Ja, wie heisst das Viech? Liebe Liese Als ich an jenem lauen Maiabend meinen Garten durchstöberte, entdeckte ich im Salbei wundersame Viecher. Sie waren schwarz mit wenig orangeroten Zeichnungen darin und krabbelten. Andere waren weniger schwarz und dicker, und etliche waren unförmig und praktisch nur noch hellorange mit wenig schwarz und hingen kopfüber an den Blättern. Ich stand vor einem Rätsel. Ich holte meine Kamera und machte einige Aufnahmen. Ich schickte per Email eine Auswahl davon an Harald mit der Bitte, mir das Rätsel zu lösen. Ich sag dir: Im Moment, als ich auf „Senden“ drückte, wusste ich, was für Viecher es waren! Wie habe ich mich blamiert! Vom Winter bis zum Winter, oder die Entwicklung des Viechs Aber bevor ich dir das Rätsel auflöse, hier einige Daten: Die Viecher überwintern als erwachsene Tiere, selten einzeln, meistens in Gruppen von einigen wenigen bis hunderten – ja sogar bis zu Millionen. Im Laub, Moos oder Gras, unter Steinen oder Rinden und dort, wo es sie noch gibt, auch zwischen Vorfenstern. Sie fressen in dieser Zeit nichts, leben von Fetten, Lipoiden und Glykogen – alles energiereiche, körpereigene Substanzen – die sie sich vor der Winterruhe angefressen haben. Direkt nach der Überwinterung beginnen sich die Viecher zu paaren. Je nach Art dauert das zwischen einer halben bis achtzehn Stunden. Die erste Paarung würde eigentlich reichen, damit das Weibchen dauernd begattet ist. Das bedeutet, dass es mit einer Paarung genügend Spermien erhält, um alle Eier zu befruchten. Doch oft lassen sich die Weib- chen bis zu zwanzig Mal von unterschiedlichen Männchen begatten, was zur Übertragung von gefährlichen Geschlechtskrankheiten führt. Die Viecher können an diesen Krankheiten sogar sterben. Einschub: Promiskuität Ich sehe dich die Stirne krausen und gebe dir Recht: Hätte sich ein solch unnötiges und schädliches Verhalten nicht schon längst von selbst ausmerzen müssen? Ausgetilgt im Verlauf der Evolution? Meine Antworten: 1) Ich bin der Weisheit des weltweiten Webs auf den Leim gekrochen. 2) Die Vielmännerei ist doch zu irgendetwas nütze - vielleicht gibt es viele unfruchtbare Männchen oder so? 3) In 50 Jahren wird man über unseren heutigen Stand des Irrtums lachen. 4) und 5) überlasse ich gerne dir. Weiter im Text Ende April bis Anfang Mai legen die Weibchen winzige Eier von einem halben bis zu zwei Millimetern portionenweise von 10 bis 60 Stück. Im Ganzen kleben Sie bis zu 400 Eier an die Unterseite von Blättern. Daraus schlüpfen nach wenigen Tagen kleine Larven, die – sparsame Natur! – als erstes gleich ihre eigenen Eihüllen fressen. Die Larven häuten sich drei bis viermal in ein bis zwei Monaten, bis sie zur Verpuppung bereit sind. Dazu kleben sie sich mit dem Hinterteil fest, häuten sich noch einmal und schieben diese Haut bis zum Befestigungspunkt an der Pflanze zurück. Nun verpuppen sie sich in eine sogenannte Mumienpuppe. Ihre Gliedmassen und Fühler sind dabei an den Körper geklebt. Die Farbe der Puppen wird mit jedem Tag intensiver. Nach weiteren sechs bis neun Tagen schlüpft das erwachsene Viech aus. Es sind diese verschiedenen Stadien, die ich an meinem Salbei gefunden habe! Die ganze Entwicklungszeit vom Ei bis zum erwachsenen Tier ist witterungsabhängig und dauert rund zwei Monate. Einschub: Nützlinge Die Viecher sind ausgesprochene Nützlinge. Sie fressen als Larven und Käfer vor allem Blatt- und/oder Schildläuse aber auch Spinnmilben. Während ihres gesamten Lebens werden einige Tausend Läuse vertilgt! Noch anschaulicher: Die Nachkommen eines einzigen Weibchens vertilgen während einer Vegetationsperiode zusammen 130’000 Blattläuse! Die Blattlauspopulationen werden jedoch nicht völlig ausgerottet: Wenn die Dichte der Lauspopulation an einer Stelle einen gewissen Wert zu unterschreiten droht, suchen sich die Larven neue Weidegründe. Dieser Wert ist jedoch so klein, dass die Blattläuse keinen Schaden mehr verursachen können. Und jetzt musst du dir vorstellen, dass die Larven die Blattläuse gar nicht sehen können. Sie erkennen sie erst, wenn sie diese direkt berühren. Trotzdem werden sie fündig, da sie ständig in Bewegung sind und Pflanze für Pflanze richtiggehend absuchen. Die Käfer hingegen können die Blattläuse immerhin von einer Distanz von 2 bis 3 Zentimetern sehen! Die Larven fressen sich bei Lausknappheit gegenseitig auf und vertilgen selbst Schmetterlings- wie Käferraupen. Einige der ausgewachsenen Viecher verzehren ausserdem Mehltau- und Schimmelpilz und sind daher auch auf diese Weise Nützlinge. Andere Arten wiederum fressen Pollen und Früchte. Einschub: Biologische Schädlingsbekämpfung Im Jahre 1899 bedrohten Schildläuse die rieseigen Zitrusplantagen Kaliforniens und man rechnete mit der vollständigen Vernichtung der Ernte. Eine aus Australien importiere Art der Viecher rettete die Ernteerträge in letzter Minute. Die biologische Schädlingsbekämpfung war geboren. Seither sind die verschiedensten Arten der Tiere – es gibt auf der Welt über 400 Arten – in Laboratorien zu Milliarden gezüchtet worden und gelangten auf Kulturen der ganzen Welt zum Einsatz gegen Schild- und Blattläuse. Weiter im Text Die meisten Arten legen im Sommer ein neues Gelege, haben also zwei Generationen pro Jahr. Die zweite Generation schlüpft im Juli oder August und überwintert als erwachsenes Tier. Gewöhnlich werden also die Viecher nur etwa ein Jahr alt, aber es gibt auch Arten, bei welchen zwei Überwinterungen festgestellt wurden. Einschub: Fliegen Die ausgewachsenen Viecher können gut fliegen und erreichen zwischen 70 und 90 Flügelschläge pro Sekunde. Kurze Flüge unternehmen sie zwecks Nahrungssuche. Längere Flüge – auch in grossen Schwärmen – um einen Überwinterungsplatz anzufliegen oder um bei einer Nahrungsknappheit ein Gebiet grossräumig zu verlassen. Diese längeren Flüge schaffen sie nicht mit eigener Kraft: Sie lassen sich quasi vom Winde verwehen. Einschub: Feinde Mit seinen intensiven Farben, Rot und Gelb, schützt sich das Viech gegen Fressfeinde. Obendrein kann es bei Gefahr einen unangenehm riechenden Saft ausstossen, ein sogenanntes Scheinbluten. Und seine Feinde sind zahlreich: Vögel, Eidechsen, Spitzmäuse, Frösche. Eine Brackwespenart hat sich ganz besonders auf das Viech spezialisiert: Sie legt jeweils ein Ei unter die Flügel eines Viechs. Die frisch geschlüpfte Larve bohrt sich in den Leib seines Wirts und lebt von seiner Körperflüssigkeit und seinem Körperfett. Die Larve überwintert mit dem Wirt und im Frühling frisst sie seine lebenswichtigen Organe auf. Im Schutz des verendeten Viechs verpuppt sich die Larve der Brackwespe. Doch der Hauptfeind ist und bleibt der Mensch: Die Tiere ernähren sich ja hauptsächlich von Blattläusen. Nun reichert sich alles Gift, das die Blattläuse – als Pflanzensaftsauger – aufgenommen haben, in den Viechern zu hohen Giftdosen an. Die Tiere sterben entweder direkt durch die Toxine oder werden durch diese so geschwächt, dass sie anfälliger für Krankheiten durch Viren, Bakterien oder Pilze werden. Jene Viecherarten, welche sich auf ganz spezielle Lebensräume wie Moore, Trockenrasen etc. spezialisiert haben, sind stark gefährdet, da wir Menschen diese Landschaften sukzessive zerstören und verbauen. Daher sind einige Arten bereits vom Aussterben bedroht. Umgekehrt können uns bestimmte Arten zeigen, ob gewisse Lebensräume noch intakt sind. Solche Tierarten sind sogenannte „Bioindikatoren“. Und, wie heisst es nun, das Viech? Liebe Liese, ich nehme an, dir ist längst klar, um welch ein Viech es sich handelt. Darum verrate ich dir hier nur seine Kosenamen: Herrgottskühlein, Jesuskäferchen, Sonnenkälbchen, Jungfrauenvogel und Gottesschäfchen. Nun wünsche ich dir einen wunderschönen Spätsommer mit vielen gelben und roten Glückskäferchen, und dass du dich künftig über jede Blattlaus freust, meine Liebe! Verena Quellen: Pro Natur; Tiere auf Wohnungssuche; Jörg Hess: Heimliche Untermieter; Wikipedia.