Dienstag, 28. Juni 2011 Seite 1 Beiträge zur Zeitgeschichte Von Dr. Klaus Rose Wie bayerische Kleinstädte Parla­ mentsgeschichte schreiben Gegenseitigen Respekt gibt es immer wieder, wie die gemeinsame Reise des Stadtrats von Vilshofen vor genau 30 Jahren zu „seinem MdB“ in Bonn bewies. „Wutbürger“ schnellte im vergangenen Jahr in die offiziellen Hitlisten der seriösen und der reißerischen Medien. Die Politik von denen da droben brauchte einen Dämpfer. Vor Ort wollte man alles anders regeln. Stuttgart 21, Olympia Garmisch oder Donauausbau traten erneut als Tummelplatz einer Art außerparlamentarischer Opposition hervor. Sind Alt-Parteien und Parlamente deshalb aus der Mode? Oder sind Parlamentarier bloß nicht mehr fest genug im Volk verwurzelt? Flächendeckende Repräsentanz der Parlamentarier? Das deutsche Wahlsystem geht bei der Direktwahl davon aus, dass die Einwohnerzahl in den Wahlkreisen nahezu identisch ist, abgesehen von einer gewissen Bandbreite. Logische Folge ist die flächendeckende 1981 reisten CSU, SPD und ÜW gemeinsam zu „ihrem MdB“ nach Bonn. A nders als im englischen Wahlsystem, das nur direkt vor Ort gewählte Volksvertreter im Unterhaus kennt, können im deutschen Wahlsystem Repräsentanten in die Parlamente einziehen, die zunächst völlig unbekannt sind und nur von ihren Parteien auf die jeweiligen Listen gesetzt werden. Das heißt nicht, dass diese als Parlamentarier weniger gute Arbeit leisten werden oder den momentanen Zeitgeist nicht ideal verkörpern könnten. Eine breitgefächerte Wahlkreisarbeit ist von ihnen jedoch seltener zu erwarten als im traditionellen Sinn. Gleichzeitige aktive Mitarbeit in kirchlichen Gemeinschaften, in Sportvereinen, Sozialverbänden, Berufsorganisationen oder Wirtschaftsgremien ist nicht automatisch gegeben. Das Hickhack der zahlreichen Fernseh-Talkshows löst die hautnahe Basisarbeit bei den Dorf, Haibach bei Straubing. Er Menschen ab. Ist dieser Trend ist nicht bloß vor Ort persönlich unumkehrbar? bekannt, sondern auch im weiDer Metropol-Gedanke ten Umfeld seines Wahlkreises und er verkörpert wie andere des Zukunftsrats Wer erinnert sich nicht an die in Niederbayern, beispielsweise Riesenaufregung, als in Bay- der langjährige Bundestagsabern ein gewisser „Zukunfts- geordnete Bartholomäus Kalb rat“ die ländlichen Regionen aus dem ebenfalls kleinen Dorf abzuschreiben drohte? „Ab- Forsthart bei Vilshofen an der schreiben“ nicht im Sinne eines Donau, den Typ des TausendPlagiats (was auch zu großer sassa, dem kein mühsamer Aufregung führte), sondern im Weg zu weit oder zu dreckig Sinne des Vernachlässigens, ist, wenn es um den Erfolg vor des Wegschiebens? Inzwischen Ort geht. Talkshow-Typen sind hat sogar ein bekannter nie- sie keine, aber Parlamentarier derbayerischer Abgeordneter zum Anfassen. Das ist der Vorder CSU, der Vorsitzende des teil, wenn man nicht in der anWirtschaftsausschusses im onymen Metropole lebt, in einer Deutschen Bundestag, Ernst Großstadt wie Berlin, Hamburg Hinsken, den Zukunftsrat nicht oder München. Die Bürgerinmehr verteufelt, sondern als nen und Bürger erleben „ihre Chance zur Neubesinnung ge- VertreterInnen“ mehr oder wesehen. „Sich auf die eigenen niger hautnah. Lokalzeitungen Beine stellen“, gilt jetzt wieder können diese wahre Nähe gut allerorten als Erkenntnis. Ernst transportieren. Da kommt es Hinsken wohnt in einem kleinen auch nicht auf die Partei an. Repräsentanz, wobei es natürlich passieren kann, dass zwei Abgeordnete jeweils am Rand ihrer Wahlkreise wohnen und deshalb nahe aneinander leben, während die Entfernung zum nächsten Abgeordneten beträchtlich sein kann. Ersteres war einst bei Barthl Kalb und dem Autor der Fall (Forsthart und Vilshofen). Wenn aber die andere Hälfte der Abgeordneten über Parteilisten ins jeweilige Parlament einzieht, ist von flächendeckender Verteilung bestimmt keine Rede mehr. Da kann es nämlich passieren, dass in einer Stadt eine massive Repräsentanz entsteht, wenn auch auf mehrere Parteien verteilt, und dass viele andere Orte leer ausgehen. Dem Gedanken volksnaher Demokratie wird so kaum Reverenz erwiesen. Die einen Bürger haben nämlich den Eindruck, dass sie „zu viele Abgeordnete“ haben (was zur Forderung der Parlamentsverkleinerung führt), und die anderen Bürger fühlen sich vernachlässigt, weil sie keinerlei Ansprechpartner haben. Bei allen bisherigen Reformgedanken kommt diese Konsequenz eher selten zur Geltung. Politischer Humus historisch bedingt? Abgesehen von Großstädten, die naturgemäß eine Vielzahl von bekannten oder weniger einflussreichen Parlamentariern aufzählen können, scheint es in Bayern eine Art „politischen Humus“ zu geben, dem immer wieder parlamentarische Talente entspringen. Aus dem schon erwähnten Dorf Haibach schwangen sich in den letzten dreißig Jahren drei Menschen in höhere parlamentarische Sphären, nämlich Alois Rainer (MdB 1965-1983), dessen Tochter Gerda Hasselfeldt (MdB seit 1987) und Ernst Hinsken (MdB seit 1980). Auch aus Adelssitzen können mehrere „Volksvertreter“ entspringen (beispielsweise Guttenberg, Großvater und Enkel). Da größere Städte mehr Delegierte oder Wähler stellen, wie in Landshut oder Passau, kommt es auch dort nicht selten zur Häufung von Abgeordneten. Deren Ziel ist es sogar, den jeweiligen Wahlkreisabgeordneten in den eigenen Mauern zu haben und nicht „draußen in der Provinz“ zu verlieren. Trotzdem haben nicht bloß diese Mittelstädte ihren politischen Humus, sondern auch manche Kleinstädte. Dazu gehört, weit mehr als andere, Vilshofen an der Donau. Schon im alten Reichstag zu Berlin wirkte ein Bürger aus der Stadt, wenn auch andernorts gewählt. Im Deutschen Bundestag war es der Autor (1977-2005) und im neueren Bayerischen Landtag waren es Ludwig Ramelsberger (CSU, 1953-1965), Alfons Gerstl (SPD, 1962-1972), der Autor (CSU, 1974-1977) und Franz Meyer (CSU, 1990-2008). Die örtliche Bevölkerung dankte es mit guten Wahlergebnissen. Gibt es also gute Beispiele, akzeptierte Vorbilder für einen volksnahen Parlamentarismus? Es wäre zu wünschen, denn die Idee der geordneten Mitsprache des Volks in der Politik dient eher dem gesitteten Zusammenleben als der sogenannte Mob auf der Straße. Der bleibt vor allem anonym, trägt keine Verantwortung, zieht sogar von Bühne zur Bühne. Das Wort „gesittet“ mag altmodisch klingen. Für „Wertkonservative“ ist es allemal hochmodern.