1 Manuskript radioWissen SENDUNG: 17.08.2016 09.30 Uhr AUFNAHME: STUDIO: ETHIK, RELIGION Ab 9. Schuljahr TITEL: Zwischen Buddhismus und Kamikaze Die Symbolwelt der japanischen Kirschblüte AUTORIN: Isabella Arcucci REDAKTION: Bernhard Kastner REGIE: Christiane Klenz PERSONEN: Erzähler: Stefan Merki Zitator: Thomas Loibl Zitatorin: Caroline Ebner Zuspielungen: O-Töne von Prof. Dr. Steffen Döll, Japanischer Buddhismus an der Universität Hamburg; Yumiko Tachibana und Hanako Mori (Namen auf Wunsch der japanischen Interviewpartnerinnen geändert). Besondere Anmerkungen: ED 20.03.2013 _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Von ihrer Schönheit bezaubert fragt er sie, wer sie sei. Sie nennt ihm ihren Namen: Kono-hana no Sakuya-bime, Prinzessin Blühend-wie-die-Baumblüte. Die schöne Sakuya-bime ist die menschliche Personifizierung der Kirschblüte. MUSIK: 98003200 (00‘19‘‘) Zitator: Ich möchte dich zu meiner Gattin machen, wie wäre das? Zitatorin: Ich habe einen Vater Oho-yama-tsumi no kami. Ich bitte dich, frage ihn! _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 3 MUSIK ENDE Erzähler: Bei den ursprünglich wilden Kirschbäumen Japans, handelte es sich um Yamazakura, um Bergkirschen. Die große Berggottheit Oho-yama-tsumi no kami ist der Vater der Prinzessin Kirschblüte. Als der Himmelsenkel den Berggott um die Hand seiner Tochter bittet, schickt ihm dieser nicht nur Prinzessin Kirschblüte als Braut, sondern auch deren ältere Schwester Ihanaga-hime, Prinzessin Langewährend-wie-der-Fels. MUSIK: R0112200 006 (00‘55‘‘) Zitator: Doch der erlauchte Enkel fand die ältere Schwester hässlich, nahm sie nicht zur Frau und schickte sie zurück. (…) Ihanaga-hime aber war aufs äußerste gekränkt und sprach den Fluch: „Hätte der Himmelsenkel mich nicht verschmäht, sondern mich zur Gattin gemacht, so hätten die Kinder, die zur Welt kommen, ein langes Leben, es wäre so dauerhaft wie der harte Fels. Doch er hat allein meine jüngere Schwester zur Gattin genommen. Also werden die Kinder, die zur Welt kommen (…) den Baumblüten gleich verwelken und abfallen.“ (…) Das ist der Grund, weshalb das Leben der Menschen dieser Welt so kurz ist. MUSIK ENDE Erzähler: Prinzessin Kirschblüte gebiert dem Himmelsenkel die ersehnten Söhne. Somit ist die Kirschblüte, in Gestalt der Prinzessin, eine Ahnherrin des japanischen Kaisers und seiner Untertanen. Ihre Schwester symbolisiert den unverwüstlichen aber toten Fels. Die blühende Schönheit der Prinzessin Kirschblüte dagegen ist Ausdruck von Fruchtbarkeit. Doch Fruchtbarkeit und Verfall, Leben und Tod sind durch den Fluch der eifersüchtigen Felsschwester unlösbar miteinander verwoben. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Man findet sie zum Beispiel auch als Dekor auf geschmacklich fragwürdigen HelloKitty-Tassen. Das Anzeichen für einen kulturellen Niedergang? Was würde die Sakura-no-hana selbst darauf antworten, wenn man sie fragen könnte? Sie würde wohl eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Leben und Tod, die mal klingt wie ein Liebesroman, mal wie ein blutiges Kriegerepos und die erzählt, wie aus einer kleinen Blüte das Symbol einer Nation wurde. (MUSIK ENDE) _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Ungefähr eine Stunde von unserer Schule entfernt gab es einen Park mit wunderschönen Kirschbäumen, der oft das Ziel dieser Ausflüge war. Wir saßen dann gemeinsam unter den Blüten, haben Picknick gemacht und getanzt. Erzähler: Erinnert sich die 65-jährige Hanako Mori. MUSIK: Projektmusik (01‘37‘‘) So sittsam wie auf einem Grundschulausflug, ging es bei den Kirschblütenfesten des Altertums nicht zu. Tanz und Gesang waren schon immer Bestandteil des Blütenfestes und ursprünglich Teil der religiösen Riten. Die Schönheit der Frauen verglich man mit der Schönheit der Sakura no hana und unter den Blütenwolken erwachten Frühlingsgefühle. Zitatorin: Kirschblütenfarben – mein Schwarm, der mich nicht beachtet! Kirschblütenfarben röten sich meine Wangen sobald unsere Blicke sich treffen. Doch ach, es ist alles vergebens, kein Gespräch will zwischen uns entstehen. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 6 Die Blüten der Liebe in meinem Herzen blühen in solcher Pracht, dass es sich kaum in Worten sagen lässt. Erzähler: Die aufknospenden Kirschblüten als Sinnbild der erwachenden Sexualität! Davon singen in Japan noch heute Popbands, wie die ganz in rosa gewandete Girlgroup „Morgen-Mädchen“. Doch der Text lässt auch die schmerzliche Seite der Kirschblüten erahnen. Was, wenn der Schwarm für die Kirschblütenfarben erröteten Wangen nur ein müdes Lächeln übrig hat? Was, wenn einen die Liebste allein im Blütenregen stehen lässt? (MUSIK ENDE) Im 6. Jahrhundert gelangte der Buddhismus über China und Korea nach Japan und mit ihm das Bewusstsein, dass die Leidenschaften dem Menschen nichts als Leiden bereiten. Und dass letztendlich alles vergänglich ist. O-Ton Steffen Döll: Die Vergänglichkeit ist eine der buddhistischen Grundwahrheiten, wo eben gesagt wird, also dass das was wir glauben als unsere Identität, unser Selbst zu kennen, als die reale Welt zu kennen, das ist – eigentlich sind es Vorspiegelungen unseres Geistes sind. Wir werden geboren, glauben eine Existenz zu haben, und die zerfällt einfach mit dem Moment unseres Todes. Das heißt also, die Vergänglichkeit ist einer der Kernpunkte, die der Buddhismus überhaupt als Wahrheiten anerkennt. MUSIK: M0005089 007 (00‘28‘‘) Erzähler: Prof. Dr. Steffen Döll, Experte für japanischen Buddhismus an der Universität Hamburg. Im Frühling verwandelten ganze Alleen von eigens gepflanzten Kirschbäumen die Residenzstadt des Kaisers, das heutige Kyôto, in einen Blütentraum. Ein Blütentraum, der, im Sinne des Buddhismus, nur eine vergängliche Illusion war, die im Frühlingswind zerstob. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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In keinem anderen buddhistisch geprägten Land der Welt wird die Kirschblüte als Symbol der Vergänglichkeit gesehen - nirgends sonst wird ihre Schönheit so gefeiert wie in Japan. Zitatorin: Oh Kirschblüten! Wir wollen sie bewundern – bis sie fallen! Erzähler: Mono no aware nennen japanische Literaturwissenschaftler heute dieses Gefühl der Wehmut, welches den Adel beim Anblick der Blüten überkam. Mono heißt so viel wie „Ding“. Aware dagegen kann zum einen „angerührt sein“ bedeuten, oder auch einfach ein Ausruf der Ergriffenheit sein. Der Japanologe Prof. Peter Pörtner übersetzt den Begriff „Mono no aware“ als das „Herzzerreißende der Dinge“. Doch welche Dinge sind es genau, die vielen Japanern, damals so wie heute, das Herz zerrissen? Prof. Steffen Döll: _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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MUSIK: M0005089 007 (00‘36‘‘) Erzähler: Der Anblick fallender Kirschblüten trieb auch gestandenen Regierungsräten Tränen in die Augen. Wer das Herzzerreißende der Dinge empfand, der galt als kultiviert. Die Kirschblüten mahnten den buddhistisch gebildeten Betrachter daran, dass alles endlich ist, auch das eigene Leben. Zitator: Die Kirschen blühen in gleicher Farbenpracht und gleichem Duft wie in vergangenen Zeiten, doch ich, der sie betrachte, bin alt geworden mit den Jahren. MUSIK ENDE Erzähler: Bis heute ist die fallende Kirschblüte ein beliebtes Symbol für den Abschied. Vor allem auch für den Abschied zwischen Liebenden Zitator: Die Erinnerungen, die ich im Tanz der fallenden Kirschblüten verlor … sie kehren zurück… _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Unter dem militärischen Titel Shôgun übten er und seine Nachkommen die Herrschaft über Japan aus, während der Tennô und sein Hofstaat machtlos im Kaiserpalast vor sich hin lebten. Die Sakura no hana jedoch, blieb auch im Japan der strengen Samurai die gefeierte „Prinzessin Kirschblüte“. Das Hanami, das Kirschblütenfest, wurde zu einem zentralen Ereignis des Jahres, an dem alle Bevölkerungsschichten teilnahmen: vom Mönch bis hin zur Geisha. MUSIK: Projektmusik (01‘12‘‘) Ukiyô die „fließende Welt“, nannte man die Vergnügungsviertel jener Zeit, in denen Theater und schöne Frauen lockten. Der Begriff Ukiyô kam ursprünglich aus dem Buddhismus und erinnerte an die Flüchtigkeit der irdischen Sinnesfreuden. Die prächtige Kirschbaumallee im berühmten Freudenviertel _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Das Shôgunat wollte vor allem den Einfluss christlicher Missionare nicht länger dulden. Japan konnte sich nun ganz auf sich selbst konzentrieren. Seit Jahrhunderten hatte Japan die Kultur seines großen Bruders China nachgeahmt. Im 18. Jahrhundert bildete sich eine Gruppe patriotisch gesinnter Intellektueller, die nicht nur der Regierung des Shôgun kritisch gegenüber standen, sondern auch das übermächtige chinesische Erbe abschütteln wollten. In alten Schriften suchten sie fieberhaft nach der angeblich ursprünglichen Kultur Japans. Dabei stießen sie auf Geschichten, wie jene vom Himmelsenkel und der Prinzessin Kirschblüte. Zitator: Fragt man dich, wie das Herz eines wahren Japaners beschaffen ist, deute auf die wilde Kirsche, die in der Sonne duftet. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. 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Auch hartgesottene Samurai dichteten rührselige Verse auf die Kirschblüte und identifizierten sich mit ihr. „So wie die Kirschblüte die erste unter den Blumen ist, so soll der Krieger der erste unter den Männern sein!“ lautete ein Sprichwort. Auch die Shôgunatsregierung selbst ließ in den Städten zahlreiche Kirschbäume anpflanzen. Als Mitte des 19. Jahrhunderts Japan seine Isolation aufgab und Fremde zu Hauf ins Land strömten, sahen sie Japan so, wie es sich selbst am liebsten sah: als Land der Kirschblüte! Zitator: Als ich zurücksah, war die Welt ertrunken in Kirschblüten. Erzähler: So das Haiku des Dichters Chora. Bis heute gilt die Sakura no hana als Symbol der japanischen Kultur. Doch viele moderne Japaner verbinden mit der Kirschblüte darüber hinaus die ganz persönliche Erfahrung des Erwachsenwerdens. Der Frühling ist in Japan die Zeit, in der das alte Schuljahr endet und das neue beginnt. MUSIK: Projektmusik (00‘45‘‘) _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 12 Für die Schulabgänger, die in dieser Zeit mit einer Ausbildung oder dem Studium beginnen, bedeutet das Erblühen der Kirschbäume den Abschied von der Kindheit und den Eintritt ins Erwachsenenleben. Zitatorin: Jeder von uns tritt nun seine eigene Reise in die Zukunft an! In der Zeit wenn die Kirschblüten blühen, ertönt von irgendwoher die Glocke der Hoffnung… Lasst uns gemeinsam die Treppe zum Erwachsenenleben emporsteigen und zurück winken! Erzähler: Mädchen, die ihnen mit Kirschblütenzweigen zuwinkten (MUSIK ENDE): das war für viele Kamikazepiloten der letzte Abschiedsgruß, bevor sie noch im Frühjahr 1945, nur wenige Monate vor Japans Kapitulation, ihre Reise antraten. Eine Reise, die sie nicht in die Zukunft führte, sondern geradewegs in den Tod. MUSIK: priv. LP „Ranta“ (00‘50‘‘) „Kirschblüte“ wurden die Flugzeuge genannt, auf deren Seite ein rosa Blütenemblem prangte und in deren Inneren sich eine Bombe befand. Die Aufgabe der Piloten war es, ihr Flugzeug geradewegs in ein feindliches Ziel hineinzusteuern – und mitsamt der Bombe zu explodieren. Auch U-Bootpiloten wurden von der Marine auf diese Weise eingesetzt. Die meisten der Kamikazepiloten waren Studenten. Viele von ihnen zwangsrekrutiert. Die Militärpropaganda verglich die jungen Männer, die in der Blüte ihrer Jugend ihr Leben lassen sollten, mit abfallenden Kirschblüten. Die reine Schönheit der Sakura no hana, sie sollte für die edle Gesinnung der Männer stehen, die, gemäß der Tradition der Samurai, Ehre und Loyalität über das eigene Leben stellten. In dem berühmten Buch „Bushidô“, „Der Weg des Kriegers“, hatte der Philosoph Inazô Nitobe bereits im Jahr 1900 geschrieben: _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 13 Zitator: Die Ritterlichkeit ist eine Blume, die auf dem Boden Japans so heimisch ist wie ihr Symbol die Kirschblüte. Erzähler: Die Kriegspropaganda machte sich diese Symbolik zu Nutze (MUSIK ENDE). Die Seelen der gefallenen Männer, so hieß es, würden weiterleben: in den Kirschblüten, die bis heute alljährlich im Yasukuni-Schrein in Tôkyô blühen. O-Ton Yumiko Tachibana Zitatorin: Unter den Militärliedern, mit denen die japanischen Soldaten in den Zweiten Weltkrieg zogen, gab es auch ein Lied namens „Kirschblütenkamerad“. Oh je, ich kann gar nicht singen… MUSIK: Projektmusik (00‘50‘‘) Zitator: Du und ich, wir sind wie Kirschblüten desselben Jahrgangs, und wir blühen beide im Garten der Militärakademie. In voller Blüte stehend, sind wir entschlossen zu fallen, in Pracht und Schönheit zum Wohle des Vaterlandes! Du und ich, wir sind wie Kirschblüten desselben Jahrgangs, auch wenn jeder von uns an einem anderen Ort fallen wird. Eines schönen Frühlings werden wir wieder vereint sein: im Yasukuni-Schrein, der Hauptstadt der Blumen, werden wir gemeinsam auf einem Baumwipfel blühen. MUSIK ENDE Erzähler: Genauso wie die Kirschblüte klaglos vom Baum fällt, so sollten auch die japanischen Männer ohne Zögern ihr Leben hingeben – zum Wohle des Vaterlandes. Längst nicht alle taten dies freiwillig, wie oft behauptet wird. Viele _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 14 Piloten waren noch halbe Kinder, die dem Gruppenzwang nicht standhielten und aus Angst vor öffentlicher Demütigung in den eigenen Selbstmord einwilligten. Der Anblick fallender Kirschblüten – für den Vater von Yumiko Tachibana war er gleichbedeutend mit quälenden Erinnerungen. O-Ton Yumiko Tachibana Zitatorin: Mein Vater war in der japanischen Marine Ausbilder der Tokkôtai, der Kamikazeeinheit. Er hat junge Männer trainiert, um sie dann in den Krieg zu schicken. Mein Vater hat später furchtbar unter dem Schuldgefühl gelitten, dass er für den Tod dieser Männer verantwortlich war, dass es im Grunde er war, der sie umgebracht hat. Jedes Jahr am 15. August, dem Jahrestag von Japans Kapitulation, hat er schrecklich geweint. Als Kind habe ich immer gedacht, „Vater hat doch so viele Fähigkeiten, er könnte doch so viel in der Gesellschaft bewirken!“ Aber diese Schuldgefühle haben ihn bis zu seinem Tod verfolgt. Er hat auch so gut wie nie über den Krieg gesprochen. Kirschblüten stehen für mich deshalb für die „Kirschblütenkameraden“. Wenn ich Kirschblüten sehe, dann muss ich unweigerlich an die Kriegserfahrung meines Vaters denken. Erzähler: „Sange“ nannte die Militärpropaganda den Tod der Soldaten. Sange bezeichnet ein buddhistisches Ritual, bei dem Blumen verstreut werden. Doch das, was feindliche Soldaten nach einem Angriff von acht Kamikazefliegern zu sehen bekamen, hatte nichts mit der Schönheit gefallener Blüten gemein. Zitator: Hier und da fanden sie Fleischfetzen und andere Überreste (…) der japanischen Piloten – Zungen, schwarze Haarbüschel, ein Gehirn, einige Arme, ein Bein. _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de 15 Erzähler: Die Selbstaufopferung der „Kirschblütenkameraden“ war vergebens. Japan musste kapitulieren. MUSIK: Projektmusik (00‘21‘‘) Wer heute ein Kirschblütenpicknick in Japan erlebt, der wird zwischen all den Sake-Flaschen und Sushiröllchen kaum Mono no aware empfinden, geschweige denn an das Schicksal der Kamikazepiloten denken. (MUSIK ENDE) Das Hanami ist ein freudiges Ereignis. Im Frühjahr 2011 war diese Freude durch die Tsunami-Katastrophe von Fukushima getrübt. MUSIK: 98003200 (01‘18‘‘) Doch als einen Monat nach dem Beben die Kirschbäume in der Krisenregion zaghaft zu blühen begannen, ließen die Japaner in Internetblogs ihren Gefühlen für die Sakura no hana freien Lauf. Zitator: Endlich bist du für uns erblüht! Den tagelang anhaltenden Nachbeben mit deinen zarten Zweigen trotzend… Wahrhaftig, die Kirschblüte der Hoffnung. Erzähler: Der Fluch der Felsprinzessin scheint sich erfüllt zu haben. Doch auch wenn das menschliche Leben genauso vergänglich ist wie das der Blüten, so blühen die Kirschbäume doch jedes Jahr wieder und wecken Hoffnung: auf einen Neubeginn. O-Ton Hanako Mori Zitatorin: Mein ältester Sohn ist an einem 24. März geboren. Zu dieser Zeit begannen sich gerade die ersten Knospen zaghaft zu öffnen. Als ich dann nach einer Woche mit meinem Kind aus dem Krankenhaus entlassen wurde standen die Kirschbäume in voller Blüte. Da habe ich wirklich ein unheimliches Glücksgefühl empfunden! _____________________________________________________________________________________________ Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden. Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich! © Bayerischer Rundfunk 2016 Bayern 2-Hörerservice Bayerischer Rundfunk, 80300 München; Service-Nr.: 0800 / 5900 222 Fax: 089/5900-46258 [email protected]; www.bayern2.de