Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben

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Würzburger/Bamberger Philosophicum
Philosophie und Medizin mit Bezug
auf das Leben
Der Zusammenhang zwischen Philosophie und Medizin seit der Antike wird aufgezeigt. In Bezug auf das Leben hat die Medizin eine herausragende Rolle und Position.
Von der Medizin in der Romantik bis zum bio-psychosozialem Modell von Gesundheit
und Krankheit (v. Uexküll) spannt sich ein großer Bogen. Eine Medizin, die das Subjekt
in die Medizin wieder eingeführt hat, steht einer Philosophie des Lebens besonders
nahe. So hat eine recht verstandene Medizin ihre Wurzeln in der Philosophie, die es
gilt auch gerade heute nicht zu übersehen und zu vergessen.
Einleitung
Philosophie und Medizin stehen zueinander
im Wechsel aber auch in Verbindung, denn es
gibt, wie man so sagt, auch eine Philosophie
der Medizin. Aber beide Disziplinen Medizin
und Philosophie bestehen auf ihre Eigenständigkeit und pflegen weitgehend ihre eigene
Sprache und Terminologie. Grundsätzlich sind
beide Disziplinen mit dem Leben verbunden,
sind Teilbereiche des Lebens des Einzelnen sowie der Gesellschaft.
Hauptteil
Wie lässt sich das Leben beschreiben? Die Frage ist, soll es das allgemeine Leben oder das
individuelle Leben sein. – Leben und Leib sind
sprachlich verwandt. – Gemeinsam sind allen
Lebewesen die aufgeführten Merkmale wie:
• Aufbau aus organischen Zellen
• Reizbarkeit
• Stoffwechsel
• Fortpflanzung
• Vererbung
• Variation der genetischen Information
In der antiken Philosophie wird Leben aufgefasst als ousia autoteles (Selbstbewegung).
Die Lebensphilosophie hat zum Inhalt die Lehre vom Sinn, Wert und Ziel des menschlichen
Lebens und von der richtigen Lebensführung.
In diesem Sinn sind die französischen Moralisten die Lebensphilosophen, die eine „Wissenschaft vom Leben“ erstellten und zugleich Anweisungen zur Beherrschung des Lebens
durch klares Denken und Urteilen geben wollen.
Zudem und zweitens ist die Lebensphilosophie eine Richtung der neueren Philosophie,
die im Gegensatz zur Bewusstseinsphilosophie, die allein das begriffliche Denken zur
Grundlage hat vom Erleben als dem geistigen
Phänomen des Lebens ausgeht besonders diejenigen wie Wilhelm Diltheys, Georg
Simmels und Henri-Louis Bergsons.
Der philosophischen Thematik nach
stammt die Lebensphilosophie auch in dieser
zweiten Bedeutung aus dem 18. Jahrhundert.
In einer anonymen Schrift „Über die moralische Schönheit und die Philosophie des Lebens“ (Altenburg 1772) wird für die Lebensphilosophie empfohlen „die Kräfte und Eigenschaften der Seele nach den Erscheinungen im
menschlichen Leben, mit Beihilfe der Geschichte sorgfältig zu bemerken“, es wird weiter ausdrücklich erklärt, dass zur Lebensphilosophie „statt Theorien und Systemen die Dichter“ geeignet seien.
So wurde die Lebenswelt als nichttheoretischer Begriff wie Alltäglichkeit, Lebensraum,
Lebensform, Umwelt benutzt. Als theoretischer Terminus wurde die Lebenswelt für vortheoretische Erfahrungen und Praxisbezüge
zuerst von Edmund Gustav Albrecht
Husserl eingeführt mit dem Werk: „Die Krisis
der europäischen Wissenschaft“, 1935. In seinem Spätwerk hat Husserl diesen Begriff in erweiterter Bedeutung für „Intersubjektivität“
verwendet.
Seit den 1960er Jahren wird der Begriff –
Lebenswelt – im Zusammenhang mit der soziologischen Unterscheidung zwischen System
(sozialpolitischer Herrschaftsstruktur) und Lebenswelt (als gesellschaftswissenschaftliche
Bezeichnung für vortheoretische Lebensbezüge) zu einer Sammelbezeichnung für informelle Interaktion und Lebenszusammenhänge.
Mit dieser verkürzten Sicht der Philosophie auf das Leben soll dieser Bereich verlassen werden und der Medizin mit ihrem Bezug
auf das Leben Aufmerksamkeit gegeben werden.
Medizin in Bezug
auf das Leben
Die alte griechische Medizin steht der modernen Medizin im Leben unvergleichbar näher
als irgendeine andere historische Form der
Medizin, so Ackerknecht ([1], S. 40). Der Name
des Hippokrates von KOS (460 – 377 v. Chr.)
ist zum Symbol der ersten schöpferischen Periode der griechischen Medizin geworden. Die
Therapie des hippokratischen Arztes spiegelt
seine Grundeinstellung wieder.
Es war die Behandlung eines Individuums,
nicht einer Krankheit, die Behandlung des
ganzen Körpers, nicht irgendeines Teiles. Die
Therapie ging von der grundsätzlichen Voraussetzung aus, dass die Natur, Physis, selbst eine
starke heilende Kraft besitzt und dass es die
Hauptrolle des Arztes war, der Natur in ihrem
Heilprozess zu helfen, nicht ihr Gewalt anzutun. Die Gesundheit – das Leben – war ein Zustand der harmonischen Mischung der Säfte
(Eukrasie), und Krankheit war ein Zustand der
falschen Mischung (Dyskrasie). Die hippokratischen Krankheitstheorien waren durch die
mangelnden technischen Kenntnisse der Periode bedingt. Die Vier-Säfte-Physiologie war
nicht einmal eine chemische Theorie, sondern
eine aus Beobachtungen abgeleitete Physiologie.
Sir William Osler nannte einmal das 19.
Jahrhundert das Zeitalter der präventiven Medizin. Die Wahrheit dieser Feststellung geht
deutlich aus der Tatsache hervor, dass die großen Leistungen der modernen Medizin für das
Leben, der deutliche Anstieg der Lebenserwartung in den westlichen Ländern von vierzig
Jahren, im Jahr 1850 auf siebzig Jahre, im Jahr
1950 – und heute zutage auf achtzig Jahre –
mehr durch vorbeugende als durch heilende
Medizin beruhen.
Oliver Wendell Holmes (▶ Abb. 1) äußerte bereits früh die Ansicht, als er sagte: „Die
Mortalitätslisten werden mehr durch die Kanalisation beeinflusst als durch diese oder jene
Methode der ärztlichen Praxis“. Die Bakteriologie führte in der Präventivmedizin zu beispiellosen Fortschritten. Die Präventivmedizin
verließ sich nicht nur auf gesetzliche Zwangsmethoden: auch der Volksaufklärung wurde
zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet. Der
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Ausbau der öffentlichen Gesundheitspflege
hat einen neuen Arzt-Typ hervorgebracht, den
nicht behandelnden Arzt.
Zum ersten Mal in der Geschichte behandelt eine große Zahl von Ärzten nicht mehr
den einzelnen Menschen, sondern beschäftigt
sich ausschließlich mit der Gesundheit, dem
Leben größerer Volksgruppen. Ein anderer Typ
des nichtbehandelnden Arztes ist der nicht
praktizierende Wissenschaftler, dessen Rolle
seit dem 20. Jahrhundert immer wichtiger geworden ist.
Von den Tendenzen der Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind z.B. die
größte praktische Leistung der modernen Endokrinologie, die Isolierung des Insulins durch
Sir Frederick Grant Banting und Mitarbeiter
1921, zu nennen mit deutlichen positiven Folgen auf die Lebensqualität und die Lebenserwartung des Patienten. Erwähnt seien gerade
auch mit Bezug, auf Würzburg die Röntgenstrahlen, entdeckt durch Wilhelm Conrad
Röntgen 1895 mit entscheidenden Rückschlüssen und Fortschritten für Arzt und Patient. Eine bedeutsame und wichtige Leistung
der Medizin des 20. Jh. ist zweifellos die Chemotherapie. Jetzt konnten Mittel mit bekannter Wirkung eingesetzt werden, um Krankheiten deren Ursache bekannt waren, zu bekämpfen. Die Entdeckung und Einsatz sowie
die Weiterentwicklung der Substanzen wie
z. B. Antibiotika und die Einführung der
Schutzimpfung waren und sind segensreich.
Die Frage stellt sich wieder: welchen Bezug
haben die Entdeckungen und Behandlungsmöglichkeiten in Bezug auf das Leben des
Kranken, wie verhält sich die Medizin zum Leben. Die Medizin mit ihren nicht zu leugnenden großen naturwissenschaftlich begründeten Fortschritten steht nicht selten in der Person des Arztes, dem kranken Menschen in seiner Not, hilflos gegenüber. Nicht nur in der Intensivmedizin mit ihren deutlichen Erfolgen
und auch in der ambulanten Medizin ist es
nicht selten, dass der Kranke, leidende Mensch
nur als Träger einer gestörten kranken Funktion gesehen wird, eine Störung die behoben
werden muss. Häufig bleibt dem Arzt keine
Zeit sich vorzustellen und wahrzunehmen,
dass er es mit einem Leidenden zu tun hat.
Diese Tatsache ist einerseits z. B. im Vergleich zur Medizin der Romantik ein großer
Fortschritt aber andererseits auch ein großer
Verlust. Besonders in der hochspezialisierten
Medizin tritt dieses Dilemma nicht selten auf.
Quelle: Wikipedia
W. H. Krause: Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben
Abb. 1
Oliver Wendell Holmes
Gibt es Mittel und Wege diesem Dilemma wenigstens ansatzweise zu entgehen? Die Medizin in ihrer Gesamtheit, hier im Besonderen in
Theorie und Praxis, ist Teil des derzeitigen Lebensrhythmus und aus dieser Verflechtung
schwerlich zu lösen. Ein Rückschritt in die Romantische Medizin wäre schwer vorstellbar
und nicht vertretbar, bei all den modernen Errungenschaften der neuen Medizin, auf die
keiner ohne Not verzichten will. Die Aufteilung
z. B. der Inneren Medizin in Teilbereiche hat ihre Bedeutung und lässt sich schwerlich rückgängig machen.
Aber hoffnungsvolle Ansätze, um der Person des Kranken eine größere Bedeutung zu
geben, sind die Wiedereinführung eines Philosophikums für Medizinstudenten. Diese Tatsache lässt hoffen, dass die zukünftigen Ärzte,
die sich mit philosophischen Fragen auseinander setzen, eine neue und zugleich alte Sicht
auf den Patienten erhalten, dass dieser nicht
nur Träger einer Krankheit, einer gestörten
Funktion ist, sondern ein menschliches Wesen,
eine Person mit Leib und Seele nicht aufgespalten in unterschiedliche Bereiche. Die Frage
bleibt bestehen: Was ist das Leben in Bezug
auf die Medizin, was ist der lebendige
Mensch.
Mit Thure von Uexküll ist der Mensch ein
bio-psycho-soziales Wesen. Dieser Mensch ist
mit Leib und Seele, die untrennbar sind, eingebunden in sein jeweiliges soziales Umfeld. In
ähnlicher Weise stellt der bekannte US Kardiologe Bernhard Lown fest: der gute Arzt praktiziert die ärztliche Kunst und beherrscht die
Wissenschaft. Lown fordert eine Rückbesinnung auf das wahre Arztun. „Der Mensch ist
mehr als die Summe von Organen“ so Lown
„die man repariert oder sogar ersetzen kann,
er ist ein Ganzes aus Körper und Geist“ ([4], S.
12). Mit Blick auf das menschliche Leben oder
vielmehr in Bezug auf den Kranken ist die Medizin ein hochspezialisierter Reparaturbetrieb
geworden ([5], S. 170). Trotz des Paradigmenwechsels von der Metaphysik zu den Naturwissenschaften so Pieper, verschwindet der lebendige Körper weil nun ausschließlich das
Herz oder die Leber oder der Magen als wie
auch immer gestörte Körperzone vorranging
von Interesse sind.
Auch in den Neurowissenschaften fällte eine ähnliche Betrachtung auf, die sich der Computersprache bedient, wenn z. B. das Gehirn
als Hardware und die verarbeiteten Eindrücke
als Software bezeichnet werden. Ohne Zweifel
haben Biologie und Neurowissenschaften einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des
lebenden Körpers und seiner Funktionen, des
Lebens geleistet.
Aber der Reduktionismus, der in diesen
Wissenschaften besteht, hat eine ebenso extreme Folge wie die Metaphysik. Ließ diese
den lebendigen Körper verschwinden, so bringen die zeitgenössischen Naturwissenschaften
den Geist sowie Vernunft, Freiheit, Gut und
Böse zum Verschwinden, indem sie den Menschen ausschließlich als Körperwesen auffassten, dass in seiner Materialität kausalmechanisch (fast) vollständig durch die Natur determiniert ist. Begriffe wie Geist, Vernunft, Freiheit – das Leben – sind jedoch keine empirischen Begriffe, für die es materielle Entsprechungen in der Natur gibt.
Die Medizin hat den Kranken, hilfsbedürftigen Menschen in seinem Leben zur Aufgabe.
Leben (bios, vita, hochdeutsch Leib) und Medizin sind auf das engste miteinander verbunden, ob bei der Vorsorge, der akuten oder
chronischen Erkrankung. Die Medizin und ihre
Paradigmen unterliegen einem ständigen
Wandel. Der Wandel der Gesellschaft hat folglich einen Einfluss auf die Medizin. Der Fortschritt der modernen Medizin hat sich inzwischen grundlegend verändert und zwar in
qualitativer Hinsicht. Es besteht ein Paradigmenwechsel insofern, dass das Kausalitätsmodell derart erweitert wurde, dass ihm „kein
eindeutiger Sinn mehr zugeordnet werden
kann“ ([6], S. 51). Die Medizin von morgen
wird also immer weniger durch eine einzelne
„via regia“ der Therapie bestimmt und immer
mehr durch eine schier unübersehbare Fülle
therapeutischer Optionen ([6], S. 51).
Der „Priesterarzt“ der Antike wurde
schrittweise abgelöst vom naturwissenschaft-
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Quelle: Wikimedia
W. H. Krause: Beck: Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben
Abb. 2
Immanuel Kant
lich orientierten Arzt, der den Defekt mit naturwissenschaftlichen Mitteln bekämpft. Diese
Heiltechnik entspricht folgerichtig einem mechanistischen Menschenbild. Dem heutigen
Arzt werden vitalistische Handlungsweisen
abverlangt. Dem Wirtschaftsdenken des Arztes
in all seinen Handlungen wird zunehmend
größere Bedeutung zu teil. „Die ärztliche Tätigkeit wird zur Leistung mit Marktwert“ so
Stulz.
Die Angst wird in allen Lebensbereichen
zum Leitsymptom der postmodernen Gesellschaft. In der Konfrontation mit dieser Angst
gehört es zu den Herausforderungen der modernen Medizin, ihr dominierendes naturwissenschaftliches Paradigma mit einem philosophischen zu einem gemeinsamen Miteinander
zu vereinen. Diese Synthese wird eher nur mit
Hilfe eines philosophischen-reflexiven Denkens zu erreichen sein, „wenn der handelnde
Arzt mit seinem Arztsein denkend unter ewigen Normen im Strom des Lebens Philosoph
ist“ (3).
Die Kritik an der Medizin, die aus der Dialektik des Fortschritts folgt, lässt sich bildhaft
als seelenlose Reparaturmedizin auffassen.
Der Patient gibt seinen Körper sozusagen ab,
um eine Reparatur vornehmen zu lassen. Er
selbst als Individuum, als kranke Person
kommt – überspitzt ausgedrückt- für Diagnostik und Therapie gar nicht in Betracht. So gesehen spricht man auch von der „Krise der
Schulmedizin“ ([6], S. 59).
Man sucht nach Alternativen, denn die Apparatemedizin wird als Grund für den Akzeptanzverlust der ärztlichen Wissenschaft ange-
sehen. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen
Medizin wird in der „Alternativmedizin“ ein
„holistisches“ Menschenbild gesehen und vertreten. Aber im Sprachgebrauch der modernen
Medizin heißt es, dass der Arzt verpflichtet ist
„Entscheidungen auf Grund der gegenwärtigen besten externen wissenschaftlichen Evidenz zu treffen“. Mit dem Programm der EBM
ist die erklärte Absicht verbunden, in der Medizin nur noch das gelten zu lassen, was sich
empirisch zureichend bewährt hat. Nach diesem Konzept hat sich bewährt nur das, was
unter wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen zum Ziel geführt hat. Dabei tritt die
Frage auf, warum eine bestimmte Therapie
wirkt, in den Hintergrund zugunsten der empirischen Klärung der Frage, ob sie wirkt. Die
exakte Methodik der wissenschaftlichen Medizin hat unbestritten zu überragenden Errungenschaften geführt, doch drohen im Wissenschaftsrausch der modernen Medizin so Stulz,
jene Qualitäten zu ersticken, die eben nicht
ausschließlich mess- und qualifizierbar sind. Es
sind die Fähigkeiten, die in randomisierten
Studien nicht ausreichend geprüft werden
können.
Aristoteles verwendete für diese Kompetenz den Begriff der Phronesis (das abwägende Streben nach Dingen in unserer Macht)
[Verantwortlichkeit]. Klinische Expertisen werden gewonnen durch Klinische Erfahrung und
Praxis in der Begegnung mit dem individuellen
Patienten. Diese Erfahrung gewinnt man in der
direkten Beziehung mit dem Patienten, indem
man versucht vor allem sein Kranksein und
subjektives Krankheitsempfinden zu verstehen
und weniger die Krankheit, wie sie durch pathophysiologische Modelle und epidemiologische Evidenz definiert wird. Klinische Erfahrung gewinnt man auch durch erlebte
schmerzvolle Fehltritte und -entscheidungen,
so Stulz.
Eine Kritik an der EBM erwächst aus dem
Spannungsverhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Ausrichtung der Medizin als theoretische Wissenschaft einerseits und der praktischen Ausübung der Medizin als ärztlicher
Kunst andererseits. Gegenstand der medizinischen Wissenschaft sind gleichermaßen der
menschliche Körper und die menschliche Psyche, die mit harten wissenschaftlichen Methoden „aufgearbeitet“ werden. Der Bezugspunkt des Artzseins (der ärztlichen Kunst) ist
dabei die gesamte Person des Patienten und
dessen individuelles Wohlergehen. Das Ziel
der medizinischen Wissenschaft ist definiert
und klar: Kampf gegen Krankheit mit allen
Mitteln und wissenschaftlichen Methoden.
Es gehört schon immer zur Aufgabe des
Arztes, dem einzelnen Patienten dabei zu helfen, von seinem Personsein her ein Verhältnis
zu seinem definiertem Leib, seiner definierten
Psyche und den ihm verbleibenden Lebensperspektive zu gewinnen.
Es ist bekannt, dass einer der Kritikpunkte
an der heutigen Medizin die dominierenden
Naturwissenschaften sind. Dies führt aber zugleich in der Tendenz dazu, dass der Bezugspunkt medizinischen Handelns einzig der Körper und die Psyche sind und dass dabei die
Person des Patienten und dessen individuelles
Wohl in den Hintergrund treten. Medizin auch
als ärztliche Kunst verstanden, reduziert sich
dann auf die bloße Umsetzung und Anwendung der allgemeine Erkenntnisse medizinischen Wissenschaft auf beliebige Einzelfälle.
Der Arzt gerät zunehmend in ein Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Dem Arzt werden zudem utilitaristische
Handlungsweisen abverlangt. Bei all seinen
Tätigkeiten soll er den Nutzen der Gemeinschaft über den Nutzen des Einzelnen stellen,
und dem Wirtschaftlichkeitsdenken des Arztes
in all seinen Handlungen wird zunehmend
größere Bedeutung zugemessen. Die ärztliche
Tätigkeit wird zur Leistung mit Marktwert. Der
informierte und kompetente Patient wird
durch den Internetzugriff immer mehr zum
Konsumenten, der seine Bedürfnisse im Shopping-Center der Medizin einkauft. Der Arzt
wird dabei zum Berater, der er auch ist, aber
letztlich zum Wunscherfüller einer Gesellschaft, „die ihr höchstes Ziel in der Befreiung
von Leiden und Streben sieht“ ([7], S. 69).
Von den drei Fakultäten, der theologischen, der juristischen und der medizinischen,
ist die Letztere, so Immanuel Kant
(▶ Abb. 2), in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ die freiste und eben deshalb sei sie
der Philosophie besonders nahe verwandt, Die
Autorität, der die Medizin untersteht ist die
Natur – ihr gehorcht man nicht, ihr entspricht
man.
Viktor von Weizsäcker verdanken wir die
Benennung der Verwandtschaft von Philosophie und Medizin im Interesse der Rehabilitation des Leibes. Von Weizsäcker macht deutlich, dass in der Materie eine Weisheit walte,
die in der Krankheit nicht ausnahmsweise,
sondern nur besonders aufdringlich zutage
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W. H. Krause: Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben
trete. Bei v. Weizsäcker heißt es u.a.: Dass die
Anerkennung der Krankheit als eine Weise des
Menschseins ist, die „Trennung von Natur und
Geist in der Medizin vereitelt“ (Werke Bd. 7,
S.202).
Das Eigentümliche des Menschen, das was
ihn wirklich auszeichnet, ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, so Ernst Alfred
Cassirer, in „Versuch über den Menschen“,
sondern „sein Wirken. […] Dieses Wirken, das
System menschlicher Tätigkeiten, definiert und
bestimmt die Sphäre des „Menschseins“. Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte sind die Bestandteile […]. Eine „Philosophie des Menschen“ wäre eine Philosophie,
die uns Einblick in die Grundstruktur jeder dieser verschiedenen Tätigkeiten gibt“ (2).
Eine Medizin, die wie durch v. Weizsäcker
das Subjekt in die Medizin eingeführt hat,
steht einer Philosophie es Lebens – Lebensphilosophie nahe (Rudolf Christoph Eucken:
Sinn und Wert des Lebens [1908], Erkennen
und Leben [1912]).
Schluss
Abschließend sei noch einmal auf die Rolle
des Arztes Bezug genommen. „Denn der Arzt
ist weder Führer, noch Deuter noch Weise“, so
v. Weizsäcker, „sondern er ist ein Arzt d.h. kein
Bewirker, sondern Ermöglicher; er steht nicht
über der Entscheidung, sondern mit dem Kranken in der Entscheidung“. So spricht v. Weizsäcker in einem Vortrag von 1927 in der Kölner
Kantgesellschaft. Eine recht verstandene Medizin hat ihren Ursprung, ihre Wurzeln in der
Philosophie und diese gilt es auch heute nicht
zu vergessen.
Literatur
1. Ackerknecht, E. Kurze Geschichte der Medizin.
Stuttgart,1959.
2. Cassirer, E. Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur. Hamburg:
Felix Meiner Verlag, 1996.
3. Jaspers, K. Der Arzt im technischen Zeitalter.
München, 1999.
4. Lown, B. Die verlorene Kunst des Heilens. Frankfurt am Main, 2004.
5. Pieper, M. Corpus Delicti. Zürich, 2006.
6. Stulz, P. Philosophie und Medizin. Zürich, 2006.
7. Stulz, P. Die Medizin und ihre Paradigmen im
Wandel der Gesellschaft, in Philosophie und
Medizin. Zürich, 2006.
8. Von Weizsäcker, V. Allgemeine Medizin – Grundfragen medizinischer Anthropologie. In: Ders.:
Werke in zehn Bänden. Hrsg. von D. Janz, P.
Achilles, M. Schrenk, C.F.v. Weizsäcker. Band VII:
Allgemeine Medizin – Grundfragen medizinischer
Anthropologie. Frankfurt a. M., 1987.
Prof. Dr. med. Walter Hubertus Krause (M.A)
Geschwister – Scholl – Straße 37
61476 Kronberg im Taunus
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