SchweizNachrichten 9 16. OKTOBER 2011 Kopftuchstreit mit der Migros Radikale Muslime werfen dem Grossverteiler in einem Video Diskriminierung vor «Musik auf der Karl-JohannStrasse» von Edvard Munch, «Malven» von Vincent van Gogh FOTO (L): PRO LITTERIS Notlage ausgenutzt Das Kunsthaus Zürich hortet Kunst, die verfolgte Juden einst verkaufen mussten VON STEFAN KOLDEHOFF ZÜRICH Das Kunsthaus Zürich besitzt weitere Bilder – von Monet, Munch und Van Gogh –, die von ihren jüdischen Besitzern während der Nazizeit mutmasslich unter Zwang verkauft wurden, wie Recherchen der SonntagsZeitung zeigen. Vergangene Woche hatte die «Mittelland Zeitung» publik gemacht, dass mit dem Gemälde «Madame La Suire» von Albert von Keller nachweislich erstmals Raubkunst in den Besitz des Museums gelangte. Beim Monet handelt es sich um ein Werk, das der aus Breslau stammende jüdische Unternehmer Carl Sachs unter dem Druck des Exils 1939 ans Kunsthaus verkaufte – es kannte seine Zwangslage. Im Dezember 1940 musste der ebenfalls aus Deutschland geflohene jüdische Kunsthistoriker Glaser dem Museum sein berühmtes Edvard-Munch-Gemälde «Musik auf der Karl-Johann-Strasse» anbieten – für 15 000 Franken, der Hälfte des damaligen Marktpreises. Das Protokoll der Sammlungskommission vom Februar 1941 hält dazu fest: «Der Direktor glaubt, dass in persönlichen Ver- handlungen mit dem auf der Abreise nach Amerika begriffenen Eigentümer der Preis sich für das Kunsthaus noch etwas günstiger festsetzen lässt, er hofft auf eine Reduktion doch bis auf Fr. 12 000.» Auch Glasers Erben hoffen, dass ihre Ansprüche gemäss den internationalen Vereinbarungen anerkannt werden. Mehrere Schweizer Museen machten kaum Abklärungen Schon vor mehreren Jahren wandte sich der Marburger Rechtsanwalt Markus Stötzel wegen eines Van Gogh aus der Sammlung der Schauspielerin Tilla Durieux ans Kunsthaus. Mit ihrem jüdischen Mann, dem Unternehmer Ludwig Katzenellenbogen, war sie in die Schweiz geflohen. Nach Ablauf der Aufenthaltsbewilligung reisten sie nach Kroatien. Ihr Mann wurde von der Gestapo verhaftet; 1944 starb er im KZ Sachsenhausen. Das VanGogh-Gemälde «Malven» hatte Durieux 1937 über einen Händler direkt ans Kunsthaus verkauft – um die weitere Flucht zu finanzieren. Dass es sich dabei nach der 1998 verabschiedeten Washingtoner Erklärung und dem Abschlussbericht der Bergier- Kommission um einen Zwangsverkauf handelte, wollte man in Zürich nicht sehen. Kunsthaus-Kurator Christian Klemm schrieb 2003 an Stötzel, man habe recherchiert, dass Tilla Durieux «nach ihrem eigenen Belieben auf dem internationalen Markt zu allgemein handelsüblichen Bedingungen und Preisen verkauft» habe. «Selbst eine von uns angebotene und gewünschte Vermittlung durch die Anlaufstelle Raubkunst des Bundesamtes für Kultur», erinnert sich Stötzel, «wurde seitens Zürichs damals verweigert.» Das steht im Gegensatz zu einer Erklärung, die im November 1998 der Direktor des Kunsthauses Zürich unterzeichnete. Man sei «soweit irgendmöglich um Abklärung und Aufklärung in Bezug auf Kulturgüter, die während der nationalsozialistischen Herrschaft des Zweiten Weltkriegs geraubt wurden, bemüht». Von unter NS-Zwang verkaufter Kunst – die andere Staaten längst ganz selbstverständlich mit einbeziehen – ist darin freilich nicht die Rede. Der Historiker Thomas Buomberger stellt fest, dass viele Schweizer Museen die Herkunft der Werke nicht oder ungenügend abklären. Im Kunsthaus war man nach der Bekanntgabe bemüht, den ersten Fall von Raubkunst an den eigenen Wänden möglichst tief zu hängen. «1939 Alfred Sommerguth von den Nationalsozialisten entzogen», wird künftig neben dem Ölbild zu lesen sein, und dann der versöhnliche Hinweis: «Geschenk seiner Erben und von Frau Hannelore Müller 2010». Statt das Bild, von dem sich der jüdische Unternehmer Sommerguth auf Druck der Nazis trennen musste, zurückzufordern, waren die Erben bereit, es in Zürich zu lassen. Weitere hängige Anfragen «sind substanzlos» Klemm bestätigt, dass zwei weitere Verdachtsfälle – ebenfalls Werke von Albert von Keller – untersucht werden. Zu weiteren hängigen Anfragen, dazu gehören auch der Munch und der Van Gogh, sagt der Kurator schon jetzt: «Sie sind substanzlos.». Die Raubkunstfälle drohen dennoch der mit Spannung erwarteten Ausstellung der Privatsammlung Nahmad (siehe Seite 43) die Aufmerksamkeit zu stehlen. BERN Die Migros hat dem Islamischen Zentralrat der Schweiz (IZRS) einen scharfen Brief geschickt. Die Migros verlangt vom IZRS, dass er «umgehend» den orangen Schriftzug des Grossverteilers aus einem Kurzfilm entferne oder unkenntlich mache. Das Video trägt den Titel «Das Kopftuchmädchen» und ist auf der IZRS-Website, auf Youtube und Facebook zu sehen. Die Geschichte: Eine junge Frau mit Kopftuch wird auf der Strasse abschätzig angeschaut und angepöbelt, zu Hause öffnet sie einen Brief, auf dem das Migros-Logo prangt. Der Text ist nur teilweise lesbar, doch für den Betrachter wird klar: Der Frau wird gekündigt, oder sie wird nicht eingestellt. Weil sie ein Kopftuch trägt. Migros-Sprecherin Monika Weibel reagiert: «Wenn der IZRS zur eigenen medialen Profilierung falsche, irreführende und unlautere Behauptungen aufstellt, so hat er sich dafür zu verantworten.» Die Migros gehe davon aus, der Islamische Zentralrat werde «nicht wider besseres Wissen an seiner filmischen Darstellung festhalten und diese umgehend berichtigen». IZRS-Sprecher Qaasim Illi sagt, das Schreiben des Migros-Rechtsdienstes sei eingegangen. «Frühestens morgen Montag wird der Vorstand über das Anliegen befinden.» Sollte der IZRS nicht einlenken, könnte die Migros juristisch gegen den Verein vorgehen – über Fristen oder mögliche Schritte schweigt die Migros. Sprecherin Weibel betont, die Vielfalt von Angestellten aus 145 Nationen werde «in einem toleranten und diskriminierungsfreien Betriebsklima erfolgreich gelebt». Bilder aus dem IZRS-Video: Die Migros will, dass der Islamische Zentralrat der Schweiz das Logo umgehend entfernt Der im Film dargestellte Fall ist fiktiv. IZRS-Sprecher Illi sagt, dahinter stünden Fakten. Vergangenes Jahr habe eine Muslima in der Migros-Filiale Volketswil die Stelle verloren, weil sie ein Kopftuch tragen wollte. Coop, Yendi und andere Läden wollten sie deswegen nicht anstellen. Aktuell gebe es auch Konflikte mit Migros-Filialen in der Zentralschweiz und der Ostschweiz. «So geht es etlichen muslimischen Frauen. Sie werden angepöbelt, ausgegrenzt und landen auf dem RAV», sagt Illi. Anstelle des Migros-Logos könnte auch jenes von Coop oder Fielmann stehen. Aber: «Es ist schon so, dass wir überdurchschnittlich viele Kopftuchstreitfälle mit der Migros haben.» Mit dem Film mobilisiert der IZRS für den «Tag gegen Islamophobie und Rassismus» in zwei Wochen auf dem Bundesplatz. Dort spielt auch die Schlussszene des Kurzfilms: Eine schwarz verschleierte Frau nimmt die scheinbar diskriminierte Muslima an der Hand und schreitet davon. Dann ist das Logo der Kundgebung zu sehen: ein Stern auf gelbem Grund, der an den Judenstern im Dritten Reich erinnert. DANIEL GLAUS Volksinitiativen taugen beschränkt als Wahlkampfschlager Die Grünen mussten bei ihrer Ausstiegsinitiative die SP um Hilfe fragen BERN Während die Wahlkampfinitiative «Bürokratie-Stopp» der FDP floppt, haben die CVP mit ihrer Familieninitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» und die Grünen mit ihrer Atomausstiegsinitiative mehr Erfolg und können im Wahlkampf wesentlich besser mobilisieren. Die FDP hat in einem Jahr erst 65 000 Unterschriften gesammelt; CVP und Grüne in fünf Monaten 50 000. Bei der CVP ist man zufrieden und spricht von einem wichtigen Faktor im Wahlkampf. Experten sprechen bei durchschnittlich 10 000 Unterschriften pro Monat von einem Erfolg. Die Grünen haben indes mit mehr gerechnet und suchen für ihre Ausstiegsinitiative jetzt Hilfe bei der politischen Konkurrenz: Die Umweltpartei hat die SP für eine Zusammenarbeit bei ihrer «Volksinitiative für den geordneten Ausstieg», mit der das letzte AKW spätestens 2029 vom Netz soll, angefragt. «Fürs Initiativkomitee fragten wir schon alle Parteien ausser die SVP an», bestätigt Grünen-Vizepräsidentin Aline Trede. Dass eine Partei während der Sammelphase die Konkurrenz einspannen will, ist unüblich. Die Grünen hatten das Begehren im April nach dem Atomunglück von Fukushima in Rekordzeit ausgearbeitet. Doch CVP-Bundesrätin Doris Leuthard hat im Sommer Wahlkampfinitiativen der Parteien PARTEI SAMMELSTART OFFIZIELLER TITEL DES BEGEHRENS ZIEL DER VOLKSINITIATIVE FDP 12.10.2010 «Bürokratie-Stopp!» Gesetze sollen einfach und effizient angewandt werden 65 000 SP 01.02.2011 «Für eine öffentliche Krankenkasse» Eine Einheitskasse statt viele private Krankenkassen 85 000 CVP 03.05.2011 «Gegen die Heiratsstrafe» / «Familien stärken!» Zwillingsinitiativen für die steuerliche Entlastung von Familien 50 000 Grüne 17.05.2011 «Atomausstiegsinitiative» Ausstieg aus der Atomenergie bis spätestens 2029 50 000 Die Sammelfrist für Initiativen beträgt 18 Monate. SVP und Grünliberale wollten sich zum Sammelstand ihrer Initiativen nicht äussern. BISHER GESAMMELTE UNTERSCHRIFTEN mit ihrem Ausstiegsentscheid, den der Ständerat bestätigte, der Kampagne den Wind aus den Segeln genommen. Dazu kommt ein Abschwellen des «FukushimaEffekts», was Trede aber relativiert: «Das Verpuffen des Effekts war in einer Zwischenphase spürbar.» Nun laufe die Unterschriftensammlung «extrem». Dennoch: Am 28. September erhielten rund 70 Umweltvertreter ein Mail, in dem nochmals Druck gemacht wurde: «Es fehlen noch gut 75 000 Unterschriften.» In der Regel sind für eine Volksinitiative 120 000 Unterschriften nötig, um genügend gültige zu haben. SERAINA KOBLER, REZA RAFI, DENIS VON BURG