Befreiende Leere - form ist LEERHEIT ist form

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LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN
WS 2000/01
HAUSARBEIT ZUM THEMA:
Befreiende Leere
Eine Analyse der Autobiographie Seiner Heiligkeit
des XIV. Dalai Lama unter dem Gesichtspunkt von
„Freiheit versus Determination“
Von Michael METZNER
Verfasser:
ImtrNr.:
Seminar:
Dozentin:
Michael METZNER
100474302109
Biographieforschung in der Pädagogik
Prof. Dr. Irmgard BOCK
Inhalt
INHALT
1 EINLEITUNG................................................................................................ 3
2 VOM BAUERNJUNGEN ZUM WELTENBÜRGER — DIE LEBENSGESCHICHTE
DES XIV.
DALAI LAMA............................................................................... 5
3 FREIHEIT VERSUS DETERMINATION .......................................................... 12
4 ZUM BUDDHISMUS UND DER ROLLE DES DALAI LAMA FÜR DIE TIBETER . 15
5 JENSEITS VON FREIHEIT UND DETERMINATION ......................................... 22
6 LITERATUR ............................................................................................... 27
2
Einleitung
1 EINLEITUNG
Wer kennt ihn nicht, den in rotgelber Robe gewandeten, stets heiter-humorvollen und
doch scharfsinnigen Mönch vom „Dach der Welt“, Seine Heiligkeit den XIV. DALAI
LAMA von Tibet? Als politisches und religiöses Oberhaupt der Tibeter hat er bereits die
ganze Welt bereist, um die Öffentlichkeit auf das schreckliche Unrecht aufmerksam zu
machen, das seinem Volk zugefügt wurde und immer noch wird. Doch trotz der Unzahl
an Verpflichtungen, die ihm als Staatsoberhaupt und höchstem geistlichen Würdenträger
obliegen, gewinnt man von Seiner Heiligkeit nicht den Eindruck eines „steifen“ Politikers oder engstirnigen und fanatischen Religionsfühers. Es ist vielmehr die Freude
kindlicher Unbeschwertheit, die der über 60jährige seiner Zuhörerschaft vermittelt und
die ihn auch zu einer solch populären Persönlichkeit machen.
Vielen religiösen wie auch nichtreligiösen Menschen gilt der DALAI LAMA als greifbarer Beleg dafür, daß trotz der Zwänge und Verantwortlichkeiten, die das Erwachsenenleben mit sich bringt, wahre, d.h. innere Freiheit doch möglich ist.
Im Jahr 1990 erzählt TENZIN GYATSO, der XIV. DALAI LAMA, in der Autobiographie
Freedom in Exil. The Autobiography of His Holiness The Dalai Lama of Tibet (in deutscher Übers. 1997 als Dalai Lama. Das Buch der Freiheit. Die Autobiographie des
Friedensnobelpreisträgers erschienen) die Geschichte seines Lebens und seines von den
Chinesen unterdrückten Volkes, die ich in der vorliegenden Arbeit unter dem Aspekt
„Freiheit versus Determination“ besprechen will.
Dabei soll zuerst eine knappe Zusammenfassung des Lebensweges Seiner Heiligkeit
die Möglichkeit bieten, sich ein skizzenhaftes Bild der Person zu machen und die Fragestellung in einem ersten Anlauf aufzugreifen. Desweiteren möchte ich auf den Buddhismus eingehen, ohne dessen zumindest basale Kenntnis man unmöglich begreifen
kann, wie der DALAI LAMA als Buddhist denkt und fühlt. Ich werde dabei insbesondere
versuchen herauszuarbeiten, was der Buddhismus zum Thema „Freiheit versus Determination“ sagt und welche Stellung der DALAI LAMA in dieser Religion — besonders in
deren tibetischer Erscheinungsform — hat. Darauf aufbauend sei dann beantwortet, inwiefern der Widerspruch von Freiheit versus Determination im Leben Seiner Heiligkeit
3
Einleitung
aufgehoben ist, wobei stets auf das oben genannte Werk in seiner deutschen Übersetzung verwiesen wird. Mit diesen Bezügen zur Autobiographie möchte ich versuchen,
dem Selbstverständnis der betrachteten Person so nahe wie möglich zu kommen.
4
Vom Bauernjungen zum Weltenbürger — die Lebensgeschichte des XIV. Dalai Lama
2 VOM BAUERNJUNGEN ZUM WELTENBÜRGER — DIE
LEBENSGESCHICHTE DES XIV. DALAI LAMA
Am 6. Juli 1935 wurde in der im Nordosten Tibets gelegenen Provinz Amdo, im kleinen
Dorf Taktser ein Junge namens LHAMO THÖNDUP (wörtl. „wunscherfüllende Göttin“
nach GYATSO, 1990/1997, S. 12) als neunter Sprößling einer Kleinbauernfamilie geboren. Aus Freude und Dankbarkeit darüber, von einer monatelangen, lebensbedrohlichen
Krankheit plötzlich und wie durch ein Wunder genesen zu sein, beschließt der als „sehr
jähzornig“ (GYATSO, 1990/1997, S. 15) beschriebene Vater, den Knaben zu einem
Mönch zu erziehen. Als Kleinkind hatte der Junge unter anderem die Lieblingsbeschäftigung „Dinge in einen Sack zu packen und laut zu verkünden: ‘Ich gehe nach Lhasa,
ich gehe nach Lhasa!’“ (GYATSO, 1990/1997, S. 18). Auch wollte er immer am oberen
Tischende sitzen und gewährte nur der Mutter, seine Eßschale zu berühren; Angst vor
Fremden kannte er nicht. Seine Eltern zogen daraus den Schluß, daß dieses Kind um
seine Bestimmung zu etwas Größerem wisse. Tatsächlich kam, als der Junge noch keine
drei Jahre alt war, „ein von der Regierung in Lhasa ausgesandter Suchtrupp zum [nahegelegenen] Kloster Kumbum, um die Reinkarnation des [XIII.] Dalai Lama ausfindig zu
machen“ (GYATSO, 1990/1997, S. 21), der am 18. Dezember 1933 gestorben war. Da
Buddhisten glauben, daß die Kontinuität des Bewußtseins auch nach dem Tod durch das
Gesetz von Ursache (motivierte Tat) und Wirkung (Erfahrung) erhalten bleibt, ist es in
Tibet üblich, daß man die Wiedergeburten hoher Geistlicher, sog. „Lamas“, sucht, um
ihnen so die Möglichkeit zu geben, ihr Werk fortzusetzen. Bei der Suche nach solchen
„Wiedergeburtskindern“, den Tülkus, stützt man sich auf Zeichen, die der Vorgänger
hinterlassen hat (z.B. weissagende Briefe), ferner auf Weissagungen und Visionen hoher
Lamas und den Rat des sog. „Staatsorakels“ — eines Menschen, der aus Sicht der Tibeter in einem Zustand der Trance Verbindung zu DORJE DRAKTEN, einer der Schutzgottheiten des DALAI LAMA, aufnehmen kann. Im vorliegenden Fall des kleinen LHAMO
THÖNDUP waren es ebenfalls solche Hinweise, die den Suchtrupp schließlich nach Taktser geführt haben. Prompt erkannte das Kind den als Diener verkleideten Anführer des
Trupps, KEWTSANG RINPOCHE, als den Abt des Klosters Sera, den der XIII. DALAI LA5
Vom Bauernjungen zum Weltenbürger — die Lebensgeschichte des XIV. Dalai Lama
MA
sehr gut kannte. Wenige Tage später wurden — nun in Form einer offiziellen Dele-
gation — dem kleinen LHAMO THÖNDUP Gegenstände aus dem Besitz des XIII. DALAI
LAMA zusammen mit genauen Duplikaten vorgelegt, wobei er erstere mit einem sicheren „Das gehört mir, das gehört mir!“ (GYATSO, 1990/1997, S. 22) identifizierte. Bereits
nach kurzer Zeit wurde LHAMO THÖNDUP als der neue, der XIV. DALAI LAMA anerkannt.
So sagenhaft diese Geschichte auch klingt, der DALAI LAMA selbst bezeichnet seine
Kindheitserinnerungen als „ganz normal“ (GYATSO, 1990/1997, S. 17), und er erzählt
diese außergewöhnlichen Begebenheiten zusammen mit ganz gewöhnlichen Rückblicken, z.B. auf seine Vorliebe, im Stall mit den Hühnern zu gackern. Bereits im Vorwort
macht der DALAI LAMA deutlich, wie er sich selbst sieht:
Für mich bezeichnet „Dalai Lama“ das Amt, das ich innehabe. Ich selbst sehe mich in erster Linie als
einen Menschen und dann erst als einen Tibeter, der es sich ausgesucht hat, ein buddhistischer Mönch
zu sein. (GYATSO, 1990/1997, S. 7)
Als neuer DALAI LAMA — ein Titel, der eher aus einem Mißverständnis heraus mit „Ozean der Weisheit“ übersetzt wird (vgl. GYATSO, 1990/1997, S. 10) — wurde er ins
Kloster Kumbum gebracht, bis ein Bote dem Regenten in Lhasa vom Erfolg der Suche
berichten würde. Bis auf den Umstand, daß sich dabei die Möglichkeit bot, den drei
Jahre älteren Bruder LOBSANG SAMTEN zum Freund zu gewinnen, erinnert sich der DALAI
LAMA an diese Zeit als „ziemlich unglückliche Phase in meinem Leben“ (GYATSO,
1990/1997, S. 23), da er erstens von seinen Eltern getrennt war und zweitens „[nicht]
begriff …, was es bedeutet, Dalai Lama zu sein“ (GYATSO, 1990/1997, S. 23). Er erzählt
ferner: „Ich empfand mich als kleinen Jungen unter vielen“ (GYATSO, 1990/1997, S. 23).
Um so größer war seine Begeisterung, als sich der kleine DALAI LAMA dann im Sommer
1939 zusammen mit seinen Geschwistern, den nun in den Adelsstand erhobenen Eltern
und einer großen Anzahl von Pilgern auf die dreimonatige Reise nach Lhasa machte, wo
er in einer feierlichen Zeremonie willkommen geheißen wurde. Als 65jähriger schreibt
er in seiner Autobiographie, er könne sich nicht mehr gut daran erinnern, außer, daß er
„das starke Gefühl verspürte, wieder zu Hause zu sein“ (GYATSO, 1990/1997, S. 25f.).
Über die Zeit im Winter 1940, die er zusammen mit seinem Bruder im Norbulinka, der
Sommerresidenz der DALAI LAMAs, verbringen durfte, erinnert er sich: „Das war das
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Vom Bauernjungen zum Weltenbürger — die Lebensgeschichte des XIV. Dalai Lama
letzte Mal in meinem Leben, daß ich so frei und unbeschwert war“ (GYATSO,
1990/1997, S. 26). Als DALAI LAMA — religiöses und politisches Oberhaupt der Tibeter
— erhielt er dann den Namen „JAMPHEL NGAWANG LOBSANG YESHE TENZIN GYATSO
[Hervorhebung v. Verf.]“ (GYATSO, 1990/1997, S. 29).
Den Sommer über im Norbulinka, über den Winter im Potala wohnend lernte KUNDUN
(wörtl. „Gegenwart“) — so wird der DALAI LAMA oft auch genannt — zuerst lesen
und in verschiedenen tibetischen Schriftarten schreiben. Besonders die religiösen Texte
erlernte er mit großer Geschwindigkeit. Nichtsdestotrotz sei er sehr faul gewesen und
überspannte schließlich zusammen mit seinem Bruder LOBSANG SAMTEN die Geduld
der Lehrer, was dazu führte, daß letzterer auf eine Privatschule geschickt wurde und
dem DALAI LAMA nur noch seine Diener zum Spielen blieben; Kontakt zu Gleichaltrigen war nicht erlaubt. Die gelegentlichen Besuche seiner Mutter gehörten für den ca.
8jährigen zu den wenigen Abwechslungen, die das sonst eher routinegeprägte Leben
dem jungen DALAI LAMA bot. Seine Ausbildung umfaßte Dialektik, tib. Kunst und Kultur, Grammatik und Sprachwissenschaften (Sanskrit usw.), Medizin sowie buddhistische
Philosophie, ferner die Nebenfächer Poesie, Musik, Drama, Astrologie, Metrik, Ausdruck und Wortschatz. In seiner Freizeit tollte der junge Mönch mit seinen Dienern umher, spähte mit dem Teleskop von Dach des Potala, zerlegte diverse technische Geräte
oder spielte mit Zinnsoldaten, die er später in Mönche umschmolz. Schlimm waren für
den jungen Knaben die Abende der einmal pro Jahr stattfindenden dreiwöchigen Klausur, während denen er aus seinem Zimmer gleichaltrige Buben Kühe ins Dorf treiben
hörte, während er Gebete rezitierte. Da er schon in seiner Kindheit eine Abneigung gegen all die Formalitäten und das strikte Umgangsprotokoll hatte, schätzte er den gebürtigen Österreicher HEINRICH HARRER— einer der wenigen Ausländer im damaligen Tibet — ganz besonders wegen seiner Natürlichkeit und Offenheit. Von dem „Blondschopf“ (GYATSO, 1990/1997, S. 58) lernte er viel über die Welt außerhalb Tibets.
In Tibet finden das ganze Jahr über zahlreiche Feste statt. Besonders schätzte der
junge DALAI LAMA das bunte Treiben der Opernfestspiele. Bei den rein weltlichen Veranstaltungen, etwa wenn die Nomaden im Herbst ihre Yaks (tib. Hochlandrind) zum
Verkauf an den Schlachter am Norbulinka vorbeitrieben, mischte sich der „schlimme
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Vom Bauernjungen zum Weltenbürger — die Lebensgeschichte des XIV. Dalai Lama
Junge“ (GYATSO, 1990/1997, S. 70) auch in profane Geschäfte ein und ließ die Tiere
sofort kaufen, um sie vor dem sicheren Tod zu bewahren.
Im Sommer 1950 ereignete sich in Tibet ein heftiges Erdbeben, das von lauten Knallgeräuschen und Erscheinungen am Himmel begleitet war, für die selbst HARRER dem
DALAI LAMA keine plausible wissenschaftliche Erklärung geben konnte. Es sollte der
Vorbote eines traurigen Kapitels in der Geschichte Tibets werden: Am ersten Jahrestag
der kommunistischen Machtübernahme in China, das am 1. Oktober 1949 als Volksrepublik ausgerufen wurde, fielen chinesische Truppen in Tibet ein, um es im Kampf
gegen die „aggressiven, imperialistischen Mächte“ zu unterstützen, wer immer das auch
sein sollte. Auf Anraten des Staatsorakels wurde beschlossen, dem DALAI LAMA als
gerade 15jährigen (statt zur Volljährigkeit) die volle Regierungsmacht zu übertragen,
und so wurde er am 17. November 1950 Oberhaupt von 6 Millionen Tibetern in einem
„hoffnungslos veralteten Regierungssystem“ (GYATSO, 1990/1997, S. 81). Der DALAI
LAMA erinnert sich:
Mich stimmte dieser plötzliche Umschwung sehr traurig. Einen Monat vorher war ich noch ein sorgloser junger Mann gewesen, der sich schon sehr auf die baldigen Opernfestspiele freute. Jetzt sah ich
mich mit einer Aufgabe konfrontiert, mein Land zu führen, das sich auf den Krieg vorbereitete. (GYATSO,
1990/1997, S. 77)
Bereits zwei Wochen nach diesem bedeutsamen Ereignis war sein ältester Bruder
TAKSTER RINPOCHE, Abt des Klosters Kumbum, das in der bereits von den Kommunisten besetzten Region Amdo liegt, unter Druck gesetzt worden, den DALAI LAMA zu der
Anerkennung der chinesischen Herrschaft zu überreden oder ihn zu töten, was den jüngeren TENZIN GYATSO (den DALAI LAMA) entsetzte. Auf Anraten der Regierung hatte
der DALAI LAMA — für den Fall einer Verschlechterung der politischen Situation —
nahe der indischen Grenze Zuflucht gesucht. „Ich war auf dieser Reise zu der Einsicht
gekommen, daß ich mich intensiver mit meinem Studium beschäftigen und so viel wie
möglich lernen mußte. Ich schuldete es dem Vertrauen meiner Landsleute, der beste
Mensch zu sein, der ich sein konnte“ (GYATSO, 1990/1997, S. 89), erinnert sich der DALAI
LAMA. „Wie gelähmt“ (GYATSO, 1990/1997, S. 93) war das junge Regierungsober-
haupt, als er eines Abends im Jahr 1951 im Radio hören mußte, daß von der nach Pe8
Vom Bauernjungen zum Weltenbürger — die Lebensgeschichte des XIV. Dalai Lama
king gesandten Delegation das sogenannte „Siebzehn-Punkte-Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets“ unterzeichnet worden war, was, wie sich herausstellen sollte,
von den Chinesen erzwungen und mit gefälschten Siegeln beglaubigt worden war. Ende
1951 war Lhasa bereits von 20000 Soldaten besetzt, doch nur zwei Jahre später erkannten die Chinesen, daß ihre Politik gescheitert war und luden den DALAI LAMA ein, um
mit ihm über Reformvorschläge zu verhandeln. Im November 1954 brach er also in
Richtung Peking auf. Mindestens zehnmal traf er dort den Parteivorsitzenden MAO TSETUNG, der für ihn ein „höchst beeindruckender Mensch“ (GYATSO, 1990/1997, S. 130)
war und den Eindruck erweckte, als wäre ein Kompromiß zwischen den Forderungen
der Volksrepublik und den Bedürfnissen des tibetischen Volkes möglich. Der DALAI
LAMA war zu dieser Zeit sogar der Überzeugung, daß es durchaus eine Verbindung zwischen dem Marxismus und der buddhistischen Religion geben könne. Um so größer war
die Enttäuschung, als MAO bei seinem letzten Zusammentreffen mit dem DALAI LAMA
meinte: „…die Religion ist Gift“ (GYATSO, 1990/1997, S. 145). Der DALAI LAMA begann zu begreifen, daß dieser Patriarch tatsächlich entschlossen war, jegliche Spuren
von Religiosität auf immer und ewig auszulöschen und damit die Grundlagen des tibetischen Gesellschaftssystems zu zerstören.
Während seiner siebenmonatigen Reise durch China durchquerte der DALAI LAMA
viele gleichförmige Landschaften, wo Bauern mit unterschiedslosem Blick auf die gleiche Art und Weise sprachen, dachten und handelten. Dieser ideologische Staat war so
weit entfernt vom Humor und der Gedankenfreiheit der Tibeter, daß er höchst deprimiert und mit dem Gefühl, seine Zeit vergeudet zu haben, nach Lhasa zurückkehrte, das
nun ein verändertes Antlitz — mit Verkehrslärm und Luftverschmutzung — zeigte.
Anläßlich des 2500ten Geburtstags Buddhas wurde der DALAI LAMA nach Delhi eingeladen, wo er den indischen Premierminister NEHRU traf. Bestürzt mußte der DALAI
LAMA dann aber von seinem Gastgeber erfahren, daß Indien — um ihm zu helfen —
nichts unternehmen könne, solange die Unabhängigkeit Tibets von niemandem offiziell
anerkannt sei. Er kehrte also ernüchtert nach Lhasa zurück, wo sich die Lage bereits
enorm zugespitzt hatte: Als Antwort auf verschiedene Aktionen tibetischer Freiheitskämpfer wurden Klöster bombardiert, Mönche, Nonnen, Männer, Frauen und Kinder
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Vom Bauernjungen zum Weltenbürger — die Lebensgeschichte des XIV. Dalai Lama
geschändet, gefoltert und ermordet. Trotz des strikten Religionsverbots — für ein „Lang
lebe der DALAI LAMA!“ wurde man sofort inhaftiert und gefoltert (wenn nicht gleich
erschossen) — konnte TENZIN GYATSO 1959 schließlich seine lange vorbereitete Prüfung zum Doktor der Metaphysik (Geshe Lharampa) ablegen. Da bereits Gerüchte über
eine mögliche Entführung Seiner Heiligkeit kursierten, belagerten am 10. März 30000
Menschen den Sommersitz des DALAI LAMA, den Norbulinka-Palast. Am 17. März befragte der DALAI LAMA schließlich das Orakel, was er denn tun solle, worauf er die
Antwort „Geh! Geh! Heute abend noch!“ (GYATSO, 1990/1997, S. 200) zusammen mit
einer Skizze des Fluchtweges bekam. Nachdem das Medium bewußtlos zusammenbrach, explodierten erste Granaten in den Sümpfen des Norbulinka. So flüchtete der
spirituelle und politische Führer Tibets am 17. März 1959 verkleidet als eine Art Soldat
zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester, seinem Bruder und einer unterwegs
wachsenden Gefolgschaft nach Indien.
Der DALAI LAMA widerrief offiziell das Siebzehn-Punkte-Abkommen und ließ sich
im Mai 1960 in Dharamsala (Nordindien) nieder. Dort gründete er eine demokratisch
organisierte Exilregierung, die es sich neben der Betreuung tibetischer Flüchtlinge zur
Aufgabe gemacht hat, die Erziehung und Ausbildung der im Exil lebenden tibetischen
Kinder und Erwachsenen zu sichern und die tibetische Kultur, Religion und Sprache zu
schützen. Für sein gewaltfreies Bemühen, Tibet wieder zu einem freien Land zu machen, zu einer „Friedenszone“ (GYATSO, 1990/1997, S. 364), wie es in dem von ihm
1987 verfaßten Fünf-Punke-Friedensplan heißt, wurde dem DALAI LAMA am 10 Dezember 1989 in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen. Seither hält er in der ganzen
Welt Vorträge über den Buddhismus und spricht darin meist auch die Tibetfrage an, um
die Öffentlichkeit über sein vom Aussterben bedrohtes Volk zu informieren. Bisher ist
allerdings noch kein Entgegenkommen der chinesischen Regierung festzustellen. Auf
die in Interviews oft gestellte Frage, ob es nach dem jetzigen DALAI LAMA einen weiteren Nachfolger geben wird, antwortet er, daß es darauf ankomme, ob die Tibeter bis
dahin ihre Freiheit wiedererlangt haben und noch einen DALAI LAMA brauchen. In diesem Sinne schließt der DALAI LAMA seine Autobiographie mit dem Gebet:
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Vom Bauernjungen zum Weltenbürger — die Lebensgeschichte des XIV. Dalai Lama
„Solange das Weltall besteht,
Solange Lebendiges lebt,
So lange möchte auch ich bestehen,
Um das Elend der Welt zu vertreiben.“ (GYATSO, 1990/1997, S. 399)
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Freiheit versus Determination
3 FREIHEIT VERSUS DETERMINATION
Nach diesem Abriß der Lebensgeschichte des DALAI LAMA wollen wir nun auf unsere
Themenstellung zu sprechen kommen — Freiheit versus Determination. Es gibt dabei
drei verschiedene Bedeutungsebenen, die im Rahmen dieser Biographieanalyse von Belang sind: die Freiheit des tibetischen Volkes, die persönliche Handlungsfreiheit der Person TENZIN GYATSO und die psychologisch-metaphysische Freiheit des Menschen aus
buddhistischer Sicht.
Bereits im Vorwort seiner Autobiographie nennt der DALAI LAMA zwei Gründe, die
ihn dazu bewogen haben, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben:
Erstens haben immer mehr Menschen ihr Interesse geäußert, mehr über den Dalai Lama zu erfahren,
und zweitens gibt es eine Reihe von historischen Ereignissen, die ich gerne aus meiner eigenen Perspektive schildern möchte. (GYATSO, 1990/1997, S. 7)
Nimmt man den Titel des Buches in der englischen Originalfassung hinzu — Freedom
in Exil —, wird klar, daß dieses Werk ein Versuch ist, ein weitgefächertes Publikum auf
die Mißstände in Tibet aufmerksam zu machen — auf daß in diesem Land einst wieder
Meinungs- und Religionsfreiheit herrschen wird, was momentan selbst seinem Oberhaupt nur im Exil gegönnt ist. Daß das eigentliche Motiv der Autobiographie nicht die
Selbstbeweihräucherung des DALAI LAMA oder eine Missionierungsabsicht zum Buddhismus ist, kommt in dem durchwegs humorvoll-selbstironischen Stil zum Ausdruck,
mit dem der von vielen als „Gottkönig“ verehrte Mönch nicht selten auf seine Schwächen hinweist. Wenn er beispielsweise davon erzählt, als Kind buddhistische Texte sehr
schnell auswendig gelernt zu haben, fügt er hinzu: „Ich sollte aber hinzufügen, daß ich
sie oft genauso schnell wieder vergaß“ (GYATSO, 1990/1997, S. 36). Worum es ihm
letztlich im gewaltfreien Kampf für Tibets Unabhängigkeit geht, erläutert er
folgendermaßen:
Dabei geht es mir weniger um Fragen der Landesgrenzen, als vielmehr darum, daß das Wichtigste für
die Menschheit die Entfaltung ihrer eigenen Kreativität ist. Die Voraussetzung hierfür ist die Freiheit.
(GYATSO, 1990/1997, S. 356)
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Freiheit versus Determination
Interessant ist der angegebene Zusammenhang zwischen Freiheit und Kreativität. Geht
man von seiner Gültigkeit aus, bedeutet das: solange das Leben der Tibeter in dem Maße von den chinesischen Besatzern fremdbestimmt (d.h. determiniert) wird, wie das zur
Zeit noch der Fall ist, so lange kann es keine lebendige Fortführung, geschweige denn
Weiterentwicklung der tibetischen Kultur geben. Freiheit ist in dieser Sichtweise also
die Voraussetzung für Leben; Determination bedeutet Stagnation, Leid und Tod. Um den
Einsatz für das Lebendige zu bekräftigen, wählt Seine Heiligkeit passend das oben zitierte Gebet als Abschluß seiner Lebensgeschichte.
Fassen wir nun die nächste Bedeutungsebene von Freiheit versus Determination in
der Lebensgeschichte des DALAI LAMA ins Auge: die Handlungsfreiheit der Person
TENZIN GYATSO. Es sind meines Erachtens zwei markante Punkte in der Autobiographie
zu finden, in denen die Freiheit des DALAI LAMA der Notwendigkeit situativer Umstände weichen mußte: Der Erste ist die Inthronisation zum XIV. DALAI LAMA, mit der das
ungezwungene Leben als Sohn tibetischer Kleinbauern endgültig dem Leben als politisches und religiöses Oberhaupt eines ganzen Volkes weichen mußte. Das bedeutet, daß
es ab diesem Zeitpunkt 253 Vorschriften einzuhalten galt, die für tibetische Mönch verbindlich sind (vgl. GYATSO, 1990/1997, S. 300). Ferner war für den DALAI LAMA kein
Kontakt zu Gleichaltrigen erlaubt (außer anfangs zu seinem Bruder), und im Umgang
mit den meisten Erwachsenen herrschte ein solch striktes Verhaltensprotokoll, daß wohl
kaum Luft zum Atmen blieb. Als Freizeitbeschäftigung blieben also nur wenige Alleinbeschäftigungen und das Spiel mit den Dienern.
Der Zweite Wendepunkt wird durch die vorzeitige Übertragung der vollen Regierungsmacht (1950) markiert, in der dem jungen Mönch die Verantwortung für ein Land
auferlegt wurde, das in einer ernsten politischen Krise steckte. Das hatte zur Folge, daß
die Zeit für das eigene Studium mehr und mehr von politischen Verpflichtungen eingeschränkt wurde. Besonders die erste Flucht in den Süden und die Reise in die Volksrepublik China waren zeitraubende Aktivitäten, die das Lernen auf sein Abschlußexamen
erschwerten.
Einen weiteren wichtigen Abschnitt im Hinblick auf unser Thema bildet natürlich
das Leben im Exil. Hier konnte der DALAI LAMA zum ersten mal seine Macht, die er als
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Freiheit versus Determination
Staatsoberhaupt Tibets hat, einsetzen, um einige Veränderungen in der Regierung und
im strengen Umgangsprotokoll vorzunehmen. Viele Formalitäten wurden abgeschafft
und die Regierung demokratischer organisiert. Für den DALAI LAMA boten sich infolgedessen auch wieder mehr Gelegenheiten für Freizeitbeschäftigungen. Meistens nutzte er
jedoch seine Zeit, um Hilfsprojekte für tibetische Flüchtlinge mitzuorganisieren. „Im
Exil bin ich frei“ (GYATSO, 1990/1997, S. 356), sagt der DALAI LAMA von sich selbst,
und er glaubt aus tiefstem Herzen, „daß der Drang nach Freiheit allen Lebewesen angeboren ist“ (GYATSO, 1990/1997, S. 276).
Um nun auf die tiefste Betrachtung des Gegensatzes von Freiheit versus Determination einzugehen, ist es notwendig, zuerst ein paar Worte über den Buddhismus zu verlieren.
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Zum Buddhismus und der Rolle des Dalai Lama für die Tibeter
4 ZUM BUDDHISMUS UND DER ROLLE DES DALAI LAMA FÜR DIE
TIBETER
Das Ziel des Buddhismus (vgl. dazu einführend z.B. SOGYAL RINPOCHE, 1994; THICH
NHAT HANH, 1999; TWORUSCHKA, 1987) ist die Befreiung des Menschen vom Leid
(dukkha). Von entscheidender Bedeutung sei dafür laut dem ca. 543 v. Chr. in Lumbini
(Indien) geborenen Religionsstifter SIDDHARTHA GAUTAMA die Erkenntnis der sogenannten „Vier Edlen Wahrheiten“, die besagen, daß Leid existiert (Erste Edle Wahrheit,
dukkha), daß dieses Leid Ursachen hat (Zweite Edle Wahrheit, samudaya), welche aufhebbar sind (Dritte Edle Wahrheit, nirodha), und der sogenannte „Edle Achtfache Pfad“
(arya ashtangika marga) als geeignetes Mittel zur Leidüberwindung dient (Vierte Edle
Wahrheit, marga). Dieser Pfad zielt jedoch nicht auf die Vermittlung bestimmter Glaubensvorstellungen ab, sondern will den Menschen zu einer unmittelbaren und intuitiven
Erkenntnis der Wirklichkeit führen und so die tiefsten Wurzeln des Leides — die Unwissenheit — auslöschen.
„Die Lehre des BUDDHA ist die Antithese des Substanzbegriffes, der durch Jahrtausende das menschliche Denken beherrschte“, schreibt LAMA ANAGARIKA GOVINDA
(1956, S. V, im Vorwort zu MURALT, 1988). „Der Buddha lehnte die Idee eines ewig
beharrenden, unveränderlichen Seelensubstrates oder einer Seelensubstanz ab …“ (LAMA ANAGARIKA GOVINDA,
S. VI, im Vorwort zu MURALT, 1988), vielmehr stellte er dem
„die Idee der Nicht-Ichheit, der Nicht-Substanzialität“ (LAMA ANAGARIKA GOVINDA, S.
VII, im Vorwort zu MURALT, 1988) gegenüber. Der BUDDHA betrachtete die sogenannte
Wirklichkeit als einen Strom kurzfristig sich verbindender und wieder auseinanderfallender Daseinsmomente bzw. -faktoren oder Dharmas1. Diese Dharmas sind sozusagen
die „Atome“ der Erfahrung; ihrem Wesen nach sind sie eigentlich nichts anderes als
Eigenschaften (bar einer sie tragenden Substanz), die in jeweils bestimmter Konstellation die aufeinanderfolgenden Momente der Erfahrung konstituieren. In den Lehrreden
1
Der vielschichtige Begriff Dharma bzw. Dhamma (Pali) kann nach NYANATILOKA, 1989, S. 61f. das
„Tragende“, „Vertrag“, „Brauch“, „Gesetz“, „Naturgesetz“ (Lehre des Buddha), „Recht“, „Gerechtig-
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Zum Buddhismus und der Rolle des Dalai Lama für die Tibeter
des Buddha aus der Angereihten Sammlung (Anguttara-Nikaya) heißt es bezüglich dieser Daseinsfaktoren, daß sie 1. vergänglich, 2. leidhaft und 3. ohne Selbst, d.h. ohne
bleibende Identität bzw. ohne inhärentes Sein, sind (drei Daseinsmerkmale; vgl. NYANAPONIKA,
1993, Bd. 3, S. 238). Der Weg zur Reinheit (Visuddhi-Magga) führt dazu
folgende Strophen an:
Das Leben sowie alles Dasein,
Wie alle Freude, alles Leid,
Hängt bloß an einem Denkmoment,
Und schnell eilt der Moment dahin.
Sie [die Dharmas] kommen aus dem Ungesehenen,
Ins Ungeseh’ne eilen sie erlöschend.
Gleichwie der Blitz am Himmel leuchtet auf,
So kommen sie und schwinden wieder hin.
(NYANATILOKA MAHATHERA, 1997, S. 747)
Die menschliche Persönlichkeit ist aus dieser phänomenologischen Sicht eine
Konstellation von fünf Aggregaten von Dharmas, den sogenannten Skandhas2. Der erste
Skandha ist die Form oder Körperlichkeitsgruppe (rupaskandha). Darunter fällt der
gesamte Bereich des Physischen und Physiologischen, wobei der ontologische Status
der materiellen Welt je nach Schule variiert. Die Mahayana-Autoren3 aus der Nur-GeistSchule (Vijñanavada) vertreten eine ähnliche Sicht wie der deutsche Idealismus, und so
kann man im Lankavatara-Sutra immer wieder lesen, daß „die Welt nur etwas ist, das
vom Geiste allein gesehen [wird]“ (MURALT, 1988, S. 52). Der Skandha Gefühl (vedanaskandha) bezeichnet das Erleben angenehmer, unangenehmer und indifferenter
Gefühle. Mit Wahrnehmung bzw. Unterscheidung (samjñaskandha) ist die Fähigkeit
und der Vorgang gemeint, das zu unterscheiden, worauf das Gefühl sich bezieht, sprich:
charakteristische
2
Eigenschaften
zu
Schemen
zu
verdichten.
Der
Skandha
keit“, „Rechtschaffenheit“, „Eigenschaft“, „Ding“, „Denkobjekt“ oder „Daseinserscheinung“ bedeuten.
Siehe zur Dharmalehre auch HAYWARD, 1996, S. 77 — 80; THICH NHAT HANH, 1995, Buch 1, S. 35.
Weitere Übersetzungen des Sanskritbegriffes Skandha bzw. Khandha (Pali) sind: Anhäufungen, Daseinsgruppen, Greifegruppen. Siehe zur Lehre von den Skandhas z.B. HAYWARD, 1996, S. 80 — 83;
MURALT, 1988, S. 91 f.; NYANATILOKA, 1989, S. 106 — 111; 1995; 1997, S. 493 — 556; SOGYAL
RINPOCHE, 1994, S. 296; THICH NHAT HANH, 1995, Buch 1, S. 25 f.; TRUNGPA, 1994, S. 29 — 32.
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Zum Buddhismus und der Rolle des Dalai Lama für die Tibeter
Eigenschaften zu Schemen zu verdichten. Der Skandha Geistesformationen (samskaraskandha) bezieht sich auf eine ganze Liste von — meist mit dem Skandha Bewußtsein
(vijñanaskandha) verbundenen — Phänomenen wie z.B. Wille, diskursives Denken,
Aufmerken etc. Für das Bewußtsein existieren je nach unterschiedenem Aspekt mehrere
Einteilungen. Festzuhalten bleibt folgendes: Verbinden sich aufgrund bestimmter Ursachen die Daseinsfaktoren oder Dharmas zu den Aggregaten, die eine Person konstituieren, ist trotzdem über die konventionelle Bezeichnung „Person“ hinaus kein Ich oder
Individuum im Sinne eines inhärent existierenden Seelensubstrates zu finden, ebensowenig eine jenseits der Erfahrung an sich bestehende Welt. Dazu im Visuddhi-Magga:
Nicht findet man der Taten Täter,
Kein Wesen, das die Wirkung trifft,
Nur leere Dinge zieh’n vorüber:
Wer so erkennt, hat rechten Blick.
Da gibt es weder Gott noch Brahma,
Der dieses Daseinsrad erschuf:
Nur leere Dinge zieh’n vorüber.
Durch viele Ursachen bedingt.
Bloß Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da.
Bloß Taten gibt es, doch kein Täter findet sich.
Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Mann.
Den Pfad gibt es, doch keinen Wand’rer sieht man da.
(NYANATILOKA MAHATHERA, 1997, S. 719f., 721, 597)
Die Ursache für die ständige Neuentstehung von Dharmas, zwischen denen Lücken
(Bardos)4 von Nichtdualität liegen, ist Karma5, womit der mit dem Bewußtsein verbundene Wille gemeint ist, der zu positiven, neutralen und negativen geistigen, sprachlichen
und körperlichen Handlungen führt (vgl. NYANAPONIKA, 1993, Bd. 3, S. 241). Eine An3
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Mahayana, wörtlich übersetzt mit „Großes Fahrzeug“, meint eine Richtung des Buddhismus, die im
ersten oder zweiten Jahrhundert v. Chr. aufkam (vgl. THICH NHAT HANH, 1999, S. 22f.).
Bardo (tibetisch) bedeutet „Übergang“ und leitet sich ab von Bar = dazwischen und do = aufgehängt/
geworfen. Siehe hierzu SOGYAL RINPOCHE, 1994, S. 131 — 158.
Wörtl. „Tat“, „Wirken“ nach NYANATILOKA, 1989, S. 98.
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Zum Buddhismus und der Rolle des Dalai Lama für die Tibeter
häufung von Dharmas, die den Namen „Mensch“ trägt, bildet also die Ursache6 für die
nächste Konstitution eines Erfahrungsaugenblicks, der die Wirkung und Fortsetzung des
ersten ist, vergleichbar einer Flamme, die in jedem Moment eine andere ist, jedoch von
der vorhergehenden verursacht wurde. Der Visuddi-Magga spricht dazu folgendes:
Die Daseinsgruppen [Skandhas], die erloschen,
Beim Sterben wie im Leben schon,
Sind alle, alle gleicherweise
Dahin auf Nimmerwiederkehr.
Ob sie g’rad jetzt erloschen sind,
Ob sie erlöschen künftighin,
Ob sie erlöschen zwischendurch,
Im Wesen ist kein Unterschied.
(NYANATILOKA MAHATHERA, 1997, S. 747)
Diese Abwesenheit einer über das Begriffliche hinausgehenden Selbstheit sowohl in
Personen als auch in Dingen (vgl. MURALT, 1988, S. 83) nennt die Mahayana-Tradition
Shunyata, die Leerheit. Und so wird im sehr bekannten Herz-Sutra (Maha-PrajnaParamita-Hridaya-Sutra) ausgeführt:
Höre Shariputra, alle Dharmas sind durch Leerheit gekennzeichnet; weder entstehen sie [als Gebilde
mit immanentem Sein], noch vergehen sie, sie sind weder rein noch unrein, weder zunehmend noch
abnehmend. Daher gibt es in der Leerheit weder Form, noch Empfindung [Gefühl], noch Wahrnehmung, noch geistige Formkraft, noch Bewußtsein … (THICH NHAT HANH, 1995, Buch 1, S. 17)
Erkennt ein Mensch diese Leerheit der Dinge und Personen intuitiv, d.h. nicht nur begrifflich als Gegenstand des diskursiven Verstandes, wird er augenblicklich von allem
Leiden befreit und sieht die Dinge in ihrem So-Sein (Tathata), was ihn zu einem Erwachten oder Befreiten (Buddha, Tathagata) macht, der selbst die Dualität von bedingter, relativer Welt des Erleidens von Geburt und Tod (Samsara) auf der einen Seite und
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Je nach Schule werden verschieden viele Ursache-Wirkungs-Relationen unterschieden. Bei NYANATILOKA, 1989, S. 145ff. sind 24 Formen von Paccaya („Bedingung“) genannt. Die Ausführung der Art
der Bedingungen im Strom der Skandhas würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen.
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Zum Buddhismus und der Rolle des Dalai Lama für die Tibeter
unbedingter, geburt- und todloser Welt (Nirwana) auf der anderen Seite transzendiert
hat. Das Lankavatara-Sutra sagt uns dazu im letzten Satz:
Wenn sie [die Wesen] jedoch nur dieses verwirklicht haben, befinden sie sich bereits im Nirwana der
Tathagatas, im Edlen Wissen, denn alle Dinge sind schon von Anfang an im Nirwana. (MURALT, 1988,
S. 167)
Aus dem Gesagten sollte nun schon deutlich geworden sein, daß das Problem der Willensfreiheit für den Buddhismus nur ein Scheinproblem ist. Der auf Ceylon (Sri Lanka)
lehrende deutsche Mönch und Gelehrte NYANATILOKA (1989) sagt speziell dazu:
Angesichts dieser Lehre des Buddha nun, daß alles in der Welt ein bedingtes Entstehen hat, da möchte
manch einer zum Schlusse kommen, daß der Buddhismus eine Art Fatalismus sei und lehre, daß der
Mensch keinen freien Willen besitze, oder daß der Wille nicht frei sei. Das Problem, ob der Mensch
einen freien Willen besitze, wird schon deshalb für den Buddhisten hinfällig, weil er in diesen stets
wechselnden körperlichen und geistigen Daseinsphänomenen [Dharmas] in Wirklichkeit gar keine getrennte sich gleichbleibende Einheit entdecken kann, die er als ‘Mensch’ bezeichnen könnte und weil
daher ‘Mensch’ für ihn ‘im höchsten Sinne’ ein leeres Wort ist. Die Frage aber, ob der Wille frei sei,
muß er aus dem Grunde verwerfen, weil der Wille, genau genommen, ein bloß für einen Augenblick
aufblitzendes geistiges Phänomen ist und im vorangehenden Augenblicke überhaupt noch gar nicht bestanden hat und man daher von einem noch gar nicht entstandenen Dinge nicht sagen kann, ob es frei
sei oder unfrei. Die einzige berechtigte Frage wäre hier: ‘Ist die Entstehung des Willens etwas Bedingtes oder etwas Zufälliges?’ Dieselbe Frage aber würde auch genau so am Platze sein bei allen anderen
geistigen Phänomenen, wie auch bei allen physischen Phänomenen, kurz gesagt, bei allen Dingen und
Geschehnissen überhaupt. Und die Antwort darauf würde etwa lauten müssen: Sei es Wille, oder Gefühl, oder irgend ein anderes geistiges oder ein körperliches Phänomen: was immer entsteht, entsteht
in Abhängigkeit von Bedingungen, und ohne diese Bedingungen kann nichts zum Entstehen kommen.
Nach dem Buddhismus gibt es keinen blinden Zufall. (S. 172f.)
Theoretisch wäre es aus buddhistischer Sicht möglich, daß ein erwachter Mensch —
befreit von der Illusion eines inhärent existierenden Ich-Selbst und damit von den Zwängen des Daseinskreislaufes (Samsara) — nicht mehr „wiedergeboren“ wird, d.h. keine
Bindung an Körperliches und Geistiges mehr eingeht. Dies würde natürlich auch das
Verlöschen des Bewußtseinskontinuums bedeuten. In der Tradition des Großen
Fahrzeugs (Mahayana) hat sich im Laufe der Geschichte ein Ideal entwickelt, das die
Leidensbefreiung nicht nur einer Elite von Mönchen und Nonnen, sondern allen fühlen19
Zum Buddhismus und der Rolle des Dalai Lama für die Tibeter
den Wesen ermöglichen soll: der/die Bodhisattva (wörtl. „Erleuchtungswesen“). Darunter versteht man ein befreites Wesen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, noch so lange die Runden von Geburt und Tod mitzumachen, bis auch das letzte fühlende Geschöpf
Erleuchtung gefunden hat. Der bekannteste und insbesondere in Tibet am meisten verehrte Bodhisattva ist AVALOKITESHVARA (tib. CHENREZIG), der „gnädig herabblickende
Herr“ oder der „Herr, der in alle Richtungen sieht“ (RÁCZ, 1978, Tafel 5). Ob männlich
oder weiblich, sieht man den Bodhisattva meist mit einer weißen Lotosblüte und oft
vielen Armen (mit Augen in den Handflächen) dargestellt, die das liebevolle und von
Weisheit geführte Sichhinwenden symbolisieren. AVALOKITA (Kurzform; vgl. THICH
NHAT HANH, 1995, Buch 1, S. 23) ist die Schutzgottheit Tibets (vgl. RÁCZ, 1978, Tafel
5), und alle DALAI LAMAs gelten als Inkarnationen dieses Bodhisattvas des Mitgefühls.
Der XIV. DALAI LAMA sagt dazu folgendes:
Ich werde oft gefragt, ob ich das wirklich glaube. Die Antwort darauf ist nicht leicht. Doch wenn ich
als Sechsundfünfzigjähriger auf meine Erfahrungen in diesem Leben zurückblicke und hinzunehme,
was ich als Buddhist glaube, dann fällt es mir nicht schwer zu akzeptieren, daß es zwischen mir und
den früheren dreizehn Dalai Lamas, Chenrezig und selbst Buddha eine spirituelle Verbindung gibt.
(GYATSO, 1990/1997, S. 20f.)
Da es für einen Bodhisattva keine Dualität von Nirwana und Samsara mehr gibt, ist die
große Aufgabe, alle fühlenden Wesen vom Leid zu befreien, keine qualvoll zu tragende
„Märtyrerlast“, sondern das natürliche Wirken des aus der Illusion erwachten Geistes.
Wie sich das für ihn/sie darstellt, lesen wir in der dialektischen Erzählweise des Sutra
über den Diamant, der die Illusion durchschneidet (Vajracchedika-Sutra):
‘Und wenn die nicht zu zählende, unermeßliche, unendlich große Anzahl der Wesen befreit ist, denken
wir nicht, daß auch nur ein einziges Wesen befreit ist.’
Warum ist das so? Wenn, Subhuti, ein Bodhisattva an der Vorstellung festhält, daß ein Selbst, eine Person, ein Lebewesen oder eine Lebensspanne existiere, dann ist er kein echter Bodhisattva. (THICH
NHAT HANH, 1995, Buch 4, S. 12)
Als echter Bodhisattva hat der DALAI LAMA also die Freiheit, seine Wiedergeburt so zu
wählen, daß er allen am besten helfen kann. Gleichzeitig ist er als Mensch jedoch den
gleichen Wirkfaktoren und Beeinflussungen der physischen und sozialen Welt ausge20
Zum Buddhismus und der Rolle des Dalai Lama für die Tibeter
setzt wie jeder andere auch. Wie diese zwei Ebenen ineinandergreifen, sei nun im letzten Abschnitt diskutiert.
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Jenseits von Freiheit und Determination
5 JENSEITS VON FREIHEIT UND DETERMINATION
Wir haben zwei Ebenen, die es zu verbinden gilt: eine relative oder konventionelle Ebene, in der es um die Person TENZIN GYATSO und sein Umfeld geht, und eine von Buddhisten als absolut ausgewiesene Ebene, die das gegenseitige Verbundensein von Allem
und die Leerheit von inhärenter Existenz beinhaltet (vgl. THICH NHAT HANH, 1999, S.
122ff.). Möchte man nun das Leben des DALAI LAMA als Mensch (relative bzw. konventionelle Ebene) unter dem Gesichtspunkt der Freiheit bzw. Determination besprechen,
könnte man nur allzuleicht einem von zwei Extremen verfallen: einem mechanistischen
Menschenbild, das z.B. der klassischen tiefenpsychologischen Sicht zugrunde liegt (vgl.
SCHNEEWIND, 1992a), oder einem organismischen Menschenbild, wie es Psychologen
aus der humanistischen Tradition vertreten (vgl. SCHNEEWIND, 1992b).
Ein traditioneller Tiefenpsychologe würde vermutlich folgendes fragen: „Wie kommt
man dazu, den höchst deprivativen und triebfeindlichen Lebensstil eines Mönchs anzunehmen und auch noch zu meinen, man tue dies auch freien Stücken?“ Die Antwort
würde im Fall des XIV. DALAI LAMA dann etwa so ausfallen: Da sind nomadisch lebende Bauern in Tibet, die in unaufgeklärter Weise an eine Religion glauben, welche von
Taten und deren Wirkungen lehrt. Da der Vater zufälligerweise zur Geburt des Sohnes
von einer schweren Krankheit genesen ist, glaubt er, der Welt nun etwas schuldig zu
sein und erzieht seinen Sohn zum Mönch. Bereits in der phallischen Phase (ca. 4 — 6
Jahre), in der normalerweise die moralischen Maßstäbe des als Rivalen um die Liebe der
Mutter angesehenen Vaters durch den Abwehrmechanismus der „Identifikation mit dem
Aggressor“ introjiziert werden, lebt der Junge in einer patriarchalischen Klosterinstitution, die ihn also sozialisiert. Darum projiziert das Kind seine Omnipotenzphantasien auf
ein spirituelles Ideal, an dem er als Mönch symbiotisch-regressiv partizipieren kann.
Durch die Identifikation mit den Vaterersatzfiguren meint der Junge schließlich, es sei
sein freier Wunsch, weltliche Genüsse zugunsten eines geistlichen Zieles aufzugeben. In
den monastischen Ritualen wird der eigentliche Wunsch nach Macht sublimiert — der
„Donnerkeil“ (ein ritueller Gebetsgegenstand) könnte als phallisches Symbol gedeutet
werden —, und die aggressiven Impulse richten sich auf die eigenen Triebregungen. Der
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Jenseits von Freiheit und Determination
Wunsch, andere zu kontrollieren, findet aus dieser Interpretationsperspektive seine sozial anerkannte Form im Helfen und Lehren, und libidinöse Gefühle nehmen des Gesicht
des Mitleids an. Als geistliches und politisches Oberhaupt genießt dieser Mensch reale
Macht, die in den eigenen Omnipotenzphantasien sogar den Tod bezwingen.
Der Fehler dieser Interpretation liegt nicht nur darin, daß neben einem unbegründet
schwarzen Menschenbild (der Mensch sei „eigentlich“ ein asoziales Triebwesen) die
Sozialisation des Knaben in der prüden Gesellschaft zu Zeiten FREUDs als allgemeines
Entwicklungsschema angesehen wird, sondern, daß auch noch unreflektiert von der Übermacht einer als objektiv und real gesetzten Außenwelt ausgegangen wird, die ihren
„Abdruck“ im Inneren der menschlichen Seele hinterlasse. Daß diese Seele fortan in
einen Kampf zwischen der verinnerlichten sozialen Umwelt (Gewissen) und der egoistischen, nach außen gerichteten Triebwelt (Es, Triebe) gerät, sei Schicksal des Menschen.
Doch wer den DALAI LAMA ansieht oder seine Lebensgeschichte ließt, wird keinen
Kampf entdecken können — auch nicht mit den eigenen z.B. sexuellen Regungen (vgl.
GYATSO, 1990/1997, S. 300f.). Außerdem müßte diese tiefenpsychologische Interpretation den historisch gesicherten Umstand leugnen, daß ein Suchtrupp von Lhasa kam, um
den zukünftigen DALAI LAMA zu suchen. Wenn das nur kontingente Ereignisse sind, die
mit der Auffälligkeit des Jungen als Kleinkind (Vorliebe für Mönche etc.) und seinen
richtigen Entscheidungen bei besagtem „Mehrfachwahl-Testverfahren“ (Gegenstände
des letzten DALAI LAMA erkennen) nichts zu tun haben, könnte man den ideologischen
Blick gleich noch weiter verschließen und behaupten, die tibetische Gesellschaft betreibe im Dienste der Religion Kindesentführung. Vielleicht ist diese Sicht doch etwas zu
ethnozentristisch für die Bewertung einer alten, fremden Kultur.
Die Frage, die ein am organismischen Modell orientierter Theoretiker bezüglich unseres Themas stellen würde, wäre: „Wie wird die grundlegende Eigenaktivität und Freiheit des Menschen von der Umwelt gefördert oder behindert?“ Also auch hier zuerst
eine Setzung: die Freiheit und Eigenaktivität. Die gleiche Geschichte von oben würde
nun so erzählt werden: Da ist ein tibetischer Junge, der den Drang verspürt, Mönch zu
werden, was die Eltern angesichts ihrer harten Lebenssituation als Kleinbauern mit vielen Kindern begrüßen. Zufälligerweise sucht man in Tibet gerade das neue religiöse und
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Jenseits von Freiheit und Determination
politische Oberhaupt und sieht diesen Jungen als geeigneten Kandidaten an, was seine
Entwicklung im Sinne einer Selbstaktualisierung oder Selbstverwirklichung enorm vorantreibt. Derart von der Erziehung gefestigt, wird der jugendliche DALAI LAMA nicht
einmal von den Wirren der politischen Unruhen aus seiner Bahn geschmissen. Aus freiem Entschluß geht er ins Exil, um seinem Ideal auf diese Weise näherzukommen.
Diese „Pflänzchentheorie“, die einen nur allzuleicht in einen pädagogischen Pessimismus verfallen läßt, da Erziehung nur im Sinne einer Stütze des sich von selbst entfaltenden Potentials möglich sei, gerät leicht in eine Erklärungsnot, wenn man fragt, wo
und wie denn die authentischen Bedürfnisse und Anlagen eines Menschen festgelegt
seien.
Es ist meines Erachtens also ein am dialektischen Modell (vgl. SCHNEEWIND, 1992b)
orientierter Ansatz, der auf psychologischer Betrachtungsebene das treffend beschreibt,
was „letztlich“ einer Selbstheit entbehrt. In dieser Anthropologie wird von einem reziproken Person-Umwelt-Bezug ausgegangen. Der Mensch gestaltet die Umwelt, die ihn
formt, oder: die Umwelt macht das aus einem Menschen, was er aus ihr macht. Die Frage nach der Determination oder Freiheit des Willens bekommt hier eine andere Qualität.
Der Mensch ist zwar nicht determiniert wie eine „triviale Maschine“ (vgl. SIMON, 1995,
42ff.), die auf bestimmte Faktoren in immer gleicher, vorhersehbarer Weise reagiert;
ganz sicher jedoch gibt es Ursachen und Bedingungen dafür, daß er so fühlt und
wünscht, wie er es eben tut. Mit jeder Erfahrung ändert sich das System Mensch und
ermöglicht es seiner Umwelt, anders auf ihn zu wirken, wodurch auch er wiederum anders auf sie einwirkt. Abhängig ist solch ein dynamisches System besonders von seiner
eigenen Handlungsgeschichte.
Nun zur Rekonstruktion in dialektischer Manier: Der kleine LHAMO THÖNDUP, der
keine Angst vor Fremden hatte, Mönche liebte und — mit Vorliebe am Kopfende des
Tisches sitzend — nur der Mutter gewährte, seine Eßschale anzufassen, erweckte bei
seinen Eltern den Eindruck, er würde ein besonderer Mönch werden, was sicherlich zu
dem soliden Selbstvertrauen des späteren DALAI LAMA beigetragen hat. Und wenn er als
Jugendlicher sagt, er schuldete es seinem Volk, der „beste Mensch zu sein, der … [er]
sein konnte“ (GYATSO, 1990/1997, S. 89), so zeigt das, wie die Erwartung des tibeti24
Jenseits von Freiheit und Determination
schen Volkes wiederum auf seinen Selbstanspruch gewirkt hat. Handelte der junge
Mönch dann seiner Erziehung gemäß als Vermittler zwischen verfeindeten Nationen,
verstärkte sich natürlich die Überzeugung im tibetischen Volk, den wahren Bodhisattva
AVALOKITESHVARA gefunden zu haben. Doch die „Zufälle“, daß die Delegation zur Suche des XIV. DALAI LAMA ausgerechnet an seiner Haustür gelandet ist, der kleine LHAMO THÖNDUP
den Abt von Sera wiedererkennt (obwohl er ihn in diesem Leben noch nie
gesehen hatte) und die richtigen Besitztümer seines Vorgängers identifizieren kann,
müßten — wenn man wahrscheinlichkeitstheoretische Überlegungen anstellt — eigentlich gelogen sein. Selbst das unterstellt, bleibt jedoch die Tatsache, daß man ihn zum
XIV. DALAI LAMA „auserkoren“ hat. Berücksichtigt man oben Gesagtes zur Bedeutung
des DALAI LAMA in der tibetischen Kultur, so ist ausgeschlossen, daß jeder „nächstbeste“ Bauernjunge als seine Verkörperung ausgewählt und anerkannt wird. Es gilt also die
Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß die so mystisch und märchenhaft anmutende
Geschichte von der Entdeckung des DALAI LAMA inklusive seiner Implikationen wahr
sein könnte. Aber wie würde ein echter Bodhisattva, ein vom Leiden Befreiter und Erleuchteter also, auftreten, und wie würde er von seinem Leben erzählen? Er würde sich
bestimmt nicht mit „Gestatten, ich bin der gnädig herabblickende Herr“ in Szene setzen,
sondern betonen, daß er ein Mensch sei, wie dies ein bekannter Prophet aus Betlehem
vor ca. zweitausend Jahren schon getan hat. Ferner würde er Positives und Negatives
über sich in einer Weise berichten, die klar macht, daß es nicht auf kleine Fehler, auf
Ecken und Kanten ankommt, sondern darauf, daß man bemüht ist, ein gutes Herz zu
entwickeln und demgemäß zu handeln. Und schließlich dürfte die Selbstvorstellung
nicht der Unterstreichung der eigenen Wichtigkeit dienen, sondern sollte anderen helfen,
etwas zu lernen bzw. sie ermutigen. Dies trifft alles auf Seine Heiligkeit den XIV. DALAI
LAMA von Tibet zu: Er stellt sich als Mensch vor, erzählt mit Humor seine Stärken und
Schwächen aus dem Grund, weil andere etwas über ihn wissen wollen und aus seinem
Vorbild Kraft beziehen können. Gleichzeitig ist seine Autobiographie — sein verschriftlichtes Leben sozusagen — der Befreiung (in politischer wie spiritueller Hinsicht) von
Menschen gewidmet.
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Jenseits von Freiheit und Determination
Wir können also bezüglich des Problems der Freiheit versus Determination folgendes
als Ergebnis der Analyse der Autobiographie des XIV. DALAI LAMA festhalten: Freiheit
besteht nicht darin, immer das zu tun, was man eben jetzt gerne tun möchte; das ist die
bloße Versklavung an den eigenen, oft leidenschaftlichen und blinden Willen. Freiheit
besteht darin, zu erkennen, daß es in einem selbst gar kein isoliertes, einsames (atomisiertes) „Ich“ gibt, das an irgendwelche Ketten gebunden werden könnte, und, aus diesem Einsichtswissen um die gegenseitige Verbundenheit von Allem heraus, so menschlich wie möglich Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen — auch wenn
dies solch unangenehme Folgen haben mag wie die Vertreibung aus dem eigenen Land.
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Literatur
6 LITERATUR
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Freedom in Exil. The Autobiography of His Holiness The DALAI LAMA of Tibet)
HAYWARD, J. (1996). Die Erforschung der Innenwelt. Neue Wege zum wissenschaftlichen Verständnis von Wahrnehmung, Erkennen und Bewußtsein. Frankfurt/Main: Insel.
MURALT, R. von (Hrsg.). (1988). Meditations-Sutras des Mahâyâna-Buddhismus (Bd. 1,
3. Aufl., Übers. aus dem Engl. vom Hrsg.). Berlin/ Schweiz: Origo.
NYANAPONIKA (Hrsg.). (1993). Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung. Anguttara-Nikaya (Bd. 1 — 5, 5. Aufl.). Braunschweig: Aurum.
NYANATILOKA. (1989). Buddhistisches Wörterbuch (Buddhistische Handbibliothek 3, 4.
Aufl.). Konstanz: Christiani.
NYANATILOKA MAHATHERA (Hrsg.). (1995). Handbuch der Buddhistischen Philosophie.
Abhidhammattha-Sangaha (Übers. vom Hrsg.). Uttenbühl: Jhana.
NYANATILOKA MAHATHERA (Hrsg.). (1997). Der Weg zur Reinheit. Visuddhi-Magga.
Die größte und älteste systematische Darstellung des Buddhismus (7. Aufl., Übers.
aus dem Pali vom Hrsg.). Uttenbühl: Jhana.
RÁCZ, I. (1978). Kunst in Tibet. Stuttgart: Parkland.
SCHNEEWIND, K. A. (1992a). Persönlichkeitstheorien I. Alltagspsychologie und mechanistische Ansätze (2. Aufl.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
SCHNEEWIND, K. A. (1992b). Persönlichkeitstheorien II. Organismische und dialektische Ansätze (2. Aufl.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
SIMON, F. B. (1995). Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie:
Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik (2. Aufl.). Frankfurt/Main: Suhrkamp.
SOGYAL RINPOCHE. (1994). Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Ein
Schlüssel zum tieferen Verständnis von Leben und Tod (12. Aufl.). Bern: O. W. Barth.
27
Literatur
THICH NHAT HANH. (1995). Über die Worte Buddhas. Kommentare zu sechs wesentlichen Sutras. Berlin: Theseus.
THICH NHAT HANH. (1999). Das Herz von Buddhas Lehre. Freiburg: Herder.
TRUNGPA, C. (1994). Der Mythos Freiheit und der Weg der Meditation (2. Aufl.). Küsnacht/ Schweiz: Theseus.
TWORUSCHKA, U. (Hrsg.). (1987). Der Weg zum Heil: Buddha. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus Mohn.
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