charta des Zusammenlebens Arbeitskreis zur Förderung des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen in Nürnberg An der Erarbeitung der Charta waren in den drei Arbeitsgruppen folgende Personen beteiligt: RECHT UND RELIGION Wolfgang Butz Dr. Hartmut Frommer Cüneyt Gençer Hans-Martin Gloël Kuno Hauck Jürgen Kaufmann Ilhan Postaloğlu BILDUNG UND ERZIEHUNG Yesna Akacha Sevgani Asani Ulrike Bracks Serpil Dursun Günter Ebert Simone Fahmy Trudi Götz Heike Hein Renate Holley-Rostock Songül Karakaya Elke Leo Dr. Christine Meyer Nicole Möhle Marie-Luise Sommer Ralf Sommer Ute Strait-Aouichi Adnan Sunbol Annika Trüb Dr. Regina Trüb Loredana Wegh SEELSORGE UND SOZIALES Gerda Brenner-Qureshi Barbara Hauck Design / Illustration: David Benski [email protected] v.i.S.d.P.: Hans-Martin Gloël, Brücke – Köprü, Leonhardstr. 13, 90443 Nürnberg GRUßWORT DES OBERBÜRGERMEISTERS DER STADT NÜRNBERG Die Stadt Nürnberg hat in ihren Leitlinien kommunaler Integrationspoltik u.a. festgehalten, dass Integration keine einseitige Eingliederungsleistung der Menschen mit Migrationshintergrund ist, sondern allen in der Stadt lebenden Menschen Annährungsprozesse abverlangt. Dabei kommt dem interkulturellen Dialog eine zentrale Rolle zu. In diesem Sinne ist die hier vorgelegte „Charta des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen in Nürnberg“ die praktische und optimale Umsetzung der Leitlinien städtischer Integrationspolitik: In einem Prozess von zweieinhalb Jahren haben Nürnbergerinnen und Nürnberger mit den verschiedensten Hintergründen, sei es aus Kirchengemeinden, Moscheevereinen, von freien Trägern, politische Parteien oder auch engagierte Einzelpersonen, die nun vorliegende Charta erarbeitet. Dabei wurden in vielen Diskussionen die verschiedenen Standpunkte abgewogen, die „Schmerzgrenzen“ der jeweils „anderen“ Meinung, aber auch „Aha“-Erlebnisse erfahren und schließlich ein gemeinsames Papier verabschiedet. Allein schon dieser Diskussionsprozess ist eine Bereicherung unserer städtischen Integrationsbemühungen. Nun wird es darum gehen, diese Charta in die Stadtgesellschaft hineinzutragen und sie als Orientierungshilfe für entsprechende Fragestellungen und Konfliktfälle zu nutzen. Das Ziel der Charta, nämlich den Prozess des Zusammenlebens in Nürnberg konstruktiv weiterzuführen und ständig zu verbessern, kann von Seiten der Stadt nur begrüßt werden. Ich möchte allen bei der Erarbeitung der Charta Beteiligten danken und hoffe, dass sie auch weiterhin ihr Engagement und „Herzblut“ in unsere Stadtgesellschaft miteinbringen werden. Herzlichst Ihr Dr. Ulrich Maly 4/20 GELEITWORT DES SCHIRMHERRN Unsere Erdkugel dreht sich immer schneller, so empfinden viele Menschen die tief greifenden Veränderungen, die in immer kürzeren Abständen über sie hereinbrechen: Globalität und weltweite Vernetzung, weltumspannende Finanz- und Wirtschaftskrisen, Umweltprobleme und Klimaerwärmung. Und das sind nur einige der gewaltigen Herausforderungen, die es heute und morgen zu bestehen gilt. Dazu kommen die Veränderungen im engeren Umfeld. Das bürgerschaftliche Leben wird spürbar bunter und vielfältiger. Der Zuzug von Menschen aus den anderen Bundesländern, aus den EU-Staaten, aus ganz Europa und von anderen Kontinenten beeinf lusst in zunehmendem Maße den Alltag in den Kommunen. Diese Menschen sind nicht mit leeren Händen gekommen, sie bringen ihre Lebensgeschichten, beruf liche Erfahrungen sowie Traditionen und Bräuche ihrer Heimat mit. Dies wird vom Großteil der Bevölkerung durchaus als Bereicherung angesehen. Neue Herausforderungen entstehen aber oftmals dort, wo neu hinzukommende Menschen auch ihre fest gefügten religiösen Ausdrucksformen und Glaubensüberzeugungen in das gesellschaftliche Leben eines Landes einbringen, das in religiöser Hinsicht seit nahezu zwei Jahrtausenden wesentlich vom christlichen Glauben und seinen Traditionen geprägt ist. Dabei ist eines ganz klar. Wir leben in einem säkularen Staat, dessen Verfassung keinen Zweifel am Recht jedes Einzelnen aufkommen lässt, sein religiöses Leben selbst zu bestimmen. Doch das Verfassungspostulat muss durch eine entsprechende Umsetzung im täglichen Leben unseres Staates erst seine Verwirklichung finden. Die Voraussetzungen dafür, dass dies gelingen kann, sind eigentlich nicht schlecht. Denn die Einsicht in die Notwendigkeit einer von allen Seiten praktizierten Bereitschaft zur Toleranz und zum Aufeinanderzugehen ist in den letzten Jahren trotz immer wieder auftretender Irritationen spürbar gewachsen. Dazu gibt es auch keine Alternative und kein Zurück in die gesellschaftlichen Verhältnisse früherer Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Eine solidarische Gesellschaft anzusteuern, die – ohne Ansehen der unterschiedlichen religiösen oder nichtreligiösen Überzeugungen – gemeinsam die schwierigen Herausforderungen der Zukunft anpackt, Menschenwürde garantiert, Eigenverantwortung fördert und soziale Sicherheit gewährleistet, dies kann und muss unser aller Bestreben sein. Jeder andere Weg führt unabwendbar ins Verderben, wie zahllose Beispiele aus der Geschichte uns gelehrt haben. Glücklicherweise sind aus diesen schmerzlichen Erfahrungen nicht nur in der Politik, sondern auch in den Kirchen die richtigen Konsequenzen gezogen worden. Beide christlichen Konfessionen bekennen sich eindeutig zum Recht auf Teilhabe anderer Religionen am gesellschaftlichen Leben in unserem Land und rufen zum konstruktiven Miteinander auf. Dies beinhaltet auch, dass die Möglichkeit würdiger Religionsausübung für Muslime gegeben sein muss – gegebenenfalls durch die Errichtung neuer Moscheen. Ebenso gehört dazu die Ausbildung von islamischen Religionslehrern und Religionslehrerinnen an den Universitäten und islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland. 5/20 Man mag dies alles für selbstverständlich halten. Dennoch verdienen diese bemerkenswerten Aussagen hohe Anerkennung und Würdigung. Denn nicht immer und überall war in der Vergangenheit eine so klare und verantwortungsvolle Haltung anzutreffen. Auch von den Sprechern und Sprecherinnen der Moscheevereine und von Repräsentanten islamischer Organisationen wurde wiederholt betont, wie wichtig Einfühlungsvermögen, Integrationsbereitschaft und uneingeschränkte Achtung vor den in der Verfassung verankerten Werten gerade auch von islamischer Seite ist. Dies verdient ebenso anerkennend hervorgehoben zu werden. Und so kommt nun alles darauf an, in der alltäglichen Praxis das zu verwirklichen, was in programmatischen Leitsätzen und Denkschriften treff lich vorgegeben ist. Die Erfahrung lehrt aber, dass hehre Grundsätze oft in Bedrängnis geraten und an unterschiedlichen Auslegungen zu scheitern drohen, sobald es im Einzelfall konkret wird. Ein Regelwerk in Form einer Charta kann dann eine hilfreiche Handreichung darstellen, die Orientierung gibt und in strittigen Fragen die Verständigung fördert. In den zehn Jahren, in denen ich als Schirmherr die Beratungen des Arbeitskreises zu begleiten die Ehre hatte, sind vielfältige Erfahrungen und Einsichten kompetenter Teilnehmer zusammengef lossen, immer wieder erörtert und abgewogen worden und schließlich in den Entschluss gemündet, eine Charta zu erarbeiten. Ich bin der Überzeugung, dass sich so viel bewundernswertes Engagement auszahlen und einen beachtlichen Beitrag leisten wird zu einem besseren Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in Nürnberg. Dr. Peter Schönlein Altoberbürgermeister der Stadt Nürnberg 6/20 Nürnberg, im Mai 2010 Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Menschen unterschiedlicher Nationen, Religionen und Herkunft leben in Nürnberg. Für die meisten von ihnen ist diese Stadt längst zur Heimat geworden. Durch ihr Leben und ihre Arbeit haben sie das soziale und kulturelle Leben hier in starkem Maße mitgeprägt. Nach wie vor stellen die Mitglieder der großen christlichen Konfessionen den Hauptteil der Bevölkerung. Insgesamt aber haben sich die Zahlen in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert: Von rund 500.000 Einwohnern sind jeweils ein Drittel evangelisch bzw. katholisch; vom verbleibenden Drittel, einer nicht geringen Anzahl von Bekenntnislosen und Anhängern weiterer Religionen, stellen die über 40.000 Muslime die stärkste religiöse Gruppe dar. Kein Zweifel: Nürnberg ist durch diese Entwicklung bunter und vielfältiger geworden. Mancherorts hat dies aber auch neue Herausforderungen mit sich gebracht: So entstehen Konflikte meistens dort, wo ein Mangel an Verständnis gegenüber den Rechten und der Lebensweise der jeweils Anderen herrscht. Dies trifft nicht selten Angehörige anderer Religionen, hier wiederum vor allem die muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die ihren Glauben in dieser Stadt leben und bekennen möchten. Vor diesem Hintergrund entstand der Wunsch, eine „Charta des Zusammenlebens“ zu entwickeln. In einem Prozess von zweieinhalb Jahren haben Menschen aus Kirchengemeinden, Moscheevereinen, freien Trägern, politischen Parteien sowie engagierte Einzelpersonen im Rahmen des Arbeitskreises zur Förderung des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen diese Charta erarbeitet. Sie versteht sich keineswegs als abgeschlossen. Vielmehr soll sie offen sein für weitere Entwicklungen und als Anregung für das Zusammenleben auch mit anderen Religionsgemeinschaften in der Stadt dienen. Inhaltlich ist sie in drei Schwerpunkte unterteilt: Recht und Religion; Bildung und Erziehung; Seelsorge und Soziales. Diese Charta soll eine Orientierungshilfe für die Auseinandersetzung mit und bei entsprechenden Fragen und Konfliktfällen sein. Ihr Ziel ist es, dabei zu helfen, den Prozess des Zusammenlebens konstruktiv weiterzuführen und ständig zuverbessern. Der Moderatorenkreis: Wolfgang Butz, Hans-Martin Gloël, Jürgen Kaufmann, Ali-Nihat Koç, Ilhan Postaloğlu 7/ 2 0 Recht und Religion in der Stadt Nürnberg Recht und Religion 8/20 1. Vorbemerkung 2. Trägerschaft von Bildungseinrichtungen Der freiheitlich-demokratische Staat der Bundesrepublik Deutschland ist weltanschaulich neutral, jedoch nicht wertneutral. Staat und Glaubensgemeinschaften können sich gegenseitig positiv in die Pflicht nehmen. Für die Kirchen sind diese Fragen im Rahmen des Staatskirchenrechts geregelt. Aufgrund der zunehmend multireligiösen Situation in Deutschland ist inzwischen häufig vom „Religionsverfassungsrecht“ die Rede. Dies macht deutlich, dass alle Religionsgemeinschaften gleichberechtigt sind und dementsprechend in ihrem Verhältnis zur Stadt behandelt werden müssen (GG Art. 3,3 und Art. 4, 1 und 2). Der Vorrang der säkularen Verfassung vor religiösen Selbstverständnissen ist selbstverständlich. Das hohe Gut der Religionsfreiheit und die positive Beziehung von Staat und Religionsgemeinschaften drückt sich in einzelnen Fällen im Rahmen der Staatskirchenverträge / des Religionsverfassungsrechts auch durch Ausnahmeregelungen aus: Diese Fälle sind dem religiösen Selbstverständnis geschuldet – sie stellen damit auch ein Bekenntnis des Staates zur Pluralität in der Gesellschaft dar. Die mittlerweile hohe Zahl von Mitbürgerinnen und Mitbürgern islamischen Glaubens in Deutschland stellt Bund, Länder und Kommunen vor neue Herausforderungen: Sowohl politisch als auch rechtlich und strukturell ist zu klären, wie sich die muslimische Religionsausübung im Sinn der bereits genannten positiven Beziehung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft fruchtbar integrieren lässt. Religion hat eine identitätsstiftende Funktion. Menschen, die in ihrer religiösen und kulturellen Identität gefestigt und reflektiert sind, haben in aller Regel einen positiven Bezug zu Menschen anderer Religionen und Kulturen. Insofern kommt der religiösen Erziehung in Bildungseinrichtungen eine hohe integrative Funktion zu. Dabei müssen sich die Vielfalt der Gesellschaft und die genuinen Interessen von Religionsgemeinschaften sowohl in der Ausgestaltung der pädagogischen Konzepte der Kindertageseinrichtungen als auch in deren Trägern widerspiegeln dürfen. Durch ein eigenes Angebot an Bildungseinrichtungen machen Musliminnen und Muslime in Deutschland deutlich, dass sie sich in der Pflicht sehen, diese Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Land und Kommune sollten ihnen daher auch den notwendigen Rahmen zur Verfügung stellen, in dem sie sich aktiv in Bildungsfragen engagieren können. Eine mögliche Trägerschaft von Bildungseinrichtungen durch religiöse Gemeinschaften darf dabei nicht ausschließlich von einer integrativen Funktion der jeweiligen Einrichtung abhängig sein. Der integrative Ansatz, nach dem gegenseitige Achtung und Verständnis weiterentwickelt werden, sollte gleichwohl selbstverständliche Richtschnur sein. Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher und der Lehrerinnen und Lehrer muss an deutschen Universitäten bzw. Fachhochschulen stattfinden. Der Lehrplan muss staatlich genehmigt und seine Umsetzung entsprechend kontrolliert werden. Den Bildungseinrichtungen in Trägerschaft von Religionsgemeinschaften empfehlen wir, Strukturen zu schaffen, die ihre Offenheit gegenüber anders religiösen sowie nicht religiösen Menschen deutlich machen: durch deren Einbindung als Teilnehmende (Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler), ebenso durch einen festen regelmäßigen Austausch mit Einrichtungen anderer Prägung. 9/20 3. Kindertagesstätten Kindertagesstätten, die in ihrer ethnischen und religiösen Ausrichtung primär nur für Kinder einer Gruppe offen sind, halten wir nicht für integrationsfördernd. Dies berührt nicht eine mögliche konzeptionelle Ausrichtung im Sinn einer identitätsstiftenden Funktion von Religion, die unserer Meinung nach ja an sich die Integration und den Respekt vor anderen fördert. Wir empfehlen daher, eine muslimische Gemeinschaft / muslimische Gemeinschaften in die Trägerschaft der Kindertagesstätten miteinzubeziehen bzw. ihnen diese Trägerschaft selbstständig zu ermöglichen – entsprechend den ohnehin laut Gesetz vorhandenen Möglichkeiten. In bestimmten Fällen wird zu prüfen sein, ob eine gemeinsame Trägerschaft, beispielsweise eines kirchlichen und eines islamischen Trägers, rechtlich möglich und inhaltlich sinnvoll ist. Unabhängig von der Trägerschaft sind dabei integrative Strukturen gegenseitiger Achtung und Verständigung (weiter) zu entwickeln. 4. Schulen Muslimische Kinder dürfen in den Schulen keinerlei Diskriminierung erfahren. Der Religionsunterricht für Muslime ist entsprechend dem Religionsunterricht für christliche Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. 10/20 5. Religiöse Räume / Gebetsräume / Moscheen Seit einiger Zeit existiert ein simultan benutzter Gebetsraum am Flughafen. Die evangelischen und die katholischen Dekane in Nürnberg haben sich positiv zur Möglichkeit eines Gebetsraumes, eines Raumes der Stille im Nürnberger Hauptbahnhof geäußert und würden einen entsprechenden Antrag unterstützen. Er muss für alle Religionen zugänglich und entsprechend gestaltet sein. Es bietet sich an, dass auch andere öffentliche Räume, die der religiösen Besinnung dienen (z.B. in Krankenhäusern) allen Religionen zugänglich und entsprechend gestaltet sind. Aufgrund der gleichen Rechte der Religionsgemeinschaften müssen Musliminnen und Muslime grundsätzlich die Möglichkeit haben, in der Stadt repräsentative Orte des Gebets errichten zu können, die auch äußerlich ihren religiösen Vorstellungen entsprechen. Vor konkreten Planungen empfehlen wir jedoch dringend einen breit angelegten Prozess der Information und Diskussion, in den Vertreter von Kommune, Kirchen, Presse sowie weitere Akteure des öffentlichen Lebens aktiv mit einbezogen werden. 11/20 6. Feiertage Auf die Feiertage aller Religionen ist in angemessener Weise Rücksicht zu nehmen und das Verständnis zu fördern. 7. Friedhof Wenn eine Muslimin / ein Muslim sich dafür entscheidet, sich in Deutschland bestatten zu lassen, dann kann dies durchaus als ein Zeichen der Identifikation mit Deutschland gesehen werden. Das islamische Selbstverständnis legt dabei bestimmte Bestattungsweisen nahe. Die Regelung des Bestattungswesens ist kommunale Angelegenheit. Manche Kommunen in Deutschland tragen dem islamischen Selbstverständnis durch entsprechende Genehmigungen bereits Rechnung: Vorrichtung für die Totenwaschung, Aufhebung des Sargzwangs, Ausrichtung der Gräber in Richtung Mekka, ewiges Ruherecht. Auf dem Südfriedhof in Nürnberg besteht bereits ein islamisches Gräberfeld, das noch nicht alle genannten Voraussetzungen erfüllt. Weitere Anpassungen sollten überprüft werden. Erziehung und Bildung 12/20 1. Vorbemerkung Toleranz und Akzeptanz gegenüber Menschen mit anderen Religionen und Weltanschauungen sind eine Grundvoraussetzung dafür, dass in unserer Gesellschaft ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben gelingen kann. Deshalb soll eine Bildung und Erziehung im Geiste der Toleranz in allen Bildungseinrichtungen und für alle Altersklassen zum festen Bestandteil eines Bildungskonzepts werden. Man kann nicht davon ausgehen, dass eine solche Toleranz einfach dadurch entsteht, dass Kinder im Kindergarten oder Schülerinnen und Schüler verschiedener Religionen nebeneinander in der Schule sitzen. Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Schülerinnen und Schüler müssen besser geschult werden, damit das Zusammenleben gelingen kann. Dies muss nicht nur im Sinne von chancengerechter Bildung, unabhängig von der Religion, umgesetzt werden, sondern auch im Sinne einer demokratischen Erziehung. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und Bildung gilt für jeden uneingeschränkt. Es kann nur verwirklicht werden, wenn alle in ihrer Individualität wahrgenommen werden. Gerade in den Bereichen Schule und Bildung ist es wichtig, diese Akzeptanz zu fördern. Grundlegende Empfehlungen und Forderungen: • Interreligiöse, -kulturelle und soziale Kompetenzen bei Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern sollen verbessert werden. • Auf religiöse Feiertage und Handlungen im Kindergarten und im Schulalltag muss im Sinne der Religionsfreiheit Rücksicht genommen werden. Zur Förderung des interreligiösen Dialogs sollen diese Feiertage für alle Schülerinnen und Schüler thematisiert werden. • Glaubensbedingte Bekleidungsund Speisevorschriften sollen respektiert werden. Muslimische Gemeinden und Migrantenorganisationen sollen stärker eingebunden und die Zusammenarbeit mit ihnen gesucht werden. • Kein Mensch darf aufgrund seiner Religion oder Herkunft bevorzugt oder benachteiligt werden. Diesen Grundsatz konsequent zu fördern, soll auch Aufgabe der kulturellen Fachberatung in den Bildungseinrichtungen sein. • Es muss islamischer Religionsunterricht nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 3 GG ermöglicht werden. Neben diesen grundlegenden Empfehlungen und Forderungen, die uneingeschränkt für alle Diskussionsbereiche ihre Gültigkeit haben, sind für die verschiedenen Bildungsbereiche folgende Aspekte zu beachten: 13/20 2. Vorschulische Erziehung 3. Schulische Erziehung Gelingendes Zusammenleben kann nur möglich sein unter besserer sprachlicher Entwicklung der Kinder. Dazu regen wir die Einrichtung von bilingualen Modell-Kindergärten (siehe Berlin) an, um eine gezielte Förderung der Kinder in der deutschen und der Muttersprache zu gewährleisten. In der vorschulischen Erziehung sollen besondere Aktivitäten, Projekttage oder auch Feste gemeinsam mit Eltern, den muslimischen Gemeinden, Vereinen etc. organisiert werden. Zielsetzung ist eine Akzeptanz des Anderen in seiner religiösen Unterschiedlichkeit. Im Sinne einer Erziehung zu gegenseitiger Akzeptanz sollen Elemente gelebten Glaubens aus den verschiedenen Religionen gleichwertig in den pädagogischen Alltag integriert werden. Wünschenswert ist es, in Kindertagesstätten, die von muslimischen Kinder n besucht werden, auch muslimische Erzieherinnen und Erzieher zu beschäftigen. In kirchlichen Kindertagesstätten sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Muslimische Gemeinden / Vereine und andere Migrantenorganisationen sollen sich gezielter für mehr Elternengagement einsetzen. Sie sollen mehr Eigeninitiative zeigen, indem sie offen auf die Kindertagesstätten zugehen und ihre Unterstützung anbieten. Im Bereich der schulischen Bildung und Erziehung liegen sehr unterschiedliche Erfahrungen vor. Die vorhandenen Regelungen des Kultusministeriums im Umgang mit muslimischen Schülerinnen und Schülern und Eltern werden je nach Schule, Lehrkraft, Erzieher usw. sehr unterschiedlich tolerant bzw. intolerant gehandhabt. Im schulischen Bereich sehen wir Handlungsbedarf für folgende Felder und wollen Empfehlungen für ein gelingendes Zusammenleben geben: 3.1. Religiöse Feiertage und Handlungen: • Religiöse Feiertage sollen bei der Terminplanung der Schulen berücksichtigt werden. • Das Probeschreiben und Abfragen nach Feiertagen soll klar geregelt werden. • Nach Möglichkeit sollten auch für muslimische Kinder religiöse Schulfeiern stattfinden können. • Wünschenswert ist die Kooperation von Religionsgemeinschaften bei der Organisation von multireligiösen Feiern. • Die Verpflichtung der Schulen, Schulgottesdienste anzubieten, wird nicht infrage gestellt. Muslimische Kinder dürfen jedoch nicht zur Teilnahme am christlichen Schulgottesdienst verpflichtet werden. 3.2. Religiöse Bekleidung: • Wir wünschen uns Respekt vor religiös motivierten Kleidungsvorschriften im Schulkontext. • Sollte der Sportunterricht nicht geschlechtergetrennt sein, muss das Tragen einer geeigneten religiösen Bekleidung erlaubt werden. • Beim Schwimmunterricht soll die Nutzung von vorhandenen Einzelkabinen beim Umkleiden und in den Duschen ermöglicht werden. 14/20 3.3. Sexualerziehung: 4. Übergang Schule-Beruf • Verpflichtende Elternabende für die Schulen zu dem Thema sind wünschenswert. • Schulen sollen Eltern umfassender informieren; insbesondere das zu verwendende Informationsmaterial soll vorgestellt und diskutiert werden. Beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung bzw. in den Beruf erfahren Jugendliche mit Migrationshintergrund trotz Gleichstellungsgesetzen immer noch Benachteiligungen und Diskriminierungen aufgrund ihrer religiösen Identität und ethnischen Herkunft. Insbesondere muslimische Mädchen werden häufig aufgrund ihrer religiösen Bekleidung vor schwere Gewissenskonflikte bei der Berufswahl gestellt. Organisationen und Einrichtungen wie z.B. Arbeitsagenturen, Kammern, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Kommunen sollen in Zusammenarbeit mit Moscheevereinen eine Öffentlichkeitsarbeit betreiben, die Berührungsängste und Vorurteile abbauen hilft. Hier können vor allem öffentliche Einrichtungen (z.B. Kommunen) eine Vorbildfunktion erfüllen. 3.4. Klassenfahrten: • Wir empfehlen Schulungen für Lehrkräfte, damit sie die Sorgen auch muslimischer Eltern verstehen lernen. • Als Vertrauen schaffende Maßnahme schlagen wir vor, ggf. eine muslimische Begleitperson (z.B. eine Studentin / einen Studenten) mitzunehmen. 5. Erwachsenenbildung 3.5. Wertevermittlung: • Wir empfehlen Seminare / Module, die die Kenntnis über und den Respekt vor unterschiedlichen Wertvorstellungen zum Ziel haben, sodass eine Kultur der Toleranz und Akzeptanz gelebt und erlebt werden kann. 15/20 Erwachsene Musliminnen und Muslime haben oftmals die gleichen negativen Erfahrungen wie muslimische Jugendliche. Auch hier ist es wichtig, mit Öffentlichkeitsarbeit und Informationsveranstaltungen gegenseitige Hemmnisse abzubauen. Vorhandene Bildungseinrichtungen sollen mit den bestehenden Migrantenvereinen und Moscheen eng kooperieren. Ehrenamtliches Engagement in diesen Bereichen soll gefördert und unterstützt werden. Seelsorge und Soziales Seelsorge und Soziales 6/2 0 12 1. Vorbemerkung 1.1. Seelsorge ist ein wichtiger Bestandteil gelebten muslimischen Glaubens. Dabei erfolgt Beratung und Begleitung in Seelsorge wie in Sozialarbeit im islamischen Kontext eher im Rahmen der engeren muslimischen Glaubensgemeinschaft und der Familie. Soziale Themen mit allen Problemanzeigen, die sich dahinter verbergen (z.B. die Lage älterer Migranten in Deutschland), werden in der muslimischen Welt traditionell im Familienverband geregelt. Wer hier nach außen Beratungsbedarf bzw. Hilfsbedürftigkeit signalisiert, sagt damit gleichzeitig, dass es in der Familie keine Unterstützung gibt. Das ist beschämend und erschwert es erheblich, Hilfe von kommunalen oder staatlichen Einrichtungen zu fordern bzw. anzunehmen. Wir haben es beim Thema „Seelsorge und Soziales“ also mit hochsensiblen Bereichen zu tun, die nicht einfach durch Eingriffe von außen, durch rechtliche Verbesserungen oder institutionelle Klärungen und Ergänzungen wie beispielsweise durch mehr muttersprachliches Personal, durch muttersprachliche Flyer oder Ähnliches geregelt werden können. Solche Maßnahmen sind wünschenswert. Die vielen Einzelfragen erfordern jedoch grundsätzlich ein behutsames Vorgehen und langsames gegenseitiges Vertrautwerden mit kulturellen, sozialen und religiösen Unterschieden. Zudem gibt es auf muslimischer Seite nicht nur einen, sondern je nach Moscheeverein und muslimischer Glaubensbewegung und Herkunft sehr unterschiedliche Ansprechpartner, die hier mit einbezogen werden müssen. 1.2. Es ist zu begrüßen, dass es zur Unterstützung von in Nürnberg lebenden Musliminnen und Muslimen in ihren Belangen mittlerweile eine Vielzahl von sozialen und religiösen Einrichtungen gibt, die sich mit der Situation von Muslimen befassen und zum Teil speziell auf Muslime zugeschnittene Angebote machen. Die in diesem Bereich wirkenden Personen in Einrichtungen kommunaler, kirchlicher oder freier Trägerschaft sind jedoch nur wenig untereinander in Kontakt und haben kaum Gelegenheit, ihre Erfahrungen auszutauschen. 1 7/ 2 0 Um die bestehenden Angebote besser miteinander zu vernetzen, kann eine Art „Runder Tisch“ in Nürnberg Abhilfe schaffen. Darüber hinaus ist es wichtig, Kontakte zu den unterschiedlichen Moscheevereinen aufzunehmen. Dafür ist ein langer Atem nötig. Das bedeutet, dass vorübergehend geschaffene Projektstellen in den genannten Bereichen zu dauerhaften Stellen umgewandelt werden müssen, um eine Kontinuität der Kontakte zu gewährleisten. 1.3. Folgende Schritte erscheinen mittelfristig sinnvoll: • Vertrauensbildung durch Aufsuchen von Ansprechpartnern (Kulturvereine / Moscheevereine). Projektarbeit greift hier zu kurz und ist nicht verlässlich genug. • Zu überlegen ist, ob ein Dolmetscherservice im Bereich Gesundheit/Soziales angeboten und wie er finanziert werden kann (Kassenfinanzierung). • Gewinnung, Motivation und Qualifizierung von muttersprachlichen Ehrenamtlichen für die Begleitung von Menschen in sozialen Herausforderungen (z.B. Jugendliche, Mütter mit kleinen Kindern, ältere Menschen). Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Arbeit mit Jugendlichen, Frauen und Älteren, die in der Familie gepflegt werden, häufig aufsuchende Familienarbeit ist und den gesamten familiären Kontext im Blick haben muss. 2. Zur Lage alternder Muslime 3. Spezielle Seelsorgebereiche 2.1. Das Gespräch mit Fachleuten ergab, dass es wichtig ist, sich verstärkt auf die Bedürfnisse in Deutschland alternder Muslime einzustellen. Angesichts dieser komplexen Situation braucht es Menschen, die beide Systeme anerkennen. Die „zweieinhalbste“ Generation der hier lebenden Muslime muss befähigt werden, für die Elterngeneration hier Verantwortung zu übernehmen. Dazu sind die Förderung von Schulabschlüssen und entsprechende Ausbildungsangebote im sozialen Bereich unabdingbar. So gibt es beispielsweise zu wenig türkischsprachige Sozialpädagogen. Außerdem wird der Bedarf an (muttersprachlichen) Auszubildenden im Pflegebereich wachsen. Allerdings gibt es im Bereich der Altenpflege auch kulturbedingte Schamgrenzen, die zu berücksichtigen sind. 3.1. Gefängnisseelsorge: 2.2. Es fehlt grundsätzlich an Statistiken und Forschung in diesem Bereich. „Kultursensible Pflege“ muss selbstverständlicher und verpflichtender Teil der Ausbildung im Bereich Pflege sein. Die Regelstudienpläne müssen zugunsten des Fachs „kultursensible Pflege“ entlastet werden. Dieses Fach sollte Wahlpflichtfach werden. Hier braucht es das Bewusstsein der Träger, z.B. kultursensible Pflege stärker in die Lehrpläne aufzunehmen. Bedarf an entsprechender Fortbildung besteht aber auch bei denen, die schon ausgebildet sind: Altenpflegerinnen und Altenpfleger / Arzthelferinnen und Arzthelfer. In bereits bestehenden Pflegeeinrichtungen muss stärker auf die kulturelle Verschiedenheit der Bewohner Rücksicht genommen werden. Bereits bestehende kleinere Wohngemeinschaften für Demenzkranke sind beispielsweise ein Modell, an dem sich andere Einrichtungen orientieren können. Sie haben Familiencharakter und erlauben es eher, auf kulturelle Unterschiede einzugehen. Musliminnen und Muslime werden in der JVA Nürnberg derzeit durch den/die evangelischen Seelsorger betreut. Das kann keine Dauerlösung sein. Ziel muss die Einrichtung einer muslimischen Anstaltsseelsorge sein. Den muslimischen Gefangenen muss auch im Gefängnis die Möglichkeit gegeben sein, die religiösen Pflichten zu erfüllen. 3.2. Notfallseelsorge / Seelsorge am Flughafen: Im Flughafen gibt es bereits einen „Raum der Stille“ für alle Religionen, der lebhaft benutzt wird. Vor Ort findet man eine Bibel, einen Koran und drei Gebetsteppiche. Die Ökumenische Notfallseelsorge hat Kontakt mit der Begegnungsstube Medina bzw. ihrem Vorsitzenden. Im Notfall vermittelt dieser dann entsprechend der Religion bzw. Sprache. Die Notfallseelsorge hat darüber hinaus eine Liste von allen bekannten Moscheevereinen in Nürnberg und bietet – wenn möglich – eine Kontaktaufnahme an.Darüber hinaus wird auch auf das türkischsprachige Angebot des Krisendienstes Mittelfranken verwiesen. Im Moment entsteht ein kirchliches Notfallteam am Nürnberger Flughafen. Die Helferinnen und Helfer sind in der Mehrzahl Seelsorgerinnen und Seelsorger aus den Nachbargemeinden (Evang.) und einige Notfallseelsorger (Teamleiter). Wünschenswert ist es, auch andere Religionen einzubinden und das Thema „muslimische Notfallseelsorge“ verstärkt auf die Agenda zu nehmen, wie das bereits auf Bundesebene in der Notfallseelsorge geschieht. 2.3. Auch im Bereich Sterbebegleitung / Hospiz werden verstärkt muslimische Begleiter und Begleiterinnen erforderlich werden. Hier muss frühzeitig das Gespräch mit Hospizvereinen gesucht werden. 18/20 3.3. Krankenhausseelsorge: In den Kliniken ist ein für alle Religionen zugänglicher Gebetsraum – falls nicht vorhanden – einzurichten. Im Klinikum Nürnberg Süd ist die Kapelle zugleich auch Gebetsraum für Musliminnen und Muslime. Dort stehen in einer extra dafür vorgesehenen Truhe Gebetsteppiche zur Verfügung. Auf dieser Truhe ist die Gebetsrichtung angezeigt. Dieses Angebot wurde in gemeinsamer Beratung mit Musliminnen und Muslimen entwickelt und hat sich bewährt. Die bestehenden Seelsorgeangebote in den Kliniken werden von Gläubigen aller Religionen gerne angenommen. Falls die evangelischen und katholischen Krankenhausseelsorger nach muslimischer Seelsorge gefragt werden, sollen sie diese vermitteln. Ähnlich wie in den anderen Einrichtungen wird auch hier von den christlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern darauf hingewiesen, dass ein verstärktes Angebot von muslimischer Seelsorge geboten ist. 3.4. Seelsorge an Asylbewerbern: In besonderer Weise geboten erscheint darüber hinaus die Seelsorge / Begleitung in den Unterbringungseinrichtungen für Asylbewerber.