander teilten, führte zu Hitlers schließlicher Entscheidung, die Juden zu vernichten.6 Aber Hitlers politisches Handeln war nicht allein von Ideologie geprägt, und die hier gebotene Interpretation geht der Interaktion zwi- 14 Einleitung schen dem Führer und dem System nach, in dem er agierte. Der NSFührer fällte seine Entscheidungen nicht unabhängig von den Organisationen der Partei und des Staates. Seine Initiativen waren vor allem in der Frühphase des Regimes nicht nur von seiner Weltanschauung geprägt, sondern auch von den Auswirkungen interner Zwänge, vom Gewicht bürokratischer Beschränkungen, bisweilen vom Einfluß der öffentlichen Meinung in Deutschland und sogar von den Reaktionen ausländischer Regierungen und der öffentlichen Meinung im Ausland.7 In welchem Umfang hatten die Partei und die Massen an Hitlers ideologischer Obsession teil? Unter der Parteielite war der «Erlösungs»antisemitismus eine verbreitete Erscheinung. Neuere Untersuchungen haben auch gezeigt, daß ein derart extremer Antisemitismus in den Behörden, die für die Durchführung der antijüdischen Politik eine zentrale Stellung einnehmen sollten – wie etwa Reinhard Heydrichs Sicherheitsdienst der SS (der SD) –, nicht ungewöhnlich war.8 Was die sogenannten Parteiradikalen angeht, so waren sie häufig von dem sozialen und ökonomischen Ressentiment motiviert, das seinen Ausdruck in extremen antijüdischen Initiativen fand. Mit anderen Worten, innerhalb der Partei und manchmal, wie wir sehen werden, auch außerhalb gab es Zentren eines kompromißlosen Antisemitismus, die über genügend Macht verfügten, um den Druck von Hitlers eigener Vehemenz weiterzugeben und zu verbreiten. Doch unter den traditionellen Eliten und in weiteren Kreisen der Bevölkerung lagen antijüdische Einstellungen mehr im Bereich eines stillschweigenden Einverständnisses oder einer mehr oder weniger ausgeprägten Willfährigkeit. Obwohl sich der größte Teil der deutschen Bevölkerung schon einige Zeit vor dem Kriege über die immer härteren Maßnahmen, die gegen die Juden ergriffen wurden, völlig im klaren war, gab es nur kleine Bereiche, in denen abweichende Meinungen vertreten wurden (und dies nahezu ausschließlich aus wirtschaftlichen und spezifischen religiösideologischen Gründen). Anscheinend hielt sich jedoch die Mehrheit der Deutschen, auch wenn sie zweifellos von verschiedenen Formen des traditionellen Antisemitismus beeinflußt war und die Absonderung der Juden ohne weiteres akzeptierte, von der weitverbreiteten Gewalttätigkeit gegen sie zurück und drang weder auf ihre Vertreibung aus dem Reich noch auf ihre physische Vernichtung. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion, als die totale Vernichtung beschlossen worden war, handelten (im Unterschied etwa zu den hochmotivierten SS-Einheiten) die Hunderttausende von «gewöhnlichen Deutschen», die sich aktiv an den Morden beteiligten, nicht anders als die ebenso zahlreichen und «gewöhnlichen» Österreicher, Rumänen, Ukrainer, Balten und sonstigen Europäer, welche zu bereitwilligsten Handlangern der Mordmaschine- Einleitung 15 rie wurden, die in ihrer Mitte im Gange war. Doch waren die deutschen und österreichischen Mörder, ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht, auch von der erbarmungslosen antijüdischen Propaganda des Regimes indoktriniert, die in jeden Winkel der Gesellschaft drang und deren Parolen sie, hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten, zumindest teilweise verinnerlicht hatten.9 Wenn ich betone, daß Hitler und seine Ideologie eine entscheidende Wirkung auf den Kurs des Regimes hatten, dann will ich damit keineswegs sagen, daß Auschwitz ein vorherbestimmtes Resultat von Hitlers Machtergreifung war. Die antijüdischen politischen Maßnahmen der dreißiger Jahre müssen in ihrem Rahmen verstanden werden, und selbst Hitlers mörderische Wut und die Tatsache, daß er den politischen Horizont nach den extremsten Optionen absuchte, lassen nicht darauf schließen, daß es in den Jahren vor dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion Planungen für eine totale Vernichtung gab. Doch zugleich kann kein Historiker das Ende des Weges vergessen. So wird hier auch das Schwergewicht auf diejenigen Elemente gelegt, von denen wir aus der Rückschau wissen, daß sie bei der Entwicklung zu dem verhängnisvollen Ergebnis eine Rolle gespielt haben. Die Geschichte NSDeutschlands sollte nicht nur aus der Perspektive der Kriegsjahre und ihrer Greuel geschrieben werden, aber der dunkle Schatten, den die Dinge werfen, die in dieser Zeit geschahen, verfinstert die Vorkriegsjahre so sehr, daß ein Historiker nicht so tun kann, als beeinflußten die späteren Ereignisse nicht die Gewichtung des Materials und die Einschätzung des Gesamtablaufs dieser Geschichte.10 Die vom NS- Regime begangenen Verbrechen waren weder ein bloßes Ergebnis eines zusammenhanglosen, unwillkürlichen und chaotischen Ansturms beziehungsloser Ereignisse noch eine vorherbestimmte Inszenierung eines dämonischen Drehbuchs; sie waren das Resultat konvergierender Faktoren, Ergebnis des Wechselspiels von Intentionen und unvorhergesehenen Ereignissen, von wahrnehmbaren Ursachen und Zufall. Allgemeine ideologische Zielsetzungen und taktische politische Entscheidungen verstärkten sich gegenseitig und blieben, wenn sich die Umstände änderten, immer für radikalere Schritte offen. Grundsätzlich folgt in dieser zweibändigen Darstellung die Erzählung dem chronologischen Ablauf der Ereignisse: ihrer Vorkriegsentwicklung in diesem, ihrer monströsen Zuspitzung während des Krieges im folgenden Band. Dieser zeitliche Gesamtrahmen hebt Kontinuitäten hervor und läßt den Kontext wesentlicher Veränderungen erkennen; er ermöglicht es auch, innerhalb einer festliegenden chronologischen Spanne die Erzählung zu verschieben. Derartige Verschiebungen ergeben sich aus den Veränderungen der Perspektive, die mein Ansatz verlangt, aber sie 16 Einleitung rühren auch von einer anderen Entscheidung her: völlig verschiedene Ebenen der Realität nebeneinanderzustellen – beispielsweise Diskussionen und Entscheidungen über antijüdische Politik auf höchster Ebene und daneben Szenen routinemäßiger Verfolgung –, und zwar mit dem Ziel, ein Gefühl der Entfremdung zu erzeugen, welches der Neigung entgegenwirkt, mittels nahtloser Erklärungen und standardisierter Wiedergaben diese bestimmte Vergangenheit zu «domestizieren» und ihre Wirkung abzuschwächen. Dieses Gefühl der Entfremdung scheint mir die Art und Weise zu reflektieren, in der die unglücklichen Opfer des Regimes zumindest während der dreißiger Jahre eine absurde und zugleich bedrohliche Realität wahrnahmen, eine durch und durch groteske und bedrückende Welt hinter der Fassade einer noch bedrückenderen Normalität. Von dem Augenblick an, in dem die Opfer von dem Prozeß verschlungen wurden, der zur «Endlösung» führte, begann – nach einer kurzen Spanne verstärkten Zusammenhalts – ihr kollektives Leben zu zerfallen. Bald darauf verschmolz diese kollektive Geschichte mit der Geschichte der Verwaltungs- und Mordmaßnahmen, die zu ihrer Vernichtung führten, und mit deren abstrakter statistischer Darstellung. Die einzige konkrete Geschichte, die sich bewahren läßt, bleibt diejenige, die auf persönlichen Erzählungen beruht. Vom Stadium des kollektiven Zerfalls bis zu dem des Abtransports und des Todes muß diese Geschichte, damit sie überhaupt geschrieben werden kann, als die zusammenhängende Erzählung individueller Schicksale dargestellt werden. Zwar spreche ich von meiner Historikergeneration und von den Einsichten, die uns wegen unserer besonderen Stellung in der Zeit potentiell zu Gebote stehen, aber ich kann das Argument nicht übergehen, daß eine persönliche emotionale Beteiligung an diesen Ereignissen einen rationalen Zugang zum Schreiben von Geschichte ausschließt. Man hat die «mythische Erinnerung» der Opfer dem «rationalen» Verstehen anderer gegenübergestellt. Gewiß möchte ich keine alten Debatten wieder aufleben lassen, sondern nur den Standpunkt vertreten, daß deutsche und jüdische Historiker ebenso wie diejenigen mit jedem beliebigen anderen Hintergrund ein gewisses Maß an «Übertragung» angesichts dieser Vergangenheit nicht vermeiden können.11 Eine derartige Beteiligung beeinflußt zwangsläufig das Schreiben von Geschichte. Doch das Maß an Objektivität, das der Historiker braucht, wird dadurch nicht ausgeschlossen, sofern ein hinreichendes Bewußtsein für die eigene Situation vorhanden ist. Möglicherweise ist es sogar schwieriger, das Gleichgewicht in der anderen Richtung zu bewahren; zwar könnte ein ständig selbstkritischer Blick die Auswirkungen der Subjektivität ver- Einleitung 17 ringern, aber er könnte auch zu anderen, nicht geringeren Risiken führen, nämlich zu übermäßiger Zurückhaltung und lähmender Vorsicht. Die Verfolgungs- und Vernichtungstaten der Nazis wurden von gewöhnlichen Menschen begangen, die in einer modernen Gesellschaft lebten und handelten, welche der unseren nicht unähnlich ist, in einer Gesellschaft, die sie ebenso hervorgebracht hatte wie die Methoden und Werkzeuge zur Durchführung ihrer Handlungen; die Ziele dieser Handlungen dagegen wurden von einem Regime, einer Ideologie und einer politischen Kultur formuliert, die alles andere als gewöhnlich waren. Diese Beziehung zwischen dem Ungewöhnlichen und dem Gewöhnlichen, die Verschmelzung der auf weite Strecken gemeinsamen mörderischen Potentialitäten der Welt, die auch die unsere ist, mit der eigentümlichen Besessenheit des apokalyptischen Feldzugs der Nationalsozialisten gegen den Todfeind, den Juden, verleiht der «Endlösung der Judenfrage» sowohl universelle Bedeutung als auch historische Besonderheit.