114 Würzburger/Bamberger Philosophicum Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben Der Zusammenhang zwischen Philosophie und Medizin seit der Antike wird aufgezeigt. In Bezug auf das Leben hat die Medizin eine herausragende Rolle und Position. Von der Medizin in der Romantik bis zum bio-psychosozialem Modell von Gesundheit und Krankheit (v. Uexküll) spannt sich ein großer Bogen. Eine Medizin, die das Subjekt in die Medizin wieder eingeführt hat, steht einer Philosophie des Lebens besonders nahe. So hat eine recht verstandene Medizin ihre Wurzeln in der Philosophie, die es gilt auch gerade heute nicht zu übersehen und zu vergessen. Einleitung Philosophie und Medizin stehen zueinander im Wechsel aber auch in Verbindung, denn es gibt, wie man so sagt, auch eine Philosophie der Medizin. Aber beide Disziplinen Medizin und Philosophie bestehen auf ihre Eigenständigkeit und pflegen weitgehend ihre eigene Sprache und Terminologie. Grundsätzlich sind beide Disziplinen mit dem Leben verbunden, sind Teilbereiche des Lebens des Einzelnen sowie der Gesellschaft. Hauptteil Wie lässt sich das Leben beschreiben? Die Frage ist, soll es das allgemeine Leben oder das individuelle Leben sein. – Leben und Leib sind sprachlich verwandt. – Gemeinsam sind allen Lebewesen die aufgeführten Merkmale wie: • Aufbau aus organischen Zellen • Reizbarkeit • Stoffwechsel • Fortpflanzung • Vererbung • Variation der genetischen Information In der antiken Philosophie wird Leben aufgefasst als ousia autoteles (Selbstbewegung). Die Lebensphilosophie hat zum Inhalt die Lehre vom Sinn, Wert und Ziel des menschlichen Lebens und von der richtigen Lebensführung. In diesem Sinn sind die französischen Moralisten die Lebensphilosophen, die eine „Wissenschaft vom Leben“ erstellten und zugleich Anweisungen zur Beherrschung des Lebens durch klares Denken und Urteilen geben wollen. Zudem und zweitens ist die Lebensphilosophie eine Richtung der neueren Philosophie, die im Gegensatz zur Bewusstseinsphilosophie, die allein das begriffliche Denken zur Grundlage hat vom Erleben als dem geistigen Phänomen des Lebens ausgeht besonders diejenigen wie Wilhelm Diltheys, Georg Simmels und Henri-Louis Bergsons. Der philosophischen Thematik nach stammt die Lebensphilosophie auch in dieser zweiten Bedeutung aus dem 18. Jahrhundert. In einer anonymen Schrift „Über die moralische Schönheit und die Philosophie des Lebens“ (Altenburg 1772) wird für die Lebensphilosophie empfohlen „die Kräfte und Eigenschaften der Seele nach den Erscheinungen im menschlichen Leben, mit Beihilfe der Geschichte sorgfältig zu bemerken“, es wird weiter ausdrücklich erklärt, dass zur Lebensphilosophie „statt Theorien und Systemen die Dichter“ geeignet seien. So wurde die Lebenswelt als nichttheoretischer Begriff wie Alltäglichkeit, Lebensraum, Lebensform, Umwelt benutzt. Als theoretischer Terminus wurde die Lebenswelt für vortheoretische Erfahrungen und Praxisbezüge zuerst von Edmund Gustav Albrecht Husserl eingeführt mit dem Werk: „Die Krisis der europäischen Wissenschaft“, 1935. In seinem Spätwerk hat Husserl diesen Begriff in erweiterter Bedeutung für „Intersubjektivität“ verwendet. Seit den 1960er Jahren wird der Begriff – Lebenswelt – im Zusammenhang mit der soziologischen Unterscheidung zwischen System (sozialpolitischer Herrschaftsstruktur) und Lebenswelt (als gesellschaftswissenschaftliche Bezeichnung für vortheoretische Lebensbezüge) zu einer Sammelbezeichnung für informelle Interaktion und Lebenszusammenhänge. Mit dieser verkürzten Sicht der Philosophie auf das Leben soll dieser Bereich verlassen werden und der Medizin mit ihrem Bezug auf das Leben Aufmerksamkeit gegeben werden. Medizin in Bezug auf das Leben Die alte griechische Medizin steht der modernen Medizin im Leben unvergleichbar näher als irgendeine andere historische Form der Medizin, so Ackerknecht ([1], S. 40). Der Name des Hippokrates von KOS (460 – 377 v. Chr.) ist zum Symbol der ersten schöpferischen Periode der griechischen Medizin geworden. Die Therapie des hippokratischen Arztes spiegelt seine Grundeinstellung wieder. Es war die Behandlung eines Individuums, nicht einer Krankheit, die Behandlung des ganzen Körpers, nicht irgendeines Teiles. Die Therapie ging von der grundsätzlichen Voraussetzung aus, dass die Natur, Physis, selbst eine starke heilende Kraft besitzt und dass es die Hauptrolle des Arztes war, der Natur in ihrem Heilprozess zu helfen, nicht ihr Gewalt anzutun. Die Gesundheit – das Leben – war ein Zustand der harmonischen Mischung der Säfte (Eukrasie), und Krankheit war ein Zustand der falschen Mischung (Dyskrasie). Die hippokratischen Krankheitstheorien waren durch die mangelnden technischen Kenntnisse der Periode bedingt. Die Vier-Säfte-Physiologie war nicht einmal eine chemische Theorie, sondern eine aus Beobachtungen abgeleitete Physiologie. Sir William Osler nannte einmal das 19. Jahrhundert das Zeitalter der präventiven Medizin. Die Wahrheit dieser Feststellung geht deutlich aus der Tatsache hervor, dass die großen Leistungen der modernen Medizin für das Leben, der deutliche Anstieg der Lebenserwartung in den westlichen Ländern von vierzig Jahren, im Jahr 1850 auf siebzig Jahre, im Jahr 1950 – und heute zutage auf achtzig Jahre – mehr durch vorbeugende als durch heilende Medizin beruhen. Oliver Wendell Holmes (▶ Abb. 1) äußerte bereits früh die Ansicht, als er sagte: „Die Mortalitätslisten werden mehr durch die Kanalisation beeinflusst als durch diese oder jene Methode der ärztlichen Praxis“. Die Bakteriologie führte in der Präventivmedizin zu beispiellosen Fortschritten. Die Präventivmedizin verließ sich nicht nur auf gesetzliche Zwangsmethoden: auch der Volksaufklärung wurde zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet. Der © Schattauer 2017 Med Welt 3/2017 Downloaded from www.die-medizinische-welt.de on 2017-08-18 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 115 Ausbau der öffentlichen Gesundheitspflege hat einen neuen Arzt-Typ hervorgebracht, den nicht behandelnden Arzt. Zum ersten Mal in der Geschichte behandelt eine große Zahl von Ärzten nicht mehr den einzelnen Menschen, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit der Gesundheit, dem Leben größerer Volksgruppen. Ein anderer Typ des nichtbehandelnden Arztes ist der nicht praktizierende Wissenschaftler, dessen Rolle seit dem 20. Jahrhundert immer wichtiger geworden ist. Von den Tendenzen der Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind z.B. die größte praktische Leistung der modernen Endokrinologie, die Isolierung des Insulins durch Sir Frederick Grant Banting und Mitarbeiter 1921, zu nennen mit deutlichen positiven Folgen auf die Lebensqualität und die Lebenserwartung des Patienten. Erwähnt seien gerade auch mit Bezug, auf Würzburg die Röntgenstrahlen, entdeckt durch Wilhelm Conrad Röntgen 1895 mit entscheidenden Rückschlüssen und Fortschritten für Arzt und Patient. Eine bedeutsame und wichtige Leistung der Medizin des 20. Jh. ist zweifellos die Chemotherapie. Jetzt konnten Mittel mit bekannter Wirkung eingesetzt werden, um Krankheiten deren Ursache bekannt waren, zu bekämpfen. Die Entdeckung und Einsatz sowie die Weiterentwicklung der Substanzen wie z. B. Antibiotika und die Einführung der Schutzimpfung waren und sind segensreich. Die Frage stellt sich wieder: welchen Bezug haben die Entdeckungen und Behandlungsmöglichkeiten in Bezug auf das Leben des Kranken, wie verhält sich die Medizin zum Leben. Die Medizin mit ihren nicht zu leugnenden großen naturwissenschaftlich begründeten Fortschritten steht nicht selten in der Person des Arztes, dem kranken Menschen in seiner Not, hilflos gegenüber. Nicht nur in der Intensivmedizin mit ihren deutlichen Erfolgen und auch in der ambulanten Medizin ist es nicht selten, dass der Kranke, leidende Mensch nur als Träger einer gestörten kranken Funktion gesehen wird, eine Störung die behoben werden muss. Häufig bleibt dem Arzt keine Zeit sich vorzustellen und wahrzunehmen, dass er es mit einem Leidenden zu tun hat. Diese Tatsache ist einerseits z. B. im Vergleich zur Medizin der Romantik ein großer Fortschritt aber andererseits auch ein großer Verlust. Besonders in der hochspezialisierten Medizin tritt dieses Dilemma nicht selten auf. Quelle: Wikipedia W. H. Krause: Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben Abb. 1 Oliver Wendell Holmes Gibt es Mittel und Wege diesem Dilemma wenigstens ansatzweise zu entgehen? Die Medizin in ihrer Gesamtheit, hier im Besonderen in Theorie und Praxis, ist Teil des derzeitigen Lebensrhythmus und aus dieser Verflechtung schwerlich zu lösen. Ein Rückschritt in die Romantische Medizin wäre schwer vorstellbar und nicht vertretbar, bei all den modernen Errungenschaften der neuen Medizin, auf die keiner ohne Not verzichten will. Die Aufteilung z. B. der Inneren Medizin in Teilbereiche hat ihre Bedeutung und lässt sich schwerlich rückgängig machen. Aber hoffnungsvolle Ansätze, um der Person des Kranken eine größere Bedeutung zu geben, sind die Wiedereinführung eines Philosophikums für Medizinstudenten. Diese Tatsache lässt hoffen, dass die zukünftigen Ärzte, die sich mit philosophischen Fragen auseinander setzen, eine neue und zugleich alte Sicht auf den Patienten erhalten, dass dieser nicht nur Träger einer Krankheit, einer gestörten Funktion ist, sondern ein menschliches Wesen, eine Person mit Leib und Seele nicht aufgespalten in unterschiedliche Bereiche. Die Frage bleibt bestehen: Was ist das Leben in Bezug auf die Medizin, was ist der lebendige Mensch. Mit Thure von Uexküll ist der Mensch ein bio-psycho-soziales Wesen. Dieser Mensch ist mit Leib und Seele, die untrennbar sind, eingebunden in sein jeweiliges soziales Umfeld. In ähnlicher Weise stellt der bekannte US Kardiologe Bernhard Lown fest: der gute Arzt praktiziert die ärztliche Kunst und beherrscht die Wissenschaft. Lown fordert eine Rückbesinnung auf das wahre Arztun. „Der Mensch ist mehr als die Summe von Organen“ so Lown „die man repariert oder sogar ersetzen kann, er ist ein Ganzes aus Körper und Geist“ ([4], S. 12). Mit Blick auf das menschliche Leben oder vielmehr in Bezug auf den Kranken ist die Medizin ein hochspezialisierter Reparaturbetrieb geworden ([5], S. 170). Trotz des Paradigmenwechsels von der Metaphysik zu den Naturwissenschaften so Pieper, verschwindet der lebendige Körper weil nun ausschließlich das Herz oder die Leber oder der Magen als wie auch immer gestörte Körperzone vorranging von Interesse sind. Auch in den Neurowissenschaften fällte eine ähnliche Betrachtung auf, die sich der Computersprache bedient, wenn z. B. das Gehirn als Hardware und die verarbeiteten Eindrücke als Software bezeichnet werden. Ohne Zweifel haben Biologie und Neurowissenschaften einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des lebenden Körpers und seiner Funktionen, des Lebens geleistet. Aber der Reduktionismus, der in diesen Wissenschaften besteht, hat eine ebenso extreme Folge wie die Metaphysik. Ließ diese den lebendigen Körper verschwinden, so bringen die zeitgenössischen Naturwissenschaften den Geist sowie Vernunft, Freiheit, Gut und Böse zum Verschwinden, indem sie den Menschen ausschließlich als Körperwesen auffassten, dass in seiner Materialität kausalmechanisch (fast) vollständig durch die Natur determiniert ist. Begriffe wie Geist, Vernunft, Freiheit – das Leben – sind jedoch keine empirischen Begriffe, für die es materielle Entsprechungen in der Natur gibt. Die Medizin hat den Kranken, hilfsbedürftigen Menschen in seinem Leben zur Aufgabe. Leben (bios, vita, hochdeutsch Leib) und Medizin sind auf das engste miteinander verbunden, ob bei der Vorsorge, der akuten oder chronischen Erkrankung. Die Medizin und ihre Paradigmen unterliegen einem ständigen Wandel. Der Wandel der Gesellschaft hat folglich einen Einfluss auf die Medizin. Der Fortschritt der modernen Medizin hat sich inzwischen grundlegend verändert und zwar in qualitativer Hinsicht. Es besteht ein Paradigmenwechsel insofern, dass das Kausalitätsmodell derart erweitert wurde, dass ihm „kein eindeutiger Sinn mehr zugeordnet werden kann“ ([6], S. 51). Die Medizin von morgen wird also immer weniger durch eine einzelne „via regia“ der Therapie bestimmt und immer mehr durch eine schier unübersehbare Fülle therapeutischer Optionen ([6], S. 51). Der „Priesterarzt“ der Antike wurde schrittweise abgelöst vom naturwissenschaft- Med Welt 3/2017 © Schattauer 2017 Downloaded from www.die-medizinische-welt.de on 2017-08-18 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 116 Quelle: Wikimedia W. H. Krause: Beck: Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben Abb. 2 Immanuel Kant lich orientierten Arzt, der den Defekt mit naturwissenschaftlichen Mitteln bekämpft. Diese Heiltechnik entspricht folgerichtig einem mechanistischen Menschenbild. Dem heutigen Arzt werden vitalistische Handlungsweisen abverlangt. Dem Wirtschaftsdenken des Arztes in all seinen Handlungen wird zunehmend größere Bedeutung zu teil. „Die ärztliche Tätigkeit wird zur Leistung mit Marktwert“ so Stulz. Die Angst wird in allen Lebensbereichen zum Leitsymptom der postmodernen Gesellschaft. In der Konfrontation mit dieser Angst gehört es zu den Herausforderungen der modernen Medizin, ihr dominierendes naturwissenschaftliches Paradigma mit einem philosophischen zu einem gemeinsamen Miteinander zu vereinen. Diese Synthese wird eher nur mit Hilfe eines philosophischen-reflexiven Denkens zu erreichen sein, „wenn der handelnde Arzt mit seinem Arztsein denkend unter ewigen Normen im Strom des Lebens Philosoph ist“ (3). Die Kritik an der Medizin, die aus der Dialektik des Fortschritts folgt, lässt sich bildhaft als seelenlose Reparaturmedizin auffassen. Der Patient gibt seinen Körper sozusagen ab, um eine Reparatur vornehmen zu lassen. Er selbst als Individuum, als kranke Person kommt – überspitzt ausgedrückt- für Diagnostik und Therapie gar nicht in Betracht. So gesehen spricht man auch von der „Krise der Schulmedizin“ ([6], S. 59). Man sucht nach Alternativen, denn die Apparatemedizin wird als Grund für den Akzeptanzverlust der ärztlichen Wissenschaft ange- sehen. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Medizin wird in der „Alternativmedizin“ ein „holistisches“ Menschenbild gesehen und vertreten. Aber im Sprachgebrauch der modernen Medizin heißt es, dass der Arzt verpflichtet ist „Entscheidungen auf Grund der gegenwärtigen besten externen wissenschaftlichen Evidenz zu treffen“. Mit dem Programm der EBM ist die erklärte Absicht verbunden, in der Medizin nur noch das gelten zu lassen, was sich empirisch zureichend bewährt hat. Nach diesem Konzept hat sich bewährt nur das, was unter wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen zum Ziel geführt hat. Dabei tritt die Frage auf, warum eine bestimmte Therapie wirkt, in den Hintergrund zugunsten der empirischen Klärung der Frage, ob sie wirkt. Die exakte Methodik der wissenschaftlichen Medizin hat unbestritten zu überragenden Errungenschaften geführt, doch drohen im Wissenschaftsrausch der modernen Medizin so Stulz, jene Qualitäten zu ersticken, die eben nicht ausschließlich mess- und qualifizierbar sind. Es sind die Fähigkeiten, die in randomisierten Studien nicht ausreichend geprüft werden können. Aristoteles verwendete für diese Kompetenz den Begriff der Phronesis (das abwägende Streben nach Dingen in unserer Macht) [Verantwortlichkeit]. Klinische Expertisen werden gewonnen durch Klinische Erfahrung und Praxis in der Begegnung mit dem individuellen Patienten. Diese Erfahrung gewinnt man in der direkten Beziehung mit dem Patienten, indem man versucht vor allem sein Kranksein und subjektives Krankheitsempfinden zu verstehen und weniger die Krankheit, wie sie durch pathophysiologische Modelle und epidemiologische Evidenz definiert wird. Klinische Erfahrung gewinnt man auch durch erlebte schmerzvolle Fehltritte und -entscheidungen, so Stulz. Eine Kritik an der EBM erwächst aus dem Spannungsverhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Ausrichtung der Medizin als theoretische Wissenschaft einerseits und der praktischen Ausübung der Medizin als ärztlicher Kunst andererseits. Gegenstand der medizinischen Wissenschaft sind gleichermaßen der menschliche Körper und die menschliche Psyche, die mit harten wissenschaftlichen Methoden „aufgearbeitet“ werden. Der Bezugspunkt des Artzseins (der ärztlichen Kunst) ist dabei die gesamte Person des Patienten und dessen individuelles Wohlergehen. Das Ziel der medizinischen Wissenschaft ist definiert und klar: Kampf gegen Krankheit mit allen Mitteln und wissenschaftlichen Methoden. Es gehört schon immer zur Aufgabe des Arztes, dem einzelnen Patienten dabei zu helfen, von seinem Personsein her ein Verhältnis zu seinem definiertem Leib, seiner definierten Psyche und den ihm verbleibenden Lebensperspektive zu gewinnen. Es ist bekannt, dass einer der Kritikpunkte an der heutigen Medizin die dominierenden Naturwissenschaften sind. Dies führt aber zugleich in der Tendenz dazu, dass der Bezugspunkt medizinischen Handelns einzig der Körper und die Psyche sind und dass dabei die Person des Patienten und dessen individuelles Wohl in den Hintergrund treten. Medizin auch als ärztliche Kunst verstanden, reduziert sich dann auf die bloße Umsetzung und Anwendung der allgemeine Erkenntnisse medizinischen Wissenschaft auf beliebige Einzelfälle. Der Arzt gerät zunehmend in ein Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Dem Arzt werden zudem utilitaristische Handlungsweisen abverlangt. Bei all seinen Tätigkeiten soll er den Nutzen der Gemeinschaft über den Nutzen des Einzelnen stellen, und dem Wirtschaftlichkeitsdenken des Arztes in all seinen Handlungen wird zunehmend größere Bedeutung zugemessen. Die ärztliche Tätigkeit wird zur Leistung mit Marktwert. Der informierte und kompetente Patient wird durch den Internetzugriff immer mehr zum Konsumenten, der seine Bedürfnisse im Shopping-Center der Medizin einkauft. Der Arzt wird dabei zum Berater, der er auch ist, aber letztlich zum Wunscherfüller einer Gesellschaft, „die ihr höchstes Ziel in der Befreiung von Leiden und Streben sieht“ ([7], S. 69). Von den drei Fakultäten, der theologischen, der juristischen und der medizinischen, ist die Letztere, so Immanuel Kant (▶ Abb. 2), in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten“ die freiste und eben deshalb sei sie der Philosophie besonders nahe verwandt, Die Autorität, der die Medizin untersteht ist die Natur – ihr gehorcht man nicht, ihr entspricht man. Viktor von Weizsäcker verdanken wir die Benennung der Verwandtschaft von Philosophie und Medizin im Interesse der Rehabilitation des Leibes. Von Weizsäcker macht deutlich, dass in der Materie eine Weisheit walte, die in der Krankheit nicht ausnahmsweise, sondern nur besonders aufdringlich zutage © Schattauer 2017 Med Welt 3/2017 Downloaded from www.die-medizinische-welt.de on 2017-08-18 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved. 117 W. H. Krause: Philosophie und Medizin mit Bezug auf das Leben trete. Bei v. Weizsäcker heißt es u.a.: Dass die Anerkennung der Krankheit als eine Weise des Menschseins ist, die „Trennung von Natur und Geist in der Medizin vereitelt“ (Werke Bd. 7, S.202). Das Eigentümliche des Menschen, das was ihn wirklich auszeichnet, ist nicht seine metaphysische oder physische Natur, so Ernst Alfred Cassirer, in „Versuch über den Menschen“, sondern „sein Wirken. […] Dieses Wirken, das System menschlicher Tätigkeiten, definiert und bestimmt die Sphäre des „Menschseins“. Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte sind die Bestandteile […]. Eine „Philosophie des Menschen“ wäre eine Philosophie, die uns Einblick in die Grundstruktur jeder dieser verschiedenen Tätigkeiten gibt“ (2). Eine Medizin, die wie durch v. Weizsäcker das Subjekt in die Medizin eingeführt hat, steht einer Philosophie es Lebens – Lebensphilosophie nahe (Rudolf Christoph Eucken: Sinn und Wert des Lebens [1908], Erkennen und Leben [1912]). Schluss Abschließend sei noch einmal auf die Rolle des Arztes Bezug genommen. „Denn der Arzt ist weder Führer, noch Deuter noch Weise“, so v. Weizsäcker, „sondern er ist ein Arzt d.h. kein Bewirker, sondern Ermöglicher; er steht nicht über der Entscheidung, sondern mit dem Kranken in der Entscheidung“. So spricht v. Weizsäcker in einem Vortrag von 1927 in der Kölner Kantgesellschaft. Eine recht verstandene Medizin hat ihren Ursprung, ihre Wurzeln in der Philosophie und diese gilt es auch heute nicht zu vergessen. Literatur 1. Ackerknecht, E. Kurze Geschichte der Medizin. Stuttgart,1959. 2. Cassirer, E. Versuch über den Menschen. Einführung in die Philosophie der Kultur. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1996. 3. Jaspers, K. Der Arzt im technischen Zeitalter. München, 1999. 4. Lown, B. Die verlorene Kunst des Heilens. Frankfurt am Main, 2004. 5. Pieper, M. Corpus Delicti. Zürich, 2006. 6. Stulz, P. Philosophie und Medizin. Zürich, 2006. 7. Stulz, P. Die Medizin und ihre Paradigmen im Wandel der Gesellschaft, in Philosophie und Medizin. Zürich, 2006. 8. Von Weizsäcker, V. Allgemeine Medizin – Grundfragen medizinischer Anthropologie. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von D. Janz, P. Achilles, M. Schrenk, C.F.v. Weizsäcker. Band VII: Allgemeine Medizin – Grundfragen medizinischer Anthropologie. Frankfurt a. M., 1987. Prof. Dr. med. Walter Hubertus Krause (M.A) Geschwister – Scholl – Straße 37 61476 Kronberg im Taunus Anzeige Med Welt 3/2017 © Schattauer 2017 Downloaded from www.die-medizinische-welt.de on 2017-08-18 | IP: 88.99.70.242 For personal or educational use only. No other uses without permission. All rights reserved.