Therapie der skelettalen Klasse II im späten Wechselgebiss 284 ■ Therapie der skelettalen Klasse II im späten Wechselgebiss Die Behandlung der skelettalen Klasse-II-Anomalie wird im späten Wechselgebiss durchgeführt. Das Therapiekonzept besteht in einer zweiphasigen Vorgehensweise. Im Unterschied zur dentalen Klasse II, bei der Patienten mit vertikalem Schädelaufbau nur begrenzt kausal durch Distalisation im Oberkiefer behandelt werden können, ist bei der Behandlung der skelettalen Klasse II eine Behandlung von Patienten auch mit vertikalem Wachstumsmuster möglich. Die Entwicklung neuerer funktionskieferorthopädischer Apparaturen, gezielte Biomechanik und die Verstärkung funktionskieferorthopädischer Effekte durch den Headgear, erlauben heute ein erweitertes Behandlungsspektrum in der Behandlung skelettaler Klasse-II-Anomalien. In der 1. Phase der Therapie der skelettalen Klasse-II-Anomalie erfolgt eine funktionskieferorthopädische Therapie zur Einstellung der Verzahnung in eine Neutralokklusion. Umfang und Lokalisation der therapeutischen skelettalen Beeinflussung sind abhängig von der individuellen Anomalie. Einfluss des Wachstums auf die Therapie der skelettalen Klasse­II­Anomalie Der Vergleich der Schädelkonfigurati­ on des vertikalen (blau) und horizon­ talen Schädelaufbaus (rot) zeigt deutlich die unterschiedlichen Kom­ ponenten im Wachstum auf. Wäh­ rend sich der Unterkiefer bei vertika­ lem Wachstumstyp mehr nach hinten unten orientiert, ist bei hori­ zontalem Wachstumstyp ein nach kranial­anterior gerichtetes Wachs­ tum des Unterkiefers zu erwarten (nach Rakosi u. Jonas 1989). Schwierigkeitsgrad der skelettalen Klasse­II­Anomalie Der Schwierigkeitsgrad der Anomalie ist abhängig von der Vertikalentwicklung des Schädels und dem sagittalen Ausprägungsgrad der skelettalen Klasse II. Vertikalentwicklung des Schädels Bei der Vertikalentwicklung des Schädels kann anhand der individuellen kephalometrischen Daten ein Wachstumsmuster und individueller Wachstumstyp bzw. Gesichtstyp bestimmt werden. Bei einem vertikalen Wachstumsmuster wächst der Unterkiefer nach dorsal und kaudal, bei einem horizontalen Wachstumsmus- Retrognath Der Patient zeigt nach seinem indivi­ duellen kephalometrischen Befund ein vertikales Wachstumsmuster und einen skelettal offenen Biss. Da sich der Patient noch im Wachstum befin­ det, ist im ungünstigen Fall eine Ver­ stärkung des vertikalen Schädelauf­ baus zu erwarten. Konventionelle bimaxilläre Geräte führen in vielen Fällen zu keiner Korrektur der Klasse­ II-Anomalie. SNA Orthognath Schwierigkeitsgrad bei der Therapie der skelettalen Klasse II Prognath 747 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL 141 14 13 140 139 138 12 11 10 137 136 135 134 9 8 133 132 131 7 6 5 4 3 130 129 1 64 42 65 41 66 40 39 38 37 122 121 70 71 73 34 74 33 32 31 30 29 75 76 77 78 79 81 27 82 26 83 25 22 85 87 90 19 91 15 14 25 24 23 22 21 20 19 18 17 88 20 16 26 86 89 17 27 84 21 18 28 80 28 23 123 69 35 127 125 68 72 24 126 67 36 128 124 2 43 92 93 94 95 96 16 15 14 13 97 ter nach anterior und kranial (Abb. 746). Dies verdeutlicht, dass therapeutisch die funktionskieferorthopädische Therapie bei einem neutralen oder horizontalen Wachstumsmuster im Hinblick auf die Vorverlagerung des Unterkiefers weitaus günstiger ist als bei einem vertikalen Wachstumsmuster. Patienten mit vertikalem Wachstumstyp können bei ausgeprägtem Wachstum eine Verstärkung der Anomalie durch das Wachstum zeigen (Abb. 747). Letztgenannte Patientengruppe gehört damit zu den schwierigen skelettalen Klasse-II-Anomalien, da das Wachstum entgegengesetzt zur Therapie verläuft. Beim horizontalen oder neutralen Wachstumstyp wird durch das Wachstum eine Abschwächung der skelettalen Komponente erfolgen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 746 Erste Behandlungsphase der skelettalen Klasse­II­Anomalie Zweite Behandlungsphase der Klasse-II-Anomalie Der sagittale Ausprägungsgrad der Anomalie ist ein weiteres Kriterium für den Schwierigkeitsgrad der skelettalen Klasse-II-Anomalie. Im Gegensatz zur skelettalen Klasse-III-Anomalie ist die Klasse II nicht progredient, da sich der ANB-Winkel mit zunehmendem Alter der Patienten verringert. Bei horizontalem Schädelaufbau ist dies zu berücksichtigen, damit die Patienten nicht in eine Klasse III behandelt werden. Bei vertikalem Wachstumsmuster oder retrognathem Gesichtsaufbau ist dagegen nicht mit einem größeren sagittalen Unterkieferwachstum zu rechnen. Für den vertikalen Schädelaufbau ist ein kleinerer oder negativer ANB-Winkel harmonisch. Bei großem ANB-Winkel sind die verti- Prognath Orthognath Retrognath SNA 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 NL-NSL NSBa ML-NSL SNB ML-NL 141 14 13 140 139 138 12 11 10 137 136 135 134 9 8 133 132 131 7 6 5 4 3 130 129 1 64 42 65 41 66 40 39 38 37 122 121 70 71 73 34 74 33 32 31 30 29 75 76 77 78 79 81 27 82 26 83 25 22 87 20 90 19 91 16 15 14 25 24 23 22 21 20 19 18 17 88 89 17 26 86 21 18 27 84 85 92 93 94 95 96 Selektion der Apparatur Für die Therapie der skelettalen Klasse II bei vorhandenem kondylärem Wachstum verwenden wir die Sander-II-Apparatur (Abb. 749). Zur Verstärkung des sagittal skelettalen Effekts und/ oder der Kontrolle des vertikalen oder horizontalen Wachstumsmusters kombinieren wir das funktionskieferorthopädische Gerät nachts mit einem entsprechenden Headgear. 748 28 80 28 23 123 69 72 127 125 68 35 24 126 67 36 128 124 2 43 kalen Patienten für die Korrektur der skelettalen Klasse II die schwierigen Patienten (Abb. 748). Therapie skelettale Klasse II: 1. Behandlungsphase Der Patient zeigt im Verlauf seines Wachstums eine Verstärkung der vertikalen Komponente. Dies ist ein Effekt, wie er bei skelettal offenem Biss zu erwarten war. Die funktions­ kieferorthopädische Therapie kann nicht mit konventionell bimaxillären Geräten oder der Sander-II-Apparatur alleine durchgeführt werden. Es muss zusätzlich ein High­Pull­Head­ gear eingesetzt werden. 16 15 14 13 97 749 Therapie skelettale Klasse II: 1. Behandlungsphase – funktionskieferorthopädi­ sche Apparaturen Für die funktionskieferorthopädische Therapie der skelettalen Klasse II set­ zen wir je nach skelettaler Effizienz und individueller Anomalie die San­ der-II-Apparatur mit und ohne Head­ gear ein. Die Effizienz richtet sich da­ bei nach den jährlichen skelettalen Effekten, da die 1. Behandlungspha­ se in unserem Behandlungskonzept einen Zeitraum von 1–1½ Jahren nicht überschreiten sollte. Behandlungszeitpunkt Der ideale Behandlungszeitpunkt für die 1. Behandlungsphase der skelettalen Klasse-II-Anomalie liegt zwischen dem 10.–12. Lebensjahr bei Durchbruch der Stützzonen. Die Dauer der Behandlung beträgt bei unserem Behandlungskonzept ca. 1 Jahr, da die funktionskieferorthopädischen Geräte nach dem Schwierigkeitsgrad der Anomalie selektiert werden. Alle orthodontischen Abweichungen werden in der 2. Behandlungsphase korrigiert. Nach der Funktionskieferorthopädie (FKO) und der 1. Behandlungsphase wird die aktive Behandlung unterbrochen, bis alle permanenten Zähne durchgebrochen sind. Zweite Behandlungsphase der Klasse­II­Anomalie Die 2. Behandlungsphase beginnt im Durchschnitt mit dem 14. Lebensjahr. Voraussetzung ist ein vollständiges permanentes Gebiss einschließlich der 2. Molaren. Die 2. Behandlungsphase ist rein orthodontisch. Overbite und Overjet sowie die korrekte axiale Position der Inzisivi werden in dieser Behandlungsphase eingestellt. Bei umfangreichen Distalisationen in der 1. Behandlungsphase ist in einigen Fällen, bei spätem Behandlungsbeginn nach dem 12. Lebensjahr, in der 2. Phase eine Distalisation der Seitenzahnsegmente erforderlich. Im Finishing ist hier auf ausreichenden Torque der 2. Molaren zu achten. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Sagittaler Ausprägungsgrad der skelettalen Klasse II 285 Therapie der skelettalen Klasse II im späten Wechselgebiss 286 Funktionskieferorthopädie Die Grundlagen der Funktionskieferorthopädie basieren auf Untersuchungen von Roux (1893) über die Bedeutung der Funktion für die Entwicklung und strukturellen Anpassung („Form follows Function“). Andresen gilt mit seinem Aktivator in der Kieferorthopädie als einer der Begründer der Funktionskieferorthopädie (Andresen 1936). Das lose im Mund befindliche Gerät konnte die Effekte nur über die Muskulatur erzielen. Diese funktionelle Anpassung der Muskulatur erreicht durch anschließende skelettale Adaptation seine Stabilität. Günstige Wachstumsrichtung und ein ausreichendes Wachstumspotenzial sind die Voraussetzungen hierfür. Die Konstruktion des Aktivators nach Andresen und 750 Häupl gleicht dem des Monoblocks (Robin 1902), mit dem Unterschied, dass Robin Ober- und Unterkiefer dehnte und keine Vorverlagerung durchführte. Tatsächlich finden sich beide Effekte in der Wirkung des Aktivators. Das Ziel funktioneller Behandlungsmethoden ist neben der Steuerung des Wachstums eine Harmonisierung der Wachstumsprozesse durch die Herstellung normgerechter Okklusionsverhältnisse (Rakosi 1985). Funktionskieferorthopädie: Muskuläre Wirkung 751 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. In der 1. Phase der Bissumstellung mit einem funktionskieferorthopädi­ schen Gerät und Ventralverlagerung des Unterkiefers entsteht primär eine rein muskuläre Wirkung. Kli­ nisch zeigt sich eine ventrale Position des Unterkiefers, die manuell nicht nach dorsal geführt werden kann. Dieser Effekt tritt nach ca. 3 Mona­ ten auf. Klinisch ist diese muskuläre Position instabil. Bei Ablassen der funktionskieferorthopädischen Ap­ paratur kommt es zu einem Rezidiv. Die Apparatur muss daher mindes­ tens 1 Jahr getragen werden. Funktionskieferorthopädie: Muskuläre Wirkung Die initiale muskuläre Wirkung der funktionskieferorthopädischen Ap­ paratur nach einer Tragedauer von wenigen Wochen bis 3 Monaten führt zu einem „Jumping the Bite“ mit Kontakt in der Front und offe­ nem Biss im Seitenzahnbereich. Dies ist ein zu erwartender Effekt, der durch eine spätere dentale Kompen­ sation im Seitenzahnbereich ausge­ glichen wird. Die Vertikalentwick­ lung kann durch Extrusion der Zähne unterstützt werden. Die Funktionskieferorthopädie in unserem Behandlungskonzept ist heute die orthopädische Wirkung der Apparatur auf die skelettalen Strukturen bei skelettalen Klasse-II-Anomalien. Aus diesem Grund verwenden wir heute für die Therapie der skelettalen Klasse II Doppelplattensysteme, da der skelettale Effekt der bimaxillären Geräte pro Zeit bei einer zweiphasigen Behandlung zu gering ist (Sander u. Lassak 1990). Die funktionskieferorthopädische Therapie sollte nach einem Jahr abgeschlossen sein und die orthodontische Phase sollte sich anschließen. Muskuläre Wirkung Die muskuläre Wirkung entsteht durch den Konstruktionsbiss der funktionskieferorthopädischen Apparatur. Die Ventralverla- gerung des Unterkiefers erzeugt eine Dehnung der Muskulatur und Aktivierung der Unterkieferretraktoren, da der Unterkiefer seine ursprünglich retrale Position einnehmen möchte. Die Dehnung und Aktivierung der Retraktoren führt dann in Folge zur Induktion der kondylären Umbauprozesse (Petrovic et al. 1975). Klinisch entsteht innerhalb weniger Wochen, wenn eine ausreichende funktionelle Beeinflussung stattfindet (sog. Trainingseffekt), ein „Bite Jumping“ mit einer deutlich anterioren Position des Unterkiefers (Abb. 750 u. Abb. 751). Die muskuläre Wirkung ist klinisch nicht stabil. Die Apparatur muss weiter getragen werden, wenn eine stabile Endsituation erreicht werden soll. Funktionskieferorthopädie Artikuläre Wirkung Parodontale/dentale Wirkung Nach der Dehnung der Muskulatur und der muskulären Wirkung der Unterkiefervorverlagerung kann eine artikuläre und skelettale Wirkung beschrieben werden (Abb. 753 u. Abb. 754). Die Reaktionsfähigkeit des temporomandibulären Knorpels konnten bereits Petrovic (1974) und Komposch und Hocenjos (1977) aufzeigen. Die Unterkiefervorverlagerung führt zudem zu einer morphologischen Anpassung im Gelenk (Woodside et al. 1987). Neuere Untersuchungen zeigen, dass die biomechanisch applizierten Kräfte von funktionskieferorthopädischen Geräten nicht nur kondyläres Wachstum beschleunigen und unterstützen, sondern auch eine Knochenneubildung durch die Vorverlagerung induzieren (Rabie et al. 2002, Rabie et al. 2003). Die dentale Wirkung der funktionskieferorthopädischen Apparatur ist im Wesentlichen im Unterkiefer reziprok der Aktivierung der Retaktoren nach mesial gerichtet und entsprechend im Oberkiefer nach distal gerichtet (Abb. 754). Dieser Nebeneffekt kann im Unterkiefer zu einer Protrusion und im Oberkiefer zu einer Retrusion der Inzisivi führen. 0 1 2 3 4 Mundöffnung [mm] Zeit [min] 0 2 8 0 1 2 3 Funktionskieferorthopädie: Muskuläre Wirkung Die Muskelfunktion unterscheidet sich deutlich zwischen Tag und Nacht. In der Nacht treten nur ver­ einzelt Muskelkontraktionen auf (blau). In der Regel ist die Muskula­ tur entspannt und der Unterkiefer öffnet sich (rot). Die Muskelkontrak­ tionen betragen über die Nacht ver­ teilt lediglich einen Zeitraum von 10–15 Minuten. Die muskuläre Akti­ vität ist zudem nicht immer symmet­ risch (nach Sander 1981). 4 Zeit [min] 753 Funktionskieferorthopädie: Artikuläre Wirkung Schematische Darstellung der Adap­ tionsvorgänge im Kiefergelenk nach funktionskieferorthopädischer Vor­ verlagerung des Unterkiefers. Neben einer dorsokranialen Translation des Kondylus durch vermehrtes kondylä­ res Wachstum kommt es zu einer ventrokaudalen Translation des Pro­ cessus postglenoidalis und der Fossa. Das kondyläre Wachstum ist Voraus­ setzung für die FKO (nach Komposch et al. 2000). 754 Funktionskieferorthopädie: Parodontale/dentale Wirkung Die dentale Wirkung von funktions­ kieferorthopädischen Geräten ent­ steht durch die muskuläre Kraft der Retraktoren, wenn der Patient die Position des Konstruktionsbisses ein­ nimmt. Bei der Sander-II-Apparatur entsteht dies automatisch. Die Un­ terkieferdentition wird mesialisiert und die Oberkieferdentition distali­ siert. Einschleifmaßnahmen können diesen Effekt verstärken oder ab­ schwächen. Gleichzeitig entstehen orthopädische Kräfte auf Ober­ und Unterkiefer (rote Pfeile). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Muskelaktivität 752 287