2. Brandenburger Krebskongress Potsdam, 25. Februar 2011 Geriatrische Onkologie G. Schüler 2. Medizinische Klinik Carl- Thiem- Klinikum Hintergrund Bis 2030 wird der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung von derzeit 15% auf 25% zunehmen. Dies bedeutet bei gleichbleibender Inzidenz für Krebserkrankungen eine Zunahme der Krebserkrankungen um 50%. Altersaufbau der Bevölkerung Quelle: Statistisches Bundesamt Krebsinzidenz Quelle: Robert- Koch- Institut Was ist geriatrische Onkologie? Es handelt sich nicht um die Anwendung etablierter onkologischer Therapieverfahren auf die Behandlung alter Menschen mit Tumorerkrankungen. Vielmehr setzt geriatrische Onkologie da ein, wo sich etablierte onkologische Therapieverfahren nicht einfach auf die Situation älterer Menschen übertragen lassen. „ The health status of a patients population begins to interfere with oncological decision- making guidelines.“ Lodovico Balducci, MD Director of the Geriatric Oncology Consortium Vorurteile: Die Behandlung ist schlimmer als die Erkrankung. Tumoren von älteren Menschen wachsen langsamer als die von jüngeren. Eine Behandlung von alten Menschen lohnt sich nicht mehr. Alte Menschen wollen nicht mehr behandelt werden. Folgen: • Behandlung mit einer unterdosierten Chemotherapie oder keine Chemotherapie aus Angst vor schlechter Verträglichkeit Therapiesensible, ev. sogar kurativ behandelbare Tumoren werden unzureichend therapiert Bsp.: 75 % aller Patientinnen mit Mammacarcinom unter 40J erhalten eine Chemotherapie, aber nur 4% der über 80J Belgisches Krebsregister; Gudrun Heym Folgen: Aufwendige und teure diagnostische Maßnahmen werden unterlassen Zurückhalten von Informationen bei der Aufklärung über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten Nichteinbeziehen von älteren Patienten in die Therapieentscheidung (Balducci et al. 1989; Fentiman et al. 1990) Lohnt sich eine Behandlung alter Menschen wirklich nicht mehr? Lebenserwartung von Älteren und Hochbetagten Alter weiblich männlich 70-75 15,0 11,8 80-85 8,7 5,8 > 85 6,3 5,1 (Quelle: Statistisches Bundesamt) Wachsen Tumoren von alten Menschen wirklich langsamer? AML, hochmaligne Lymphome und Ovarialcarcinom: • geringere Remissionsraten, kürzere Remissionsdauern und Überlebenszeiten Mammacarcinom: • indolenterer Verlauf, vermehrt hormonrezeptorpositive Tumoren Kolorektales Carcinom: • keine altersrelevanten Unterschiede in der Tumorbiologie Das Alter an sich stellt keinen eigenständigen Risikofaktor dar! Probleme bei der Behandlung älterer Tumorpatienten Komorbidität Polypharmazie Einschränkung der Selbständigkeit/ sozioökonomische Defizite geriatrietypische Syndrome (Demenz, Depression, Malnutrition, Inkontinenz, Stürze, Dekubitus) Probleme bei der Behandlung älterer Tumorpatienten „Wir addieren die Toxizität zu einer möglicherweise vorhandenen Schwäche hinzu.“ „Komorbide Ältere haben im Vergleich zu Gesunden einen anderen Organismus. Dann kann jede Chemotherapie das Faß zum Überlaufen bringen.“ Kurt Possinger, Abteilung Onkologie und Hämatologie, Charite Probleme bei der Behandlung älterer Tumorpatienten Ältere Patienten sind in Studien unterrepräsentiert. Gründe: Mehr Komorbidität– komplexeres Management Alter oft Ausschlußkriterium Geringere Rate an Einverständnis Procedere bei kognitivem Defizit? In Studien therapierte ältere Patienten sind selektioniert. Therapieschemata Patienten. sind extrapoliert von jüngeren Problem der Komorbidität NIA/ NCI- SEER- Studie (Yancik et al. 1996): Alter in J durchschnittliche Anzahl an Komorbiditäten 55-64 2,9 65-74 3,6 > 74 4,2 Probleme bei der Behandlung älterer Tumorpatienten Komorbiditäten Problem der Komorbidität Coloncarcinom und Diabetes mellitus Problem der Polypharmazie Mary Corcoran 1997: Untersuchung an 218 onkologischen Patienten ab 70J durchschnittliche Anzahl an Medikamenten 4,4 davon 3,2 ärztlich verordnet Selbstmedikation 1,2 56% nahmen 4 oder mehr Medikamente ein Problem der Polypharmazie am häufigsten eingenommene Medikamente (in abnehmender Häufigkeit): Antihypertensiva Kardiaka Magen- Darm- Mittel incl. Laxantien Opthalmika Analgetika durchblutungsfördernde Mittel Vitamine/ Mineralstoffe Psychopharmaka Geriatrika Steinhagen- Thiessen u. Borchelt 1996 Problem der Polypharmazie altersabhängige Veränderungen des Nebenwirkungsprofils und der therapeutischen Breite Interaktionen (steigen expotentiell mit der Zahl der eingenommenen Mediakemte) Compliance Fehlmedikation (Berliner Altersstudie 1996: 20%) Physiologische Veränderungen im Alter prozentual höherer Fettanteil größeres Verteilungsvolumen lipophiler Substanzen und damit größere HWZ Physiologische Veränderungen im Alter Abnahme des Gesamtkörperwassers kleineres Verteilungsvolumen hydrophiler Substanzen steigende Spitzenspiegel von Medikamenten Physiologische Veränderungen im Alter geringeres Serumalbumin Anteil von ungebundenem frei bioverfügbaren Zytostatikum höher (bei Substanzen bei hoher Plasmaeiweißbindung) Physiologische Veränderungen im Alter abnehmende Nierenleistung (GFR und tubuläre Funktion) höhere HWZ von renal elimierten Substanzen Physiologische Veränderungen im Alter abnehmende intestinale Mukosaoberfläche relative Achlorhydrie schlechtere orale Verfügbarkeit bestimmter Pharmaka Physiologische Veränderungen im Alter abnehmende Leberdurchblutung abnehmender first passEffekt Akkumulation hepatisch elimierter Substanzen Umwandlung von einigen Substanzen in die eigentlichen Wirkformen beeinträchtigt Physiologische Veränderungen im Alter abnehmende kardiale Leistung (sinkende Myocytenzahlen, sinkende Überleitungsgeschwindigkeit, geringeres maximales HZV) höheres Risiko einer Ischiämie oder Kardiomyopathie Physiologische Veränderungen im Alter verminderte Vital- und Diffusionskapazität erhöhtes Risiko einer Lungenschädigung durch pneumotoxische Substanzen Physiologische Veränderungen im Alter Abnahme der hämatopoetischen Reserve längere und schwerere Zytopenien durch Chemotherapien Physiologische Veränderungen im Alter Abnahme der humoralen und zellulären Immunantwort erhöhtes Infektionsrisiko Physiologische Veränderungen im Alter abnehmende Masse aber zunehmende Neuronendichte verminderte Reagibilität zerebraler Widerstandsgefäße erhöhtes Risiko für zerebrale Hypoxie bei Blutdruckabfällen (Korrelation zwischen Verlust kognitiver Fähigkeiten und Lebensalter) Leitfragen vor Therapieeinleitung Wird der Patient an der bei ihm diagnostizierten Tumorerkrankung sterben? Wird der Patient aufgrund der bei ihm diagnostizierten Krebserkrankung Beschwerden oder eine Einschränkung seiner Lebensqualität erfahren? Wird der Patient eine Therapie der Krebserkrankung voraussichtlich ohne schwerwiegende oder lebensbedrohliche Konsequenzen überstehen? Therapieentscheidung Abschätzung des Allgemeinbefindens und des funktionellen Status Abklärung der Organfunktionen und der funktionellen Organreserven Kenntnis der realistischen therapeutischen Chancen und der zu erwartenden therapeutischen Belastungen Therapiewille des Patienten Beurteilung des funktionellen Status Beispiele für assesments: Onkologie: Karnofsky- Index Geriatrie: ADL (Aktivitäten des täglichen Lebens) Beurteilung des funktionellen Status Website der DGHO Arbeitskreis Geriatrische Onkologie http://www.dgho.de/informationen/ dokumente-der-arbeitskreise/ geriatrische-onkologie Beurteilung des funktionellen Status „go go“ unabhängig keine relevanten Komorbiditäten Beurteilung des funktionellen Status „ slow go“ Komorbiditäten und Einschränkungen des funktionellen Status diese sind jedoch kompensiert oder kompensierbar Beurteilung des funktionellen Status „no go“ ausgeprägte Komorbiditäten, erhebliche Einschränkung des funktionellen Status „frail“ Beurteilung des funktionellen Status Kann der Patient bei Nebenwirkungen/ Problemen selbst Hilfe holen? (Telefonieren, Einnehmen von Bedarfsmedikation, Benutzung von Verkehrsmitteln) Verständnis für variable Therapieschemata, verschiedene Termine? Einschätzung der funktionellen Organkapazitäten Hämatopoese: BB, MCH, MCV, Diff-BB, Retikulocyten, Ferritin, Folsäure, Vit B12 Kardiale Funktion: EKG, ggf. Echokardiographie Nierenfunktion: Creatinin- Clearance Lungenfunktion: Bildgebung, ggf. Bodyplethysmographie und CO- Diffusionskapazität Vermeiden von Toxizität Dosismodifikation entsprechend Nieren- und Leberfunktion, (BB im Nadir/ Zyklusbeginn) frühzeitiger Einsatz von Wachstumsfaktoren adäquate Antiemese und Mukositisprophylaxe (gastrointestinale NW oft mit schwereren Folgen) Nephrotoxische Substanzen: Hyperhydratation, Urinalkalisierung (MTX), Mesna, Cave gleichzeitige Gabe anderer nephrotoxischer Substanzen Beachtung von Kumulativdosen! Vermeidung von Toxizität Beachtung der Begleiterkrankungen (Bsp.: Kortokoidmedikation bei Diabetes mellitus) ggf. Ersatz bestimmter Zytostatika bei bekannter Vorschädigung eines Organes (Bsp.: Carboplatin anstelle von Cisplatin bei eingeschränkter Nierenfunktion) Situation in der II. Medizinischen Klinik CTK Cottbus In folgende Studien wurden Patienten über 60J eingeschlossen (z. T. noch aktiv oder schon geschlossen): DSMM II (Multiples Myelom, 61-80J) OSHO AML > 60J (AML, ab 60J) GMALL elderly (ALL, ab 55J) MCL elderly (Mantelzellymphom, ab 65J) RICOVER-60 (hochmalignes NHL, ab 60J) NeoFLOT (Magencarcinom) G-PCNSL-SG1 (aggressive ZNS- Lymphome) Situation in der II. Medizinischen Klinik CTK Cottbus 2010 Hochdosistherapie mit autologer StammzellTransplantation: Insgesamt 25 Patienten verschiedener Indikationen Patienten über 60J (gesamt 5): 64J m, Multiples Myelom 62J m, Rezidiv M. Hodgkin (verstorben 8 Wo. später) 72J w, Multiples Myelom 70J w, Rezidiv hochmalignes NHL 65J w, Mantelzellymphom (kombiniert mit TBI) Situation in der II. Medizinischen Klinik CTK Cottbus 2010 Einschluß in OSHO AML 2004 > 60J: 6 Patienten (kurativer Therapiearm) Alter 62- 74 Jahre 1 Patientin in Induktionstherapie verstorben Fallbeispiel 1 D. R., weiblich Alter: 73J (68 J bei Erstdiagnose) Aufnahme auswärtiges KH mit Teerstuhl und Rückenschmerzen 5/06 Diagnose Multiples Myelom IgA- Typ Kappa Stadium IIIA Primärmanifestation: multiple Osteolysen, KM- Infiltration 50% (BB normal), IgA 28,8, Prot 88, BJ- Protein 24,5 mg/d. Crea und Ca im NB. Fallbeispiel 1 Nebenerkrankungen: Helicobacter pylori assoziierte Gastritis mit Z. n. gastrointestinaler Blutung, Eradikationstherapie Arterielle Hypertonie, medikamentös geführt Diabetes mellitus Typ 2, medikamentös geführt Z. n. follikulärem SD- Carcinom, Thyreoidektomie und Radioiodtherapie 1999. Substitutionstherapie Fallbeispiel 1 Einschluß in DSMM II- Studie (Arm A1) 6/06-9/06 4 Zyklen CAD Bisphosphonat 4wöchentlich Komplikationen: Pneumonie in Neutropenie (Lk 1,7) während 1. Zyklus 10/06 Stammzellmobilisierung nach IEV- Protokoll Fallbeispiel 1 12/06 erste Hochdosis- Therapie (Melphalan) mit autologer Stammzell- Tx IgA 13,10 Komplikationen: Stomatitis, Proktitis. FUO. Neu aufgetretene Innenohrschwerhörigkeit, Paukenerguss links Fallbeispiel 1 2/07 geplante Hochdosistherapie verschoben wegen Sinusitis und Harnwegsinfektion 2/07 zweite Hochdosistherapie und autologe Stammzell-Tx Komplikationen: FUO. Anstieg der Leberwerte und Cholestaseparameter (am ehesten toxisch) Fallbeispiel 1 5/07 außerplanmäßige KH- Aufnahme wegen Herpes zoster (Trigeminus) mit Zosterneuralgie 6/07 Remissionskontrolle: IgA 1,77, Immunfixation monoklonal, KM: kein Nachweis von Plasmazellen. Röntgen: Status idem seitdem vierteljährliche Nachsorge und Bisphosphonate 4wöchentlich (seit 3/10 vierteljährlich) Fallbeispiel 1 seit 8/09 sehr langsam steigendes IgA, leicht erhöhter Crea- wert 6/10 IgA 7,55 Crea 126, Hb 6,3/ Lk 5,9/ Thro 163, subjektives Wohlbefinden Weitere Beobachtung Fallbeispiel 2 M. W., weiblich Alter bei ED 79 Jahre Zuweisung aus auswärtigem KH mit multiplen LKS und B- Symptomatik Histologie LK-PE cervical: diffus- großzelliges BNHL 4/09 ED HG-B-NHL Stadium IIIB Manifestation: LK cervical, axillär, retroperitoneal, Leberhilus mit portaler Hypertension, inguinal. Lymphödem linker Arm Fallbeispiel 2 Nebenerkrankungen: Cholecystolithiasis (asymptomatisch) Restless- legs- Syndom, medikamentöse Therapie RF rechte Mamma unklarer Dignität, seit Jahren mammographische Kontrolle Kachexie Fallbeispiel 2 4/09 Vorphasentherapie Vincristin/ Prednisolon 4/09-8/09 6 Zyklen R-CHOP Komplikationen: Pneumonie in Neutropenie während 1. Zyklus (KH- Aufnahme) Dosisreduktion ab dem 3. Zyklus auf 75% (Neutropenie und AZ- Minderung) 10/09 Abschlußstaging: CR Fallbeispiel 2 vierteljährliche Nachsorge 3/10 Rezidiv: Ausgedehnte RF Epipharynx, LKS cervical, supraclaviculär, mediastinal, 3 pulmonale RH, BSymptome deutliche Kachexie 3/10 1 Zyklus Bendamustin (100mg) 4/10 Progress im Epipharynx/ Sinusbereich 4-6/10 lokale Radiatio 39 Gy Fallbeispiel 2 lokal gutes Ansprechen jedoch Progress abdomineller LKS mit posthepatischer Cholestase und Ikterus 6/10 2. Zyklus Bendamustin (100mg) mit klinisch gutem Ansprechen 7/10 3. Zyklus R- Bendamustin (80 mg/qm). Transfusion von 2 Ek. Zunehmende Kachexie, hochkalorische Nahrungsergänzung. Fallbeispiel 2 8/10 Progress. Neue NHL- Manifestation im Magen mit gastrointestinaler Blutung. Bakteriämie durch ESBL. Massive Tumorkachexie keine weitere Therapieoption, rein symptomatische Maßnahmen 9/10 Exitus letalis Zusammenfassung Anteil älter Menschen wird zunehmen, ebenso die Lebenserwartung und der Anteil „fitter“ älterer Menschen bei sorgfältiger Auswahl der Therapie entsprechend dem körperlichen und funktionellem Status des Patienten können auch ältere Patienten von einer Chemotherapie profitieren erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber erhöhtem NW- Potential, Komorbiditäten, Medikamenteninteraktionen Zusammenfassung behandelnder Onkologie wird häufig zum hauptbetreuenden Arzt Kenntnis der nichtmalignen Erkrankungen und psychosozialen Situation des Patienten von enormer Wichtigkeit für das Gesamttherapiekonzept ältere Patienten sollten künftig in Therapiestudien deutlich stärker repräsentiert werden Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!