Therapie der skelettalen Klasse II im späten

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Therapie der skelettalen Klasse II im späten Wechselgebiss
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■ Therapie der skelettalen Klasse II im späten Wechselgebiss
Die Behandlung der skelettalen Klasse-II-Anomalie wird im späten Wechselgebiss durchgeführt. Das Therapiekonzept besteht in
einer zweiphasigen Vorgehensweise. Im Unterschied zur dentalen Klasse II, bei der Patienten mit vertikalem Schädelaufbau nur
begrenzt kausal durch Distalisation im Oberkiefer behandelt
werden können, ist bei der Behandlung der skelettalen Klasse II
eine Behandlung von Patienten auch mit vertikalem Wachstumsmuster möglich. Die Entwicklung neuerer funktionskieferorthopädischer Apparaturen, gezielte Biomechanik und die Verstärkung funktionskieferorthopädischer Effekte durch den Headgear,
erlauben heute ein erweitertes Behandlungsspektrum in der Behandlung skelettaler Klasse-II-Anomalien.
In der 1. Phase der Therapie der skelettalen Klasse-II-Anomalie
erfolgt eine funktionskieferorthopädische Therapie zur Einstellung der Verzahnung in eine Neutralokklusion. Umfang und Lokalisation der therapeutischen skelettalen Beeinflussung sind
abhängig von der individuellen Anomalie.
Einfluss des Wachstums auf
die Therapie der skelettalen
Klasse­II­Anomalie
Der Vergleich der Schädelkonfigurati­
on des vertikalen (blau) und horizon­
talen Schädelaufbaus (rot) zeigt
deutlich die unterschiedlichen Kom­
ponenten im Wachstum auf. Wäh­
rend sich der Unterkiefer bei vertika­
lem Wachstumstyp mehr nach
hinten unten orientiert, ist bei hori­
zontalem Wachstumstyp ein nach
kranial­anterior gerichtetes Wachs­
tum des Unterkiefers zu erwarten
(nach Rakosi u. Jonas 1989).
Schwierigkeitsgrad
der skelettalen Klasse­II­Anomalie
Der Schwierigkeitsgrad der Anomalie ist abhängig von der Vertikalentwicklung des Schädels und dem sagittalen Ausprägungsgrad der skelettalen Klasse II.
Vertikalentwicklung des Schädels
Bei der Vertikalentwicklung des Schädels kann anhand der individuellen kephalometrischen Daten ein Wachstumsmuster und
individueller Wachstumstyp bzw. Gesichtstyp bestimmt werden.
Bei einem vertikalen Wachstumsmuster wächst der Unterkiefer
nach dorsal und kaudal, bei einem horizontalen Wachstumsmus-
Retrognath
Der Patient zeigt nach seinem indivi­
duellen kephalometrischen Befund
ein vertikales Wachstumsmuster und
einen skelettal offenen Biss. Da sich
der Patient noch im Wachstum befin­
det, ist im ungünstigen Fall eine Ver­
stärkung des vertikalen Schädelauf­
baus zu erwarten. Konventionelle
bimaxilläre Geräte führen in vielen
Fällen zu keiner Korrektur der Klasse­
II-Anomalie.
SNA
Orthognath
Schwierigkeitsgrad bei der
Therapie der skelettalen
Klasse II
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ter nach anterior und kranial (Abb. 746). Dies verdeutlicht, dass
therapeutisch die funktionskieferorthopädische Therapie bei einem neutralen oder horizontalen Wachstumsmuster im Hinblick
auf die Vorverlagerung des Unterkiefers weitaus günstiger ist als
bei einem vertikalen Wachstumsmuster. Patienten mit vertikalem Wachstumstyp können bei ausgeprägtem Wachstum eine
Verstärkung der Anomalie durch das Wachstum zeigen (Abb. 747).
Letztgenannte Patientengruppe gehört damit zu den schwierigen
skelettalen Klasse-II-Anomalien, da das Wachstum entgegengesetzt zur Therapie verläuft. Beim horizontalen oder neutralen
Wachstumstyp wird durch das Wachstum eine Abschwächung
der skelettalen Komponente erfolgen.
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746
Erste Behandlungsphase
der skelettalen Klasse­II­Anomalie
Zweite Behandlungsphase der Klasse-II-Anomalie
Der sagittale Ausprägungsgrad der Anomalie ist ein weiteres Kriterium für den Schwierigkeitsgrad der skelettalen Klasse-II-Anomalie. Im Gegensatz zur skelettalen Klasse-III-Anomalie ist die
Klasse II nicht progredient, da sich der ANB-Winkel mit zunehmendem Alter der Patienten verringert. Bei horizontalem Schädelaufbau ist dies zu berücksichtigen, damit die Patienten nicht
in eine Klasse III behandelt werden. Bei vertikalem Wachstumsmuster oder retrognathem Gesichtsaufbau ist dagegen nicht mit
einem größeren sagittalen Unterkieferwachstum zu rechnen. Für
den vertikalen Schädelaufbau ist ein kleinerer oder negativer
ANB-Winkel harmonisch. Bei großem ANB-Winkel sind die verti-
Prognath
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Selektion der Apparatur
Für die Therapie der skelettalen Klasse II bei vorhandenem kondylärem Wachstum verwenden wir die Sander-II-Apparatur
(Abb. 749). Zur Verstärkung des sagittal skelettalen Effekts und/
oder der Kontrolle des vertikalen oder horizontalen Wachstumsmusters kombinieren wir das funktionskieferorthopädische Gerät nachts mit einem entsprechenden Headgear.
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kalen Patienten für die Korrektur der skelettalen Klasse II die
schwierigen Patienten (Abb. 748).
Therapie skelettale Klasse II:
1. Behandlungsphase
Der Patient zeigt im Verlauf seines
Wachstums eine Verstärkung der
vertikalen Komponente. Dies ist ein
Effekt, wie er bei skelettal offenem
Biss zu erwarten war. Die funktions­
kieferorthopädische Therapie kann
nicht mit konventionell bimaxillären
Geräten oder der Sander-II-Apparatur
alleine durchgeführt werden. Es
muss zusätzlich ein High­Pull­Head­
gear eingesetzt werden.
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Therapie skelettale Klasse II:
1. Behandlungsphase –
funktionskieferorthopädi­
sche Apparaturen
Für die funktionskieferorthopädische
Therapie der skelettalen Klasse II set­
zen wir je nach skelettaler Effizienz
und individueller Anomalie die San­
der-II-Apparatur mit und ohne Head­
gear ein. Die Effizienz richtet sich da­
bei nach den jährlichen skelettalen
Effekten, da die 1. Behandlungspha­
se in unserem Behandlungskonzept
einen Zeitraum von 1–1½ Jahren
nicht überschreiten sollte.
Behandlungszeitpunkt
Der ideale Behandlungszeitpunkt für die 1. Behandlungsphase
der skelettalen Klasse-II-Anomalie liegt zwischen dem 10.–12.
Lebensjahr bei Durchbruch der Stützzonen. Die Dauer der Behandlung beträgt bei unserem Behandlungskonzept ca. 1 Jahr, da
die funktionskieferorthopädischen Geräte nach dem Schwierigkeitsgrad der Anomalie selektiert werden. Alle orthodontischen
Abweichungen werden in der 2. Behandlungsphase korrigiert.
Nach der Funktionskieferorthopädie (FKO) und der 1. Behandlungsphase wird die aktive Behandlung unterbrochen, bis alle
permanenten Zähne durchgebrochen sind.
Zweite Behandlungsphase
der Klasse­II­Anomalie
Die 2. Behandlungsphase beginnt im Durchschnitt mit dem 14.
Lebensjahr. Voraussetzung ist ein vollständiges permanentes Gebiss einschließlich der 2. Molaren. Die 2. Behandlungsphase ist
rein orthodontisch. Overbite und Overjet sowie die korrekte axiale Position der Inzisivi werden in dieser Behandlungsphase eingestellt. Bei umfangreichen Distalisationen in der 1. Behandlungsphase ist in einigen Fällen, bei spätem Behandlungsbeginn
nach dem 12. Lebensjahr, in der 2. Phase eine Distalisation der
Seitenzahnsegmente erforderlich. Im Finishing ist hier auf ausreichenden Torque der 2. Molaren zu achten.
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Sagittaler Ausprägungsgrad
der skelettalen Klasse II
285
Therapie der skelettalen Klasse II im späten Wechselgebiss
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Funktionskieferorthopädie
Die Grundlagen der Funktionskieferorthopädie basieren auf Untersuchungen von Roux (1893) über die Bedeutung der Funktion
für die Entwicklung und strukturellen Anpassung („Form follows
Function“). Andresen gilt mit seinem Aktivator in der Kieferorthopädie als einer der Begründer der Funktionskieferorthopädie
(Andresen 1936). Das lose im Mund befindliche Gerät konnte die
Effekte nur über die Muskulatur erzielen. Diese funktionelle Anpassung der Muskulatur erreicht durch anschließende skelettale
Adaptation seine Stabilität. Günstige Wachstumsrichtung und
ein ausreichendes Wachstumspotenzial sind die Voraussetzungen hierfür. Die Konstruktion des Aktivators nach Andresen und
750
Häupl gleicht dem des Monoblocks (Robin 1902), mit dem Unterschied, dass Robin Ober- und Unterkiefer dehnte und keine Vorverlagerung durchführte. Tatsächlich finden sich beide Effekte in
der Wirkung des Aktivators. Das Ziel funktioneller Behandlungsmethoden ist neben der Steuerung des Wachstums eine Harmonisierung der Wachstumsprozesse durch die Herstellung normgerechter Okklusionsverhältnisse (Rakosi 1985).
Funktionskieferorthopädie:
Muskuläre Wirkung
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In der 1. Phase der Bissumstellung
mit einem funktionskieferorthopädi­
schen Gerät und Ventralverlagerung
des Unterkiefers entsteht primär
eine rein muskuläre Wirkung. Kli­
nisch zeigt sich eine ventrale Position
des Unterkiefers, die manuell nicht
nach dorsal geführt werden kann.
Dieser Effekt tritt nach ca. 3 Mona­
ten auf. Klinisch ist diese muskuläre
Position instabil. Bei Ablassen der
funktionskieferorthopädischen Ap­
paratur kommt es zu einem Rezidiv.
Die Apparatur muss daher mindes­
tens 1 Jahr getragen werden.
Funktionskieferorthopädie:
Muskuläre Wirkung
Die initiale muskuläre Wirkung der
funktionskieferorthopädischen Ap­
paratur nach einer Tragedauer von
wenigen Wochen bis 3 Monaten
führt zu einem „Jumping the Bite“
mit Kontakt in der Front und offe­
nem Biss im Seitenzahnbereich. Dies
ist ein zu erwartender Effekt, der
durch eine spätere dentale Kompen­
sation im Seitenzahnbereich ausge­
glichen wird. Die Vertikalentwick­
lung kann durch Extrusion der Zähne
unterstützt werden.
Die Funktionskieferorthopädie in unserem Behandlungskonzept
ist heute die orthopädische Wirkung der Apparatur auf die skelettalen Strukturen bei skelettalen Klasse-II-Anomalien. Aus diesem Grund verwenden wir heute für die Therapie der skelettalen
Klasse II Doppelplattensysteme, da der skelettale Effekt der bimaxillären Geräte pro Zeit bei einer zweiphasigen Behandlung
zu gering ist (Sander u. Lassak 1990). Die funktionskieferorthopädische Therapie sollte nach einem Jahr abgeschlossen sein und
die orthodontische Phase sollte sich anschließen.
Muskuläre Wirkung
Die muskuläre Wirkung entsteht durch den Konstruktionsbiss
der funktionskieferorthopädischen Apparatur. Die Ventralverla-
gerung des Unterkiefers erzeugt eine Dehnung der Muskulatur
und Aktivierung der Unterkieferretraktoren, da der Unterkiefer
seine ursprünglich retrale Position einnehmen möchte. Die Dehnung und Aktivierung der Retraktoren führt dann in Folge zur
Induktion der kondylären Umbauprozesse (Petrovic et al. 1975).
Klinisch entsteht innerhalb weniger Wochen, wenn eine ausreichende funktionelle Beeinflussung stattfindet (sog. Trainingseffekt), ein „Bite Jumping“ mit einer deutlich anterioren Position
des Unterkiefers (Abb. 750 u. Abb. 751). Die muskuläre Wirkung
ist klinisch nicht stabil. Die Apparatur muss weiter getragen werden, wenn eine stabile Endsituation erreicht werden soll.
Funktionskieferorthopädie
Artikuläre Wirkung
Parodontale/dentale Wirkung
Nach der Dehnung der Muskulatur und der muskulären Wirkung
der Unterkiefervorverlagerung kann eine artikuläre und skelettale Wirkung beschrieben werden (Abb. 753 u. Abb. 754). Die Reaktionsfähigkeit des temporomandibulären Knorpels konnten bereits Petrovic (1974) und Komposch und Hocenjos (1977)
aufzeigen. Die Unterkiefervorverlagerung führt zudem zu einer
morphologischen Anpassung im Gelenk (Woodside et al. 1987).
Neuere Untersuchungen zeigen, dass die biomechanisch applizierten Kräfte von funktionskieferorthopädischen Geräten nicht
nur kondyläres Wachstum beschleunigen und unterstützen, sondern auch eine Knochenneubildung durch die Vorverlagerung
induzieren (Rabie et al. 2002, Rabie et al. 2003).
Die dentale Wirkung der funktionskieferorthopädischen Apparatur ist im Wesentlichen im Unterkiefer reziprok der Aktivierung
der Retaktoren nach mesial gerichtet und entsprechend im Oberkiefer nach distal gerichtet (Abb. 754). Dieser Nebeneffekt kann
im Unterkiefer zu einer Protrusion und im Oberkiefer zu einer
Retrusion der Inzisivi führen.
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Mundöffnung [mm]
Zeit [min]
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Funktionskieferorthopädie:
Muskuläre Wirkung
Die Muskelfunktion unterscheidet
sich deutlich zwischen Tag und
Nacht. In der Nacht treten nur ver­
einzelt Muskelkontraktionen auf
(blau). In der Regel ist die Muskula­
tur entspannt und der Unterkiefer
öffnet sich (rot). Die Muskelkontrak­
tionen betragen über die Nacht ver­
teilt lediglich einen Zeitraum von
10–15 Minuten. Die muskuläre Akti­
vität ist zudem nicht immer symmet­
risch (nach Sander 1981).
4
Zeit [min]
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Funktionskieferorthopädie:
Artikuläre Wirkung
Schematische Darstellung der Adap­
tionsvorgänge im Kiefergelenk nach
funktionskieferorthopädischer Vor­
verlagerung des Unterkiefers. Neben
einer dorsokranialen Translation des
Kondylus durch vermehrtes kondylä­
res Wachstum kommt es zu einer
ventrokaudalen Translation des Pro­
cessus postglenoidalis und der Fossa.
Das kondyläre Wachstum ist Voraus­
setzung für die FKO (nach Komposch
et al. 2000).
754
Funktionskieferorthopädie:
Parodontale/dentale
Wirkung
Die dentale Wirkung von funktions­
kieferorthopädischen Geräten ent­
steht durch die muskuläre Kraft der
Retraktoren, wenn der Patient die
Position des Konstruktionsbisses ein­
nimmt. Bei der Sander-II-Apparatur
entsteht dies automatisch. Die Un­
terkieferdentition wird mesialisiert
und die Oberkieferdentition distali­
siert. Einschleifmaßnahmen können
diesen Effekt verstärken oder ab­
schwächen. Gleichzeitig entstehen
orthopädische Kräfte auf Ober­ und
Unterkiefer (rote Pfeile).
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Muskelaktivität
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