THEMEN DER ZEIT ALFRED ADLER (1870–1937) Begründer der Individualpsychologie Mit Sigmund Freud und Carl Gustav Jung gilt Alfred Adler als Pionier der Tiefenpsychologie. Vor 75 Jahren starb der Arzt. „ “ Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2012 chen“. Zehn Jahre nimmt Adler an fast jedem Treffen dieser „Mittwochsgesellschaft“ teil, diskutiert und hält zahlreiche Vorträge. Freud lobt ihn als „stärkste[n] Kopf der kleinen Vereinigung“. Auch wenn Adler sich nicht als Freud-Schüler sieht – zunächst stimmt er überein mit Freuds Triebpsychologie, dem psychischen Determinismus, dem Unbewussten, der Rolle der kindlichen Sexualität, der Traumdeutung und der analytischen Methode. 1906 stellt Adler der „Mittwochsgesellschaft“ seine Theorie der Organminderwertigkeit und ihrer Kompensation vor – eine für seine weitere Entwicklung wesentliche Neuerung. Ein Jahr später erscheinen diese Gedanken als wissenschaftliche Studie. Noch schätzt Freud Adlers eigenständiges Urteil und äußert sich anerkennend. Doch spätestens 1908 kommt es zu grundlegenden Differenzen über das Verständnis des „Aggressionstriebes“. Mit ihm führt Adler einen neuen Grundtrieb in die Psychoanalyse ein, der Freuds rein sexuelle Ätiologie des Seelenlebens infrage stellt. Erst in seinem Spätwerk gesteht Freud zu, die Bedeutung der nicht erotischen Aggression falsch eingeschätzt zu haben, und bejaht einen selbstständigen Aggressionstrieb. Da hat Adler diese Theorie allerdings längst wieder verlassen. Nach den drei Vorträgen „Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens“ (1911) gründet Adler mit anderen den „Verein für freie psychoanalytische Forschung“, aus dem schließlich der „Verein für Individualpsychologie“ hervorgeht. Der Foto: dpa ie Jung arbeitete Adler einige Jahre eng mit Freud zusammen. Bald entwickelte er jedoch eigene Ideen, die Freuds Annahmen widersprachen. Dabei verstand Adler sich nicht als Schüler Freuds – obgleich vierzehn Jahre jünger, sah er sich als gleichberechtigten Gesprächspartner. Während Adler Freuds Leistung bei der Entwicklung einer „dynamischen Psychologie“ stets anerkannte, ging Freud in „Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ (1914) mit Adler und Jung hart ins Gericht: Beide hätten der Bewegung nichts Neues gebracht und wesentliche Entdeckungen der Psychoanalyse nivelliert – aus heutiger Sicht vor allem Ausdruck der Kränkung Freuds darüber, dass zwei seiner engsten Mitarbeiter sich entschieden, eigene Wege zu gehen. 1870 wird Alfred Adler in Wien geboren. Der Vater, ein Getreidehändler, vermittelt seinem Sohn früh, vor allem Denn mit unserer Menschenkenntnis dem eigenen Urteil zu vertrauist es nicht weit her. Wir leben in en. Bereits mit fünf Jahren soll Alfred den Plan gefasst haben, komplizierten kulturellen Verhältnissen, Arzt zu werden. Als Kleinkind die eine richtige Schulung für das Leben leidet er nämlich an Rachisehr erschweren. Alfred Adler tis und Stimmritzenkrämpfen, und der Hausarzt der Familie hilft bei Erstickungsanfällen. Stark erschüttert ihn der frühe Tod kritisiert, will Adler ihn verteidigt des jüngeren Bruders. Adler stu- haben und fordert, sich ernsthaft diert in Wien Medizin und heiratet mit Freud auseinanderzusetzen. Raissa Timofejewna, mit der er 1902 rezensiert er Freuds „Traumvier Kinder hat. Zunächst arbeitet deutung“ und sieht darin einen Weg er als Augen- und Allgemeinarzt, zum Verständnis der Neurose. Im später spezialisiert er sich in Neu- gleichen Jahr lädt Freud ihn ein, rologie und Psychiatrie. 1899 be- sich einem Kreis von Kollegen angegnet er Freud bei einem Vortrag zuschließen, um „die uns interesim Wiener Ärzteverein. Als man sierenden Themata Psychologie den Begründer der Psychoanalyse und Neuropathologie zu bespre- W 265 THEMEN DER ZEIT Bruch mit Freud ist vollzogen. Dabei stellt der Begriff „Individualpsychologie“ das Individuum gerade nicht in Gegensatz zur Gemeinschaft, sondern betont im Unterschied zu Freud und seinen drei Instanzen die Einheit der Persönlichkeit. Eins ihrer Grundmotive ist Adler zufolge das Streben nach Sicherheit. „Menschsein heißt, sich minderwertig fühlen“, schreibt Adler in „Der Sinn des Lebens“ (1933). Pierre Janet (1859–1947) hatte das Minderwertigkeitsgefühl schon früher behandelt – als „sentiment d’inferiorité“, „sentiment d’imperfection“, „sentiment d’incomplétitude“. Der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen bestätigt 1940 Adlers Befund, wenn er den Menschen als biologisches Mängelwesen beschreibt. Zweifellos ist menschliche Existenz unvollkommen. Doch bedeutet Unvollkommensein automatisch, dass man sich minderwertig fühlt? Adler bezeichnet mit dem Begriff „Minderwertigkeitsgefühl“ einerseits einen gesunden Antrieb des Kindes zu seelischem Wachstum, andererseits Insuffizienzgefühle durch Erlebnisse, die die kindliche Unsicherheit verstärken. Neuere Arbeiten schlagen vor, ein primäres Minderwertigkeitsgefühl im Sinn eines anthropologischen Antriebs von einem sekundären, in der Kindheit erworbenen Minderwertigkeitsgefühl zu unterscheiden. Denn für ein grundsätzliches Minderwertigkeitserleben ergeben sich aus vielen Beobachtungen der Säuglingsforschung keine Hinweise (J. Westram 2003). Während Freuds Modell Triebe und ihre Energie in den Vordergrund stellt, die das Ich notfalls durch Verdrängung abwehren muss, geht Adler vom Mangel aus und identifiziert Minderwertigkeitsgefühle, die nach Ausgleich streben. Bereits in seiner ersten Studie betont er den „Kompensationstrieb“. Neben verschiedenen Varianten der organischen und psychologischen Kompensation spricht er von „Überkompensation“. In ihrer positiven Ausprägung kann sie überdurchschnittliche Leistungen bis zur Genialität erklären, die negative Form – auch „Fehlkompensation“ (R. Kau- 266 sen) – kennzeichnet die Neurose. In der Auseinandersetzung mit Freud spielt der „männliche Protest“ eine wesentliche Rolle, Adler verwendet ihn analog zu Freuds „Verdrängung“. Dabei ist der Begriff missverständlich. In Adlers Sinn verstanden, bezeichnet er eine Möglichkeit, das Minderwertigkeitsgefühl auszugleichen: Unterdrückung und Geringschätzung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft veranlassen letztlich beide Geschlechter, männlich sein zu wollen. Doch auch Männer können Demütigung und Benachteiligung ausgesetzt sein. Im Lauf der Zeit ersetzt Adler den „männlichen Protest“ durch Streben nach Geltung, Überlegenheit und Selbsterhöhung. Kompensation von Unzulänglichkeitsgefühlen 1912 veröffentlicht Adler „Über den nervösen Charakter“, ein Standardwerk der modernen Seelenkunde. Hier dient ihm die bereits vertraute Gedankenreihe „Minderwertigkeitsgefühl – Kompensation – Überkompensation“ zur Analyse des neurotischen Charakters. Dabei stellt sich die Frage, wie das fundamentale Unzulänglichkeitsgefühl mit Eigenschaften wie Ehrgeiz, Eitelkeit, Neid, Geiz, Misstrauen, Eifersucht, Ängstlichkeit, Traurigkeit und Distanziertheit zusammenhängt. Sind diese Eigenschaften ein Versuch der Kompensation? Freud hatte bereits zu einem dynamischen Verständnis des Charakters angesetzt („Charakter und Analerotik“, 1908). Adler zufolge sind Charaktermerkmale nicht vererbbar, sondern eine Schöpfung des Individuums. Diese vollzieht sich unter dem Einfluss zahlreicher Bedingungen und Ursachen – organische Konstitution, Behinderungen und Traumatisierungen, Beziehungsmodi der Eltern, Familienatmosphäre, Bindungs- und Trennungserfahrungen. Während der Arbeit am Buch liest Adler „Die Philosophie des Als Ob“ (1911) von Hans Vaihinger. Bereits Kant verwandte die Partikel „als ob“, als er die „regulativen Ideen“ Vernunft, Seele, Welt und Gott erörterte. Vaihinger beschreibt, dass wir uns dauernd sogenannter Fiktionen bedienen. Mögen sie noch so willkürlich und falsch sein, als Hilfskonstruktionen für unser Denken sind sie unverzichtbar. Die Struktur der Fiktionen findet Adler auch in der menschlichen Psyche. „Denn mit unserer Menschenkenntnis ist es nicht weit her. Wir leben in komplizierten kulturellen Verhältnissen, die eine richtige Schulung für das Leben sehr erschweren“, schreibt Adler in seinem bekanntesten Werk „Menschenkenntnis“ (1927). Es wird in mehrere Sprachen übersetzt und erreicht eine Millionenauflage. Mit einer „Psychologie im Dienst des Lebens“ will Adler dazu beitragen, dass Menschen besser leben, weil sie sich und andere besser verstehen. Menschenkenntnis ist für ihn Wissenschaft und Kunst. So knüpft er an die dichterische intuitive Erfassung des Menschen an und bezieht sich etwa auf Dostojewski und La Rochefoucault. Gleichzeitig will er eine wissenschaftliche Grundlage schaffen, da die Menschenkenntnis sich noch in demselben Zustand befinde „wie etwa die Chemie, als sie noch Alchemie war“. Einer „Dispositionspsychologie“ stellt er seine „Positionspsychologie“ gegenüber und betont damit, dass es ihm nicht auf angeborene Anlagen ankommt, sondern auf die Position, die jemand in einem sozialen Bezugssystem einnimmt. Deutlich weist er auf die „soziale Beschaffenheit des Seelenlebens“ und den „Zwang zur Gemeinschaft“ hin und nimmt damit die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen in den Blick. „Charakter“ ist die persönliche Antwort, die ein Individuum auf die Anforderungen seiner Umwelt gibt. Mit den Begriffen „Leitlinie“, „Weltbild“ und ab 1929 „Lebensstil“ bezeichnet Adler das Ergebnis dieser Wechselwirkungen. Gesundes Ich nur als gemeinschaftsbezogener Akt „(. . .) die wichtigste Frage des gesunden und kranken Seelenlebens lautet nicht woher, sondern wohin? Und erst, wenn wir das wirkende, richtende Ziel eines Menschen kennen, dürfen wir uns anheischig machen, seine BewegunDeutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2012 THEMEN DER ZEIT gen (. . .) zu verstehen“, schreibt Adler 1920 und ergänzt Kausalität um Finalität: „Um alle psychologischen Phänomene zu verstehen, ist, so meint die Individualpsychologie, die Finalität absolut unentbehrlich.“ Lebensstil und -ziel haben ihren Grund nicht in einer objektiven Wirklichkeit. Adler spricht von „tendenziöser privater Apperzeption“, mit der wir eine subjektive Anschauung der Welt gewinnen. Dabei bleiben Lebensstil und -ziel unbewusst. Die Individualisierung des „Bewegungsgesetzes“ setzt Adler „oft schon im zweiten Lebensjahr, sicher im fünften“ an. In diesem Alter hat das Kind aber „weder eine zureichende Sprache noch zureichende Begriffe (. . .) Wächst es in seinem Sinn weiter, dann wächst es in einer Bewegung, die niemals in Worte gefasst wurde, daher unangreifbar für Kritik (. . .)“ (1933). Demnach funktioniert auch das gesunde Ich immer nur als Akt, der auf eine Gemeinschaft bezogen ist, und nicht aus sich selbst heraus. Viele seiner Bücher beruhen auf Vorträgen Ab 1926 reist Adler regelmäßig in die USA und hält Vorträge. Einige Jahre ist er dort neben John Watson der bekannteste Psychologe. 1934 übersiedelt er nach New York und wird Gastprofessor am „Long Island College of Medicine“. Einige seiner anschaulich und lebendig geschriebenen Bücher basieren auf Vorträgen – „Menschenkenntnis“ etwa wäre ohne die Hilfe eines mitstenografierenden Juristen womöglich gar nicht entstanden. Am 28. Mai 1937 ist Alfred Adler auf einer Vortragsreise im schot▄ tischen Aberdeen gestorben. Christof Goddemeier LITERATUR 1. Witte K.H. (Hrsg.): Alfred Adler Studienausgabe. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2007 2. Pongratz, L: Individualpsychologie, in: Hauptströmungen der Tiefenpsychologie. Stuttgart, Kröner 1983 3. Rattner, J: Alfred Adler, in: Klassiker der Tiefenpsychologie. München, Beltz 1990 4. Witte, KH: Das Individuelle in der Individualpsychologie Alfred Adlers, in: psycho-logik Bd. 3. Freiburg, Alber 2008 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2012 SEXUELLER MISSBRAUCH VON KINDERN UND JUGENDLICHEN Fortbildungsbedarf Eine aktuelle Studie der EU-Kommission befragte Kinder und Jugendliche zu ihren Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch im Internet. Sie wünschen sich alle mehr Austausch mit Erwachsenen, wenn es kritisch wird. ber Ländergrenzen hinweg machen Jugendliche deutlich, dass sie besser vor sexuellem Missbrauch im Internet geschützt werden wollen. Das ist ein Ergebnis der europaweiten Studie ROBERT (Risktaking Online Behaviour empowerment through Research and Training), die von der EU-Kommission finanziert wurde. Die Studie hat in den vergangenen zwei Jahren qualitativ untersucht, wie Kinder und Jugendliche durch das Internet zu Missbrauchsopfern werden. Befragt wurden 280 Heranwachsende aus sieben europäischen Ländern. Darunter waren von sexuellem Missbrauch Betroffene, „normale“ Jugendliche, und Jugendliche, denen eine besondere Verletzlichkeit attestiert wurde: Heimbewohner, Behinderte sowie homosexuelle Jugendliche. Ein besonders hohes Risiko für sexuellen Missbrauch, bei dem die Täter den Kontakt über soziale Netzwerke herstellen, haben der Studie zufolge Jugendliche, die bereits sexuellen Missbrauch erlebt haben, Jugendliche mit geringem Selbstbewusstsein und Jugendliche, die in sozialen Netzwerken die Aufmerksamkeit suchen, die sie sonst nicht bekommen. Je jünger Kinder online agieren, desto gefährdeter sind sie; Mädchen sind deutlich häufiger betroffen als Jungen. „Die Jugendlichen haben übereinstimmend berichtet, dass sie einfühlsame Erwachsene brauchen, die ihnen zuhören, wenn einmal etwas schiefgelaufen ist, und ihr Verhalten nicht moralisch bewerten“, sagte Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation Innocence in Danger e.V., die ROBERT für Deutschland begleitet hat. Die Erwachsenen – Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter, aber auch Psychotherapeu- Ü ten und Kinderärzte – sollten sich über die Vorgänge in sozialen Netzwerken auskennen, forderte von Weiler. Bei den Erwachsenen sieht die Diplom-Psychologin „einen großen Fortbildungsbedarf“ hinsichtlich ihrer Online-Kenntnisse. „Therapeuten und Ärzte müssen Jugendliche in Verdachtssituationen immer auch nach ihrer Online-Nutzung fragen.“ Ebenfalls sehr wichtig sei die Vermittlung von Medienkompetenz in Schulen, so von Weiler. „Die befragten Jugendlichen wussten alle, dass sie Risiken eingehen, wenn sie sich offline mit Internetbekannten treffen“, sagte Dr. Ethel Quayle, Dozentin für angewandte Psychologie an der Universität Edinburgh, die an der Studie mitgewirkt hat. Die Grenzen zwischen Risiken eingehen und Missbrauch seien oftmals fließend. Das Eingehen von Risiken sei jedoch ein wichtiger Entwicklungsschritt in der Pubertät. „Als dramatisch erleben die Jugendlichen aber den Moment, wo sie die Kontrolle über das Geschehen verlieren und sich sexuell ausliefern, ohne es zu wollen.“ Oftmals würden sie mit der Androhung, die anzüglichen Fotos oder Filme ins Internet zu stellen, erpresst, sich weiter mit dem Täter zu treffen. „Die Jugendlichen leiden massiv unter der Angst, an wen, wo und wann Täter Bildmaterial von ihnen veröffentlichen“, sagte Quaile. Sie brauchten dann dringend eine ▄ erwachsene Vertrauensperson. Petra Bühring LITERATUR: 1. von Weiler, Julia: Im Netz: Tatort Internet – Kinder vor sexueller Gewalt schützen. Kreuz-Verlag 2011. @ Die Ergebnisse der Studie unter: www.aerzteblatt.de/pp/12267 267