ATMO Wüste: Heulender Wind, Sandsturm, Hyänen

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1
Manuskript
radioWissen
SENDUNG: 17.08.2016
09.30 Uhr
AUFNAHME:
STUDIO:
ETHIK, RELIGION
Ab 9. Schuljahr
TITEL:
Zwischen Buddhismus und Kamikaze
Die Symbolwelt der japanischen Kirschblüte
AUTORIN:
Isabella Arcucci
REDAKTION:
Bernhard Kastner
REGIE:
Christiane Klenz
PERSONEN:
Erzähler: Stefan Merki
Zitator: Thomas Loibl
Zitatorin: Caroline Ebner
Zuspielungen:
O-Töne von
Prof. Dr. Steffen Döll, Japanischer Buddhismus an der
Universität Hamburg;
Yumiko Tachibana und Hanako Mori
(Namen auf Wunsch der japanischen
Interviewpartnerinnen geändert).
Besondere Anmerkungen:
ED 20.03.2013
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Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
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2
MUSIK: 98003200 (00‘14‘‘)
Zitator:
„Wessen Tochter bist Du?“
Zitatorin:
„Ich bin die Tochter des Oho-yama-tsumi no kami. Ich heiße (…) Kono-hana no
Sakuya-bime.“
MUSIK ENDE
Erzähler:
Zwei Liebende begegnen sich zum ersten Mal. Der Himmelsenkel und seine
zukünftige Braut. Die Geschichte dieses Paares berichtet das Nihonshoki, „die
Annalen Japans“. Das Nihonshoki wurde 720 verfasst und erzählt die Mythologie
des japanischen Kaiserhauses.
Die Sonnengöttin befiehlt ihrem Enkelsohn, vom Himmel herab zu steigen, um das
Land „der frischen Ähren und der reichen Schilfgefilde“ zu regieren, das heutige
Japan. Als der erlauchte Enkel versonnen am Meeresstrand seines neuen
Reiches spazieren geht, trifft er ein junges Mädchen. Von ihrer Schönheit
bezaubert fragt er sie, wer sie sei. Sie nennt ihm ihren Namen: Kono-hana no
Sakuya-bime, Prinzessin Blühend-wie-die-Baumblüte. Die schöne Sakuya-bime ist
die menschliche Personifizierung der Kirschblüte.
MUSIK: 98003200 (00‘19‘‘)
Zitator:
Ich möchte dich zu meiner Gattin machen, wie wäre das?
Zitatorin:
Ich habe einen Vater Oho-yama-tsumi no kami. Ich bitte dich, frage ihn!
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3
MUSIK ENDE
Erzähler:
Bei den ursprünglich wilden Kirschbäumen Japans, handelte es sich um
Yamazakura, um Bergkirschen. Die große Berggottheit Oho-yama-tsumi no kami
ist der Vater der Prinzessin Kirschblüte. Als der Himmelsenkel den Berggott um
die Hand seiner Tochter bittet, schickt ihm dieser nicht nur Prinzessin Kirschblüte
als Braut, sondern auch deren ältere Schwester Ihanaga-hime, Prinzessin
Langewährend-wie-der-Fels.
MUSIK: R0112200 006 (00‘55‘‘)
Zitator:
Doch der erlauchte Enkel fand die ältere Schwester hässlich, nahm sie nicht zur
Frau und schickte sie zurück. (…) Ihanaga-hime aber war aufs äußerste gekränkt
und sprach den Fluch: „Hätte der Himmelsenkel mich nicht verschmäht, sondern
mich zur Gattin gemacht, so hätten die Kinder, die zur Welt kommen, ein langes
Leben, es wäre so dauerhaft wie der harte Fels. Doch er hat allein meine jüngere
Schwester zur Gattin genommen. Also werden die Kinder, die zur Welt kommen
(…) den Baumblüten gleich verwelken und abfallen.“ (…) Das ist der Grund,
weshalb das Leben der Menschen dieser Welt so kurz ist.
MUSIK ENDE
Erzähler:
Prinzessin Kirschblüte gebiert dem Himmelsenkel die ersehnten Söhne. Somit ist
die Kirschblüte, in Gestalt der Prinzessin, eine Ahnherrin des japanischen Kaisers
und seiner Untertanen. Ihre Schwester symbolisiert den unverwüstlichen aber
toten Fels. Die blühende Schönheit der Prinzessin Kirschblüte dagegen ist
Ausdruck von Fruchtbarkeit. Doch Fruchtbarkeit und Verfall, Leben und Tod sind
durch den Fluch der eifersüchtigen Felsschwester unlösbar miteinander verwoben.
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MUSIK: Projektmusik (00‘30‘‘)
Zitatorin:
Sakura, oh Kirschblüten!
Sieh nur der Frühlingshimmel
Wohin du blickst.
Ist es Nebel oder sind es Wolken?
All der Duft und die Farben!
Kommt, Kommt!
Wir wollen hingehen und uns an dem Anblick weiden.
MUSIK ENDE
Erzähler:
So der Text des Volksliedes „Sakura, Sakura“. Sakura no hana wird die
Kirschblüte auf japanisch genannt. Sakura bedeutet Kirsche, hana heißt auf
japanisch Blume. Die atemberaubende Schönheit der Kirschblüten dauert meist
nur wenige Tage. Wenn die Blüten am schönsten sind ist auch bereits die Zeit
gekommen, da sie abfallen müssen.
MUSIK: Projektmusik (00‘46‘‘)
Erzähler:
Die japanische Kirschblüte wird heute nicht nur in Volksliedern besungen. Man
findet sie zum Beispiel auch als Dekor auf geschmacklich fragwürdigen HelloKitty-Tassen. Das Anzeichen für einen kulturellen Niedergang? Was würde die
Sakura-no-hana selbst darauf antworten, wenn man sie fragen könnte? Sie würde
wohl eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Leben und Tod, die mal
klingt wie ein Liebesroman, mal wie ein blutiges Kriegerepos und die erzählt, wie
aus einer kleinen Blüte das Symbol einer Nation wurde. (MUSIK ENDE)
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Zu der Zeit, als die Erzählung der schönen Sakuya-bime niedergeschrieben
wurde, galt die Bergkirsche als heiliger Baum, obwohl seine Früchte für Menschen
ungenießbar sind. Die Bauern in einigen Regionen Japans glaubten, der Berggott
schwebe auf Kirschblütenblättern ins Tal, um für eine reiche Reisernte zu sorgen.
Mit Festgelagen unter Bergkirschen baten die Menschen um Erntesegen.
Hanami – Blumenschauen, werden die Picknicks unter Kirschbäumen heute
genannt.
O-Ton Hanako Mori
Zitatorin:
Als ich klein war, da haben wir mit dem Kindergarten und später mit der
Grundschule Kirschblütenausflüge gemacht. Ungefähr eine Stunde von unserer
Schule entfernt gab es einen Park mit wunderschönen Kirschbäumen, der oft das
Ziel dieser Ausflüge war. Wir saßen dann gemeinsam unter den Blüten, haben
Picknick gemacht und getanzt.
Erzähler:
Erinnert sich die 65-jährige Hanako Mori.
MUSIK: Projektmusik (01‘37‘‘)
So sittsam wie auf einem Grundschulausflug, ging es bei den Kirschblütenfesten
des Altertums nicht zu. Tanz und Gesang waren schon immer Bestandteil des
Blütenfestes und ursprünglich Teil der religiösen Riten. Die Schönheit der Frauen
verglich man mit der Schönheit der Sakura no hana und unter den Blütenwolken
erwachten Frühlingsgefühle.
Zitatorin:
Kirschblütenfarben – mein Schwarm, der mich nicht beachtet!
Kirschblütenfarben röten sich meine Wangen sobald unsere Blicke sich treffen.
Doch ach, es ist alles vergebens, kein Gespräch will zwischen uns entstehen.
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Die Blüten der Liebe in meinem Herzen blühen in solcher Pracht, dass es sich
kaum in Worten sagen lässt.
Erzähler:
Die aufknospenden Kirschblüten als Sinnbild der erwachenden Sexualität! Davon
singen in Japan noch heute Popbands, wie die ganz in rosa gewandete Girlgroup
„Morgen-Mädchen“. Doch der Text lässt auch die schmerzliche Seite der
Kirschblüten erahnen. Was, wenn der Schwarm für die Kirschblütenfarben
erröteten Wangen nur ein müdes Lächeln übrig hat? Was, wenn einen die Liebste
allein im Blütenregen stehen lässt? (MUSIK ENDE)
Im 6. Jahrhundert gelangte der Buddhismus über China und Korea nach Japan
und mit ihm das Bewusstsein, dass die Leidenschaften dem Menschen nichts als
Leiden bereiten. Und dass letztendlich alles vergänglich ist.
O-Ton Steffen Döll:
Die Vergänglichkeit ist eine der buddhistischen Grundwahrheiten, wo eben gesagt
wird, also dass das was wir glauben als unsere Identität, unser Selbst zu kennen,
als die reale Welt zu kennen, das ist – eigentlich sind es Vorspiegelungen unseres
Geistes sind. Wir werden geboren, glauben eine Existenz zu haben, und die
zerfällt einfach mit dem Moment unseres Todes. Das heißt also, die
Vergänglichkeit ist einer der Kernpunkte, die der Buddhismus überhaupt als
Wahrheiten anerkennt.
MUSIK: M0005089 007 (00‘28‘‘)
Erzähler:
Prof. Dr. Steffen Döll, Experte für japanischen Buddhismus an der Universität
Hamburg. Im Frühling verwandelten ganze Alleen von eigens gepflanzten
Kirschbäumen die Residenzstadt des Kaisers, das heutige Kyôto, in einen
Blütentraum. Ein Blütentraum, der, im Sinne des Buddhismus, nur eine
vergängliche Illusion war, die im Frühlingswind zerstob.
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MUSIK ENDE
Zitator:
In jedem Frühjahr erblühen sie in voller Pracht,
doch wir betrachten sie, wissend, dass es unser Los ist, sie fallen zu sehen.
MUSIK: M0005089 007 (00‘28‘‘)
Erzähler:
So melancholisch dichtete man am japanischen Kaiserhof. Der Palastkomplex war
eine Welt für sich, in der Männer wie Frauen in Kunst und Poesie schwelgten. Der
Hofadel des 11. Jahrhunderts glaubte, am Vorabend einer Endzeit zu leben. In der
buddhistischen Endzeit, dem Mappô, verliert das Gesetz Buddhas an Kraft.
Erleuchtung ist in dieser Untergangswelt unmöglich. (MUSIK ENDE)
Eine melancholische Grundstimmung lag über dem prunkvollen Leben der
Palastbewohner. In keinem anderen buddhistisch geprägten Land der Welt wird
die Kirschblüte als Symbol der Vergänglichkeit gesehen - nirgends sonst wird ihre
Schönheit so gefeiert wie in Japan.
Zitatorin:
Oh Kirschblüten!
Wir wollen sie bewundern – bis sie fallen!
Erzähler:
Mono no aware nennen japanische Literaturwissenschaftler heute dieses Gefühl
der Wehmut, welches den Adel beim Anblick der Blüten überkam. Mono heißt so
viel wie „Ding“. Aware dagegen kann zum einen „angerührt sein“ bedeuten, oder
auch einfach ein Ausruf der Ergriffenheit sein. Der Japanologe Prof. Peter Pörtner
übersetzt den Begriff „Mono no aware“ als das „Herzzerreißende der Dinge“. Doch
welche Dinge sind es genau, die vielen Japanern, damals so wie heute, das Herz
zerrissen? Prof. Steffen Döll:
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O-Ton Steffen Döll:
Also das sind die ganz, ganz klassischen Bilder aus der japanischen Literatur, die
da in den Sinn kommen. Das ist der Tau auf dem Ärmel zum Beispiel, das ist
natürlich die fallende Kirschblüte, das ist das Herbstlaub, das langsam vom Baum
fällt und sich dann anfängt zu verfärben, bzw. ins Grau des Winters überzugehen.
All das sind Situationen, wo man von „Mono no aware“ sprechen würde. Also eben
wo die Schönheit des Augenblicks nicht erhalten bleibt, wo es ganz klar ist, dass
dieser Augenblick vergehen wird und damit eben auch diese Schönheit vergehen
wird. Und natürlich ist die Kirschblüte das herausragende Symbol des „mono no
aware“.
MUSIK: M0005089 007 (00‘36‘‘)
Erzähler:
Der Anblick fallender Kirschblüten trieb auch gestandenen Regierungsräten
Tränen in die Augen. Wer das Herzzerreißende der Dinge empfand, der galt als
kultiviert. Die Kirschblüten mahnten den buddhistisch gebildeten Betrachter daran,
dass alles endlich ist, auch das eigene Leben.
Zitator:
Die Kirschen blühen in gleicher Farbenpracht und gleichem Duft wie in
vergangenen Zeiten, doch ich, der sie betrachte, bin alt geworden mit den Jahren.
MUSIK ENDE
Erzähler:
Bis heute ist die fallende Kirschblüte ein beliebtes Symbol für den Abschied. Vor
allem auch für den Abschied zwischen Liebenden
Zitator:
Die Erinnerungen, die ich im Tanz der fallenden Kirschblüten verlor … sie kehren
zurück…
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Alles ist so wie einst, der Duft, die Landschaft, der Wind,
Nur du fehlst!
Unter fallenden Kirschblüten begegneten wir uns.
Unter fallenden Kirschblüten haben wir uns getrennt…
MUSIK: Projektmusik (00‘25‘‘)
Erzähler:
So dichtete kein Hofadliger des 11. Jahrhunderts, sondern die Band Ketsumeishi
in ihrem Rap-Song „Sakura“.
MUSIK ENDE
Erzähler:
Die Furcht der Hofadligen, dass ihre Welt dem Untergang geweiht sei, war
berechtigt. Im 12. Jahrhundert verloren der Tennô und sein Hofstaat die politische
Gewalt. Wechselhafte Zeiten begannen. Kriegersippen kämpften um die Macht im
Reich, bis um das Jahr 1600 Tokugawa Ieyasu Japan dauerhaft einte. Unter dem
militärischen Titel Shôgun übten er und seine Nachkommen die Herrschaft über
Japan aus, während der Tennô und sein Hofstaat machtlos im Kaiserpalast vor
sich hin lebten.
Die Sakura no hana jedoch, blieb auch im Japan der strengen Samurai die
gefeierte „Prinzessin Kirschblüte“. Das Hanami, das Kirschblütenfest, wurde zu
einem zentralen Ereignis des Jahres, an dem alle Bevölkerungsschichten
teilnahmen: vom Mönch bis hin zur Geisha.
MUSIK: Projektmusik (01‘12‘‘)
Ukiyô die „fließende Welt“, nannte man die Vergnügungsviertel jener Zeit, in
denen Theater und schöne Frauen lockten. Der Begriff Ukiyô kam ursprünglich
aus dem Buddhismus und erinnerte an die Flüchtigkeit der irdischen
Sinnesfreuden. Die prächtige Kirschbaumallee im berühmten Freudenviertel
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Yoshiwara wurde zum Sinnbild dieser Ukiyô. Zahlreiche Holzschnittkünstler
verewigten die sinnliche Anmut der Geishas unter üppig blühenden Kirschen.
Nachts leuchteten die Blüten verführerisch im Schein der Laternen und ihr leises
Abfallen gemahnte an das Schicksal der Frauen, die ihre Jugend der „fließenden
Welt“ opfern mussten.
Zitatorin:
Oh Herr Mond, wie schwer ist doch das Los der Frauen! Die Liebe, sie ist nicht
mehr als ein Traum, ein Schneegestöber aus fallenden Kirschblüten.
Erzähler:
Nicht nur die Freudenviertel waren eine Welt für sich (MUSIK ENDE). Ab 1639
hatte sich ganz Japan fast vollständig von der Außenwelt abgeschlossen. Das
Shôgunat wollte vor allem den Einfluss christlicher Missionare nicht länger dulden.
Japan konnte sich nun ganz auf sich selbst konzentrieren.
Seit Jahrhunderten hatte Japan die Kultur seines großen Bruders China
nachgeahmt. Im 18. Jahrhundert bildete sich eine Gruppe patriotisch gesinnter
Intellektueller, die nicht nur der Regierung des Shôgun kritisch gegenüber
standen, sondern auch das übermächtige chinesische Erbe abschütteln wollten. In
alten Schriften suchten sie fieberhaft nach der angeblich ursprünglichen Kultur
Japans. Dabei stießen sie auf Geschichten, wie jene vom Himmelsenkel und der
Prinzessin Kirschblüte.
Zitator:
Fragt man dich,
wie das Herz eines wahren Japaners
beschaffen ist,
deute auf die wilde Kirsche,
die in der Sonne duftet.
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11
Erzähler:
So dichtete einer dieser heimatverbundenen Männer, der Gelehrte Motoori
Norinaga. Er entdeckte die Kirschblüte als das Symbol des Japanertums
schlechthin. Das Wesen der Japaner war in seinen Augen genauso strahlend
schön und rein wie die Blüten der Kirsche. Motoori gab auch dem Gefühl des
Mono no aware seinen Namen. Für ihn hatte es nichts mit dem ausländischen
Buddhismus zu tun, sondern war ein durch und durch japanisches Empfinden!
Die Kirschblüte wurde im Bewusstsein der Japaner mehr und mehr zu IHRER
Blume. Auch hartgesottene Samurai dichteten rührselige Verse auf die Kirschblüte
und identifizierten sich mit ihr. „So wie die Kirschblüte die erste unter den Blumen
ist, so soll der Krieger der erste unter den Männern sein!“ lautete ein Sprichwort.
Auch die Shôgunatsregierung selbst ließ in den Städten zahlreiche Kirschbäume
anpflanzen. Als Mitte des 19. Jahrhunderts Japan seine Isolation aufgab und
Fremde zu Hauf ins Land strömten, sahen sie Japan so, wie es sich selbst am
liebsten sah: als Land der Kirschblüte!
Zitator:
Als ich zurücksah,
war die Welt ertrunken
in Kirschblüten.
Erzähler:
So das Haiku des Dichters Chora. Bis heute gilt die Sakura no hana als Symbol
der japanischen Kultur. Doch viele moderne Japaner verbinden mit der Kirschblüte
darüber hinaus die ganz persönliche Erfahrung des Erwachsenwerdens. Der
Frühling ist in Japan die Zeit, in der das alte Schuljahr endet und das neue
beginnt.
MUSIK: Projektmusik (00‘45‘‘)
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Für die Schulabgänger, die in dieser Zeit mit einer Ausbildung oder dem Studium
beginnen, bedeutet das Erblühen der Kirschbäume den Abschied von der Kindheit
und den Eintritt ins Erwachsenenleben.
Zitatorin:
Jeder von uns tritt nun seine eigene Reise in die Zukunft an!
In der Zeit wenn die Kirschblüten blühen, ertönt von irgendwoher die Glocke der
Hoffnung…
Lasst uns gemeinsam die Treppe zum Erwachsenenleben emporsteigen und
zurück winken!
Erzähler:
Mädchen, die ihnen mit Kirschblütenzweigen zuwinkten (MUSIK ENDE): das war
für viele Kamikazepiloten der letzte Abschiedsgruß, bevor sie noch im Frühjahr
1945, nur wenige Monate vor Japans Kapitulation, ihre Reise antraten. Eine
Reise, die sie nicht in die Zukunft führte, sondern geradewegs in den Tod.
MUSIK: priv. LP „Ranta“ (00‘50‘‘)
„Kirschblüte“ wurden die Flugzeuge genannt, auf deren Seite ein rosa
Blütenemblem prangte und in deren Inneren sich eine Bombe befand. Die
Aufgabe der Piloten war es, ihr Flugzeug geradewegs in ein feindliches Ziel
hineinzusteuern – und mitsamt der Bombe zu explodieren. Auch U-Bootpiloten
wurden von der Marine auf diese Weise eingesetzt. Die meisten der
Kamikazepiloten waren Studenten. Viele von ihnen zwangsrekrutiert. Die
Militärpropaganda verglich die jungen Männer, die in der Blüte ihrer Jugend ihr
Leben lassen sollten, mit abfallenden Kirschblüten. Die reine Schönheit der
Sakura no hana, sie sollte für die edle Gesinnung der Männer stehen, die, gemäß
der Tradition der Samurai, Ehre und Loyalität über das eigene Leben stellten. In
dem berühmten Buch „Bushidô“, „Der Weg des Kriegers“, hatte der Philosoph
Inazô Nitobe bereits im Jahr 1900 geschrieben:
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Zitator:
Die Ritterlichkeit ist eine Blume, die auf dem Boden Japans so heimisch ist wie ihr
Symbol die Kirschblüte.
Erzähler:
Die Kriegspropaganda machte sich diese Symbolik zu Nutze (MUSIK ENDE). Die
Seelen der gefallenen Männer, so hieß es, würden weiterleben: in den
Kirschblüten, die bis heute alljährlich im Yasukuni-Schrein in Tôkyô blühen.
O-Ton Yumiko Tachibana
Zitatorin:
Unter den Militärliedern, mit denen die japanischen Soldaten in den Zweiten
Weltkrieg zogen, gab es auch ein Lied namens „Kirschblütenkamerad“. Oh je, ich
kann gar nicht singen…
MUSIK: Projektmusik (00‘50‘‘)
Zitator:
Du und ich, wir sind wie Kirschblüten desselben Jahrgangs, und wir blühen beide
im Garten der Militärakademie.
In voller Blüte stehend, sind wir entschlossen zu fallen, in Pracht und Schönheit
zum Wohle des Vaterlandes!
Du und ich, wir sind wie Kirschblüten desselben Jahrgangs, auch wenn jeder von
uns an einem anderen Ort fallen wird. Eines schönen Frühlings werden wir wieder
vereint sein: im Yasukuni-Schrein, der Hauptstadt der Blumen, werden wir
gemeinsam auf einem Baumwipfel blühen.
MUSIK ENDE
Erzähler:
Genauso wie die Kirschblüte klaglos vom Baum fällt, so sollten auch die
japanischen Männer ohne Zögern ihr Leben hingeben – zum Wohle des
Vaterlandes. Längst nicht alle taten dies freiwillig, wie oft behauptet wird. Viele
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14
Piloten waren noch halbe Kinder, die dem Gruppenzwang nicht standhielten und
aus Angst vor öffentlicher Demütigung in den eigenen Selbstmord einwilligten. Der
Anblick fallender Kirschblüten – für den Vater von Yumiko Tachibana war er
gleichbedeutend mit quälenden Erinnerungen.
O-Ton Yumiko Tachibana
Zitatorin:
Mein Vater war in der japanischen Marine Ausbilder der Tokkôtai, der
Kamikazeeinheit. Er hat junge Männer trainiert, um sie dann in den Krieg zu
schicken. Mein Vater hat später furchtbar unter dem Schuldgefühl gelitten, dass er
für den Tod dieser Männer verantwortlich war, dass es im Grunde er war, der sie
umgebracht hat. Jedes Jahr am 15. August, dem Jahrestag von Japans
Kapitulation, hat er schrecklich geweint. Als Kind habe ich immer gedacht, „Vater
hat doch so viele Fähigkeiten, er könnte doch so viel in der Gesellschaft
bewirken!“ Aber diese Schuldgefühle haben ihn bis zu seinem Tod verfolgt. Er hat
auch so gut wie nie über den Krieg gesprochen.
Kirschblüten stehen für mich deshalb für die „Kirschblütenkameraden“. Wenn ich
Kirschblüten sehe, dann muss ich unweigerlich an die Kriegserfahrung meines
Vaters denken.
Erzähler:
„Sange“ nannte die Militärpropaganda den Tod der Soldaten. Sange bezeichnet
ein buddhistisches Ritual, bei dem Blumen verstreut werden. Doch das, was
feindliche Soldaten nach einem Angriff von acht Kamikazefliegern zu sehen
bekamen, hatte nichts mit der Schönheit gefallener Blüten gemein.
Zitator:
Hier und da fanden sie Fleischfetzen und andere Überreste (…) der japanischen
Piloten – Zungen, schwarze Haarbüschel, ein Gehirn, einige Arme, ein Bein.
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Erzähler:
Die Selbstaufopferung der „Kirschblütenkameraden“ war vergebens. Japan
musste kapitulieren.
MUSIK: Projektmusik (00‘21‘‘)
Wer heute ein Kirschblütenpicknick in Japan erlebt, der wird zwischen all den
Sake-Flaschen und Sushiröllchen kaum Mono no aware empfinden, geschweige
denn an das Schicksal der Kamikazepiloten denken. (MUSIK ENDE)
Das Hanami ist ein freudiges Ereignis. Im Frühjahr 2011 war diese Freude durch
die Tsunami-Katastrophe von Fukushima getrübt.
MUSIK: 98003200 (01‘18‘‘)
Doch als einen Monat nach dem Beben die Kirschbäume in der Krisenregion
zaghaft zu blühen begannen, ließen die Japaner in Internetblogs ihren Gefühlen
für die Sakura no hana freien Lauf.
Zitator:
Endlich bist du für uns erblüht!
Den tagelang anhaltenden Nachbeben mit deinen zarten Zweigen trotzend…
Wahrhaftig, die Kirschblüte der Hoffnung.
Erzähler:
Der Fluch der Felsprinzessin scheint sich erfüllt zu haben. Doch auch wenn das
menschliche Leben genauso vergänglich ist wie das der Blüten, so blühen die
Kirschbäume doch jedes Jahr wieder und wecken Hoffnung: auf einen Neubeginn.
O-Ton Hanako Mori
Zitatorin:
Mein ältester Sohn ist an einem 24. März geboren. Zu dieser Zeit begannen sich
gerade die ersten Knospen zaghaft zu öffnen. Als ich dann nach einer Woche mit
meinem Kind aus dem Krankenhaus entlassen wurde standen die Kirschbäume in
voller Blüte. Da habe ich wirklich ein unheimliches Glücksgefühl empfunden!
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